Namenlos



Dreizehntes Capitel.

Der erste Umstand, der sich nach Hauptmann Wragges Abreise zu Aldborough ereignete, hatte die Bestimmung, in einer späteren Zeit zu ernsten Verwickelungen zu führen.

Sobald Mrs. Wragges Eheherr den Rücken gewendet hatte, empfing sie die Botschaft, welche er bei seiner Abreise durch das Dienstmädchen ihr sagen ließ. Sie eilte ins Wohnzimmer, verwirrt durch ihre stürmische Unterredung mit dem Hauptmann und reumüthig sich bewußt, daß sie Unrecht gethan hatte, aber ohne zu wissen, worin das Unrecht bestand. Wenn Magdalenens Geist nicht von, dem einem Gedanken der Heirath so ganz in Anspruch genommen worden wäre, wenn sie Sammlung genug besessen hätte, um auf Mrs. Wragges wirre Erzählung Dessen, was während ihrer Unterredung mit der Haushälterin vorgefallen, zu lauschen, so würde der Besuch der Mrs. Lecount in dem Garderobenzimmer früher oder später zur Sprache gekommen sein, und Magdalene hätte, obschon sie wohl nimmer die Wahrheit geahnt hätte, wenigstens die Warnung erhalten, daß irgend ein gefährliches Element verrätherisch in der Alpacarobe verborgen lauere. Wie die Dinge aber lagen, so erfolgte kein solcher Umstand auf Mrs. Wragges Erscheinen im Wohnzimmer, denn kein solcher Umstand war jetzt möglich.

Ereignisse, welche früher am Morgen eingetreten waren, Ereignisse, welche vor Tagen und Wochen schon vorgefallen waren, waren so vollständig aus Magdalenens Gedächtniß entschwunden, als wenn sie nie stattgefunden hätten. Das Schreckbild des herannahenden Montags, die unbarmherzige Gewißheit, welche bis auf Tag und Stunde fest bestimmt vorlag, machte alles Gefühl in ihr zu Stein und alles Denken in ihr zunichte. Mrs. Wragge machte drei Mal Versuche, um aus den Gegenstand des Besuchs der Haushälterin zu sprechen zu kommen. Das erste Mal hätte sie sich ebenso gut an den Wind wenden können oder an das Meer. Der weite Versuch schien beinahe etwas erfolgreicher zu sein. Magdalene seufzte, hörte einen Augenblick gleichgültig zu und verlor dann den Gegenstand.

—— Es thut Nichts, sagte sie. Das Ende ist doch gekommen, wie es kommen sollte. Ich bin nicht böse auf Sie. Sprechen Sie nicht weiter davon.

Später am Tage versuchte es Mrs. Wragge, weil sie nicht wußte, wovon sie sonst reden sollte, zum dritten Male.

Dies Mal wandte sich Magdalene ungeduldig nach ihr hin. Um Gottes Willen, machen Sie mir mit solchen Kleinigkeiten den Kopf nicht warm! Ich kann es nicht ertragen.

Mrs. Wragge schloß ihre Lippen auf der Stelle und kam nun nicht wieder auf die Sache zurück. Magdalene, welche zu allen anderen Zeiten freundlich mit ihr gewesen, hatte es ihr unwillig verboten. Der Hauptmann, ganz und gar in Unbekanntschaft mit dem Interesse, das Mrs. Lecount an den Geheimnissen des Kleiderschreins hatte, war niemals so nahe daran gewesen. Alle Kenntniß, die er aus dem verwirrten Verstande seiner Frau herausbekommen konnte, hatte er durch unmittelbare Fragen erhalten, welche er lediglich nach eignem Ermessen an sie stellte.

Er hatte ohne weitere Entschuldigungen auf klaren undeutlichen Antworten bestanden und, wie gewöhnlich, seinen Zweck erreicht. Seine Abreise am selben Morgen hatte ihm keine Zeit gelassen, die Frage noch ein Mal aufs Tapet zu bringen, selbst für den Fall, daß ihm seine Erbitterung gegen seine Frau ihm Dies verstattet hätte. Da hing denn also die Alpacarobe unbeachtet in der finsteren Ecke, der nicht beargwohnte, unbemerkte Mittelpunkt von Gefahren, die noch im Schooße der Zukunft lagen. ——

Gegen den Nachmittag faßte sich Mrs. Wragge ein Herz, um selbst einen Vorschlag zu machen, sie empfahl einen kleinen Gang ins Freie.

Magdalene setzte theilnahmlos ihren Hut auf, begleitete theilnahmlos ihre Gefährtin auf dem öffentlichen Spaziergange, bis sie zu dessen Nordende kamen. Hier war das Ufer einsam, und hier setzten sie sich denn nebeneinander auf die angeschwemmten Steine nieder. Es war ein heller fröhlicher Tag; Vergnügungsboote segelten auf dem ruhigen blauen Wasser; Aldborough machte heitere Ausflüge zu Land und zu Wasser. Mrs. Wragge gewann bei diesem Anblicke ihre Fröhlichkeit wieder und warf wie ein Kind Kieselsteinchen in die See. Von Zeit zu Zeit richtete sie; einen Verstohlenen Blick auf Magdalenen, sah jedoch in deren Benehmen kein Zeichen der Aufmunterung, in deren Antlitz keine Veränderung zur Gemüthlichkeit. Sie saß schweigend da auf dem Geröllabhange, die Ellenbogen aufs Knie gestützt, das Haupt aus die Hand gelehnt, hinausschauend über das Meern, hinausblickend mit unverrückter Aufmerksamkeit und doch mit Augen, die Nichts zu sehen schienen. Mrs. Wragge wurde der Kiesel überdrüssig und verlor auch die Lust nach den Vergnügungsbooten zu schauen. Ihr großer Kopf begann schwerfällig zu nicken, und sie schlummerte in der warmen schwülen Luft ein. Als sie erwachte, waren die Lustfahrer weit hinweg, ihre Segel waren nur noch weiße Pünktchen in der Entfernung. Die Schaar der Spaziergänger auf dem Ufer war dünner geworden, die Sonne war am Horizont gesunken, die blaue See war dunkler und schauerte von einem Windstoß zusammen. Die Veränderungen Von Luft und Erde und Meer zeigten den abnehmenden Tag an, überall waren Veränderungen, —— nur nicht dicht an ihrer Seite. Da saß Magdalene noch in derselben Stellung mit müden Augen, die noch immer über das Meer schauten und noch immer Nichts sahen.

—— Ach, sprechen Sie doch mit mir! sagte Mrs.Wragge.

Magdalene fuhr zusammen und sah zerstreut um sich.

—— Es ist spät, sprach sie fröstelnd von der sich erhebenden Brise, das erste Gefühl, dessen sie sich bewußt wurde. Kommen Sie nach Hause; Sie müssen Ihren Thee haben.

Und so wandelte sie schweigend heim.

—— Seien Sie nicht böse über mein Fragen, sagte Mrs. Wragge, als sie am Theetisch beisammen saßen. Sind Sie in Ihrer Seele betrübt, meine liebe Dame?

—— Ja, versetzte Magdalene. Geben Sie nicht Acht auf mich. Mein Kummer wird bald vorüber sein. Sie wartete geduldig, bis Mrs. Wragge mit ihrem Mahl zu Ende war, und ging dann wieder auf ihr Zimmer hinauf.

—— Montag, sprach sie, als sie an ihrem Putztisch saß. Es kann Etwas dazwischen kommen, ehe es Montag wird.

