Fräulein Minna und der Reitknecht
IX.
Ich verließ das Haus zu meinem gewöhnlichen Morgenritte. Michael war nicht in seiner gewöhnlichen Stimmung. Mit einiger Mühe brachte ich ihn dazu, mir den Grund zu sagen. Er hatte sich entschlossen, den General zu benachrichtigen, dass er seine Stelle bei ihm aufgeben wolle. Sobald ich mich einigermaßen gesammelt hatte, fragte ich ihn, was vorgefallen sei, um diesen unbegreiflichen Schritt von seiner Seite zu rechtfertigen. Er überreichte mir schweigend einen Brief. Derselbe war von dem Dienstherrn geschrieben, bei dem Michael gedient hatte, ehe er zu uns kam, und er meldete, dass ihm eine Stelle als Sekretär in dem Hause eines vornehmen Mannes angetragen werde, „der an seinen lobenswerten Bemühungen für die Verbesserung seiner Stellung herzlichen Anteil nehme.“
Was es mich kostete, wenigstens den äußeren Schein von Gemütsruhe zu bewahren, als ich ihm den Brief zurückgab, schäme ich mich, zu sagen. Ich sprach mit ihm mit einer gewissen Bitterkeit. „Ihre lange gehegten Wünsche werden damit erfüllt“, erwiderte ich; „ich wundere mich nicht, dass Sie sich danach sehnen, Ihre jetzige Stelle zu verlassen.“ Er lenkte sein Pferd zurück und wiederholte meine Worte. „Dass ich mich danach sehne, meine Stelle zu verlassen? Es bricht mir das Herz, wenn ich Sie verlasse.“ Ich war rücksichtslos genug, zu fragen, warum. Er senkte den Kopf. „Ich wage nicht, es Ihnen zu sagen“, erwiderte er. Ich ging weiter von einer Unklugheit zur anderen. „Um was sind Sie besorgt?“ fragte ich. Er blickte plötzlich nach mir auf. Seine Augen antworteten: „Um Sie.“
Ist es möglich, die Torheit einer liebenden Frau zu ergründen? Kann ein verständiger Mensch sich die ungeheure Wichtigkeit vorstellen, welche auch das Unbedeutendste in ihrem armen schwachen Gemüte erhält? Ich war nach diesem einen Blicke vollkommen befriedigt – ja vollkommen glücklich. Ich ritt während einiger Minuten munter weiter – da kam mir der vergessene Vorfall im Stalle in das Gedächtnis zurück. Ich nahm wieder den gewöhnlichen Schritt und winkte Michael heran, mit mir zu sprechen.
„Frau Claudias Buchhändler wohnt in der Altstadt, nicht wahr?“ fing ich an. - „Ja, Fräulein!“
„Gingen Sie hin und zurück zu Fuß?“
„Ja.“
„Sie müssen sich ermüdet gefühlt haben, als Sie zurückgekehrt waren?“
„Ich erinnere mich dessen kaum, als ich zurückkehrte – es wurde mir aber eine Überraschung zuteil.“
„Darf ich fragen, was dies war?“
„Gewiss, Fräulein. Erinnern Sie sich meiner schwarzen Tasche?“
„Sehr wohl!“
„Als ich aus der Altstadt zurückkehrte, fand ich die Tasche offen und die Sachen, welche ich in ihr aufbewahrte, - den Schal, das Leinenzeug und den Brief -“
„Verschwunden?“
„Verschwunden.“
Mein Herz pochte auf das heftigste und drohte mir zu zerspringen. Es war mir unmöglich, ein Worte weiter zu sagen. Ich hielt mein Pferd an und heftete meine Augen auf Michael. Er war bestürzt und fragte, ob ich mich unwohl fühle. Ich konnte ihm nur ein Zeichen geben, dass ich darauf warte, mehr von ihm zu hören.
„Ich glaube“, fuhr er fort, „dass irgendjemand die Sachen in meiner Abwesenheit verbrannte und das Fenster öffnete, um zu verhüten, dass durch den Geruch irgendein Verdacht erregt werde. Ich bin sicher, dass ich das Fenster schloss, ehe ich mein Zimmer verließ. Als ich es bei meiner Rückkehr wieder schloss, hatte die frische Luft den Brandgeruch noch nicht ganz entfernt; und, was mehr sagen will, ich fand einen Haufen Asche auf dem Roste des Kamins. Was die Person betrifft, welche mir diesen Schaden zugefügt hat, und warum es geschehen ist, so sind dies Geheimnisse, die ich nicht ergründen kann – ich bitte um Verzeihung, Fräulein, ich bin sicher, dass Sie nicht wohl sind. Darf ich Ihnen raten, nach Hause zurückzukehren?“
Ich nahm seinen Rat an und kehrte zurück.
