Der Mondstein



Viertes Capitel.

Das Unterzeichnen des Testaments ging viel rascher vor sich, als ich mir gedacht hatte. Dasselbe wurde mit einer nach meinem Gefühl unanständigen Hast durchgejagt. Der Diener Samuel wurde herbeigeholt, um als zweiter Zeuge zu fungieren, und ehe man sich’s versah, wurde die Feder meiner Tante in die Hand gesteckt. Ich fühlte mich gedrungen, die feierliche Gelegenheit nicht ohne einige angemessene Worte vorübergehen zu lassen, aber Herrn Bruff’s Benehmen überzeugte mich, daß es das Richtigste sein werde, dieses Bedürfniß zurückzudrängen, so lange er im Zimmer sei. In weniger als zwei Minuten war Alles vorbei und Samuel war wieder hinuntergegangen.

Herr Bruff faltete das Testament zusammen und sah mich dann mit einem Blicke an, der mich zu fragen schien, ob ich ihn mit meiner Tante allein zu lassen gedenke oder nicht. Ich hatte meine Gnadenmission zu erfüllen und hatte meinen Sack voll köstlicher Schriften auf meinem Schooße bereit. Er hätte es eben so gut versuchen können, die Paulskirche durch seine Blicke von der Stelle zu rücken, als mich. Er hatte eine gute Eigenschaft, die er ohne Zweifel seiner weltlichen Erziehung verdankte und die ich keineswegs in Abrede zu stellen gemeint bin. Er war rasch im Erfassen der Dinge. Ich schien auf ihn einen ähnlichen Eindruck hervorzubringen, wie einige Stunden früher auf den Droschkenkutscher. Auch er stieß. ein profanes Wort aus, er ging mit leidenschaftlicher Hast von dannen und ließ mich als Meisterin des Platzes zurück. Sobald wir allein waren, lehnte sich meine Tante in die Kissen des Sophas zurück und spielte dann, anscheinend etwas verwirrt, auf die Testaments-Angelegenheit an.

»Ich hoffe, Drusilla,« sagte sie, »Du fühlst Dich nicht zurückgesetzt. Ich will Dir das kleine Vermächtniß, das ich Dir zugedacht habe, mit warmer Hand geben.«

Das war eine goldene Gelegenheit! Ich ergriff sie auf der Stelle. Mit anderen Worten, ich öffnete sofort meinen Sack und nahm die Hauptschrift heraus. Es war eine der ersten Auflagen —— erst die fünfundzwanzigste —— des berühmten anonymen, der vortrefflichen Miß Bellows zugeschriebenen Werkes: »Die Schlange im Hause.« Die Tendenz des Buches, die dem weltlichen Leser vielleicht nicht bekannt, ist, zu zeigen, wie der Böse in allen, auch den anscheinend unschuldigsten Lagen unseres täglichen Lebens auf uns, lauert. Die zur Nutzanwendung für weibliche Leser geeignetsten Capitel sind: Satan in der «Haarbürste; Satan hinter dem Spiegel; Satan unter dem Theetisch; Satan vor dem Fenster und viele andere.

»Lies dieses kostbare Buch mit Aufmerksamkeit, liebe Tante, und ich verlange kein weiteres Geschenk von Dir.« Mit diesen Worten überreichte ich es ihr offen an einer bezeichneten Stelle. Es war ein ununterbrochener Sturm glühender Beredtsamkeit und behandelte das Thema: Satan in den Sophakissen.

Die arme Lady Verinder, die gedankenlos in ihre Sophakissen zurückgelehnt dasaß, warf einen Blick auf das Buch und sah noch verwirrter als vorher aus, als sie es mir wieder zurückgab.

