Zwei Schicksalswege

Achtzehntes Kapitel

Das verdunkelte Zimmer

Der kleine Herr tritt an mein Bett. Sein seidiges weißes Haar fließt über seine Schultern, er blickt uns mit blassblauen Augen an und verneigt sich in ernster, gedrückter Weise, indem er einfach sagt: »Sein Sie willkommen in meinem Hause, meine Herren.«

Wir begnügen uns nicht mit einem bloßen Dank, sondern versuchen natürlich uns wegen unseres Überfalls zu entschuldigen. Unser Wirt aber schneidet gleich die ersten Worte darüber ab, indem er seinerseits um Entschuldigung bittet.

»Ich ließ eben meinen Diener rufen,« fährt er fort, »und da erfuhr ich erst, dass Sie hier sind. Man hat sich hier im Hause daran gewöhnt mich bei meinen Büchern nicht zu stören. Nehmen Sie also meine Entschuldigung gütigst an,« setzt er, sich zu mir wendend, hinzu, »es war nicht recht, dass ich mich und mein Haus Ihnen nicht früher zur Verfügung stellte. Sie haben einen Unfall erlitten, wie ich mit Bedauern höre, gestatten Sie, dass ich nach ärztlicher Hilfe sende? Ich lege Ihnen diese Frage etwas eilig vor, da der nächste Arzt in beträchtlicher Entfernung von hier wohnt und Gefahr im Verzuge sein könnte.«

Er wählt seine Worte mit zierlicher Genauigkeit, während er spricht und macht daher mehr den Eindruck als diktiere er einen Brief, als dass er in einfacher Unterhaltung begriffen ist. In seinem Gesicht spiegelt sich der Zug von Trübsinn ab, der durch sein Wesen geht, die Trübsal muss ihm eine alte Bekannte sein und sie scheinen sich seit lange aneinander gewöhnt zu haben. Der Schatten eines tiefen Kummers hat sich ruhig und undurchdringlich über den ganzen Menschen ausgebreitet, ich entdecke ihn in den verblichenen blauen Augen, auf der hohen Stirn, auf den zarten Lippen, wie auf den bleichen, eingefallenen Wangen. Trotz seiner höflichen Begrüßung nimmt in mir die unbehagliche Überzeugung zu, dass wir ihm eine unangenehme Störung bereiten. Ich erkläre ihm, dass ich meine Wunde selbst behandeln kann, da ich selbst Arzt bin und dann komme ich auf meine unterbrochene Entschuldigungsrede zurück. Ich versichere ihn, dass wir erst soeben erfahren haben, wie unser Führer meinen Reisegefährten und mich, auf seine eigene Verantwortung hin, in dieses Haus gebracht hätte. Wie vorhin der Führer, so sieht mich Mr. Dunross jetzt an, als ob er keine Idee hat, was meine Selbstvorwürfe und Entschuldigungen eigentlich bedeuten sollen. Endlich scheint es ihm klar zu werden und ein schwaches Lächeln geht über sein Gesicht, indem er mir sanft und väterlich die Hand auf die Schulter legt.

»Wir sind hier an unsere schottländische Gastfreundschaft so gewöhnt, dass wir kaum begreifen, wie ein Fremder Anstand nehmen kann, sie in Anspruch zu nehmen. Ihr Führer ist keineswegs zu tadeln meine Herren, denn in jedem Hause auf der Insel, in dem ein Zimmer übrig ist, steht stets ein Fremdenzimmer zur Benutzung bereit. Wenn Sie Ihr Weg hier vorüberführt, ist es natürlich, dass Sie bei mir wohnen und meine Gäste sind, so lange es Ihnen gefällt und wenn Sie weiterreisen, erfülle ich nur meine Pflicht als guter Schottländer, wenn ich Sie bis zum nächsten Ziele Ihrer Reise begleite, um Ihnen dort Glück auf den Weg zu wünschen. Was anderswo in vergangenen Jahrhunderten Sitte war, ist hier modern. Bitte geben Sie meinem Diener alle zu Ihrer Bequemlichkeit erforderlichen Befehle, gerade so ungezwungen, wie Sie es in ihrer eigenen Häuslichkeit tun würden.« Er dreht sich um und klingelt mit einer Handklingel, die auf dem Tische steht, während er zu uns spricht und erblickt dabei auf dem Gesichte unseres Führers die deutlichen Anzeichen, dass er sich durch meine verletzenden Äußerungen beleidigt fühlt.

