Artikel über Wilkie Collins
William Wilkie Collins
(4,5 MB) Seit Walter Scott's und Dickens' Meisterwerken hat wohl kaum ein englischer Roman im Auslande eine solche Verbreitung gefunden, als William Wilkie Collins' "Frau in Weiß", die den Namen dieses am 23. September 1889 in London verstorbenen Romanschriftstellers in der ganzen zivilisierten Welt bekannt machte.
Collins war am 8. Januar 1824 zu London als Sohn des damals berühmten Landschafts- und Genremalers William Collins, Mitglied der königlichen Akademie, geboren worden. Seine Mutter war eine Tochter des Malers Sir David Wilkie, dessen Schüler Collins der Vater gewesen war. Wilkie Collins empfing seine wissenschaftliche Ausbildung in einem Privatinstitut und besaß schon als Knabe ein hervorragendes Talent des Erzählens. Seine Kameraden liebten es, nachts, wenn alle Lichter ausgelöscht waren, durch seine Schauergeschichten das Gruseln zu lernen. Mit dreizehn Jahren ging er als Begleiter seines Vaters nach Italien zu einem zweijährigen Studienaufenthalt, der für den heranwachsenden Jüngling sehr nutzbringend wurde, wie er selbst versicherte.
Nach der Rückkehr erwählte er den kaufmännischen Beruf und trat in ein Teehandlungshaus ein, sattelte jedoch bald um, wurde Jurist und brachte es bis zum immatrikulierten Advokaten. Im Jahre 1847 verlor er seinen Vater. Dieser Trauerfall bestimmte ihn, alle Arbeiten beiseite zu legen und zunächst eine Biographie des geliebten Verstorbenen zu verfassen, die 1848 erschien und mit großem Beifall aufgenommen wurde, was ihn veranlaßte, sich nunmehr ganz der Literatur zuzuwenden. Er schrieb zuerst einige historische Romane, jedoch ohne großen Erfolg; erst Charles Dickens, zu dem er als älterer Bruder von dessen Schwiegersohn in verwandtschaftlichem und als Mitarbeiter und Redakteur seiner Zeitschrift "Household Words" in näheren literarischen Beziehungen stand, und der sich sehr für den jungen Autor interessierte, leitete ihn auf die seiner Begabung recht entsprechende Bahn. Fortan pflegte Collins vorzugsweise den sogenannten Sensationsroman, als dessen Hauptvertreter er neben Mary Elisabeth Braddon zu betrachten ist. Er veröffentlichte in "Household Words" zuerst die Novellen "After Dark" (1856) und "The Dead Secret" (1857), welche sein Talent, die Spannung der Leser wachzurufen und bis zu Ende gefesselt zu halten, in hervorragender Weise bekundeten. Durchschlagenden Erfolg aber hatte der Dichter erst mit seinem Sensationsroman "The Woman in White" (Die Frau in Weiß), der zuerst von 1859 bis 1860 in Dickens' Zeitschrift "All The Year Round" erschien, sofort in fast alle lebenden Sprachen übersetzt wurde und dem Autor 60.000 Mark einbrachte. Charlotte Birch-Pfeiffer bearbeitete den Roman zu einem vielgegebenen Theaterstück, in Frankreich wurde er durch den später so berühmt gewordenen Schlachtenmaler Alphonse de Neuville illustriert - kurz Wilkie Collins war mit einem Male zu einem Schriftsteller von internationalem Rufe geworden.
Von seinen späteren Werken, deren bis jetzt nahezu fünfzig Bände in der bekannten Tauchnitz-Edition erschienen sind, seien hier nur noch "No Name" , "Moonstone", "The new Magdalena", "I say no" und als sein letztes vor dem Tode veröffentlichtes Werk "Das Vermächtnis Kain's" aufgeführt. In all diesen Arbeiten legt Collins ein in der Tat bewunderungswürdiges Geschick an den Tag, über einem Geheimnis den Schleier bis zum letzten Augenblick zu bewahren; dagegen vernachlässigt er mitunter die tiefere Charakteristik. Seine häufigen Krankheitsanfälle hinderten ihn nicht am Schreiben; seine besten Kapitel im "Mondstein" verfaßte er in den Zwischenräumen zwischen heftigen Gichtanfällen, die ihn ans Bett fesselten. Er entwarf nie vorher einen Plan im Einzelnen, sondern prägte sich nur den Hauptfaden und die Hauptmomente fest ein, indem er die sonstigen Zwischenfälle seiner fruchtbaren Einbildung beim Schreiben überließ. Im Jahre 1873 ging er auf eine erhaltene Einladung hin nach Nordamerika, um eine Reihe von Vorlesungen zu halten. Auch für die Bühne hat Collins manches geschrieben, teils selbständig, teils mit Dickens und Fletcher zusammen. "Das gefrorene Meer" und "Der Leuchtturm" wurden Zugstücke der Londoner Bühnen; auch seine dramatischen Bearbeitungen der Romane: "Armadale" und "Die neue Magdalena" fanden großen Beifall. Seit Jahren wurde Collins von der Gicht gequält; zur Linderung der Schmerzen gaben ihm die Ärzte Morphium, aber seitdem verfiel der Unglückliche der Morphiumsucht in einem Grade, daß er zuletzt Morphium täglich unverdünnt in einer Menge nehmen konnte, die für jeden Anderen tödlich gewesen wäre. Vor einigen Monaten traf ihn ein Schlaganfall, und am Abend des 23. September wurde er endlich von seinen langen Leiden erlöst.
Der Artikel ist aus dem Tauchnitz-Magazin, wahrscheinlich aus dem Jahr 1890.