»Ich fürchte, Drusilla,« sagte sie, »ich muß warten, bis ich mich etwas besser befinde, bevor ich das lesen kann. Der Doctor ——«

In dem Augenblick, wo sie den Namen des Doctors aussprach, wußte ich, was kommen würde. Zu wiederholten Malen waren in meiner früheren Wirksamkeit bei meinen todtkranken Mitmenschen die Mitglieder des notorisch ungläubigen Standes der Aerzte unter dem elenden Vorwande zwischen mich und meine Gnadensendung getreten, daß der Patient der Ruhe bedürfe und daß der von Allen störendste Einfluß, den sie zumeist fürchteten, der Miß Clacks und ihrer Bücher sei. Genau derselbe verblendete Materialismus war jetzt verrätherisch hinter meinem Rücken arbeitend darauf bedacht gewesen, mich des einzigen Eigenthums zu berauben, auf welches ich Arme Anspruch machen konnte —— meines geistigen Eigenthumsrechts an meiner dem Tode nahen Tante.

»Der Doktor findet,« fuhr meine arme mißleitete Verwandte fort, »daß es mir heute nicht gut geht. Er verbietet mir, irgend einen Fremden zu sehen, und verordnet mir, wenn ich überhaupt lese, nur die leichteste und unterhaltendste Lectüre »»Vermeiden Sie Alles, Lady Verinder, was Ihren Kopf angreifen oder Ihren Puls beschleunigen könnte.«« Das waren heute seine letzten Worte beim Fortgehen, Drusilla.«

Hier war wieder nichts zu thun, als, wie vorhin, für den Augenblick nachzugehen. Jedes offene Aussprechen über die unendlich höhere Wichtigkeit einer Behandlung wie die meinige im Vergleich mit der Behandlung des Arztes hätte nur dahin führen können, daß der Doktor auf die menschliche Schwäche seines Patienten gewirkt und gedroht haben würde, sich ganz zurückzuziehen. Glücklicher Weise giebt es mehr als einen Weg, die gute Saat auszustreuen, und wenige Menschen kennen die Wege besser, als ich.

»Vielleicht fühlst Du Dich in einigen Stunden stärker, liebe Tante,« sagte ich, »oder vielleicht erwachst Du morgen früh mit dem Gefühl eines geistigen Bedürfnisses und vielleicht ist dieses anspruchslose Buch im Stande, demselben abzuhelfen. Darf ich das Buch hier lassen, Tante? Dagegen wird der Doctor doch nichts haben können!«

Ich ließ es sachte in die Sophakissen gleiten, so daß es zur Hälfte in demselben steckte, zur Hälfte daraus dicht neben ihrem Schnupftuch und ihrem Riechfläschchen hervorragte. So oft ihre Hand nach einem dieser Gegenstände griff, mußte sie auch das Buch berühren und früher oder später, wer weiß? konnte das Buch auch sie rühren. Nachdem ich diese Vorkehrungen getroffen hatte, schien es mir richtig, mich zurückzuziehen.

»Du mußt jetzt Ruhe haben, liebe Tante; ich spreche morgen wieder vor.« Bei diesen Worten blickte ich zu fällig nach dem Fenster. Eine Fülle von Blumen in Vasen und Töpfen stand vor demselben. Lady Verinder war eine leidenschaftliche Liebhaberin dieser vergänglichen Schätze und hatte die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit aufzustehen und an ihre Blumen zu treten und daran zu riechen. Ein neuer Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