Ihre Finger irrten gegenstands- und zwecklos unter den Kämmen und Bürsten umher, unter den kleinen Flaschen und Kästchen, welche auf dem Tische standen. Sie setzte sie in Ordnung, bald auf diese, bald aus jene Weise und stieß sie dann plötzlich wieder in einen Haufen zusammen und von sich. Eine Minute etwa blieben ihre Hände müßig. Diese Pause verstrich, dann wurden sie wieder unruhig und zogen die beiden kleinen Fächer in dem Tische heraus und hinein in ihren Geschieben. Unter den kleinen Gegenständen, die sich darin befanden, war auch ein Gebetbuch, das ihr aus Combe-Raven gehört hatte und das sie mit ihren anderen Andenken aus der alten Zeit, wo sie und ihre Schwester von zu Hause Abschied genommen hatten, bewahrt hatte. Sie öffnete das Gebetbuch nach langem Zögern bei dem Trauungsformular, schloß es wieder, ehe sie noch eine Zeile gelesen, und stieß es eilends wieder in eines der Schubfächer hinein. Nachdem sie den Schlüssel in dem Schlosse herumgedreht hatte, stand sie auf und ging ans Fenster.

—— Die entsetzliche See! sprach sie, indem sie sich mit einem Schauder des Mißbehagens davon abwendete. Die einsame, traurige, entsetzliche See!

Sie ging zu dem Schubkästchen zurück und nahm das Gebetbuch zum zweiten Male heraus, öffnete es abermals beim Trauungsdienste halb und warf es wieder ungeduldig in das Fach zurück. Dies Mal nahm sie, als sie zugeschlossen hatte, den Schlüssel ab, ging damit ans offene Fenster und warf ihn heftig in den Garten hinab. Er fiel in ein Beet, das dicht mit Blumen bepflanzt war. Er war nicht mehr zu sehen: er war verloren. Das Gefühl, ihn verloren zu haben, schien ihr eine Erleichterung zu gewähren.

—— Etwas kann Freitag kommen, Etwas kann Sonnabend kommen, Etwas kann Sonntag kommen. Drei Tage noch!

Sie schloß die grünen Läden vor dem Fenster und zog die Vorhänge zu, um das Zimmer noch dunkler zu machen. Ihr Haupt wurde schwer, ihre Augen brannten. Sie warf sich auf ihr Bett mit einem plötzlichen Verlangen, die Zeit zu verschlafen.

Die Ruhe des Hauses unterstützte sie dabei, die Dunkelheit des Zimmers kam ihr zu Hilfe, die Betäubung ihres Geistes, in welche sie verfallen war, that ihre Wirkung auf ihre, Sinne: sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Ihre unstäten Hände bewegten sich aller Augenblicke, ihr Haupt wandte sich von einer Seite zur andern auf dem Kissen, —— aber noch immer schlief sie. Alsbald kamen ihr ein, zwei Worte über die Lippen, Worte im Schlafe geflüstert, immer zusammenhängender werdend, immer deutlicher ausgesprochen, je länger der Schlaf andauerte, Worte, welche ihre Unruhe zu beschwichtigen und sie in immer tiefere Ruhe hinein zu lullen schienen. Sie lächelte, sie war in den glücklichen Gefilden des Traumgottes —— Franks Name entschlüpfte ihr.

—— Liebst Du mich, Frank? .. flüsterte sie. Ach, mein Liebling, sag es noch ein Mal, sag es noch ein Mal!...

Die Zeit verging, das Zimmer wurde dunkler, und noch schlummerte und träumte sie. Gegen Sonnenuntergang fuhr sie wieder im Bette auf, in einem Augenblicke wach, ohne daß ein Geräusch in oder außer dem Hause dazu Anlaß gegeben hätte. Die schwüle Dunkelheit des Zimmers flößte ihr Entsetzen ein. Sie eilte ans Fenster, stieß die Läden auf und lehnte sich weit hinaus in die Abendluft und das Abend dunkel. Ihre Augen verschlangen die alltäglichen Gegenstände auf dem Ufer, ihre Ohren schlürften das trauliche Murmeln des Meeres durstig ein. Nichts, das sie von den aufregenden Eindrücken befreien konnte, die ihre Träume hinterlassen hatten! Nicht mehr Dunkelheit, nicht mehr Ruhe! Der Schlaf, welcher zu Anderen wie eine Gnade von oben kam, war zu ihr mit Verrath gekommen. Der Schlaf hatte ihre Augen nur für die Zukunft verschlagen, um sie für die Vergangenheit zu öffnen.——

Sie ging wieder in das Wohnzimmer hinunter, es verlangte sie darnach zu plaudern, gleichviel wie nichtssagend, gleichviel, über welche Kleinigkeiten es sei. Das Zimmer war leer. Vielleicht war Mrs. Wragge an ihre Arbeit gegangen, —— vielleicht war sie auch müde zu Plaudern. Magdalene nahm ihren Hut vom Tische und ging aus. Die See, von welcher sie vor wenigen Stunden zurückgebebt war, sah jetzt freundlich aus. Wie lieblich war sie jetzt in ihrem kühlen Abendblau! Was für eine göttliche Freude in dem fröhlichen Wogengetümmel, das da empordrängte dem Lichte des Himmels entgegen!

Sie blickte hinaus, bis die Nacht hereinfiel und die Sterne blinkten. Die Nacht brachte sie zur Besinnung.

Allmählich erhielt ihr Geist das Gleichgewicht wieder, und sie schaute unerschrocken ihrem Schicksal ins Auge. —— Die eitle Hoffnung, daß ein Zufall das Ende vereiteln möchte, auf das sie aus eigenem, freiem Willen ohne Unterlaß hingearbeitet hatte mit Listen und Ränken, erblich und verließ sie, sich selbst auflösend in ihre eigene Schwäche. Sie kannte die wahre Wahl und sah ihr ins Angesicht. Auf der einen Seite war der beängstigende Abgrund der Hochzeit, auf der andern das Aufgeben ihres Vorhabens. War es zu spät, noch zu wählen zwischen dem Opfer ihrer selbst? Ja, zu spät. Es gab für sie keine Umkehr mehr. Die Zeit, welche kein Wunsch mehr abwenden konnte, die Zeit, welche kein Gebet zurückrufen konnte, hatte ihr Vorhaben eins gemacht mit ihr selbst: einstmals hatte sie es noch in der Hand, jetzt hatte dasselbe sie in der Hand. Je sehr sie zurückbebte, je härter sie rang, desto unbarmherziger trieb es sie an. Kein anderes Gefühl in ihr war stark genug, es in ihr zu meistern, sogar das Entsetzen nicht, das sie toll machte, das Entsetzen vor der Vermählung.

Gegen neun Uhr ging sie zurück in das Haus.

—— Wieder ausgegangen! sagte Mrs. Wragge, die ihr in der Thür begegnete. Kommen Sie herein und setzen Sie sich nieder, meine Liebe. Wie müde müssen Sie sein!

Magdalene lächelte und klopfte Mrs. Wragge freundlich auf die Schultern.

—— Sie vergessen, wie stark ich bin, sagte sie. Nichts rührt mich.

Sie zündete sich ihr Licht an und ging wieder hinauf in ihr Zimmer. Als sie zu der alten Stelle an ihrem Putztisch zurückkehrte, kam ihr die Hoffnung auf die drei Tage Aufschub, die eitle Hoffnung auf einen rettenden Zufall wieder in das Herz, dies Mal in einer faßbareren Gestalt, als sie bisher angenommen hatte.

