Mann und Weib



Neununddreißigstes Kapitel - Die Wahrheit kommt endlich an den Tag

Zwei Tage nach der Hochzeit, am Mittwoch den neunten September, wurde ein in Windygates eingetroffenes Packet Briefe von Lady Lundie’s Verwalter nach Ham-Farm weiter befördert. Mit einer einzigen Ausnahme waren die Briefe alle entweder an Sir Patrick oder an seine Schwägerin adressirt. Der einzige Brief aber, der eine Ausnahme machte, war an Mr. Arnold Brinkworth gerichtet, Adresse Lady Lundie, Windygates-House, Perthshire, und sorgfältig versiegelt. Als Sir Patrick sah, daß der Brief mit einem Glasgower Poststempel versehen war, betrachtete er die Handschrift auf der Adresse mit einem gewissen Mißtrauen. Sie war ihm unbekannt, rührte aber offenbar von einer weiblichen Hand her.

Lady Lundie saß ihm gegenüber« am Tische. In gleichgültigem Tone sagte er: »Ein Brief für Arnold« und schob ihr ihn über den Tisch hin zu. Lady Lundie nahm den Brief auf, ließ ihn aber, sobald sie die Handschrift angesehen hatte, plötzlich wieder los, als ob sie sich die Finger an demselben verbrannt hätte.

»Wieder die »Person«, rief Lady Lundie »Die »Person« nimmt sich heraus, einen Brief an Arnold Brinkworth unter der Adresse meines Hauses zu schreiben?«

»Miß Silvester?« fragte Sir Patrick.

»Nein!« sagte Lady Lundie, indem sie die Zähne zusammenbiß, »die »Person« kann mich insultiren, indem sie einen Brief unter meiner Adresse abschickt, aber der Name der »Person« soll meine Lippen nicht beflecken selbst nicht in Ihrem Hause, Sir Patrick, auch nicht Ihnen zu Gefallen!«

Das war für Sir Patrick Antwort genug. Nach Allem, was vorgefallen war, nach ihrem Abschiedsbrief an Blanche, schrieb Miß Silvester hier wieder aus freien Stücken an Blanche’s Mann, das war gelinde gesagt, unerklärlich; er nahm den Brief wieder zur Hand und sah ihn noch einmal an. Lady Lundie’s Verwalter war ein Mann, der sehr methodisch zu Werke zugehen pflegte; er hatte auf der Rückseite jedes in Windygates eingetroffenen Briefs den Tag der Ablieferung notirt. Der an Arnold gerichtete Brief war am Montag, den siebenten September, an Arnold’s Hochzeitstage abgegeben worden. Was hatte das zu bedeuten? Es war müßig, weiter danach zu forschen Sir Patrick stand auf, um den Brief in ein Schubfach des hinter ihm stehenden Schreibtisches zu verschließen, aber Lady Lundie that im Interesse der Sittlichkeit Einspruch.

»Sir Patrick!«

»Nun?«

»Halten Sie es nicht für Ihre Pflicht den Brief zu öffnen?«

»Meine verehrte Frau Schwägerin, wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?«

Die tugendhafteste aller lebenden Frauen war um eine Antwort nicht verlegen. »Ich denke«, sagte Lady Lundie, »an Arnold’s sittliche Wohlfahrt.«

Sir Patrick lächelte. Auf der langen Liste jener respectablen Lügen, unter denen wir unsere Neigung, uns wichtig zu machen und uns in die Angelegenheiten Anderer zu mischen, verhüllen, steht die Rücksicht auf die sittliche Wohlfahrt unserer Nebenmenschen obenan. »Wir werden wahrscheinlich in einem oder zwei Tagen von Arnold hören«, sagte Sir Patrick, indem er den Brief in das Schubfach einschloß. »Er soll den Brief haben, sobald ich weiß, wohin ich ihm denselben schicken kann.«

Schon der nächste Morgen brachte Nachrichten von dem jungen Paare. Sie berichteten, daß sie zu selig seien, um sich darum zu bekümmern, wo sie sich aufhielten, so lange sie nur bei einander seien. Die Entscheidung jeder Frage, außer der Frage ihrer Liebe, sei dem Ermessen ihres erfahrenen Couriers überlassen. Dieser verständige und zuverlässige Mann habe erklärt, daß kein vernünftiger Mensch daran denken dürfe, sich im Monat September längere Zeit in Paris aufzuhalten; er habe bestimmt, daß sie auf ihrem Wege nach der Schweiz am zehnten nach Baden-Baden abreisen sollten; bis auf Weiteres seien daher Briefe dorthin zu dirigiren. Wenn Baden dem Courier gefalle, würden sie wahrscheinlich eine Zeitlang dort bleiben, wenn aber der Courier Lust bekommen sollte, in’s Gebirge zu gehen, so würden sie nach der Schweiz weiter reisen; inzwischen habe Arnold kein anderes Interesse, als Blanche und Blanche kein anderes Interesse, als Arnold.