»Darf ich mir eine Blume nehmen?« sagte ich. Mit diesen Worten konnte ich an’s Fenster, ohne irgend welchen Argwohn zu erregen. Anstatt eine Blume wegzunehmen, legte ich noch eine hin, und zwar in Gestalt eines andern Buches aus meinem Sack, welches meine Tante zu ihrer Ueberraschung zwischen Geranium und Rosen finden sollte. Daraus kam mir der glückliche Gedanke: »Warum soll ich nicht für die arme Seele dasselbe in allen übrigen Räumen thun, die sie betritt?« Ich verabschiedete mich auf der Stelle und ging durch die Halle verstohlen in die Bibliothek. Samuel, der von unten heraufkam, um mir die Hausthür zu öffnen, ging, als er mich nicht sah, in der Meinung, daß ich bereits fortgegangen sei, wieder hinunter. Auf dem Tische in der Bibliothek sah ich zwei von den unterhaltenden Büchern liegen, welche der ungläubige Doctor empfohlen hatte. Ich entzog sie auf der Stelle dem Auge, indem ich zwei meiner köstlichen Schriften aus sie legte. Im Frühstückszimmer fand ich den Lieblings-Canarienvogel in seinem Käfig singen. Lady Verinder hatte die Gewohnheit, ihren Vogel immer selbst zu füttern. Auf einem unter dem Käfig stehenden Tisch war etwas Canariensaamen verstreut Ich legte ein Buch zwischen die Samenkörner. Im Wohnzimmer fand ich noch bessere Gelegenheiten, meinen Sack zu leeren. Die Lieblingsnoten meiner Tante lagen auf dem Clavier. Ich schob noch zwei Bücher unter dieselben. Wieder ein anderes legte ich in dem hintern Wohnzimmer unter eine unvollendete Stickerei, an der meine Tante, wie ich wußte, arbeitete. Noch ein drittes kleines Zimmer lag neben dem hintern Wohnzimmer, von welchem es nur durch Portieren getrennt war. Auf dem Kamin lag der einfache altmodische Fächer meiner Tante. Ich öffnete mein neuntes Buch an einer sehr bedeutsamen Stelle und legte den Fächer als Lesezeichen hinein. Es entstand nun für mich die Frage, ob ich noch weiter gehen, mich in das Schlafzimmer wagen und damit unzweifelhaft der Gefahr aussetzen solle, von der Person mit den Mützenbändern, wenn dieselbe sich zufällig in den oberen Regionen des Hauses aufhalten und mir dort begegnen sollte, insultirt zu werden. Aber, was kümmerte ich mich darum? Der ist nur ein armseliger Christ, der sich vor Insulten fürchtet. Ich ging, auf Alles gefaßt, die Treppe hinauf. Ueberall herrschte die größte Stille —— es war, glaube ich, die Theestunde der Dienstboten. Das Schlafzimmer meiner Tante lag nach vorn. Das Miniaturbild meines lieben verstorbenen Onkels hing an der Wand, dem Bett gegenüber. Es schien mich anzulächeln, es schien zu mir zu sagen: »Drusilla, lege hier ein Buch hin.« Zu beiden Seiten des Betts meiner Tante standen Tische. Sie schlief in der Regel schlecht und bedurfte Nachts einer Menge von Dingen oder glaubte ihrer zu bedürfen. ich legte ein Buch neben die Zündhölzer auf der einen und ein anderes unter die Schachtel mit Chocoladebonbons auf der andern Seite. Mochte sie nun eines Lichts oder eines Bonbons bedürfen, in beiden Fällen mußte ihr Auge auf eine köstliche Schrift fallen oder mußte ihre Hand eine solche berühren, die in beiden Fällen zu ihr sprechen würde: »Komm’, prüfe mich! prüfe mich!«

Aber ein Buch lag noch auf dem Boden meines Sacks und ein Raum war noch unbesucht, das Badezimmer, welches direct mit dem Schlafzimmer in Verbindung stand. Ich warf einen Blick hinein; und die heilige innere Stimme, die uns nie täuscht, flüsterte mir zu: »Du hast sie überall anderswo getroffen, Drusilla; triff sie auch im Badezimmer und Deine Arbeit ist gethan.« Ich bemerkte einen über einen Stuhl hängenden Schlafrock. In demselben befand sich eine Tasche und in die selbe steckte ich mein letztes Buch. Wer kann das glückliche Gefühl erfüllter Pflicht schildern, mit dem ich, ungesehen von irgend Jemand, aus dem Hause schlüpfte und mit meinem leeren Reisesack unter dem Arm auf die Straße trat. O! meine weltlichen Freunde, die ihr dem Phantom »Vergnügen« durch die sündigen Irrgänge der Zerstreuung nachjagt, wie leicht ist es, glücklich zu sein, wenn ihr nur tugendhaft sein wollt!

