Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 6

Die Tote lebt

An der Tür stand eine kleine, unscheinbare Frauengestalt, in ärmliche, schwarze Kleider gehüllt. Sie schlug schweigend den schwarzen Schleier zurück und enthüllte ein trauriges, bleiches und abgezehrtes Antlitz. Die breite, niedrige Stirn, die ungewöhnlich weit auseinander liegenden Augen, und die besondere Zartheit der unteren Gesichtsteile verliehen der Erscheinung einen Reiz, wodurch sie, wenn auch nicht absolut schön, aber in gesundem Zustande, wie der Konsul in Mannheim geschrieben hatte, höchst anziehend zu nennen war. Jetzt trug ihr Gesicht den Stempel überstandener Leiden - schwerer Leiden. So wie sie jetzt aussah, konnte sie wohl Aufmerksamkeit und Neugierde, niemals aber Bewunderung oder tieferes Interesse erregen.

Unbeweglich stand die schwächliche, schwarze Gestalt mit dem bleichen, abgezehrten Gesicht an der Tür und blickte schweigend auf die drei Personen im Zimmer.

Diese standen einen Augenblick regungslos, die Augen fest auf die fremde Erscheinung geheftet, deren Anblick jedoch - vielleicht war es auch die plötzliche, unheimliche Art ihres Eintretens - jedes wärmere Gefühl für sie verscheuchte. Lady Janet und ihre beiden Begleiter hatten von jeher viel mit Menschen verkehrt, und sich in jeder Lage des sozialen Lebens leicht und gut zu benehmen gewusst; jetzt waren sie zum ersten Male wieder seit ihren Kinderjahren durch das Zusammentreffen mit einem fremden Wesen in die peinlichste Verlegenheit versetzt.

War durch das Auftreten der wahren Grace Roseberry in ihnen der Verdacht rege geworden, dass die falsche ihren Namen erstohlen und die Stellung, in der sie sich befand, durch einen Betrug erworben hatte?

Nicht die leiseste Ahnung davon lag in dem unbehaglichen Gefühl, welches sie bis jetzt insgesamt ihre sonstige Artigkeit und Geistesgegenwart vergessen ließ. Die Identität der Adoptivtochter des Hauses zu bezweifeln, wäre ihnen gerade so wenig in den Sinn gekommen, als es dem Leser einfallen würde, die seines nächsten, teuersten Verwandten in Frage zu stellen. Mercy besaß als erste Inhaberin ihrer Stelle den mächtigsten Vorteil, welchen ihr die Verhältnisse gewähren konnten; die älteren Beziehungen zu ihr und das Gewohnte ihrer Existenz verteidigten sie mit unbesiegbaren Waffen. Nicht um eines Haares Breite vermochte das erste Erscheinen der wahren Grace Roseberry die Stellung der falschen Grace bei den Bewohnern von Mablethorpe-House zu erschüttern. Lady Janet, Julian und Horace, alle fühlten sich von jenem sonderbaren Wesen abgestoßen, aber keines wusste eigentlich, weshalb. Sie hätten in diesem Augenblicke ihre innerste Stimmung nicht leicht beschreiben können; aber jedes empfand, dass sich mit der schwarzgekleideten Gestalt auch das unbestimmte Vorgefühl eines bevorstehenden Unglückes in das Zimmer eingeschlichen hatte. Es regte sich unsichtbar und redete, aber in unverständlicher Sprache.

Es entstand eine momentane Stille. Nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr wurde im Zimmer gehört.

Die Fremde unterbrach zuerst mit einer harten, aber klaren, ruhigen Stimme das Schweigen.

„Mister Julian Gray?” sagte sie mit einem fragenden Blick auf beide Herren.

Julian gewann sogleich seine Selbstbeherrschung wieder und näherte sich ihr. „Ich habe sehr bedauert, Sie verfehlt zu haben, als Sie mir den Brief des Konsuls überbrachten”, sagte er. „Bitte, setzen Sie sich.”

Lady Janet ging ihr darin mit dem Beispiele voran, indem sie sich in einiger Entfernung niederließ, während Horace neben ihr stehen blieb. Sie verbeugte sich mit steifer Höflichkeit gegen die Fremde, ohne jedoch ein Wort zu sprechen. „Ich muss dies Wesen wohl anhören”, dachte sie, „aber ich brauche nicht mit ihr zu sprechen. Das ist Julians Sache.”

