Die Blinde



Zehntes Kapitel - Resumé der Parlaments-Verhandlungen.

O, der willkommenen Unterbrechung Nach der Aufregung, die wir durchgemacht hatten, waren wir Alle einer Erholung, wie sie sich uns hier darbot, gleich bedürftig. Es war unter diesen Umständen ein wahrer Hochgenuß, in den gewöhnlichen Schlendrian des täglichen Lebens wieder hineingezwängt zu werden. Ich fragte, an wen der Brief gerichtet sei? Nugent antwortete: »Der Brief ist an mich und von Herrn Finch.« Nachdem er den Brief gelesen hatte, wandte er sich zu Lucilla.

»Ich habe Ihren Vater bitten lassen, sich hierher zu uns zu bemühen«, sagte er. »Herr Finch erwidert mir darauf, daß seine Pflichten ihn im Hause zurückhalten und daß er dafür halte, das Pfarrhaus sei ein geeigneterer Ort für die Discussion von Familienangelegenheiten. Haben Sie etwas dagegen, nach Hause zurückzukehren und wäre es Ihnen recht, mit Madame Pratolungo voranzugehen?«

Lucilla’s leicht erregbarer Argwohn wurde augenblicklich wach.

»Warum nicht mit Oscar?« fragte sie.

»Ihr Vater«, erwiderte Nugent, »giebt mir in seinem Schreiben zu verstehen, daß er über die kurze Notiz, die ich ihm von unserer hier zu pflegenden Berathung gegeben habe, ein wenig verletzt ist. Ich dachte, Sie könnten, bevor Oscar und ich erscheinen, Ihren Vater mit uns aussöhnen, indem Sie ihm versichern, daß wir keine Mißachtung seiner beabsichtigt haben. Glauben Sie nicht selbst, daß Sie uns die Sache leichter machen würden, wenn Sie das thäten?«

Nachdem er es auf diese geschickte Weise möglich gemacht hatte, Oscar und Lucilla zu trennen und Zeit zu gewinnen, seinen Bruder zu beruhigen und wieder aufzurichten, bevor er sie wiedersehe, öffnete Nugent die Thür, um mich und Lucilla hinauszulassen.

Wir ließen die Zwillingsbrüder allein in dem bescheidenen kleinen Zimmer, welches Zeuge einer Scene gewesen war, die uns Allen unvergeßlich blieb, nicht nur wegen des Interesses, das sie im Augenblick für uns hatte, sondern auch wegen der Folgen, die sich in Zukunft daran knüpfen sollten.

Eine halbe Stunde später waren wir Alle im Pfarrhause versammelt.

Unsere bis zu diesem Augenblick vertagte Berathung führte, abgesehen von einem einzigen kleinen, von mir ausgegangenen Vorschlag, zu nichts. In Wahrheit reducirte sich dieselbe auf eine von Herrn Finch gehaltene Rede. Der Gegenstand derselben war die Geltendmachnng der Würde des Herrn Finch.

Ich erlaube mir hier, da mir wichtigere Dinge obliegen, die Rede des Ehrwürdigen Finch nach dem Maße seiner Gestalt zu behandeln..

Der Ehrwürdige Finch erhob sich und sagte, er protestire dagegen, daß man ihm eine Bestellung auf einer Karte, anstatt in einem angemessenen Billet habe zugehen lassen, daß man ihm zugemuthet habe, sich sofort in Browndown einzustellen, daß er anstatt der Erste der Letzte gewesen sei, den man von der exaltirten und absurden Auffassung des Falles seines armen Kindes durch Herrn Nugent Dubourg unterrichtet habe. Er sei nicht damit einverstanden, daß man sich an einen deutschen Arzt, also jedenfalls einen unbekannten Ausländer und möglicherweise einen Ouacksalber wende, und damit den britischen Aerzten einen Makel anhefte, ganz abgesehen von den großen Kosten, die man sich dadurch aufbürde, er sei endlich gegen den ganzen Vorschlag des Herrn Nugent, der einer Auflehnung gegen die Fügungen einer allweisen Vorsehung entsprungen, eine Verwirrung des Gemüths seiner Tochter zur Folge habe, »eines Gemüths, das sich unter meinem Einfluß in einem Zustande christlicher Ergebung befand, das aber unter Ihrem Einfluß, Herr Dubourg, in einen Zustand ungläubiger Empörung versetzt worden ist.« Nach diesen Schlußbemerkungen setzte sich der Ehrwürdige Finch in Erwartung einer Antwort schweigend nieder.

Es folgte aber merkwürdiger Weise, was sich zur Nachahmung in einigen Parlamenten empfehlen möchte, keine Antwort.

Herr Nugent erhob sich, — nein, er blieb sitzen und erklärte, jede Betheiligung an den Verhandlungen ablehnen zu müssen. Er sei gern bereit zu warten, bis der Ausgang die Mittel, welche er anzuwenden vorgeschlagen habe, gerechtfertigt haben werde. Uebrigens fühle er sich in seinem Gewissen vollständig beruhigt und werde sich Fräulein Finch’s Entscheidung unbedingt fügen. Herr Finch würde sich wohl nicht so leichten Kaufes haben abfinden lassen, wenn nicht ein besonderer Umstand obgewaltet hätte. Ich habe es bereits als einen Ausfluß des eigenthümlichen Zwanges, welchen Lucilla auf Nugent übte, erwähnt, daß ihr Vater denselben in ihrer Gegenwart immer ohne Mühe zum Schweigen bringen konnte. Sie war auch dieses Mal anwesend und Herr Finch profitirte von diesem Umstande.