Als ich an jenem Abend meine Kleider zusammenlegte und die echten Reichthümer überdachte, welche ich mit so verschwenderischer Hand in dem Hause meiner reichen Tante von oben bis unten ausgestreut hatte, da fühlte ich mich so frei von jeder ängstlichen Sorge, als wäre ich wieder ein Kind geworden. Ich fühlte mich so leicht, daß ich einen Vers des Abendgebets sang und einschlief, bevor ich den zweiten Vers singen konnte. Ganz wieder wie ein Kind! Ganz wie ein Kind!

So verbrachte ich diese glückselige Nacht. Und wie jung fühlte ich mich, als ich am nächsten Morgen aufstand! Ich könnte hinzufügen, wie jung sah ich aus, wenn ich im Stande wäre mich bei dem Aussehen meines eigenen verjüngten Lebens aufzuhalten. Aber ich bin dazu nicht im Stande und ich füge nichts hinzu.

Gegen die Zeit des zweiten Frühstücks setzte ich, —— nicht des leiblichen Genusses wegen, sondern um die liebe Tante sicher zu finden —— meinen Hut auf, um nach Montague-Square zu gehen.

Als ich eben fertig war, blickte die Magd des Logis in dem ich damals wohnte, zur Thür hinein und sagte: »Lady Verinder’s Diener wünscht Sie zu sprechen, Miß Clack.«

Ich wohnte bei meinem damaligen Aufenthalte zu ebener Erde. Mein Wohnzimmer lag nach der Straße. Es war sehr klein, sehr niedrig und sehr dürftig möblirt, —— aber ach! so sauber. Ich blickte zur Thür hinaus auf den Vorplatz, um zu sehen, welcher von Lady Verinder’s Dienern nach mir gefragt habe? Es war der junge Diener Samuel, ein höflicher, gut aussehender Mensch mit einem intelligenten Auge und sehr artigen Manieren.

Ich hatte stets ein geistliches Interesse für Samuel empfunden und immer gewünscht, einmal die Wirkung einiger ernsten Worte auf ihn zu versuchen. Ich benutzte die Gelegenheit, ihn zu mir hereinkommen zu lassen.

Er trat mit einem großen Packet unter dem Arm herein. Als er dasselbe hinstellte, schien er etwas verlegen: »Dies soll ich mit Mylady’s besten Empfehlungen abgeben und dabei bestellen, daß Sie einen Brief darin finden werden.

Nachdem er diese Bestellung ausgerichtet, machte der hübsche junge Diener zu meiner Ueberraschung ein Gesicht als ob er sich gern rasch aus dem Staube gemacht hätte. Ich hielt ihn zurück, um einige freundliche Fragen an ihn zu richten: Ob ich meine Tante treffen würde, wenn ich jetzt nach Montague-Square ginge? Nein, sie sei ausgefahren. Miß Rachel habe sie begleitet und auch Herr Ablewhite sei von der Parthie. Da ich wußte, wie sehr Herr Godfrey mit seinen Arbeiten für mildthätige Zwecke im Rückstand sei, befremdete es mich zu hören, daß er, wie Jemand der nichts zu thun hat, spazieren fahre. Ich hielt Samuel an der Thür zurück und that noch einige weitere freundliche Fragen. Fräulein Rachel wolle an diesem Abend einen Ball besuchen und Herr Ablewhite habe versprochen, zum Caffee zu kommen und sie zu begleiten. Für den nächsten Tag war eine musikalische Matiné angekündigt und Samuel hatte Ordre, Plätze, für eine große Gesellschaft, zu der auch Herr Ablewhite gehörte, zu nehmen. »Wenn ich nicht rasch mache, Miß,« sagte der unschuldige Junge, »so sind vielleicht alle Billete vergriffen.« Mit diesen Worten eilte er fort und ich fand mich wieder allein, mit einigen sorgenvollen Gedanken mich zu beschäftigen.