„Setzen Sie sich nieder, Horace, Ihr Stehen macht mich nervös.” Dann verschlang sie, wie es ihre Gewohnheit war, die Arme und harrte so in absichtlichem Schweigen der kommenden Ereignisse, wie der Richter gegenüber dem Angeklagten.

„Wollen Sie sich nicht setzen?” wiederholte Julian, da er sah, dass die Fremde seine erste Aufforderung nicht beachtet hatte.

Diesmal verstand sie ihn. „Ist diese Dame Lady Janet Roy?” frug sie mit einem starren Blick auf die Herrin des Hauses.

Julian bejahte die Frage und beobachtete, etwas seitwärts tretend, den Erfolg seiner Antwort.

Jetzt veränderte auch die ärmliche schwarze Gestalt zum erstenmale ihre Stellung und schritt langsam zu Lady Janet hinüber. Ihre bisherige Stellung war, obgleich durchaus bescheiden und anspruchslos, doch voll Vertrauen bezüglich der Art ihrer Aufnahme gewesen. So wendete sie sich nun ehrerbietig zu ihrer erwarteten Beschützerin und sagte: „Mein Vater hat mich auf seinem Sterbebette Ihrem Schutze und Ihrer Güte empfohlen.”

Lady Janet betrachtete es nicht als ihre Aufgabe, der Sprecherin zu antworten; sie horchte aufmerksam, aber mit hartnäckigem Schweigen auf ihre Rede.

Grace Roseberry trat einen Schritt zurück; dieses Benehmen hatte sie zwar nicht eingeschüchtert, aber doch gekränkt und überrascht. „Hat sich mein Vater darin geirrt?” fragte sie einfach, aber dabei mit so viel Würde, dass Lady Janet nicht umhin konnte, ihre stumme Rolle aufzugeben.

„Wer war Ihr Vater?” fragte sie kalt.

Grace war durch diese Frage höchlichst überrascht.

„Hat Ihnen denn der Diener nicht meine Karte übergeben?” fragte sie. „Kennen Sie meinen Namen nicht?”

„Welchen?” versetzte Lady Janet.

„Ich verstehe Sie nicht.”

„Ich werde mich Ihnen gleich verständlich machen. Wenn Sie mich fragen, ob ich Ihren Namen kenne, so muss ich vorerst wissen, welches wirklich der Ihrige ist: der auf der Karte - Miss Roseberry - oder jener, womit ihre Kleider im Hospital gezeichnet waren - Mercy Merrick?”

Die Selbstbeherrschung schien Grace in diesem Augenblicke zum erstenmale verlassen zu wollen. Sie wendete sich hilfesuchend nach Julian um, welcher abseits stehend aufmerksam alles mitangehört hatte.

„Gewiss hat Ihnen Ihr Freund davon geschrieben?” sagte sie.

Bei diesen Worten klang die kindische Unsicherheit und Schüchternheit wieder, welche schon damals bei der Unterredung mit Mercy an ihrem Benehmen aufgefallen war. Die überstandenen Leiden hatten arg in ihr gewühlt und sie zu ihrem Nachteil verändert, allein für den Augenblick trat alles dies zurück gegenüber der stehenden Gebärde, mit der ihr ursprünglich einfaches gutes Wesen sich an Julian wendete. Bis dahin war sie ihm abstoßend erschienen; jetzt zwang sie ihm ein teilnehmendes Interesse ab.

„Der Konsul hat mir allerdings das mitgeteilt, was er von Ihnen gehört hat”, antwortete er freundlich; „allein wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so erzählen Sie Lady Janet Ihre Geschichte selbst.”

Wiederum wendete sich Grace mit ängstlicher Unterwürfigkeit zu ihr.

„Die Kleider, von denen Sie sprachen, Lady Janet, gehörten einer anderen. Ich ward bei strömendem Regen von den Soldaten an der Grenze aufgehalten, nachdem ich demselben mehrere Stunden lang ausgesetzt gewesen. - Ich war ganz durchnässt; da lieh mir denn die Eigentümerin jener mit „Mercy Merrick” gezeichneten Kleider die ihrigen, bis die meinigen getrocknet waren. Die Granate traf mich in den Kleidern der Fremden, und so wurde ich auch nach der an mir vorgenommenen Operation fortgebracht.”