»Fremde sind mit unseren Sitten unbekannt, Andreas,« sagt der Meister der Bücher, »aber wir verstehn einander und das genügt.«

Des Führers rohes Gesicht strahlt vor Freude. Hätte ein gekröntes Haupt von seinem Throne aus herablassend mit ihm gesprochen, so konnte er auf die genossene Ehre nicht stolzer sein, als seine Züge es eben ausdrückten. Er macht einen plumpen Versuch die Hand des Meisters zu ergreifen und zu küssen, was Mr. Dunross aber verhindert, indem er ihm leise den Kopf zurückhält. Darauf sieht der Führer mich und meinen Freund mit einer Genugtuung an, als wäre ihm die größeste Ehre zu Teil geworden, die einem irdischen Wesen widerfahren konnte. Des Meisters Hand hatte ihn ja freundlich berührt! Im nächsten Augenblick erscheint auf den Ruf der Klingel der Reitknechtgärtner in der Tür.

»Bringe den Medizinkasten hierher, Peter,« sagt Mr. Dunroß, »und pflege diesen Herrn, der durch einen Unfall an das Bett gefesselt ist, so sorgsam, als pflegtest Du mich selbst. Klingeln wir beide zu gleicher Zeit, so hol Du Dir erst die Befehle dieses Herrn. Das notwendige Leinenzeug liegt doch im Wäschschrank ohne Zweifel bereit? Gut, gut. Geh nun und bestelle bei der Köchin ein gutes Mittagsmahl und hole eine Flasche von dem alten Madeira aus dem Keller. Für heute wenigstens wird die Tafel hier in diesem Zimmer hergerichtet, so wird es den beiden Herren, denke ich, am behaglichsten ein. Komm in fünf Minuten wieder herein, im Fall man Deiner bedarf und beweise meinen Gästen, Peter, dass ich mich nicht irrte, indem ich Dich als einen ebenso guten Krankenwärter ausgab, als Du ein treuer Diener bist.« Über das ihm von seinem Meister ausgesprochene Vertrauen fühlt sich der stille, zuverlässige Peter ebenso beglückt, als vorhin der Führer über die freundliche Liebkosung, die ihm der Meister zu Teil werden ließ. Beide Männer verlassen das Zimmer zugleich.

Die Pause, die augenblicklich im Gespräch eintritt, nehmen wir wahr, um uns unserem Wirte vorzustellen und ihn von den Umständen zu unterrichten, die unseren Besuch auf Schottland veranlassen. Er hört uns in seiner ernsten, höflichen Weise an, richtet aber keine Frage über unsere Angehörigen an uns und zeigt keinerlei Interesse für die Regierungsyacht oder die Kommission für die Leuchttürme des Nordens. In Mr. Dunroß ist entschieden jeder Anteil an den Ereignissen der Außenwelt, jede Wissbegierde über Personen von Rang und Bedeutung erstorben. Ihm ist seit zwanzig Jahren der kleine Kreis seiner Pflichten und Beschäftigungen die Welt geworden. Für diesen Mann hat das Leben seinen unschätzbaren Wert verloren und wenn der Tod kommen wird, empfängt er diesen König der Schrecken, wie er den letzten seiner Gäste empfangen hat.

»Kann ich noch irgend etwas für Sie tun, ehe ich zu meinen Büchern zurückkehre?« sagt er, mehr zu sich selbst, als zu uns sprechend.

Indem er diese Frage tut, fällt ihm noch etwas ein und er wendet sich mit seinem matten, trüben Lächeln an meinen Freund: »Ich fürchte für Sie, mein Herr, wird dieses Leben allzu einförmig sein. Wenn Ihnen das Angeln Vergnügen macht, kann ich Ihnen dazu behilflich sein. Es gibt sehr viele Fische im See und ich habe einen Gartenjungen, der Ihnen mit Freuden im Kahn zu Diensten sein wird.«

Da mein Freund mit Vergnügen angelt, nimmt er freudig das Anerbieten an. Ehe er zu seinen Büchern zurück kehrt, richtet der Meister noch einige Worte an mich.