—— Freitag, Sonnabend, Sonntag. Es kann ihm Etwas begegnen; es kann mir Etwas begegnen. Etwas Schlimmes, etwas Verhängnißvolles... Eines von uns kann sterben...

Ein plötzlicher Umschwung ging in ihr vor und zeigte sich auf ihrem Gesichte. Sie schauerte zusammen, obgleich kein Geräusch sich hören ließ, das sie erschreckte.

—— Eines von uns kann sterben. Ich kann das Eine sein...

Sie versank in tiefes Nachdenken, erhob sich nach einiger Zeit und rief dann, die Thür öffnend, Mrs. Wragge, damit sie hereinkäme und mit ihr spräche.

—— Sie hatten Recht, als Sie dachten, ich würde mich erschöpfen, sprach sie. Mein Spaziergang ist etwas zu anstrengend für mich gewesen. Ich fühle mich abgespannt, und ich will zu Bette gehen. Gute Nacht!

Sie küßte Mrs. Wragge und schloß wieder sanft die Thür.

Nach einigen Gängen im Zimmer auf und ab, öffnete sie plötzlich ihr Schreibzeug und begann an ihre Schwester zu schreiben. Der Brief wuchs und wuchs unter ihren Händen, sie füllte Bogen auf Bogen von Briefpapier. Ihr Herz war voll von ihrem Gegenstande, es war ihre eigene Geschichte, welche sie Nora schrieb. Sie vergoß keine Thränen; sie war gefaßt und ruhig in ihrem Schmerz. Ihre Feder glitt leicht dahin. Nachdem sie länger als zwei Stunden geschrieben hatte, brach sie ab, ehe noch der Brief zu Ende war. Es war keine Unterschrift darunter, es war ein leerer Raum, der zu einer andern Zeit ausgefüllt werden sollte. Nachdem sie das Schreibzeug bei Seite geschoben und die Briefbogen darin wohlverwahrt hatte, ging sie ans Fenster, um Luft zu schöpfen und stand dort und schaute hinaus.

Der Mond verschwand im Meere. Die Brise der früheren Stunden war vorüber. Ueber Land und Meer schwebte der Geist der Nacht in tiefer und erhabener Ruhe —— unheilbrütend.

Ihr Haupt sank auf ihren Busen, und all die Aussicht vor ihr verschwand mit dem schwindenden Monde. Sie sah keine See, keine Luft mehr. Der Versucher Tod war geschäftig in ihrem Herzen.... Der Versucher Tod; zeigte heimwärts, nach dem Grabe ihrer verstorbenen Eltern auf dem Friedhofe von Combe-Raven.

—— Neunzehn am letzten Geburtstage, dachte sie. Erst neunzehn!...

Sie begab sich vom Fenster weg, zögerte und sah dann wieder hinaus ins Freie.

—— Die schöne Nacht! sagte sie anmuthig. Ach, die schöne Nacht!...

Sie verließ das» Fenster und legte sich auf ihr Bett nieder. Der Schlaf, welcher ihr vorher verrätherisch genaht war, kam nun wie eine gute Schickung, kam tief und ohne Träume, das Bild ihres letzten Gedankens im Wachen: —— das Bild des Todes.

Früh am nächsten Morgen ging Mrs. Wragge in Magdalenens Zimmer und fand sie bereits aufgestanden. Sie saß vor dem Spiegel, indem sie mit dem Kamm langsam durch ihr Haar fuhr, nachdenklich und still.

—— Wie befinden Sie sich heute früh? frug Mrs. Wragge. Wieder ganz wohl?

—— Ja.

Nachdem sie diese bejahende Antwort gegeben, stockte sie, dachte ein Weilchen nach und widersprach sich plötzlich selbst.

—— Nein, sagte sie, doch nicht ganz wohl. Ich habe ein wenig Zahnweh.

Als sie ihre erste Antwort in diesen Worten berichtigte, gab sie ihrem Haar mit dem Kamme einen Strich, so daß es vorwärts fiel und ihr Gesicht verbarg.

Beim Frühstück war sie sehr schweigsam und genoß nichts weiter als eine Tasse Thee.

—— Lassen Sie mich in die Apotheke gehen und Etwas dagegen holen, sagte Mrs. Wragge

—— Nein, ich danke Ihnen.

—— O, lassen Sie mich doch gewähren!

—— Nein, sage ich!

Sie lehnte zum zweiten Mal scharf und unwillig ab. Wie gewöhnlich gab Mrs. Wragge nach und ließ ihr den Willen. Als das Frühstück vorüber war, stand sie auf und ging aus, ohne ein Wort zu sagen. Mrs. Wragge sah ihr aus dem Fenster nach und bemerkte, daß sie nach der Apotheke zu ging.

Als sie die Thür der Apotheke erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen, wartete, ehe sie hineinging, und sah durchs Fenster hinein, zögerte und ging ein Stückchen weiter, zögerte wieder und schlug die erste Wendung ein, welche an das Meeresufer zurückführte.

Ohne sich umzusehen, ohne darauf zu achten, welchen Platz sie wählte, setzte sie sich auf das Geröll. Die einzigen Wesen, die, wo sie sich jetzt befand, ihr nahe waren, waren ein Kindermädchen und zwei kleine Knaben. Der jüngste von den beiden hatte ein niedliches Schiff zum Spielen in der Hand. Nachdem der Knabe Magdalenen eine kleine Weile mit dem vollkommensten Ernst und unverwandt angesehen, ging er plötzlich zu Magdalenen heran und bahnte sich den Weg zur Bekanntschaft dadurch, daß er ruhig sein Schifflein in ihren Schooß legte.

—— Sieh mein Schiff an, sagte das Kind, indem es seine Händchen auf Magdalenens Kniee übereinander legte.

Sie war für gewöhnlich nicht sanft mit Kindern. In glücklicheren Tagen würde sie die Annäherung des Knaben nicht so aufgenommen haben, wie sie jetzt that. Die harte Verzweiflung in ihren Augen wich plötzlich daraus, ihre fest geschlossenen Lippen öffneten sich und zitterten. Sie drückte das Schiff wieder in die Hände des Kindes hinein und hob es auf ihren Schooß.

—— Willst Du mir einen Kuß geben? sprach sie leise.

Der Knabe schaute auf sein Schiff, als wenn er lieber das Schiff geküßt hätte.

Sie wiederholte die Frage beinahe flehentlich. Das Kind legte ihr sein Händchen an den Nacken und küßte sie.

—— Wenn ich Dein Schwesterchen wäre, würdest Du mich lieb haben?

All das Elend einer freundlosen Stellung, all das sonst zurückgedrängte Fühlen ihres Herzens ergoß sich in diesen Worten.

—— Würdest Du mich lieben? wiederholte sie, indem sie ihr Gesicht an der Brust des Kindes verbarg.

—— Ja, sagte der Kleine. Sieh nur mein Schiff.

Sie sah sein Schiff durch die Thränen an, die sich in ihren Augen sammelten.

—— Wie nennst Du es? frug sie, indem sie sich sogar zwingen mußte, sich zu eines Kindes Interessen herabzustimmen.

—— Ich nenne es Onkel Kirke’s Schiff, sagte der Knabe. Onkel Kirke ist fortgegangen.