Lady Janet spielte ihre Rolle als Hörende mit Vollendung, aber mehr tat sie nicht. Sie wendete sich in ihrer graziös ironischen Weise zu Horace und sagte: „Sie hat ihre Berichte gut vorbereitet.”

Horace stimmte ihr mit einem: „Schon fast zu gut” bei.

Graces Blick wanderte zwischen beiden hin und her; zum erstenmale flog ein schwaches Rot über ihr bleiches Gesicht.

„Wollen Sie mir dadurch Ihr Misstrauen in meine Worte zu erkennen geben?” fragte sie mit stolzer Ruhe.

Lady Janet verharrte in Schweigen und deutete nur mit einer Handbewegung auf Julian, an welchen sie ihre Fragen richten sollte, da dieser sich zu ihrem Beschützer aufgeworfen. Er bemerkte auf beiden Seiten die Symptome wachsender Erregung und trat sogleich als Vermittler dazwischen.

„Sie haben auf die von Lady Janet eben an Sie gestellte Frage, wer Ihr Vater war, noch nicht geantwortet”, sagte er.

„Mein Vater war der verstorbene Oberst Roseberry.”

Lady Janet sah entrüstet nach Horace hin. „Ihre Zuversicht setzt mich wirklich in Erstaunen!” rief sie aus.

Julian schnitt ihr jede weitere Rede ab. „Lassen Sie sie ausreden”, sagte er in bittendem und doch beinahe befehlendem Tone. Er fuhr zu Grace gewendet milder fort: „Können Sie es irgendwie beweisen, dass Sie die Tochter des Obersten Roseberry sind?”

Grace war empört. „Beweisen!” wiederholte sie. „Ist denn mein Wort nicht genug?”

Julian hatte sie vollkommen in seiner Gewalt. „Entschuldigen Sie”, versetzte er, „Sie müssen berücksichtigen, dass Lady Janet Sie heute zum erstenmale überhaupt sieht. Denken Sie sich nur in ihre Lage; wie soll sie wissen, dass Sie auch wirklich die Tochter des verstorbenen Oberst Roseberry sind?”

Grace verlor ihre sichere Haltung und sank auf den nächsten Stuhl. Ihr Gesicht drückte jetzt statt, wie vorhin, Unwille gänzliche Entmutigung aus. „O”, rief sie schmerzlich aus, „wären mir meine Briefe nicht gestohlen worden!”

„Briefe”, fragte Julian, „welche Sie Lady Janet empfehlen sollten?”

„Ja.” Sie wendete sich plötzlich zu ihr und rief zum erstenmale in beschwörendem Tone: „Hören Sie nur, auf welche Art ich darum gekommen bin.”

Lady Janet wurde schwankend; ihr gutes, edles Herz konnte sich gegen diese dringende Bitte nicht verschließen. Horace dagegen war nicht so leicht zu rühren. Er blickte mit komischer Unterwerfung auf sie und rief höhnisch aus: „Da bekommen wir noch einen Bericht zu hören!”

Julian fing diese Worte auf und strafte ihn dafür mit einem verächtlichen Blick aus seinen großen, glänzenden Augen.

„Wenigstens sollten Sie es vermeiden, sie zu reizen”, sagte er streng. Dann wendete er sich wieder an Grace und sagte, sichtlich bemüht, sie aus der unangenehmen Lage zu befreien: „Lassen Sie sich dadurch nicht irre machen; haben Sie übrigens, in Ermangelung der Briefe, niemand hier in London, der Ihre Identität bestätigen könnte?”

Grace schüttelte traurig den Kopf und sagte: „Nicht einen Menschen.”

Dies konnte Lady Janet - welche noch nie von jemandem gehört hatte, dass er in London freundeslos dastehe - nicht unbemerkt vorübergehen lassen. „Nicht einen Menschen!” wiederholte sie gegen Horace gewendet.

Dieser hatte auch dafür nur Spott: „Natürlich nicht!” erwiderte er.

Grace bemerkte ihr stummes Einverständnis. „Meine Freunde leben alle in Kanada”, brach sie ungestüm hervor; „da könnten hunderte für mich zeugen. O wären sie nur hier.”

Die Berufung auf einen Ort wie Kanada, klang in der Hauptstadt von England allerdings etwas sonderbar. Horace ließ sich das nicht entgehen, sondern warf: „Das ist etwas weit von hier!” ein.