Auf den Abend war eine Sitzung unserer »Gesellschaft für Mütter zur Umwandlung von Hosen« angesetzt und in den Convocationen ausdrücklich als Zweck angegeben, Herrn Godfrey’s Rath und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Anstatt unserer Schwesterschaft bei dem Vorhandensein einer überwältigenden Fluth von Hosen, welche unsere kleine Gemeinschaft ganz außer Fassung gebracht hatte, treulich zur Seite zu stehen, hatte er eine Verabredung, in Montague-Square Caffee zu trinken und nachher auf einen Ball zu gehen. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Jahresfeier der britischen Dienstmädchen - Sonntagsliebsten - Ueberwachungs - Damengesellschaft stattfinden. Anstatt dieser Feier eines schwer ringenden Vereins als die Seele desselben beizuwohnen, hatte er sich mit einer Gesellschaft von Weltlingen engagirt, eine musikalische Matiné zu besuchen! Ich fragte mich, was das zu bedeuten habe? Ach! es bedeutete, daß unser christlicher Held mir in meinem neuen Lichte erschien und sich in meiner Vorstellung eng mit einem der schrecklichsten in neuerer Zeit vorgekommenen Abfällen vom Glauben verknüpfte.

Kehren wir jedoch zur Geschichte dieses Tages zurück. Als ich mich allein in meinem Zimmer befand, wendete ich meine Aufmerksamkeit natürlich dem Packet zu, welches den gutaussehenden jungen Diener so auffallend verlegen zu machen schien. Sollte es das mir von meiner Tante versprochene Vermächtniß enthalten, und zwar in der Gestalt von abgetragenen Kleidern, oder abgeputzter silberner Löffel, oder aus der Mode gekommener Schmucksachen oder von sonst etwas der Art? Entschlossen, alles anzunehmen und nichts übel zu nehmen, öffnete ich das Packet, und —— was mußten meine Augen sehen! die zwölf köstlichen Schriften, die ich Tags zuvor im Hause verstreut hatte; alle auf Ordre des Doktors an mich zurückgeschickt! Nun erklärte sich die Scheu des Jünglings Samuel, mir das Packet abzugeben! Nun erklärte sich die Eile, mit der er wieder aufgebrochen war, als er seinen elenden Auftrag ausgerichtet hatte! Der Brief meiner Tante beschränkte sich auf die einfache Mittheilung, daß sie —— die arme Seele —— ihrem Arzte gehorchen müsse.

Was war nun zu thun? Meine Erziehung und meine Principien ließen mich nie einen Augenblick schwanken.

Wenn der wahre Christ sich erst einmal der stets bereiten Hilfe seines Gewissens versichert, wenn er erst einmal die Bahn einer unfehlbar heilsamen Wirksamkeit betreten hat, so weicht er niemals einen Schritt zurück. Weder öffentliche noch private Einflüsse bringen die mindeste Wirkung auf uns hervor, wenn wir einmal unsere Mission erkannt haben. Unsere Mission kann Aufruhr und Krieg hervorrufen, wir führen unser Werk fort, unbeirrt durch jede menschliche Rücksicht welche die Welt außerhalb unseres Kreises bewegt. Wir fühlen uns erhaben über die Vernunft; wir scheuen uns nicht, lächerlich zu erscheinen, wir sehen mit Niemandes Augen, wir hören mit Niemandes Ohren, wir fühlen mit keinem menschlichen Herzen, als mit unserm eigenen. Herrliches, herrliches Vorrecht! Und wie erwirkt man es? O, meine Freunde, spart Euch diese unnöthige Frage! Wir sind die Einzigem die es erwerben können, denn wir sind die einzigen Gerechten.