Der Name erinnerte sie an Nichts aus ihrer Vergangenheit. Keine Erinnerungen außer denen aus alter Zeit lebten jetzt noch in ihr.

—— Fortgegangen? wiederholte sie zerstreut, indem sie sann, was sie zunächst mit ihrem kleinen Freunde sprechen sollte.

—— Ja, sprach der Knabe. Fort nach China.

Sogar von den Lippen eines Kindes berührte sie das Wort mit schneidendem Weh. Sie hob Kirkes kleinen Neffen vom Schooße und verließ augenblicklich das Ufer.

Als sie nach Hause zurückkehrte, erneuerte sich der Kampf der vergangenen Nacht in ihrem Geiste. Allein das wohlthätige Gefühl, das das Kind über sie gebracht hatte, die wiederauflebende Zärtlichkeit, welche sie empfunden, wie er auf ihrem Schooße saß, äußerten noch ihren Einfluß auf sie. Sie war sich einer aufdämmernden Hoffnung bewußt, welche sich ihrem Denken aufthat, als die kleinen unschuldigen Augen sich vor ihr aufthaten, als er auf dem Gestade zu ihr gesprungen kam. War es denn wirklich zu spät zur Umkehr? Noch einmal legte sie sich diese Frage vor und —— zum ersten Male fragte sie Das mit zweifelndem Gemüthe.

Sie eilte in ihr Zimmer hinauf mit einem aufkeimenden Mißtrauen gegen sich selbst, welches ihr zurief, zu handeln und nicht zu grübeln. Ohne so lange zu warten, bis sie ihren Shawl abgethan oder ihren Hut heruntergenommen hatte, öffnete sie ihr Schreibzeug und schrieb, so rasch nur die Feder über das Papier fliegen konnte, folgende Zeilen an Hauptmann Wragge.

Sie werden das Geld, das ich Ihnen versprach, im Einschluß finden. Mein Entschluß hat sich geändert. Das Entsetzen, ihn heirathen zu müssen, ist mehr, als ich ertragen kann. Ich habe Aldborough verlassen. Haben Sie Nachsicht mit meiner Schwäche und vergessen Sie mich.

Lassen Sie uns einander nie wieder begegnen.

Mit klopfendem Herzen, mit hastig zitternden Fingern zog sie ihr kleines, weißseidenes Täschchen aus dem Busen und nahm die Banknoten heraus, um sie in den Brief zu legen. Ihre Hand fuhr Ungestüm suchend umher, sie hatte fast ihr Tastgefühl verloren. Sie knitterte den ganzen Inhalt des Täschchens in einen Haufen Papiere zusammen und zog sie heftig heraus, die einen zerreißend, die andern aus ihrer Form bringend. Als sie dieselben vor sich auf den Tisch warf, war das Erste, was ihr in die Augen fiel, ihre eigene Handschrift. Sie sah näher darauf und sah die Worte, welche sie aus ihres seligen Vaters Briefe abgeschrieben hatte —— sah den Brief des Advocaten und dessen schreckliche Erklärung dazu an dem unteren Ende des Blattes ihr entgegenleuchten:

Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie hilflos der Gnade ihres Oheims:

Ihr klopfendes Herz stockte, ihre zitternden Hände wurden eisig ruhig. Die ganze Vergangenheit stand vor ihr auf, ein einziger stummer überwältigender Vorwurf! Sie nahm die Zeilen, welche ihre Hand vor kaum einer Minute geschrieben hatte, in die Höhe und sah auf die Tinte, welche noch nicht einmal trocken war, mit gedankenloser Ungläubigkeit.

Die Farbe, welche sich auf ihren Wangen gezeigt hatte, erstarb darauf noch ein Mal. Die harte Verzweiflung schaute aus ihren thränenlosen Augen abermals heraus, kalt und blitzend. Sie legte die Banknoten sorgfältig wieder zusammen und steckte sie wieder in ihre Tasche. Sie drückte die Abschrift von ihres Vaters Brief an ihre Lippen und brachte sie wieder an ihren Platz, samt den Banknoten. Als das Täschchen wieder auf ihrem Busen war, wartete sie einen Augenblick, die Hände vor ihr Gesicht gedrückt, dann zerriß sie entschlossen die an Hauptmann Wragge gerichteten Zeilen. Ehe die Tinte noch trocken war, lag der Brief in tausend Fetzen auf dem Boden.

—— Nein! sprach sie, als ihr das letzte Stückchen des zerrissenen Papiers aus der Hand fiel, —— auf dem Wege, den ich gehe, ist keine Umkehr!

Sie stand gefaßt auf und verließ das Zimmer. Als sie die Treppe hinunterstieg, begegnete sie Mrs. Wragge, die heraufkam.

—— Schon wieder ausgehen, meine Liebe? frug Mrs. Wragge. Darf ich mit Ihnen gehen?

Magdalenens Geist war wo anders. Anstatt auf die Frage zu antworten, antwortete sie auf ihre eigenen Gedanken.

—— Tausende von Frauen heirathen nach Geld. Warum sollte ich nichts auch?

Die verlegene Verwirrung auf Mrs. Wragges Angesicht, wie sie diese Worte gesprochen hatte, ermunterte sie, sich wieder in der Gegenwart zu fühlen.

—— Meine arme, liebe Freundin! sprach sie, ich bringe Sie in Verlegenheit, nicht wahr? Achten Sie nicht darauf, was ich sage, —— alle Mädchen sprechen Unsinn, und ich bin nicht besser als die Uebrigen. Kommen Sie, ich will Ihnen einen Schmaus geben. Sie sollen sich ergötzen solange der Hauptmann fort ist. Wir wollen eine lange Spazierfahrt für uns machen. Setzen Sie ihre pfiffige Haube auf und kommen Sie mit mir nach dem Hotel. Ich will der Wirthin sagen, sie soll ein hübsches kaltes Mittagsessen in eine Schachtel packen. Sie sollen alle die Dinge haben, die Sie gern essen —— und ich will Ihnen vorlegen. Wenn Sie eine alte, alte Frau sein werden, so werden Sie freundlich an mich zurückdenken, nicht wahr? Sie werden sagen: »Sie war kein übles Mädchen, Hunderte waren schlimmer als sie und lebten und waren glücklich, und kein Mensch wirft einen Stein auf sie«. Da, da, gehen Sie und setzen Sie Ihre Haube auf..... Ach, mein Gott, was wird aus meinem Herzen! Wie es lebt und immer noch lebt, wo andere Mädchenherzen schon längst aufgehört hätten zu schlagen!

Eine halbe Stunde später saßen sie und Mrs. Wragge zusammen im Wagen. Eins von den Pferden zog beim Abfahren nicht an.

—— Geben Sie ihm Eins mit der Peitsche, rief sie zornig dem Kutscher zu. Worüber erschrecken Sie! Geben Sie ihm die Peitsche! —— Wenn nun der Wagen umstürzte, sprach sie, plötzlich zu ihrer Gesellschafterin gewandt, und wenn ich nun herausgeworfen und auf der Stelle todt wäre? Unsinn, sehen Sie mich nicht so an. Ich bin wie Ihr Mann; ich habe eine Anwandlung von Humor, und ich mache nur Scherz.

Sie waren den ganzen Tag weg. Als sie wieder heimkamen, war die Nacht schon hereingebrochen. Die langen in der frischen Luft zugebrachten Stunden hinterließen bei Beiden das Gefühl der Müdigkeit. Auch in dieser Nacht schlief Magdalene den tiefen traumlosen Schlaf der Nacht zuvor. Und so ging der Freitag zu Ende.