Lady Janet stimmte ihm vollkommen bei.

Julians unerschöpfliche Güte versuchte nochmals, der seinem Schutz empfohlenen Fremden Gehör zu verschaffen. „Haben Sie noch etwas Geduld”, bat er seine Tante, „und ein wenig Schonung für dieses verlassene Geschöpf”, wendete er sich an Horace.

„Ich danke Ihnen, mein Herr”, sagte Grace; „aber Ihr Bemühen ist umsonst; sie werden mich nicht einmal anhören.” Bei diesen Worten wollte sie aufstehen, allein Julian legte ihr die Hand sanft auf die Schulter und nötigte sie, ihren Platz wieder einzunehmen.

„Ich will Ihnen zuhören. Sie haben eben den Brief des Konsuls erwähnt; darin steht auch, dass Sie speziell jemand im Verdacht haben, Ihre Papiere und Kleider genommen zu haben?”

„Ich habe nicht bloß den Verdacht”, versetzte sie rasch, „ich bin dessen gewiss! Ich behaupte kühn, dass Mercy Merrick die Diebin ist, und niemand anderer. Sie allein war bei mir, als mich die Granate traf; sie allein wusste um meine Empfehlungsbriefe. Sie hatte mir offen bekannt, dass sie eine schlechte Person - dass sie schon im Gefängnis gewesen sei - dass sie einige Zeit in einem Besserungshause verlebt hatte.”

Da unterbrach sie Julian mit einer einfachen Frage, welche die ganze Sache zweifelhaft erscheinen ließ.

„Der Konsul erwähnt auch des Umstandes, dass er auf Ihren Wunsch hin einer Person, wie Sie Mercy Merrick schilderte, nachforschen ließ, jedoch ohne Erfolg.”

„Der Konsul gab sich keine Mühe, sie aufzufinden”, erwiderte Grace unwillig; „er machte es, wie alle anderen, die sich gegen mich verschworen hatten.”

Lady Janet und Horace tauschten Blicke aus; und diesmal konnte sie Julian darum auch nicht tadeln. Je weiter die Fremde ihre Geschichte enthüllte, desto weniger fand er sie der Aufmerksamkeit wert. Mit jedem Worte, das sie sprach, sank sie tiefer gegenüber jenem Wesen herab, dessen Namen sie so beharrlich und kühn als den ihrigen verteidigte.

„Alles zugegeben, was Sie eben sagten”, begann Julian von neuem - seine Geduld war beinahe erschöpft - „was hätte Mercy Merrick mit Ihren Papieren und Kleidern anfangen sollen?”

„Was sie damit hätte anfangen sollen?” wiederholte Grace höchlichst erstaunt über Julians Kurzsichtigkeit. „Meine Kleider waren mit meinem Namen gezeichnet. Das eine war der Empfehlungsbrief meines Vaters an Lady Janet. Warum sollte eine einstige Bewohnerin des Besserungshauses nicht fähig sein, sich an meiner Statt hier einzuführen?”

Obgleich diese Worte ganz auf das Geratewohl und ohne jede leiseste Anregung von anderer Seite gesprochen worden waren, verfehlten sie doch nicht ihre Wirkung. Sie warfen auf die Adoptivtochter Lady Janets ein so abscheuliches Licht, dass diese es nicht mehr länger ertragen mochte. Sie erhob sich rasch und wandte sich, das Zimmer zu verlassen. „Geben Sie mir Ihren Arm, Horace”, sagte sie, „ich habe genug gehört.”

Horace gehorchte ehrerbietig. „Sie haben ganz recht”, sagte er, „eine solche Unverschämtheit habe auch ich noch nie erlebt.”

Er äußerte seine Entrüstung so laut, dass Grace seine Worte genau verstehen konnte. „Welche Unverschämtheit?” fragte sie ihn, trotzig näher tretend.

Julian hielt sie zurück. Obgleich er Mercy nur einmal gesehen hatte, war der Eindruck, den diese schöne Erscheinung auf ihn gemacht, doch so tief gewesen, dass er jetzt ihre Beschimpfung nicht zugeben konnte. „Stille!” rief er zum erstenmale streng gegen Grace gewendet aus. „Sie beleidigen damit Lady Janet; Ihre Worte - dass sich eine andere hier in Ihre Stelle eingeschlichen hat - sind nicht bloß unsinnig, sind sie auch höchst verletzend.”