In dem Widerstreite von Erstaunen und Entsetzen, die mein Gemüt erfüllten, konnte ich doch noch fühlen, dass bei all dem ein schwacher Triumph sich in mir regte, als ich sah, wie beunruhigt und besorgt er um mich war. Nichts wurde weiter zwischen uns auf dem Rückwege gesprochen. Von der schrecklichen Entdeckung, die ich soeben gemacht hatte, ergriffen, war ich still und hilflos. Meine adlig geborene, vornehm erzogene, untadelhafte Tante stand nun entlarvt als eins der schuldbeladenen Wesen vor mir, die eine Geburt verheimlicht und ein unmündiges Kind verlassen hatten. Eine ältere Frau wie ich hätte schwer vermocht werden können, in einer Lage wie der meinigen ihre Besonnenheit zu bewahren. Ein natürliches Gefühl, nicht der Verstand, half mir in meiner schlimmen Lage. Dieses unwillkürliche Gefühl fesselte mich in untätigem, ja einfältigem Schweigen, als ich nach Hause zurückgekehrt war. „Wir wollen morgen darüber reden“, das war alles, was ich zu Michael sagen konnte, als er mich artig vom Pferde hob.
Ich entschuldigte mein Nichterscheinen beim Frühstück und zog die Vorhänge in meinem Wohnzimmer nieder, damit mein Gesicht mich nicht verriet, wenn Frau Claudias Mutterpflicht sie heraufführte, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Die nämliche Entschuldigung half in beiden Fällen – mein Spazierritt hatte es nicht vermocht, mich von meinem Kopfweh zu befreien. Der kurze Besuch meiner Tante führte zu einem Ergebnis, das erwähnt zu werden verdient. Das unbeschreibliche Entsetzen, das ich ihr gegenüber fühlte, nötigte mir die Überzeugung auf, dass wir beide nicht länger unter einem Dache wohnen könnten. Während ich noch versuchte, diese Wahl mit der nötigen Ruhe ins Auge zu fassen, erschien mein Oheim selbst und zeigte einige Besorgnis über mein anhaltendes Unwohlsein. Ich würde sicherlich laut geweint haben, als der gute, liebe Alte mich bedauerte, wenn er nicht Nachrichten mitgebracht hätte, die alle meine Gedanken auf mich und meine Tante zurückleiteten. Michael hatte dem General seinen Brief gezeigt und ihm Kenntnis von seinem beabsichtigten Weggang gegeben. Frau Claudia war zu dieser Zeit gerade anwesend. Zum Erstaunen ihres Gatten mischte sie sich plötzlich ein, indem sie Michael selbst ersuchte, sich anders zu besinnen und in seiner Stelle zu bleiben.
„Ich würde dich nicht mit dieser unangenehmen Sache belästigt haben, Minna“, sagte mein Oheim, „wenn Michael mir nicht gesagt hätte, dass du von den Umständen unterrichtet seiest, unter welchen er es für seine Pflicht hält, uns zu verlassen. Nach der Einmischung deiner Tante, die mir übrigens ganz unbegreiflich ist, weiß der Mann kaum noch, was er tun soll. Da er dein Reitknecht ist, so bittet er mich, zu fragen, ob es eine Unschicklichkeit sei, wenn er die bestehende Schwierigkeit deiner Entscheidung überlasse. Ich melde dir sein Anliegen, Minna, aber ich rate dir ernstlich, irgendwelche Verantwortlichkeit abzulehnen.“
Ich antwortete mechanisch, indem ich den Rat meines Oheims annahm, während meine Gedanken sich völlig mit dieser letzten der zahlreichen außergewöhnlichen Handlungen beschäftigten, die Frau Claudia seit Michaels Eintritt begangen hatte. Es gibt – außer in Büchern und Schauspielen – Grenzen für die Unschuld eines jungen, unverheirateten Frauenzimmers. Nach dem, was ich soeben gehört hatte, waren die Zweifel, welche mich bis dahin beunruhigt hatten, vollständig aufgeklärt.
Ich sagte zu mir selbst: „Sie hat doch noch etwas menschliches Gefühl übrig. Wenn ihr Sohn fortgeht, weiß sie, dass sie sich niemals wieder begegnen werden.“
Von dem Augenblick an, da mein Inneres zur Klarheit gekommen war, erlangte ich die Herrschaft über meinen Verstand und Mut wieder, wie ich sie von Natur besaß. Von diesem Augenblick an wird man finden, dass ich, mit Recht oder Unrecht, meinen Weg mir vorgezeichnet sah und ihn einschlug.
