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Das Familiengeheimnis

Zweites Kapitel

Am nächsten Tag wurde ich nach Hause gebracht, um mich einer Prüfung zu stellen - einer harte Prüfung selbst in meinen zarten Jahren. Ich musste den leidenschaftlichen Kummer meiner Mutter und die stumme Verzweiflung meines Vaters mitansehen. Ich erinnere mich, dass unsere erste Begegnung nach Carolines Tod weise und bedacht von meiner Tante abgekürzt wurde, indem sie mich aus dem Zimmer führte. Sie schien verlegen den Wunsch zu haben, mich vom gehen abzuhalten, als sich die Tür hinter uns schloss; aber ich riß mich los und rannte die Treppen hinab in die Praxis, um dort mit unserem Spielkameraden um meine verlorene Spielgefährtin zu weinen: mit Onkel George.

Ich öffnete die Praxistür, aber konnte niemanden sehen. Ich trocknete meine Tränen und schaute mich im ganzen Zimmer um - es war leer. Ich rannte wieder die Treppen hinauf zu Onkel Georges Schlafkammer auf dem Dachboden - er war nicht dort; seine billige Haarbürste und sein altes abgewetztes Rasiermesseretui, das meinem Großvater gehört hatte, lagen nicht auf der Frisierkommode. Hatte er ein anderes Schlafzimmer bekommen? Ich ging hinaus zur Treppe und rief mit einer unerklärlichen Angst und sinkendem Mut leise:

»Onkel George!«

Niemand antwortete; aber meine Tante kam eilends die Dachbodentreppe herauf.

»Still!« sagte sie. »Du darfst diesen Namen hier nie wieder sagen!«

Sie stockte plötzlich und sah aus, als ob sie von ihren eigenen Worten erschreckt worden wäre.

»Ist Onkel George tot?« fragte ich. Meine Tante wechselte die Farbe und stotterte.

Ich wartete ihre Antwort nicht ab. Ich fegte an ihr vorbei die Treppe hinunter. Mein Herz zersprang beinahe - ich hatte eine Gänsehaut. Atemlos und ohne Rücksicht rannte ich in das Zimmer, in dem mein Vater und meine Mutter mich empfangen hatten. Sie saßen beide noch dort. Ich rannte zu ihnen, wrang meine Hände und brach in Tränen aus.

»Ist Onkel George tot?«

Meine Mutter gab einen Schrei von sich, der mich erschrak und mich sofort verstummen ließ. Mein Vater schaute sie einen Augenblick an, zog an der Klingel, um das Mädchen zu rufen, packte mich dann schroff am Arm und schleifte mich aus dem Zimmer.

Er nahm mich mit hinunter in das Studierzimmer, setzte sich auf seinen Stuhl, auf dem er immer saß, und stellte mich vor sich zwischen seine Knie. Seine Lippen waren schrecklich weiß und ich fühlte, wie seine beiden Hände heftig zitterten, als sie mich an der Schulter packten.

»Du darfst den Namen von Onkel George niemals wieder erwähnen!« sagte er mit einem schnellen, ärgerlichen, zitternden Flüstern. »Weder mir gegenüber noch deiner Mutter noch deiner Tante noch irgendjemand sonst auf dieser Welt! Niemals - Niemals - Niemals!«

Die Wiederholung dieses Wortes erschrak mich sogar noch mehr als die unterdrückte Heftigkeit, mit der er sprach. Er sah, dass ich verängstigt war und milderte seine Art etwas, bevor er fortfuhr.

»Du wirst deinen Onkel George niemals wiedersehen«, sagte er. »Deine Mutter und ich lieben dich innig. Aber wenn du vergisst, was ich dir gesagt habe, wirst du von daheim weggeschickt. Sprich diesen Namen niemals wieder - merk es dir, niemals! Jetzt gib mir einen Kuss und geh.«

Wie seine Lippen zitterten - und, ach, wie kalt sie sich auf den meinen anfühlten!

Ich entwich aus dem Zimmer in dem Moment, als er mich küsste und lief hinaus, um mich im Garten zu verstecken.

»Onkel George ist weg. Ich darf ihn nie wiedersehen; ich darf nie wieder über ihn sprechen« - dies waren die Worte, die ich mir in dem Augenblick, als ich allein war, immer wieder vor mir selbst mit unbeschreiblichem Schrecken und Verwirrung wiederholte. Es lag etwas unaussprechlich Fürchterliches in diesem Geheimnis für meinen jungen Verstand, welches ich achten musste und von welchem es, soweit ich damals dachte, keine Hoffnung gab, dass es mir je offenbart werden würde. Mein Vater, meine Mutter, meine Tante, alle schienen nun von mir durch irgendeine unüberwindbare Barriere getrennt zu sein. Zuhause schien nicht länger ein Zuhause zu sein, jetzt, wo Caroline tot war, Onkel George fort war und sich ein verbotenes Gesprächsthema ständig und geheimnisvoll zwischen meine Eltern und mich stellte.