Graces Zorn war angefacht; sie schleuderte, durch Julians Vorwurf tief verwundet, einen wütenden Blick auf ihn.

„Sind Sie ein Geistlicher? Ein Mann von Bildung?” fragte sie. „Und ist Ihnen noch nie vorgekommen, dass sich Personen für andere ausgegeben haben? Ich hatte, bevor ich eigentlich wusste, was für ein Geschöpf Mercy Merrick sei, das vollste Vertrauen zu ihr. Sie verließ - wie mir der Arzt sagte - das Häuschen in der festen Überzeugung, dass ich getötet worden sei. Gleichzeitig verschwanden meine Papiere und meine Kleider und daran sollte nichts Verdächtiges sein? Im Hospital haben viele meine Ansicht vollkommen geteilt und mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine Betrügerin vielleicht unter meinem Namen in meine Stelle eingeschlichen haben mochte.” Sie hielt plötzlich inne. Das Rascheln eines Seidenkleides traf ihr Ohr; Lady Janet war im Begriffe, von Horace begleitet, das Zimmer zu verlassen. Grace sprang mit dem letzten Rest ihrer Entschlossenheit empor und stellte sich gebieterisch zwischen sie und die Tür nach dem Wintergarten.

„Noch ein Wort, Lady Janet”, sagte sie bestimmt, „ehe Sie sich für immer von mir wenden. Beantworten Sie mir nur diese Frage, sonst verlange ich nichts. Ist der Brief des Obersten Roseberry in dieses Haus gebracht worden, und durch wen? Durch eine Frau?”

Lady Janet sah mit einem geringschätzigen Blick auf die tief unter ihr stehende Fremde herab, welche sich in dieser Weise gegen den einer großen Dame gebührenden Respekt vergangen hatte.

„Sie scheinen nicht zu bemerken, dass Sie mit diesen Fragen mich beschimpfen?”

„Und Grace noch mehr”, setzte Horace hinzu.

Die kleine entschlossene Gestalt - sie hielt den Ausgang in den Wintergarten noch immer besetzt - erzitterte bei diesem Namen vom Kopf bis zum Fuß; ihre Augen irrten voll ängstlichen Argwohnes zwischen den beiden hin und her.

„Grace!” rief sie aus. „Was soll das? Es ist mein Name. O Lady Janet. Sie haben den Brief und seine Überbringerin ist im Hause!”

Lady Janet ließ Horaces Arm fallen und schritt an die Stelle zurück, wo ihr Neffe stand.

„Julian”, sagte sie, „Sie zwingen mich, Ihnen zum erstenmale in Erinnerung zu bringen, wie man sich gegen mich in meinem Hause zu benehmen hat. Schicken Sie diese Person fort.”

Sie wendete sich, ohne eine Antwort abzuwarten, um und ergriff abermals Horaces Arm.

„Bitte, treten Sie zurück”, rief sie Grace ruhig zu.

Aber diese blieb fest stehen.

„Die Diebin ist hier”, wiederholte sie. „Lassen Sie mich ihr gegenübertreten - dann mögen Sie mich fortschicken.”

Julian trat vor und fasste sie beim Arme. „Sie vergessen den Anstand gegenüber Lady Janet, gegenüber sich selbst”, sagte er, sie beiseite ziehend. Grace riss sich mit verzweifelter Anstrengung los und hielt Lady Janet auf der Schwelle der Tür in den Wintergarten fest.

„Gerechtigkeit!” schrie sie auf und schüttelte ihre geballten Hände in wahnsinniger Verzweiflung. „Ich fordere mein Recht, wenn ich jener Person Auge in Auge gegenüber stehen will! Wo ist sie? Bringen Sie sie hierher! Bringen Sie sie hierher!”

Während sie ihrer Leidenschaftlichkeit in diesen wilden Worten Luft machte, fuhr draußen vor dem Hause ein Wagen vor. In der Aufregung jedoch hatte niemand das Rollen der Räder und das darauffolgende Öffnen der Haustür gehört. Horace wehrte mit lauter, zorniger Stimme die Beleidigung von Lady Janet ab, und diese hatte seinen Arm zum zweitenmale losgelassen, um mit einem heftigen Riss an der Glocke den Diener herbeizurufen; Julian hatte die wütende Grace wieder beim Arm gefasst und versuchte umsonst, sie zu besänftigen - da öffnete sich leise die Tür des Bibliothekszimmers und herein trat Mercy Merrick in Hut und Mantel, ihrem Horace gegebenen Versprechen getreu.