Wenn ich sage, dass ich dem General von ganzem Herzen zugetan war, so bekenne ich damit, dass ich im gewöhnlichen Sinne dankbar sein konnte. Ich saß auf seinem Knie, legte meine Wange an die seine und dankte ihm für die Güte, die er mir in langen, langen Jahren erwiesen hatte. Er unterbrach mich in seiner einfachen, edlen Weise. „Ei, Minna, du redest ja, als ob du im Begriff wärst, uns zu verlassen!“ Ich fuhr in die Höhe und ging zum Fenster, indem ich es öffnete und mich über die Hitze beklagte; so verbarg ich vor ihm meine Verwirrung, dass er unbewusst ein Ereignis vorausgesehen hatte, das allerdings eintreten musste. Als ich zu meinem Stuhl zurückkehrte, trug mein Oheim zu meiner Beruhigung bei, indem er noch einmal auf seine Frau zu sprechen kam. Er fürchtete, dass ihre Gesundheit in irgendeiner Weise erschüttert sei. Zu der Zeit, wo sie sich zuerst begegneten, hatte sie ein Nervenleiden, welches von einem „Unfall“ herrührte, der in späteren Tagen von keinem von beiden jemals wieder erwähnt wurde. Sie mochte vielleicht wieder an irgendeiner anderen nervösen Störung leiden und er dachte ernstlich daran, sie zu überreden, ärztlichen Beistand zu benutzen.
Unter gewöhnlichen Umständen würde eine unbestimmte Erwähnung eines „Unfalls“ ein besonderes Interesse bei mir nicht erregt haben. Aber mein Geist war jetzt in einem Zustande krankhaften Argwohns. Ich hatte nicht gehört, wie lange mein Oheim und meine Tante verheiratet waren, aber ich erinnere mich, dass Michael von seinen sechsundzwanzig Jahren gesprochen hatte. Da ich diese Umstände noch im Gedächtnis hatte, so kam mir der Gedanke, dass ich klug und in Michaels Interesse handeln würde, wenn ich den General überredete, noch weiter von jener Zeit zu sprechen, wo er dem Weibe begegnet war, ads ein böses Geschick ihm zur Frau bestimmt hatte. Nichts als die Fürsorge für den geliebten Mann würde mich dazu gebracht haben, für mein Geheimnis die Mitteilungen zu benutzen, die mein Oheim mir in harmloser Absicht anvertrauen möchte. So wie die Sache lag, hoffte ich, dass die angewendeten Mittel in diesem Falle durch den Ausgang der Sache einst ihre Rechtfertigung erhalten würden. Ich denke, dass jeder meiner Leser mir zustimmen wird.
Ich fand die Aufgabe leichter, als ich vermutet hatte, das Gespräch wieder auf die Tage zurückzulenken, wo der General seine Frau zum ersten Mal gesehen hatte. Er war stolz auf die Umstände, unter welchen er seine Frau gewonnen hatte. Ach, wie tat mir das Herz für ihn weh, als ich seine Augen glänzen und sein hübsches, männliches Gesicht sich röten sah!
Folgendes ist das Wesentliche seiner Mitteilungen. Ich berichte kurz, weil es mir noch immer schmerzlich ist, es zu erzählen.
Mein Oheim war seiner Frau in dem Landhause ihres Vaters begegnet. Sie war damals wieder in der Gesellschaft erschienen, nachdem sie eine Zeitlang in England, teils auf dem Kontinente in Zurückgezogenheit gelebt hatte. Vor dieser Zeit war sie verlobt gewesen und wollte einen französischen Offizier heiraten, der durch Geburt und diplomatische Dienste im Orient gleich ausgezeichnet war. Wenige Wochen vor dem Hochzeitstage ertrank er bei dem Schiffbruche seiner Yacht. Dies war der Unfall, auf den mein Oheim sich bezogen hatte.
Frau Claudias Gemüt war so ernstlich von dem furchtbaren Ereignis ergriffen, dass die Ärzte für die Folgen nicht einstehen wollten, wenn sie nicht sogleich in die strengste Zurückgezogenheit versetzt werde. Ihre Mutter und eine französische, ihr treu ergebene Zofe waren die einzigen Personen, die als zuverlässig die junge Dame sehen durften, bis Zeit und Pflege sie einigermaßen beruhigt hatten. Die Rückkehr zu ihren Freunden und Bewunderern nach der notwendigen Abschließung war natürlicherweise die Veranlassung zu aufrichtiger Freude unter den Gästen, die in dem Hause ihres Vaters versammelt waren. Das Interesse meines Oheims an der Dame ging bald in Liebe über. Sie waren einander im Range gleich, und passten auch im Alter recht wohl zusammen.
Die Eltern machten keine Schwierigkeiten; aber sie verhehlten auch ihrem Gaste nicht, dass das Missgeschick, das ihre Tochter befallen habe, ihr höchstwahrscheinlich die Neigung benehme, seine Bewerbung, oder auch die irgendeines anderen Mannes günstig aufzunehmen. Zu ihrer Überraschung ergab es sich, dass sie unrecht hatten. Die junge Dame war von der Einfachheit und dem Zartgefühl gerührt, womit ihr Liebhaber seine Bewerbung betrieb. Sie hatte unter weltlich gesinnten Leuten gelebt. Dies war aber ein Mann, dessen Liebe sie für aufrichtig halten konnte. Sie heirateten sich. Waren keine ungewöhnlichen Umstände eingetreten? Hatte sich nichts zugetragen, was der General vergessen hatte? Nichts.
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