Ihr letzter Gedanke in der Nacht war derjenige gewesen, der sie den ganzen Tag aufrecht erhalten hatte. Sie legte ihr Haupt auf das Kissen nieder mit derselben Entschlossenheit, sich der nahen Prüfung zu unterwerfen, die sich bereits in Worten ausgesprochen hatte, als sie und Mrs. Wragge sich zufällig auf der Treppe begegneten. Als sie am Sonnabend Morgen aufwachte, war ihre Entschlossenheit wieder verschwunden. Die Freitagsgedanken, —— sogar die Freitagsereignisse waren aus ihrem Gedächtnisse ausgelöscht. Abermals rieselte es ihr trotz ihrer Jugend kalt durch die Adern, sie fühlte wieder das tödtliche Heranrücken der Verzweiflung, die in dem schwindenden Mondenscheine ihr nahegetreten war und die ihr in der erhabenen Stille ins Ohr geflüstert hatte.

—— Ich sah das Ende, wie es kommen mußte, sprach sie zu sich selbst, in der Donnerstagsnacht. Ich bin seitdem immer auf dem falschen Wege gewesen.

Als sie und ihre Gesellschafterin an diesem Morgen zusammenkamen, erneuerte sie ihre Klage wegen des Zahnwehs, sie lehnte das Erbieten der Mrs. Wragge, Arznei zu holen, abermals ab und verließ das Haus nach dem Frühstück wieder in der Richtung nach der Apotheke, wie sie den Morgen zuvor gethan hatte.

Dies Mal trat sie in den Laden, ohne einen Augenblick zu zögern.

—— Ich habe einen Anfall von Zahnweh, sprach sie abgerissen zu einem ältlichen Manne, der hinter dem Ladentische stand.

—— Darf ich Ihren Zahn besehen, Miss?

—— Es ist nicht nöthig, ihn zu besehen. es ist ein hohler Zahn. Ich denke ich habe es von Erkältung.

Der Apotheker empfahl verschiedene Mittel, wie sie seit fünfzehn Jahren in Aufnahme wären. Sie mochte aber keins davon kaufen.

—— Ich habe immer gefunden, daß Opium den Schmerz besser hebt, als irgend etwas Anderes, sagte sie, indem sie mit den Flaschen auf dem Ladentische spielte und dieselben ansah, während sie sprach, anstatt den Apotheker anzublicken. Geben Sie mir etwas Opium.

—— Ganz wohl, Miss. Erlauben Sie mir aber eine Frage, es ist nur der Form wegen. Sie wohnen in Aldborough, nicht wahr?

—— Ja. Ich bin Miss Bygrave von Nordsteinvilla.

Der Apotheker verbeugte sich, wandte sich sofort zu seinen Schränken und füllte ein gewöhnliches Halbunzenfläschchen mit Opium. Indem der Besitzer des Ladens den Namen und die Wohnung des Kunden vorher erfragte, erfüllte er eine Vorsichtsmaßregel, welche bei dem Stande der Gesetzgebung zu damaliger Zeit keineswegs unter solchen Umständen allgemein war.

—— Soll ich Ihnen etwas Watte auf das Opium legen? frug er, nachdem er ein Zettelchen an die Flasche befestigt und in großen Buchstaben ein Wort darauf geschrieben hatte.

—— Wenn Sie so gut sein wollen, ja. Was haben Sie auf die Flasche geschrieben?

Sie stellte die Frage in scharfem Tone mit eben soviel Mißtrauen als Neugier in ihrer Art und Weise.

Der Apotheker beantwortete die Frage, indem er einfach den Papierstreifen nach ihr zu drehte. Sie las darauf m großen Buchstaben geschrieben: Gift.

——Ich gehe gern sicher, sprach der alte Mann lächelnd. Sonst sehr ehrenwerthe Leute sind oft unselig nachlässig, wo es sich um Gifte handelt.

Sie begann wieder mit den Flaschen auf dem Ladentische zu spielen und stellte mit schlecht verhohlener Spannung eine andere Frage.

—— Ist bei so einem kleinen Tropfen Opium, fragte sie, von Gefahr die Rede?

—— Es ist genug, um den Tod hervorzubringen, Miss, versetzte der Apotheker ruhig.

—— Bei einem Kinde oder bei einer Person von schwacher Gesundheit?

—— Tod bei dem stärksten Manne in England, wer es auch sein möge.

Mit diesen Worten siegelte der Apotheker das Fläschchen in seine Hülle von weißem Papier und reichte das Opium, Magdalenen über den Ladentisch hinüber. Sie lachte, als sie es von ihm in Empfang nahm, und bezahlte es.

—— Es wird auf Nordsteinvilla keine Gefahr zu fürchten sein, sprach sie. Ich werde das Fläschchen in meinem Putztische verschlossen halten. Wenn es den Schmerz nicht hebt, so muß ich wieder zu Ihnen kommen und es mit einem andern Mittel versuchen. Guten Morgen.

—— Guten Morgen, Miss.

Sie ging geradewegs nach Hause, ohne einmal auf zusehen, ohne zu bemerken, ob Jemand und wer neben ihr ging. Sie streifte in der Flur an Mrs. Wragge vorbei, als ob sie an einem Stück Möbel vorbei gestreift wäre. Sie ging die Treppe hinaus und verfing ihren Fuß zwei Mal in ihren Kleidern wegen ihrer Unachtsamkeit auf die gewöhnliche Vorsicht, sie in die Höhe zu nehmen. Die alltäglichen Interessen und Sorgen des Lebens hatten bereits ihre Macht auf sie verloren.

In der Stille ihres Zimmers nahm sie das Fläschchen aus seiner Hülle und warf das Papier und die Watte ins Kamin. In dem Augenblicke, als sie Das that, geschah ein Klopfen an die Thür. Sie versteckte die kleine Phiole und schloß ungeduldig auf. Mrs. Wragge kam ins Zimmer.

—— Haben Sie Etwas für Ihr Zahnweh, meine Liebe?

Ja.

—— Kann ich Ihnen irgendwo zur Hand sein?

—— Nein.

Mrs. Wragge zögerte noch unruhig an der Thür, Ihr Benehmen verrieth deutlich, daß sie noch Etwas auf dem Herzen hatte.

—— Was gibt es? frug Magdalene mit scharfem Tone.

—— Seien Sie nicht Böse, sprach Mrs. Wragge. Ich bin in meinen Gedanken noch nicht ruhig über den Hauptmann. Er ist ein fleißiger Briefschreiber —— und doch hat er noch nicht geschrieben Er ist schnell wie der Blitz, —— und doch ist er noch nicht zurück. Heute ist Sonnabend, und noch kein Zeichen von ihm. Ist er auf und davon gegangen, was meinen Sie? Ist ihm Etwas begegnet?

—— Ich glaube es nicht. Gehen Sie wieder hinunter; ich will sogleich kommen und mit Ihnen davon sprechen.——

Sobald Magdalene wieder allein war, stand sie von ihrem Stuhle auf, ging auf einen Schrank im Zimmer zu, der verschlossen war und hielt einen Augenblick zögernd inne, die Hand am Schlüssel. Mrs Wragges Erscheinen hatte ihren ganzen Gedankengang in Verwirrung gebracht. Mrs. Wragges letzte Frage, so nichtssagend sie auch war, hatte sie am Rande des Abgrundes stutzig gemacht, hatte die alte schwache Hoffnung auf Erlösung durch einen Zufall aufs Neue in ihr rege gemacht.