Graces Augen waren die ersten, welche ihr Erscheinen bemerkten. Mit einem heftigen Ruck befreite sie sich von Julians Hand und deutete nach der Tür. „Aha!” rief sie mit einem lauten Schrei rachsüchtigen Entzückens: „Da ist sie!”

Mercy drehte sich bei dem Klang dieser Stimme um und begegnete dem starren, in wildem Triumph auf sie gerichteten Blick des Wesens, das sie für tot gehalten, für welches sie sich ausgegeben hatte. Ihre Augen hatten sie kaum erkannt und sich hilflos auf das stolze Gesicht ihr gegenüber geheftet - als sie besinnungslos zu Boden fiel.

 

Julian stand Mercy gerade zunächst und sprang ihr, als sie zusammenbrach, zuerst bei. Der Schrei des Entsetzens, welcher sich seiner Brust entrang, als er sie in seinen Armen emporrichtete, und der Ausdruck, mit welchem sich seine Augen auf das totenblasse Gesicht hefteten, verrieten nur zu deutlich, wie tief seine Teilnahme und seine Bewunderung für sie gefühlt war. Horace bemerkte es. Er trat mit einer raschen Bewegung auf Julian zu und sagte mit vor Eifersucht zitternder Stimme: „Überlassen Sie das mir.” Über Julians blasses Gesicht flog eine leichte Röte, als er sich zurückzog, um es Horacen zu überlassen, die bewusstlose Gestalt zum Sofa zu tragen. Er senkte die Augen zu Boden und schien, über sich selbst erzürnt, nach dem Grund zu diesem Benehmen seines Freundes zu forschen. Julian war es gewesen, der den ersten Schritt zu dieser verhängnisvollen Begegnung getan, und jetzt stand er da, als nähme er an dem ganzen Vorgang nicht den geringsten Anteil.

Eine leichte Berührung seines Armes weckte ihn aus seinen Träumen.

Er kehrte sich um und sah die Urheberin des Unheils - die Fremde in ihrem dürftigen schwarzen Anzug - vor sich stehen. Sie deutete mit unbarmherzigen Lächeln nach der ausgestreckten Gestalt auf dem Sofa.

„Sie wollten einen Beweis haben”, sagte sie, „da haben Sie ihn!”

Horace hatte die Worte gehört. Er trat rasch zu Julian; sein sonst gerötetes Gesicht war bleich von verhaltener Wut.

„Führen Sie diese Elende hinweg!” sagte er. „Gleich! Oder bei Gott, ich weiß nicht, was ich tue.”

Diese Worte brachten Julian wieder zu sich. Er blickte im Zimmer umher. Lady Janet und die Haushälterin waren um die ohnmächtige Mercy beschäftigt, und das zahlreiche Gesinde hatte sich erschreckt unter der Tür des Bibliothekzimmers versammelt. Der eine wollte den nächsten Arzt herbeirufen, der andere fragte, ob er die Polizei holen solle. Julian bedeutete allen, stille zu sein, und wendete sich an Horace. „Beruhigen Sie sich”, sagte er. „Und überlassen Sie es mir, sie ruhig aus dem Hause fortzubringen.” Dabei fasst er Grace bei der Hand und sagte, als sie sich von ihm loszumachen suchte: „In diesem Hause haben Sie sich bereits alle zu Feinden gemacht, wollen Sie das nun auch mit mir tun? Sie, die in ganz London nicht einen Freund besitzen?” Sie senkte ihren Kopf und unterwarf sich in stummem Gehorsam seinem festeren Willen. Julian hieß die Dienstleute sich zurückziehen und schritt selbst, Grace mit sich fortführend, in das Bibliothekszimmer. Ehe er die Tür schloss, warf er noch einen Blick in das Speisezimmer zurück.

„Erholt sie sich?” fragte er zögernd.

Lady Janet antwortete ihm: „Noch nicht.”

„Soll ich den Arzt holen lassen?”

Horace trat dazwischen und lehnte jede, auch indirekte Einmischung Julians in dieser Angelegenheit ab.

„Wenn wir den Arzt brauchen, werde ich ihn selbst holen.”


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