»Solange Sie so unglücklich sind an das Zimmer gefesselt zu sein, Mr. Germaine, können Sie sich sicher der Pflege meines Dieners Peter anvertrauen. Er hat den Vorzug bei Kranken ein sehr stiller, ruhiger Wärter zu sein und doch ist er in seiner rückhaltenden Weise sehr sorgsam und vorsichtig. Was die leichteren Pflichten, wie ich sie bezeichnen möchte, als Vorlesen, Ihre Briefe schreiben, so lange Ihre rechte Hand dazu unfähig ist, die Temperatur des Zimmers regeln und so weiter, an Ihrem Krankenlager anlangt, so glaube ich fast, wenn ich es auch nicht bestimmt versprechen kann, dass eine andere Person, deren ich bis jetzt noch nicht Erwähnung tat, diese übernehmen wird. Wir werden ja sehn, wie sich das in einigen Stunden gestaltet, bis dahin, mein Herr, gestatten Sie mir, dass ich Ihnen Ruhe gönne.«

Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer so leicht, wie er es betreten hat und seine beiden Gäste bleiben in dankbarer Betrachtung über Schottlands Gastfreundschaft zurück. Die letzten Worte unseres Wirtes haben uns in große Spannung versetzt und wir tauschen mehr oder minder geistreiche Vermutungen über diese »andere Person« ohne Namen durch, die mich möglicherweise pflegen wird, bis unsere Gedanken durch das Erscheinen des Mittagsmahles eine andere Richtung bekommen.

Die wenigen Gänge sind vorzüglich gekocht und mit großem Geschmack angerichtet. Ich bin aber zu müde, um viel zu essen und belebe meine Kräfte nur durch ein Glas von dem alten Madeira. Während des Mahles machen wir unsere Zukunftspläne, da unsere Rückkehr auf die Yacht, im Hafen von Berwick am nächsten Tage spätestens erwartet wird. Wie die Sachen stehn, muss mein Begleiter, um unsere Freunde vor unnützen Sorgen über mein Ergehn zu bewahren, allein zum Schiff zurückkehren. Am folgenden Tage versprach ich einen Bericht über mein Befinden an Bord zu senden und der Bote sollte dann meinen Mantelsack mit zurückbringen.

Auf meinen Wunsch geht mein Freund, nachdem Alles verabredet ist, nach dem See, um sein Glück im Angeln zu versuchen. Aus dem wohlgefüllten Medizinkasten verbinde ich mit Peters Hilfe meine Wunde, hülle mich in den behaglichen Schlafrock, der immer im Fremdenzimmer bereitgehalten wird und lege mich wieder auf mein Bett, um die heilende Kraft des Schlafes zu erproben.

Der stille Peter geht, ehe er das Zimmer verlässt, an das Fenster und fragt mich in möglichst wenigen Worten, ob er die Vorhänge vorziehen soll, worauf ich, da ich schon schläfrig bin, in noch wenigeren Worten verneinend antworte. Ich liebe es nicht, wenn das erheiternde Tageslicht ausgeschlossen wird, meiner krankhaften Phantasie erscheint das augenblicklich wie die Vorbereitung zu einer langen Krankheit.

Außerdem steht ja die Klingel an meinem Bett und ich kann Peter in jedem Augenblick hier haben, wenn mich das Licht am Schlafen hindert. Das ist Peter auch einleuchtend, er nickt mit dem Kopfe und geht hinaus. Für einige Augenblicke liege ich in müßiger Betrachtung über das Feuer, das mir Gesellschaft leistet. Inzwischen lindern der Verband an meiner Wunde und die Bähung an meiner verrenkten Hand die Schmerzen, die ich bis dahin empfand und allmälig scheint das helle Feuer zu verlöschen, der Schlaf bemächtigt sich meiner mehr und mehr und alle meine Sorgen sind vergessen.

Nach scheinbar langem Schlaf erwache ich und fühle im Erwachen die Verwirrung, die jeder an sich wahrnimmt, der zuerst die Augen in einem fremden Bett und in einem unbekannten Zimmer öffnet. Allmälig sammle ich meine Gedanken, finde mein Erstaunen aber durch einen geringfügigen, seltsamen Umstand gesteigert. Die Vorhänge, die ich Peter verhinderte vorzuziehn, sind zu, fest zugezogen, so dass das ganze Zimmer in tiefes Dunkel gehüllt ist. Was mich aber noch mehr verwundert, ist, dass ein hoher Bettschirm ganz ausgespannt vor dem Feuer steht und das Licht, das dieses sonst verbreiten würde, so abschließt, dass es nur die Decke beleuchtet. Ich bin ganz in Dunkel gehüllt. Ist es denn schon Nacht?