In dem Falle meiner mißleiteten Tante war mir der Weg, den meine fromme Beharrlichkeit zunächst einzuschlagen hatte, sofort klar.

Eine Vorbereitung durch geistliche Freunde war durch Lady Verinder’s eigenes Widerstreben vereitelt. Eine Vorbereitung durch Bücher war durch den ungläubigen Trotz des Doctors vereitelt. Nun wohl! Womit konnte man es jetzt versuchen? Der nächste Versuch war mit kleinen Billeten zu machen. Mit andern Worten, da die Bücher selbst zurückgeschickt worden waren, mußten jetzt ausgewählte Auszüge aus den Büchern in verschiedenen Handschriften und alle in Briefform an meine Tante adressirt ihr theils durch die Post zugeschickt, theils im ganzen Hause in der Weise, wie ich es Tags zuvor mit den Büchern gethan hatte, vertheilt werden. In ihrer Briefform würden diese Auszüge keinen Verdacht erregen, als Briefe würden sie geöffnet, und einmal geöffnet, vielleicht gelesen werden. Einige dieser Briefe schrieb ich selbst. »Liebe Tante, darf ich Deine Aufmerksamkeit für einige Augenblicke in Anspruch nehmen?« u. s. w. »Liebe Tante, gestern Abend frappirte mich bei meiner Lectüre die folgende Stelle« u. s. w. Andere Briefe ließ ich mir von meinen trefflichen Mitarbeitern am Werke des Herrn, von der Schwesterschaft des mütterlichen Hosenvereins, schreiben. »Verehrte Frau! Halten Sie es dem Interesse, welches ein treuer, aber demüthiger Freund an Ihnen nimmt, zu Gute« u. s. w. »Sehr verehrte Frau! Darf ein ernster Freund es sich herausnehmen, Ihnen einige ermunternde Worte zuzurufen?« u. s, w. Indem wir uns dieser und ähnlicher Formen einer höflichen Ansprache bedienten, verschafften wir allen meinen köstlichen Stellen in einer Gestalt wieder Eingang, gegen welche selbst der argwöhnische und wachsame Materialismus des Doctors nichts vermochte. Noch ehe der Abend anbrach, hatte ich ein Dutzend erweckender Briefe für meine Tante, anstatt eines Dutzends erweckender Bücher. Sechs bestimmte ich für die Beförderung durch die Post und sechs behielt ich in der Tasche, um sie selbst am nächsten Tage im Hause zu vertheilen.

Bald nach 2 Uhr stand ich wieder auf der Stätte frommer Kämpfe, an der Schwelle von Lady Verinder’s Haus und richtete wieder freundliche Fragen an Samuel.

Meine Tante hatte wieder eine schlechte Nacht gehabt. Sie hatte sich in dem Zimmer, in welchem ich als Zeuge bei der Unterzeichnung ihres Testaments fungirt hatte, auf das Sopha gelegt, um wo möglich etwas zu schlummern. Ich sagte, ich wolle in der Bibliothek warten, ob ich sie vielleicht werde sehen können. In meinem Feuereifer, die Briefe zu vertheilen, dachte ich nicht daran, nach Rachel zu fragen. Das Haus war ruhig und die Zeit des Beginns der musikalischen Ausführung war bereits vorüber. Ich hielt es für ausgemacht, daß sie und ihre Gesellschaft von Vergnüglingen, Herrn Godfrey leider mit einbegriffen, alle im Concert seien, und benutzte Zeit und Gelegenheit, wie sie sich mir darboten, meinem guten Werke eifrig obzuliegen.

