Herz und Wissen



Capitel LII.

Während Teresa die Nacht bei Carmina wachte, beschäftigten sich ihre Gedanken mit Mr. Le Frank. Ueber dem Sinnen nach den Motiven, die denselben bewogen haben mochten, sich dort im Hause einzumiethen, verging doch die traurige Zeit.

Die gewöhnliche Wahrscheinlichkeit wies jedenfalls auf die Folgerung hin, daß er aus Gründen, die nur ihn selbst betrafen, umgezogen wäre; und in diesem Falle wäre es einfach dem Zufall zuzuschreiben gewesen, daß er Teresa's Hausgenosse geworden war. Sie würde auch vielleicht kein Bedenken getragen haben, diese Ansicht anzunehmen, wenn nicht gewisse Erinnerungen gewesen wären, die sie zögern ließen. Sie hatte ihn zuerst im Hause Mrs. Gallilee's getroffen, und damals hatte seine Persönlichkeit einen so unangenehmen Eindruck auf sie gemacht, daß sie sich nicht hatte enthalten können, gegen Carmina zu äußern, er sähe aus wie ein Schurke. Dies frühere Vorurtheil gegen ihn und die ernstlichen Gründe, die sie gegenwärtig zum Mißtrauen gegen Mrs. Gallilee hatte, ließen sie den Gedanken an einen Zufall verwerfen. Andere Frauen in ihrer Lage und mit gleichem Mißtrauen hätten sich vielleicht gefragt, ob er seinen eigenen Zweck verfolge oder im Interesse Mrs. Gallilee's handele. Teresa’s heftige und impulsive Natur war aber eines abwägenden Ueberlegens solcher Fragen unfähig und kam dennoch ohne Weiteres zu dem richtigen Schlusse —— daß nämlich der Musiklehrer Mrs Gallilee als Spion diene. Während Mr. Le Frank mit schlauer Vorsicht seine Pläne für den folgenden Tag entwarf, war er gerade für diejenige, deren Geheimnisse er zu erforschen strebte, selbst ein Gegenstand des Argwohns geworden.

Diese Nacht war die längste und traurigste, welche die alte treue Amme am Bette ihres Lieblings verbracht hatte. Zum ersten Male war Carmina verdrießlich und schwer zu befriedigen, und es bedurfte geduldigen Zuredens, um sie zu bewegen, ihre Medizin einzunehmen. Selbst wenn sie durstig war, war sie gereizt über die Störung, daß ihr die Limonade angeboten wurde, welche sie sonst so gern getrunken hatte. Einige Male zeigte sie auch Symptome von Geistesverwirrung; sie glaubte, daß es ihr Hochzeitsabend sei, und fragte Teresa angelegentlich, was dieselbe mit ihrem neuen Kleide gemacht habe. Etwas später, nachdem sie vielleicht geträumt hatte, glaubte sie, daß ihre Mutter noch lebe, und wiederholte längst vergessene Kinderplaudereien. »Was habe ich gesagt, das Dich bekümmert?« fragte sie verwundert, als sie Teresa weinen sah.

Bald nach Tag werden kam eine lange Ruhepause. Später, als Benjulia ankam, war die Kranke ruhig und klagte nicht, und die ungünstigen Symptom, welche Teresa bewogen hatten, darauf zu bestehen, daß nach ihm geschickt wurde, waren vollständig verschwunden, so daß Mr. Null auf eine grobe Zurechweisung gefaßt war, weil er den großen Mann durch falschen Alarm gestört habe. Beide, er und Teresa bemühten sich, die Sache auseinanderzusetzen; Benjulia schenkte ihnen indessen nicht die geringste Aufmerksamkeit, machte keine ärgerlichen Bemerkungen, sondern zeigte in seiner unerschütterlichen Weise das gleiche befriedigende Interesse an dem Falle wie immer.

»Ziehen Sie das Rouleau auf,« sagte er; »ich möchte sie deutlich sehen.«

Mr. Null wartete respektvoll und legte Teresa strenges Schweigen auf, während die Untersuchung vor sich ging. Dieselbe dauerte so lange, daß er zu fragen wagte: »Sehen Sie etwas Besonderes?«

Benjulia sah seine Zweifel aufgeklärt: Wie er vorausgesehen, hatte die Zeit die Entwickelung gebracht und ihn in den Stand gesetzt, zu einem Schlusse zu kommen. Der Schlag, der Carmina getroffen, hatte eine hysterische Störung zur Folge gehabt, die nun »scheinbare Paralysis« zu werden begann. Benjulia's forschender geübter Blick entdeckte eine kleine Ungleichheit in der Größe der Pupillen und einen schwachen Unterschied in der Thätigkeit auf beiden Seiten des Gesichts, wie sie sich in den Augenlidern, den Nasenflügeln und Lippen kundgab. Hier lag keine gewöhnliche Affektion des Gehirns vor, das konnte sogar Mr. Null einsehen! Hier ward Benjulia endlich der Lohn für das Opfer der kostbaren Stunden, die er sonst in seinem Laboratorium hätte verwenden können! Von dem Tage an sollte Carmina ungekannter Ehre theilhaftig werden: sie sollte mit den anderen Thieren einen Platz in dem Notizbuche des Doktors finden.

Sich ruhig zu Mr. Null wendend, schloß er die Konsultation mit den drei Worten: »Es ist gut!«

»Würden Sie zu irgend etwas rathen?« fragte Mr. Null.

»Fahren Sie in derselben Weise fort —— und lassen Sie das Rouleau herunter, wenn sie sich über das Licht beklagt. Guten Morgen.«

»Sind Sie sicher, daß er ein großer Doktor ist?« fragte Teresa, als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte.

»Der größte, den wir haben!« rief Mr. Null mit Enthusiasmus.

»Ist er ein guter Mensch?«

»Weshalb fragen Sie so?«

»Ich möchte wissen, ob wir uns darauf verlassen können, daß er uns die Wahrheit sagt.«

»Darauf können Sie sich verlassen!« (Wer konnte das wohl bezweifeln, nachdem er der Behandlungsweise Mr. Nulls zugestimmt hattet)

»Eins haben Sie vergessen,« fuhr Teresa fort, »ihn zu fragen, wann Carmina fortgebracht werden kann.«

»Beste Frau, wenn ich eine solche Frage gestellt hätte, würde er einen schönen Begriff von mir bekommen haben! Kein Mensch kann sagen, wann sie soweit sein wird.«

Er nahm seinen Hut, und die Amme begleitete ihn hinaus.

»Gehen Sie zu Mrs. Gallilee, Herr Doktor?«

»Heute nicht.«

»Ist sie wieder besser?«

»Sie ist fast wieder wohl.«


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