Obwohl ich niemals gegen die Anweisung meines Vaters, die er mir in seinem Studierzimmer erteilt hatte, verstieß (seine Worte und sein Aussehen, und der schreckliche Schrei meiner Mutter, der immer noch in meinen Ohren zu klingen schien, waren mehr als genug, um sich meines Gehorsams zu versichern), verlor ich doch insgeheim nie das Verlangen, die Dunkelheit, die über dem Schicksal von Onkel George lag, zu durchdringen.

Zwei Jahre lang blieb ich daheim und entdeckte nichts. Wenn ich die Diener über meinen Onkel befragte, konnten sie mir nur sagen, dass er eines Morgens vom Haus verschwand. Den Mitgliedern der Familie meines Vaters konnte ich keine Fragen stellen. Sie lebten weit weg und kamen uns nie besuchen, und der Gedanke, ihnen zu schreiben, stand in meinem Alter und mit meiner Stellung außer frage. Meine Tante war ebenso unnahbar still wie mein Vater und meine Mutter; aber ich vergaß nie, wie ihr Gesicht sich verändert hatte, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, als sie mein außerordentliches Abenteuer gehört hatte, wo ich mit dem Mädchen des nachts am Strand entlanggegangen war. Je öfter ich über diese Veränderung in ihren Gesichtszügen nachdachte und dies mit dem verband, was sich im Haus meines Vaters bei meiner Rückkehr ereignet hatte, desto sicherer war ich mir, dass der Fremde, der mich geküsst hatte und geweint hatte, kein anderer als Onkel George gewesen sein konnte.

Nachdem meine zwei Jahre daheim um waren, wurde ich auf meinen eigenen ernsthaften Wunsch zur See in die Handelsflotte geschickt. Ich hatte mich immer darauf verbissen, Seemann zu werden von der Zeit an, als ich bei meiner Tante an der Küste wohnte und beharrte lang genug auf meiner Entscheidung, dass meine Eltern bemerkten, sie müssten meinem Verlangen nachgeben.

Ich fand Vergnügen an meinem neuen Leben und ich blieb mehr als vier Jahre im Ausland stationiert. Als ich schließlich nach Hause zurückkehrte, sollte ein neuer Kummer unser Zuhause verdunkeln. Mein Vater war an dem Tag gestorben, an dem ich zu meiner Rückreise nach England auslief.

Die Abwesenheit und der Tapetenwechsel hatten in keinster Weise meinen Wunsch gemindert, das Geheimnis von Onkel Georges Verschwinden zu durchdringen. Die Gesundheit meiner Mutter war so empfindlich, dass ich einige Zeit zögerte, das verbotene Thema in ihrer Gegenwart anzusprechen. Als ich es endlich wagte, darauf zu sprechen zu kommen, indem ich ihr vorschlug, dass jede vorsichtige Zurückhaltung, die vielleicht nötig gewesen wäre, als ich noch ein Kind war, jetzt, da ich ein erwachsener junger Mann war, nun nicht länger gewahrt werden müsse, hatte sie einen heftigen Schüttelanfall und wies mich an, nicht mehr zu sagen. Es wäre der Wille meines Vaters gewesen, sagte sie, dass diese Zurückhaltung, auf die ich mich bezog, mir gegenüber immer gewahrt bleiben sollte. Er hatte sie, bevor er starb, nicht ermächtigt, offener zu sprechen; und jetzt, wo er von uns gegangen war, würde sie nur glauben, dass sie nach ihrem eigenen Urteilsvermögen handeln musste. Meine Tante sagte eigentlich dasselbe, als ich mich an sie wandte. Entschlossen, mich noch nicht entmutigen zu lassen, unternahm ich eine Reise, vorgeblich, um der Familie meines Vaters meine Aufwartung zu machen, aber insgeheim mit der Absicht, alles, was ich in dieser Gegend über das Thema Onkel George erfahren konnte, in Erfahrung zu bringen.