Die für meine Tante eingetroffenen Briefe —— die sechs Erweckungsschreiben, die ich Abends zuvor auf die Post gegeben hatte, mit einbegriffen, lagen uneröffnet auf dem Tisch in der Bibliothek. Sie hatte sich offenbar der Lectüre einer so großen Menge von Briefen nicht gewachsen gefühlt und würde voraussichtlich, wenn sie im Laufe des Tages die Bibliothek beträte, über die Zahl derselben erschrocken gewesen sein. Ich legte einen von meinen zweiten Halbdutzend-Brief-Serie allein auf das Kaminsims indem ich darauf rechnete, daß seine einsame, von den übrigen entfernte Lage ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen werde. Einen zweiten Brief legte ich absichtlich auf den Fußboden des Frühstückszimmers. Der erste Dienstbote, der das Zimmer nach mir beträte, würde glauben, daß meine Tante den Brief habe fallen lassen und es sich besonders angelegen sein lassen, ihn ihr wiederzubringen. Nachdem ich so im Erdgeschoß das Feld bestellt hatte, eilte ich leichten Fußes hinaus, um meine Gnadensaat im ersten Stock auszustreuen.

In dem Augenblick, als ich in das Vorderzimmer treten wollte, hörte ich ein zweimaliges Klopfen an der Hausthür —— ein sanftes, zaghaftes rücksichtsvolles kleines Klopfen.

Bevor ich daran denken konnte, wieder in die Bibliothek zu schlüpfen, wo man mich wartend glaubte, war der behende junge Diener in der Halle, um die Hausthür zu öffnen. Das Klopfen konnte nach meiner Meinung nicht viel zu bedeuten haben. Bei dem Gesundheitszustande meiner Tante wurden Besuche in der Regel nicht angenommen. Zu meinem Schrecken und Erstaunen zeigte es sich, daß mit dem Urheber des sanften Klopfens eine Ausnahme von der Regel gemacht wurde. Samuel sagte, nachdem er anscheinend einige Fragen beantwortet, die ich nicht hören konnte, ganz vernehmlich: »Wollen Sie sich gefälligst hinauf bemühen.« Im nächsten Augenblicke hörte ich männliche Fußtritte sich dem ersten Stock nähern. Wer« konnte wohl dieser begünstigte männliche Besucher sein? Aber kaum hatte ich mir selbst diese, Frage gestellt, als mir auch schon die Antwort einfiel. Wer anders konnte es sein, als der Doctor?

Bei jedem anderen Besuch würde ich mir nichts daraus gemacht haben, mich im Wohnzimmer betreffen zu lassen. Man würde nichts Auffallendes darin gefunden haben, daß ich der Bibliothek überdrüssig, der Abwechslung wegen hinaufgegangen wäre. Aber meine Selbstachtung verbot mir, den Mann zu treffen, der mich durch die Zurücksendung meiner Bücher insultirt hatte. Ich schlüpfte in das dritte kleine Zimmer, in welches, wie ich bereits erzählt habe, das hintere Wohnzimmer führt, und zog die Vorhänge, welche als Thür dienten, hinter mir zu. Dort würde ich nur ein paar Minuten zu verweilen brauchen, bis der Doctor wie gewöhnlich in das Zimmer seiner Patientin geführt werden würde.

Ich wartete und wartete. Ich hörte den Besucher unruhig auf und abgehen. Dann hörte ich ihn mit sich selber reden. Ich glaubte sogar die Stimme zu erkennen. Hatte ich mich geirrt? War es nicht der Doctor, sondern Jemand anders? Vielleicht Herr Bruff? Nein, ein sicherer Instinkt sagte mir, daß es nicht Herr Bruff sei. Aber wer es auch sein mochte, er sprach noch immer mit sich selbst. Ich zog die schweren Vorhänge unmerklich ein ganz klein wenig auseinander und horchte.

Ich hörte die Worte: »Ich will es heute thun!« und die Stimme, welche diese Worte aussprach, gehörte Herrn Godfrey Ablewhite.


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