—— Und warum nicht? sprach sie. Warum sollte Einem von ihnen nicht Etwas zugestoßen sein können?

Sie stellte das Opium in den Schrank, verschloß diesen und steckte den Schlüssel in ihre Tasche.

—— Noch Zeit genug bis Montag, dachte sie, —— ich will warten, bis der Hauptmann zurückkommt.

Nach einigem Hin- und Herreden im unteren Zimmer wurde ausgemacht, daß das Dienstmädchen die Nacht aufbleiben und, bis ihr Herr zurückkehrt, warten sollte. Der Tag verging ruhig ohne Ereignisse irgendwelcher Art. Magdalene träumte die Stunden hinweg, indem sie in einem Buche las. Die Geduld des Harrens und Wartens war über sie gekommen, die stechende Qual des Grübelns war endlich der Betäubung und Abstumpfung gewichen. Sie brachte den Tag und den Abend im Wohnzimmers hin, mit einem unbestimmten Gefühl, das sie warnte, in ihr eigenes Zimmer zu gehen. Als die Nacht herankam, als das Geräusch draußen und im Hause aufhörte, begann ihre Unruhe aufs Neue. Sie versuchte, sich durch Lesen zu zerstreuen. Allein die Bücher vermochten nicht ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Zeitung lag in einer Ecke des Zimmers; sie versuchte es nun mit der Zeitung.

Sie blickte zerstreut auf die Ueberschriften der Artikel, sie blätterte ohne Aufmerksamkeit Seite auf Seite durch, bis ihre umherschweifenden Blicke auf die Schilderung einer Hinrichtung in einem entfernten Theile von England fielen und angezogen wurden. Es war Nichts in der Geschichte des Verbrechens, das sie irgendwie anging, und doch las sie dieselbe. Es war eine gewöhnliche, entsetzlich gewöhnliche Mordgeschichte —— die Ermordung einer Bauernmagd durch einen Knecht, der eifersüchtig auf sie war. Er war durch keinen außerordentlichen Beweis überführt worden, und man hatte ihn dann unter keinen außergewöhnlichen Umständen aufgeknüpft Er hatte sein Geständniß abgegeben, wie andere Verbrecher seiner Classe, als er sah, daß keine Hoffnung mehr für ihn war, und die Zeitung hatte dasselbe am Schlusse des Artikels in folgenden Worten veröffentlicht: [Authentisch, vgl. Allgem. Zeitung, 3. August 1862, Correspondenz ans London. W.]

Ich stand mich mit der Verstorbenen ungefähr ein Jahr lang gut. Ich sagte, ich würde sie heirathen, wenn ich erst Geld genug hätte. Sie sagte, ich hätte jetzt Geld genug. Wir hatten einen Streit. Sie weigerte sich, mit mir wieder auszugehen; sie wollte Nichts mehr von meinem Bier wissen, sie ließ sich mit meinem Kameraden, dem Knecht David Crouch, ein. Ich ging am Sonnabend zu ihr hin und sagte, ich wolle sie heirathen, sobald wir nur aufgeboten werden könnten —— wenn, sie Crouch aufgeben wollte.

Sie lachte mich aus. Sie drängte mich aus dem Waschhause hinaus, und die Anderen sahen, wie sie mich hinaussteckte. Ich war nicht mehr bei mir selber. Ich ging fort und setzte mich auf ein Thor, das Thor auf der Wiese, die sie »Pettits Stück« nennen. Ich dachte, ich müßte sie. erschießen. Ich ging und nahm meine Flinte her und lud sie. Ich ging wieder hinaus auf die Wiese. Ich hatte mir es fest vorgenommen, mit mir aufs Reine zu kommen. Ich dachte, ich könnte mein Glück versuchen, —— ich meine, das Schicksal fragen, ob ich sie todt machen sollte oder nicht —— indem ich die Pflugschar in die Luft würfe. Ich sagte zu mir, wenn sie flach fällt, so will ich ihr das Leben schenken, wenn sie aber mit der Spitze in die Erde fällt, so will ich sie todt machen. Ich schwang sie tüchtig herum und warf sie in die Höhe. Sie fiel mit der Spitze in die Erde. Da ging ich denn und schoß sie nieder. Es war ein schlechter Spaß, aber ich that es. Ich that es, weils, wie man zu sagen pflegt, Bestimmung war. Ich hoffe, der Herr wird Gnade mit mir haben. Ich wünsche, daß meine Mutter meine alten Kleider erhält. Ich habe Nichts mehr zusagen.

In den glücklicheren Tagen ihres Lebens würde Magdalene den Bericht von der Hinrichtung überschlagen haben samt dem gedruckten Geständnis das ihn begleitete; der Gegenstand würde sie nimmer angezogen haben. Jetzt aber las sie die entsetzliche Geschichte, las sie mit einem ihr selbst unerklärlichen Interesse. Ihre Aufmerksamkeit, welche über edlere und bessere Gegenstände hinweggegangen war, folgte jedem Satze in dem abscheulich unumwundenen Geständnisse des Mörders von Anfang bis zu Ende. Wenn der Mann oder das Frauenzimmer ihr bekannt gewesen wären, wenn der Ort irgend ein Interesse für sie gehabt hätte, so hätte sie der Erzählung nicht aufmerksamer folgen oder einen tieferen Eindruck auf ihr Gemüth davontragen können. Sie legte die Zeitung hin, verwundert über sich selbst, sie nahm sie noch einmal in die Hand und versuchte einen andern Theil ihres Inhalts zu lesen. Der Versuch war vergeblich, ihr Geist schweifte sogleich wieder ins Weite. Sie warf das Blatt weg und ging in den Garten hinaus. Der Abend, war dunkel, die Sterne waren nur einzeln und schwach zu sehen. Sie konnte nur den Kiesweg erkennen und auf ihm zwischen der Hausthür und dem Gartenthore auf- und abgehen.

Das Geständnis; in der Zeitung hatte sich ihrem Geiste auf schauerliche Weise eingeprägt. Wie sie ans dem Wege dahinschritt, that sich die schwarze Nacht über dem Meere auf und zeigte ihr den Mörder auf dem Felde, wie er die Pflugschar in die Lüfte schwang. —— Sie eilte schaudernd ins Haus zurück. Der Mörder folgte ihr ins Wohnzimmer —— Sie ergriff den Leuchter und ging auf ihr Zimmer hinauf. Das Wahngebild ihrer eigenen gestörten Phantasie folgte ihr bis zu dem-Orte, wo sie das Opium verborgen hatte —— und verschwand dort....

Es war Mitternacht, und noch gab es kein Zeichen von der Rückkehr des Hauptmanns.

Sie nahm aus dem Schreibzeuge den langen Brief, welchen sie an Nora geschrieben hatte und las ihn langsam durch. Der Brief beruhigte sie. Als sie die leer gelassene Stelle am Schlusse erblickte, wandte sie rasch um und begann von vorne wieder zu lesen.

Es schlug Eins an der Kirchthurmuhr, und noch ließ der Hauptmann sich nicht blicken.

Sie las den Brief zum zweiten Male; sie wandte dann verzweifelt und beharrlich abermals um und las ihn zum dritten Male. Als sie nun wieder an die letzte Seite gekommen war, blickte sie nach ihrer Uhr. Es war ein Viertel vor Zwei. Sie hatte gerade die Uhr in den Gürtel ihres Kleides zurückgesteckt, als weit aus der Ferne durch die Morgenstille das Geräusch rollender Räder an ihr Ohr drang.