Meine Nachforschungen führten zu einigen Ergebnissen, die jedoch in keiner Weise befriedigend waren. Auf George wurde immer mit einer Art von Verachtung von seinen hübscheren Schwestern und wohlhabenderen Brüdern herabgeschaut und er hatte seine Stellung nicht verbessert durch sein warmes Eintreten für die Sache seines Bruders zur Zeit der Heirat meines Vaters. Ich fand, dass die überlebenden Verwandten meines Onkels jetzt beleidigend und nachlässig über ihn redeten. Sie versicherten mir, dass sie nie etwas von ihm gehört hatten und dass sie nichts über ihn wussten, außer dass er fortgegangen war, um sich niederzulassen, an einem Ort im Ausland, wie sie annahmen, nachdem er sich gegenüber meinem Vater sehr niederträchtig und schlecht benommen hatte. Man hatte ihn bis London verfolgt, wo er den kleinen Erbanteil, den er nach dem Tod seines Vaters geerbt hatte, zu Geld gemacht hatte und später am Tag wurde er an Bord eines Postschiffes gesehen, das nach Frankreich auslief. Darüber hinaus war über ihn nichts bekannt. In was die angebliche Niederträchtigkeit gegenüber meinem Vater bestanden hatte, konnte keiner seiner Brüder und Schwestern mir sagen. Mein Vater hatte sich geweigert, ihnen Kummer zu machen, indem er auf Einzelheiten einging, nicht nur zur Zeit des Verschwindens seines Bruders, sondern auch danach, immer wenn das Thema erwähnt wurde. George war immer das schwarze Schaf der Familie gewesen, und er musste sich seiner eigenen Niederträchtigkeit bewusst sein, oder er hätte mir sicherlich geschrieben, um es mir zu erklären und sich zu rechtfertigen.

Solcherart waren die Einzelheiten, die ich während dem Besuch bei der Familie meines Vaters herausbekam. Meiner Meinung nach neigten sie eher dazu, das Geheimnis zu verdunkeln als es zu enthüllen. Dass solch ein sanftes, gutmütiges und gütiges Wesen wie Onkel George den Bruder, den er mit Worten und Taten zu jeder Zeit ihres Umgangs liebte, verletzt haben sollte, schien unglaublich; aber dass er einer Handlung der Niederträchtigkeit schuldig sein sollte zur selben Zeit, als meine Schwester starb, war schlicht und einfach unmöglich. Und doch war hier die unergründliche Tatsache, die mir ins Gesicht sprang, dass sich nämlich Carolines Tod und Onkel Georges Verschwinden in der selben Woche ereignet hatten! Niemals fühlte ich mich mehr eingeschüchtert und verwirrt durch das Familiengeheimnis als damals, nachdem ich alle Einzelheiten, die mit ihm in Verbindung standen, von den Verwandten meines Vaters gehört hatte.

Ich kann über die Ereignisse der nächsten paar Jahre meines Lebens recht kurz hinweggehen.

Meine nautischen Pflichten beanspruchten meine ganze Zeit und führten mich weit weg von meinem Vaterland und meinen Freunden. Aber was auch immer ich tat und wo auch immer ich war, die Erinnerung an Onkel George und der Wunsch, das Geheimnis seines Verschwindens zu durchdringen, verfolgten mich wie Hausgeister. Oft, während der einsamen Wachen nachts auf See, erinnerte ich mich an den dunklen Abend am Strand, die hastige Umarmung des fremden Manns, das verblüffte Gefühl, seine Tränen auf meinen Wangen zu fühlen und sein Verschwinden, bevor ich wieder Atem oder Selbstbeherrschung genug hatte, um ein Wort zu sagen. Oft dachte ich an die unerklärlichen Ereignisse, die darauf folgten, als ich ins Haus meines Vaters nach dem Tod meiner Schwester zurückgekehrt war. Und noch öfter zerbrach ich mir vergeblich den Kopf dabei, einen Plan zu schmieden, um meine Mutter oder meine Tante dazu zu verleiten, mir das Geheimnis zu offenbaren, das sie vor mir bisher so beharrlich geheimgehalten hatten. Meine einzige Chance, zu erfahren, was wirklich mit Onkel George geschehen war, und meine einzige Hoffnung, ihn wiederzusehen, lag nun in diesen zwei lieben und nahen Verwandten. Ich hatte keine Hoffnung, meine Mutter jemals dazu zu bringen, über das verbotene Thema zu sprechen nach dem, was zwischen uns abgespielt hatte, aber ich fühlte mich zuversichtlicher ob meiner Aussichten, meine Tante letztendlich doch dazu zu bringen, in ihrer Verschwiegenheit nachzulassen. Jedoch war es meinem Erwartungen in dieser Hinsicht nicht beschieden, erfüllt zu werden. Bei meinem nächsten Besuch in England fand ich meine Tante von einem paralytischen Anfall niedergestreckt vor, der sie der Macht zu sprechen beraubt hatte. Sie starb kurze Zeit später in meinem Armen und ließ mich als ihren alleinigen Erben zurück. Ich suchte unruhig in ihren Briefen nach einer Erwähnung des Familiengeheimnisses, aber fand nicht die Spur eines Hinweises. Alle Briefe meiner Mutter an ihre Schwester in der Zeit von Carolines Krankheit und ihres Todes waren vernichtet worden.


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