Oscar, der sich hinter seinem Bruder versteckt hielt, befolgte Nugent’s Beispiel. Die Entscheidung der zu berathenden Angelegenheit bleibe Lucilla allein überlassen. Er habe keine eigene Meinung über die Sache.

Lucilla selbst, welche demnächst zu einer Aeußerung veranlaßt wurde, hatte nur eine Antwort zu geben. Wenn ihr ganzes Vermögen bei dem Versuch, ihre Sehkraft wieder zu erlangen, aufgewendet werden müßte, werde sie mit Freuden dieses Opfer bringen. Bei allem gebührenden Respect vor ihrem Vater wagte sie doch zu glauben, daß er so wenig wie sonst Jemand, der sich im Besitz seiner Sehkraft befinde, ihre Gefühle bei der gegenwärtigen Sachlage ganz verstehen könne. Sie bitte Herrn Nugent Dubourg inständigst, ohne Verzug den deutschen Arzt nach Dimchurch zu bringen.

Frau Finch, an welche nun die Reihe kam, sprach, nachdem sie ein paar Minuten nach ihrem Schnupftuch gesucht hatte. Sie erklärte, sich nicht anmaßen zu wollen, anderer Ansicht zu sein als ihr Gatte, der nach ihrer Erfahrung noch immer bei allen Gelegenheiten Rechts gehabt habe. Sollte aber der deutsche Arzt kommen, so möchte sie denselben, wenn Herr Finch nichts dagegen halte, sehr gern (womöglich umsonst) über Baby’s Augen consultiren. Frau Finch war eben dabei, näher auseinanderzusetzen, daß in diesem Augenblick, soviel sie sehen könne, Baby’s Augen glücklicherweise ganz in Ordnung seien und daß sie nur wünsche, die Meinung eines kundigen Arztes für den möglichen Fall eines künftigen Augenleidens des Kindes zu vernehmen, als sie von Herrn Finch zur Ordnung gerufen wurde. Der ehrwürdige Herr forderte gleichzeitig Madame Pratolungo auf, die Debatte durch den offenen Ausdruck ihrer eigenen Ansicht zu schließen.

Madame Pratolungo bemerkte demgemäß schließlich, daß die Frage der Consultation des deutschen Arztes nach der Aeußerung von Fräulein Finch sich jedem Meinungsausspruch von Seiten einer anderen Person entziehe. Daß sie daher proponire, über die Consultation hinaus die Ergebnisse, welche dieselbe zur Folge haben möchte, ins Auge zu fassen, daß sie in Bezug auf diese möglichen Folgen eine sehr entschiedene Ansicht habe, welche sie offen auszusprechen sich erlauben wolle. Nach ihrer Ansicht könnte die proponirte Untersuchung in Betreff der etwa vorhandenen Aussichten, die Sehkraft Fräulein Finch’s wieder herzustellen, viel zu ernste Folgen nach sich ziehen, als daß man dieselbe der Entscheidung eines einzelnen Mannes, und wäre derselbe noch so geschickt und noch so berühmt, anvertrauen dürfe. Dieser Ansicht gemäß erlaube sie sich vorzuschlagen: Erstens, daß ein ausgezeichneter englischer Augenarzt zu der Consultation des deutschen Augenarztes hinzugezogen werde, zweitens, daß eine genaue Darlegung der Ansicht, über welche sie sich etwa einigen möchten, den hier Versammelten vorgelegt und von diesen discutirt werden möge, bevor irgend eine entscheidende Maßregel getroffen werde, ls und endlich drittens, daß dieser Vorschlag der Versammlung in Form einer Resolution vorgelegt und sofort, falls es erforderlich sein sollte, zur Abstimmung gebracht werden möge.

Die vorstehende Resolution wurde alsbald zur Abstimmung gebracht und mit der Majorität der von vier gegen zwei Stimmen angenommen:

Mit »Ja« stimmten:

Fräulein Finch,
Herr Nugent Dubourg,
Herr Oscar Dubourg,
Madame Pratolungo.

Mit »Nein« stimmten:

Herr Finch (auf Grund der bedeutenden Kosten),
und Frau Finch (weil Herr Finch »Nein« gesagt habe).

Die Debatte wurde bis zu einem später anzuberaumenden Tage vertagt.

Am nächsten Morgen reiste Nugent Dubourg mit dem ersten Zuge nach London. Als wir beim zweiten Frühstück saßen, traf das folgende Telegramm von ihm ein: »Ich habe meinen Freund gesehen, er stellt sich uns zur Verfügung; er ist auch bereit, mit jedem englischen Augenarzte, den wir wählen werden, zu consultiren. Ich will mich eben aufmachen, den Mann zu finden. Weiteres melde ich noch heute telegraphisch.«

Das zweite Telegramm traf Abends ein und lautete wie folgt:

»Alle in Ordnung. Der deutsche und der englische Augenarzt verlassen London mit mir, mit dem um zwölf Uhr vierzig Minuten von hier abgehenden Zuge.«

Nachdem ich dieses Telegramm Lucilla vorgelesen hatte, schickte ich es Oscar nach Browndowm. Ich brauche dem Leser wohl nicht zu sagen, wie er und wie wir die folgende Nacht zubrachten.


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