Sie ließ den Brief fallen, und schlug die Hände im Schooße zusammen und lauschte. Das Geräusch kam näher und näher, rascher und rascher. Für alle Anderen ein alltägliches Geräusch, für sie die Posaune des jüngsten Gerichts. —— Es ging längs des Hauses hin, es fuhr noch eine Strecke weiter, es blieb halten. Sie hörte ein lautes Pochen, dann das Aufgehen eines Fensters, dann Stimmen, dann lange Stille, dann die Räder wieder, zurückkommend, dann das Oeffnen der Thüre unten und den Klang der Stimme des Hauptmanns auf der Flur.

Sie konnte es nicht länger ertragen. Sie öffnete ihre Thür ein klein wenig und rief ihn an.

Er eilte augenblicklich die Treppe herauf, erstaunt, sie noch auf zu finden. Sie sprach mit ihm durch die enge Spalte der Thür, indem sie sich selbst dahinter verbarg; denn sie fürchtete sich, ihm ihr Gesicht zu zeigen.

—— Ist Etwas schlecht gegangen? frug sie.

—— Beruhigen Sie sich, antwortete er. Nichts ist schlecht gegangen.

—— Kann binnen heute und Montag kein widriger Zufall eintreten?

—— Ich wüßte keinen; Die Vermählung ist bereits eine fertige Thatsache.

—— Eine Thatsache?

—— Gewiß.

—— Gute Nacht.

Sie reichte ihm die Hand durch die Thür. Er ergriff sie mit einiger Ueberraschung: es war in seiner Erinnerung nicht oft vorgekommen, daß sie ihm aus eigenem Antriebe ihre Hand gab.

—— Sie sind zu lange aufgeblieben, sagte er, als er den Druck ihrer kalten Finger fühlte. Ich fürchte, Sie werden eine schlechte Nacht haben, ich fürchte, Sie werden nicht schlafen.

Sie schloß leise die Thür.

—— Ich werde, sprach sie, eher schlafen, als Sie es denken.

Es war über zwei Uhr, als sie sich in ihr Zimmer einschloß. Ihr Stuhl stand an seinem gewöhnlichen Platze am Putztische Sie setzte sich einige Minuten gedankenvoll nieder, öffnete dann ihren Brief an Nora und wandte sich an den Schluß, wo die leere Stelle war. Die letzten Zeilen, die über dieser Stelle standen, lauteten folgendermaßen:

... Ich habe mein ganzes Herz vor Dir bloß gelegt, ich habe Dir Nichts verborgen. Es ist bis dahin gekommen. Das Ende, das ich herbeizuführen gesonnen habe ans Kosten meines edleren Selbst, muß ich erreichen oder sterben. Es ist eine Erbärmlichkeit, es ist eine Tollheit, —— nenne es, wie Du willst —— aber es ist so. Es liegen jetzt zwei Gänge vor mir, zwischen denen ich die Wahl habe. Wenn ich ihn heirathen soll, —— der Gang zur Kirche. Wenn meine Selbstentwürdignng zu schmachvoll ist, als daß ich sie vollbringen kann, —— der Gang ins Todtenbett.

Unter diesen letzten Satz schrieb sie folgende Zeilen:

Meine Wahl ist entschieden. Wenn es das grausame Gesetz Dir gestatten will, so leg mich zu Vater und Mutter auf den Kirchhof daheim. Leb wohl, meine Liebe! Bleib immerdar unschuldig, sei immer glücklich. Wenn Frank je nach mir fragt, so sage ihm, ich starb und vergab ihm. Gräme Dich nicht lange um mich, Nora, —— ich verdiene es nicht.

Sie siegelte den Brief zu und richtete ihn an ihre Schwester. Die Thränen sammelten sich in ihren Augen, als sie ihn auf den Tisch legte. Sie wartete, bis ihr Blick wieder klar war und nahm dann die Banknoten abermals aus dem kleinen Täschchen auf ihrem Busen. Nachdem sie dieselben in einen Bogen Briefpapier eingeschlagen hatte, schrieb sie des Hauptmann Wragge Namen auf den Umschlag und setzte noch folgende Worte darunter:

—— Schließen Sie die Thür meines Zimmers und lassen Sie mich, bis meine Schwester kommt. Das Geld, das ich Ihnen versprach, ist hierin. Sie haben keinen Vorwurf verdient, es ist meine Schuld und nur die meine. Wenn Sie sich meiner freundlich erinneren wollen, so seien Sie um meinetwillen gut gegen Ihre Frau.

Nachdem sie diesen Umschlag neben den Brief an Nora gelegt hatte, stand sie auf und sah sich im Zimmer um. Ein paar kleine Gegenstände waren darin nicht an ihrem Platze. Sie stellte sie in Ordnung und zog die Vorhänge auf beiden Seiten am Kopfende ihres Bettes. Ihr Anzug war der nächste Gegenstand ihrer genauen Betrachtung. Er war so fein und rein und wohlgeordnet, wie immer; Nichts an ihr in Verwirrung, außer ihr Haar. Einige Flechten waren auf der einen Seite ihres Kopfes locker geworden und herunter gefallen, sie legte sie sorgfältig mit Hilfe ihres Spiegels wieder an ihren Platz.

—— Wie bleich ich aussehe! dachte sie mit einem schwachen Lächeln. Werde ich noch bleicher aussehen, wenn sie mich früh finden?....

Sie ging gerade auf die Stelle los, wo das Opium verborgen war, und nahm es hervor. Das Fläschchen war so klein, daß es ganz gut in die hohle Hand ging. Sie ließ es eine Weile drin und stand in Betrachtungen davor.

—— Tod! sprach sie, in diesem Tropfen braunen Trankes —— Tod! Sowie diese Worte über ihre Lippen gekommen waren, erfaßte sie augenblicklich ein unaussprechliches Entsetzen. Sie ging unruhig durch das Zimmer, mit einer wahnsinnigen Verwirrung im Kopfe, mit einer erstickenden Angst im Herzen. Sie faßte nach dem Tische, um sich daran zu halten. Das schwache Geräusch von dem Fläschchen, als es leicht aus ihrer offenen Hand heraus fiel und an ein Porzellangeschirr auf dem Tische anrollte, drang ihr wie ein Dolchstich durchs Gehirn. Der Ton ihrer eigenen Stimme, herabgesenkt zu einem Flüstern, wie sie das eine Wort: Tod aussprach, drang in ihr Ohr wie Sturmesbrausen. Sie schleppte sich ans Bett und lehnte am Boden sitzend ihren Kopf darauf.

—— Ach, mein Leben, mein Leben! dachte sie, was ist denn mein Leben Werth, daß ich so daran hänge?

Es trat eine Pause ein, und sie fühlte darauf, daß ihre Kraft wiederkehrte. Sie erhob sich auf ihre Kniee und verbarg ihr Antlitz auf dem Bette. Sie versuchte zu beten, um Vergebung zu beten dafür; daß sie ihre letzte Zuflucht zum Tode nahm. Wahnwitzige Worte fielen von ihren Lippen, Worte, die wie Schmerzensrufe geklungen hätten, hätte sie dieselben nicht in den Betten erstickt. Sie sprang auf ihre Füße, Verzweiflung verlieh ihr jählings die Kräfte einer Wüthenden. In einem Augenblicke war sie am Tische zurück, in einem weiteren Augenblick war das Gift noch ein Mal in ihren Händen.