In müßigem Erstaunen wende ich meinen Kopf auf dem Kopfkissen um und sehe auf die andere Seite meines Bettes.

So dunkel es auch ist, entdecke ich doch sofort, dass ich nicht allein bin. Eine dunkle Gestalt steht an meinem Bette und ich erkenne an den unklaren Linien des Gewandes, dass es die Gestalt einer Frau ist. Mir scheint, als sehe ich, wenn ich meine Augen anstrenge, einen wallenden, schwarzen Gegenstand, der ihren Kopf bedeckt und wie ein weiter Schleier um die Schultern fällt. Obgleich ihr Gesicht mir zugewendet ist, kann ich keinen Zug darin unterscheiden. Sie steht wie eine Statue, deren gekreuzte Hände sich gegen die dunkle Masse ihres Kleides deutlich abheben, das sehe ich - aber nichts mehr.

Nach einem Augenblick des Schweigens erhebt das schattenhafte Wesen seine Stimme und spricht zuerst.

»Hoffentlich fühlen Sie sich nach dem Schlafe wohler, mein Herr?«

Die leise Stimme hat eine gewisse Weichheit im Klange, die mein Ohr wohltuend berührt, die Sprechweise ist entschieden die einer feingebildeten Person. Nachdem ich der unbekannten und nur halbsichtbaren Dame ihre Frage beantwortet habe, richte ich die unvermeidliche Frage an sie: »Mit wem habe ich die Ehre zu speechen?«

Die Dame erwidert: »Ich bin Miss Dunroß und möchte, wenn Sie nichts dawider haben, Peter bei Ihrer Pflege behilflich sein.«

Das also war die geheimnisvoll von unserem Wirte erwähnte »andere Person«! Sofort fällt mir Miss Dunroß's heldenmütiges Benehmen gegen ihre armen, heimgesuchten Nachbarn ein und ich gedenke des schmerzlichen Erfolges ihrer Aufopferung für Andere, durch die sie nun selbst unheilbar krank ist. Hundertfach wächst mein Verlangen die Dame zu sehen, deutlich erkennen zu können und ich bitte sie also das Maß ihrer Güte voll zu machen, indem sie mir sagt, warum das Zimmer so verdunkelt ist. »Es ist doch sicher noch nicht Nacht?« sage ich.

»Sie haben nicht mehr als zwei Stunden geschlafen,« antwortet sie, »inzwischen ist der Nebel verschwunden und die Sonne scheint.«

Ich nehme die Klingel zur Hand, die neben mir auf dem Tische steht.

»Soll ich nach Peter klingeln, Miss Dunroß?«

»Um die Vorhänge zu öffnen, Mr. Germaine?«

»Ja, wenn Sie es gestatten, ich möchte gern den Sonnenschein sehen.«

»So will ich Ihnen Peter gleich schicken.«

Die Schattengestalt meiner neuen Pflegerin gleitet hinaus. Wenn ich sie nicht zurückhalte, hat die Dame, die ich zu sehen so begierig bin, das Zimmer verlassen.

»O bitte, bleiben Sie!« sage ich, »ich möchte Sie um keinen Preis mit einer unbedeutenden Bestellung bemühen. So wie ich klingle wird der Diener ja kommen.«

Mehr in Dunkel gehüllt, denn zuvor, bleibt sie zwischen meinem Bett und der Tür stehn und sagt traurig:

»Während ich im Zimmer bin wird Peter das Tageslicht nicht hinein lassen, er schloss auf mein Geheiß die Vorhänge.«

Das setzt mich in Erstaunen! Warum sollte Peter das Zimmer dunkel machen, so lange Miss Dunroß darin war? Hat sie so schwache Augen? Doch, dann würde sie sie ja durch einen Schirm schützen und so dunkel es auch ist, sehe ich doch genau, dass sie desgleichen nicht trägt. Warum ist das Zimmer dunkel gemacht, wenn nicht um ihretwillen? Diese Frage wage ich nicht an sie zu richten und entschuldige mich also nur höflichst.

»Kranke sind so selbstsüchtig,« sage ich, »ich glaubte Sie hätten die Stube meinetwegen dunkel gemacht.«

Sie naht sich wieder leise meinem Bette ehe sie spricht und dann sagt sie mir diese seltsamen Worte:

»Sie irren sich, Mr. Germaine, das Zimmer ist nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen verdunkelt.«


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