Sie nahm den Kork heraus und hob das Fläschchen an ihren Mund.

Bei der ersten kalten Berührung des Glases an ihre Lippen bäumte sich ihr starkes junges Leben in ihrem Blute auf und kämpfte mit der ganzen Wucht seiner Verzweiflung gegen den nahen Todesschrecken an. Jede Fiber der üppigen Lebenskraft, die ihr beiwohnte, erhob sich in Empörung gegen das Werk der Zerstörung, das ihr eigener Wille an ihrem eigenen Leben zu begehen im Begriffe stand. Sie hielt inne, zum zweiten Male hielt sie inne wider ihren Willen. Da stand sie in der herrlichen Blüthe ihrer Jugend und Vollkraft, da stand sie zitternd an der Grenzscheide des menschlichen Daseins, den Kuß des Erbfeindes alles Lebens dicht vor den Lippen, für sich die Natur, die treu ihrem geheiligten Anrecht bis zuletzt um ihre Erhaltung kämpfte!

Kein Wort kam über ihre Lippen. Ihre Wangen errötheten tief, ihr Athem flog in immer stärkeren Zügen. Mit dem Gift noch in ihrer Hand, mit dem Gefühl, daß sie im nächsten Augenblick ohnmächtig werden würde, bewegte sie sich nach dem Fenster hin und zog den Vorhang auf, der es bedeckte.

Der junge Tag war angebrochen. Die breite graue Morgendämmerung strömte über das ruhige östliche Meer zu ihr herein.

Sie sah die Wasser mächtig und still in der nebelverhüllten Meeresstille sich heben und wälzen, fühlte den frischen Hauch der Morgenluft kühl über ihr Antlitz fächeln. Ihre Kraft kam zurück, ihr Geist wurde heller. Beim Anblick der See erinnerte sich ihre Seele des nächtlichen Spaziergangs im Garten und des Schreckbildes, das ihre gestörte Phantasie auf den schwarzen Grund gemalt hatte. Sie sah im Geiste das Bild wieder, sah den Mörder die Pflugschar wieder in die Luft werfen und Leben oder Tod des Weibes, das ihn verlassen hatte, aus den Zufall des Fallens der Spitze setzen. Der schreckliche Wahn dieses Menschen wirkte ansteckend auf ihren Geist, so jählings wie der junge Tag vor ihren Augen angebrochen war. Die Hoffnung aus Erlösung von dem Schrecken ihres Zauderns, die sie darin erblickte, erhob die letzte Willenskraft, die sie in ihrer Verzweiflung noch in sich fand. Sie entschloß sich den Kampf zu endigen, indem sie Leben oder Tod auf die Entscheidung des Zufalls setzte....

Aber auf welchen Zufall?...

Das Meer zeigte ihn ihr. Nur undeutlich konnte sie durch das Dunkel des Nebels eine kleine Flottille von Küstenschiffen erblicken, die langsam auf das Haus zufahren, alle dieselbe Richtung mit der günstigen Strömung der Fluth verfolgend. In einer halben Stunde, vielleicht noch eher, mußte die Flotte an ihrem Fenster vorüberkommen. Die Zeiger ihrer Uhr wiesen auf Vier. Sie setzte sich dicht ans Fenster, mit ihrem Rücken gegen die Gegend, aus der die Schiffe gegen sie herantrieben, das Gift auf das Fensterbret gestellt, die Uhr auf ihrem Schooße liegend. Noch eine halbe Stunde beschloß sie zu warten und die Schiffe zu zählen, wenn sie herankämen. Wenn dies Mal eine gerade Zahl an ihr vorüberkäme, sobald das Zeichen gegeben, so sollte es ein Zeichen zum Leben sein. Wenn die ungerade Zahl herrschte, so sollte Tod das Ende sein.

Mit diesem letzten Entschlusse lehnte sie ihr Haupt an das Fenster und wartete auf das Vorüberziehen der Schiffe.

Das erste kam, hochragend, dunkel und nahe in dem Nebel, geräuschlos durch die schweigende See gleitend. Eine Pause —— und das zweite folgte mit dem dritten hinterdrein. Eine zweite Pause, länger und länger ausgesponnen —— und Nichts kam vorüber. Sie sah auf ihre Uhr. Zwölf Minuten und drei Schiffe... Drei...

Das vierte kam, langsamer als die übrigen, größer als die übrigen, weiter ab in dem Nebel als die übrigen. Die Pause folgte, abermals eine lange Pause dann zog das nächste Fahrzeug vorbei, das dunkelste und nächste von allen... fünf ... die nächste ungerade Zahl.

Sie sah wieder auf ihre Uhr neunzehn Minuten und fünf Schiffe... zwanzig Minuten... einundzwanzig zwei... drei... und kein sechstes Schiff... vierundzwanzig, und das sechste kam vorbei fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig und die nächste ungerade Zahl —— die unheilvolle Sieben —— zog langsam herauf.... Noch zwei Minuten bis zu Ende der halben Stunde... und sieben Schiffe....

Neunundzwanzig, und Nichts folgte im Kielwasser des siebenten Schiffes. Der Minutenzeiger der Uhr bewegte sich halbwegs zu dreißig und noch blieb die weiße schwellende See eine neblige leere Fläche. —— Ohne ihren Kopf vom Fenster zu drehen, nahm sie das Gift in die eine Hand und hob die Uhr in der andern. Wie die raschen Secunden einander abzählten, so rasch sahen ihre Augen von der Uhr aufs Meer, vom Meer auf die Uhr, sahen zum letzten Male aufs Meer —— und —— sahen das achte Schiff!

Leben, im letzten Augenblicke Leben!

Sie rührte sich nicht mehr, sie sprach nicht mehr. Der Tod der Gedanken und Gefühle schien bereits über sie gekommen zu sein. Sie stellte das Gift gedankenlos wieder auf das Bret des Fensters und sah wie im Traume dem Schiffe zu, wie es sanft seinen stillen Weg dahinzog, dahinzog, bis es dämmernd in dem Schatten verschwand —— dahinzog, bis es im Nebel verschwunden war.

Der Druck auf ihrem Geiste ließ nach, als der Bote des Lebens aus ihrem Gesichtskreise entschwunden war.

—— Vorsehung? flüsterte sie leise vor sich« hin, Vorsehung oder Zufall?

Ihre Augen schlossen sich, und ihr Haupt sank zurück. Als das Gefühl des Lebens ihr zurückkam, war die Morgensonne warm auf ihrem Angesichte, blickte der blaue Himmel auf sie nieder und war das Meer eine Fluth von Gold.

Sie sank auf ihre Kniee am Fenster und brach in Tränen aus.

. . . . . . . . . . . . . .

Gegen Mittag desselben Tages wurde der Hauptmann, als er unten wartete und keine Bewegung in Magdalenens Zimmer merkte, unruhig über das lange Schweigen. Er befahl, daß das Mädchen mit ihm hinausginge, und, indem er aus die Thür zeigte, sagte er ihr, daß sie sachte hineinsehen und nachsehen sollte, ob ihre Herrin erwacht sei.

as Mädchen trat ins Zimmer, blieb einen Augenblick darin und kam dann wieder heraus, indem es die Thür leise wieder zumachte.

—— Sie sieht schön aus, Sir, sagte das Mädchen; und sie schläft so ruhig, wie ein neugeborenes Kind.


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