Sir Patrick beförderte sofort Anne Silvester’s Brief an Arnold poste restante nach Baden-Baden. Gleichzeitig wurde ein zweiter an diesem Morgen eingetroffener, an Arnold gerichteter Brief, anscheinend die Zuschrift eines Advocaten und mit dem Poststempel Edinburgh versehen, befördert.

Zwei Tage später hatten alle Gäste Ham-Farm verlassen. Lady Lundie war wieder nach Windygates zurückgekehrt; die übrigen hatten sich nach verschiedenen Richtungen hin zerstreut. Sir Patrick der gleichfalls daran dachte, nach Schottland zurückzukehren, blieb noch eine Woche allein in Ham-Farm, als einsamer Gefangener in seinem eigenen Landhause. Aufgehäufte Geschäftsrückstände, welche sein Verwalter unmöglich allein beseitigen konnte, nöthigten ihn zu diesem verlängerten Aufenthalte. Das war für einen Mann, der keinen Geschmack an der Rebhühnerjagd findet, ein hartes Loos. Sir Patrick vertrieb sich die nicht durch seine Geschäfte in Anspruch genommene Zeit mit Lectüre. Zu Tische kam der Pfarrer einer benachbarten Kirche zu ihm herübergefahren und spielte Abends mit ihm eine Parthie Piquet; sie verabredeten daß sie einen Abend um den andern, einer zu dem andern kommen wollten. Der Pfarrer war ein ausgezeichneter Spieler und Sir Patrick, obgleich ein geborener Presbyterianer, segnete die englische Staatskirche die ein so harmloses Kartenspiel nicht verpönte, aus Herzensgrunde.

Drei weitere Tage verflossen. Die Abwickelung der Geschäfte nahm einen raschen Fortgang und die Zeit von Sir Patricks Rückkehr nach Schottland nahte heran. Die beiden Herren kamen überein, eine letzte Parthie am nächsten Tage im Hause des Pfarrers zu spielen. Aber diese letzte Parthie Piquet zwischen dem Baronet und dem Pfarrer sollte nie gespielt werden. Am Nachmittag des vierten Tages kam Sir Patrick von einer Ausfahrt zurück und fand einen Brief von Arnold vor, der mit der letzten Post gekommen war. Dem äußern Anschein nach war es ein Brief von ungewöhnlich bedenklicher, vielleicht auch von ungewöhnlich interessanter Natur. Arnold war einer der letzten Menschen in der Welt, dem irgend einer seiner Bekannten eine Neigung zu längerer Correspondenz würde zugetraut haben, und doch lag hier ein Brief von ihm, der dreimal so dick und schwer war, wie seine gewöhnlichen Briefe und übrigens augenscheinlich von mehr als gewöhnlicher Wichtigkeit in Betreff seiner Nachrichten. In der einen Ecke des Couverts stand »rasch zu befördern« und in einer andern Ecke stand gleichfalls unterstrichen das Wort »Vertraulich.« »Halloh, was hat das zu bedeuten?!« dachte Sir Patrick. Als er den Brief eröffnete, fielen zwei Einlagen heraus. Er warf einen Blick darauf und sah, daß es die beiden Briefe waren, die er nach Baden-Baden befördert hatte; der Brief, den er in der Hand behielt und der zwei Bogen füllte, war von Arnold selbst. Sir Patrick las diesen Brief zuerst; er war aus Baden-Baden datirt und fing an, wie folgt:

»Lieber Sir Patrick!

»Erschrecken Sie nicht, wenn Sie irgend umhin können, ich bin in schrecklicher Verlegenheit.«

Sir Patrick blickte einen Augenblick von dem Briefe auf. Wenn ein junger Mann aus Baden-Baden schreibt, daß er in einer schrecklichen Verlegenheit ist, wie hat man diese Verlegenheit zu erklären? Sir Patrick zog den unvermeidlichen Schluß, Arnold müsse gespielt haben; Er schüttelte den Kopf und las weiter:

»Ich darf sagen, daß ich, so schrecklich die Sache auch ist, nicht zu tadeln bin und auch sie, die Aermste nicht.«

Sir Patrick hielt wieder inne, »Sie?« Blanche hatte augenscheinlich auch gespielt. Es fehlte nichts, um das Bild vollständig zu machen, als daß der nächste Satz, meldete, daß auch der Courier seinerseits von der unersättlichen Spielwuth ergriffen worden sei. Sir Patrick las weiter:

»Sie werden gewiß nicht von mir verlangen, daß ich die Gesetze hätte kennen sollen und was die arme Miß Silvester betrifft ——«

Miß Silvester? Was hatte denn Miß Silvester damit zu thun und was konnte die Beziehung auf die Gesetze zu bedeuten haben? Sir Patrick hatte den Brief bis hierher stehend gelesen. Bei dem Namen Silvester aber beschlich ihn ein eigenthümliches Mißbehagen. Er konnte sich keine klare Vorstellung von dem machen, was nun folgen werde; ein unbeschreibliches Etwas regte sich in ihm und afficirte seine Nerven derartig, daß er plötzlich die Schwächen seines Alters zu fühlen glaubte. Er war genöthigt, sich niederzusetzen und einen Augenblick inne zu halten, bevor er fortfahren konnte. Der Brief lautete weiter:

»Und was die arme Miß Silvester betrifft, so konnte sie doch, obgleich sie, wie ich mich erinnere, ein unbestimmtes Vorgefühl von der Bedenklichkeit der Situation hatte, da auch sie nicht gesetzeskundig ist, keine Ahnung davon haben, wie die Sache enden würde. Ich weiß kaum, wie ich es anfangen soll, Ihnen die Sache mitzutheilen, ich kann und will es nicht glauben, aber selbst wenn die Sache wahr sein sollte, so bin ich überzeugt, daß Sie einen Ausweg für uns finden werden. Ich werde vor nichts zurückschrecken und Miß Sylvester wird, wie Sie aus ihrem Briefe ersehen werden, gleichfalls vor nichts zurückschrecken, um die Sache in Ordnung zu bringen. Natürlich habe ich meiner geliebten Blanche, die ganz glücklich ist und nicht den leisesten Verdacht hegt, nichts davon gesagt. Alles dies, lieber Sir Patrick, ist, fürchte ich, sehr schlecht geschrieben, aber es hat den Zweck, Sie vorzubereiten und die Dinge von vornherein in das beste Licht zu stellen. Indessen muß die Wahrheit gesagt werden und die Wahrheit ist eine Schmach für das schottische Gesetz. Die Sache ist kurz folgende: Geoffrey Delamayn ist ein noch größerer Schurke, als wofür Sie ihn halten und ich bereue es, wie die Dinge sich jetzt herausgestellt haben, bitter, daß ich an jenem Abende, wo Sie und ich unsere vertrauliche Unterhaltung in Ham-Farm hatten, geschwiegen habe. Sie werden denken, daß ich zwei Dinge in einander mische, aber das thue ich nicht, bitte, bleiben Sie dessen, was ich eben über Geoffrey gesagt habe, eingedenk, und bringen Sie es in Verbindung mit dem, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe. Das Schlimmste kommt noch. Miß Silvester’s einliegender Brief meldet mir die schreckliche Nachricht. Sie müssen wissen, daß ich an dem Tage jenes Gartenfestes in Windygates im Geheimen als Geoffrey’s Bote zu ihr ging. Nun, wie es geschehen sein mag, weiß nur der Himmel, aber es ist Grund zu der Besorgniß vorhanden, daß ich, ohne selbst etwas davon zu wissen, mich im vorigen August im Gasthof zu Craig-Fernie mit Miß Silvester verheirathet habe.«

Der Brief entfiel Sir Patricks Händen. Er sank in seinen Stuhl zurück und war einen Augenblick durch den Schreck völlig betäubt. Bald aber erholte er sich wieder, sprang auf und ging im Zimmer auf und ab, stand dann still, nahm sich zusammen und waffnete sich mit all seiner Willenskraft. Er hob den Brief wieder auf und las den letzten Satz noch einmal. Sein Gesicht überflog eine tiefe Röthe. Er stand auf dem Punkt sich einem nutzlosen Zornesausbruch gegen Arnold zu überlassen, als sein besseres Urtheil ihn noch zu rechter Zeit zurückhielt.

»Ein Narr in der Familie ist genug,« sagte er; »an mir ist es, in dieser schrecklichen Lage um Blanche’s willen, mir den Kopf klar zu halten.« Er hielt abermals inne, um sich seiner eigenen Fassung zu versichern und nahm dann wieder den Brief zur Hand, um zu sehen, was der Schreiber zur Erklärung und Entschuldigung der Sache zu sagen habe. Arnold wußte genug zu sagen, nur wußte er leider nicht, wie er es sagen sollte. Es war schwer zu entscheiden, welche Eigenschaft in seinem Briefe die hervorragendste war, die vollständige Abwesenheit aller klaren Zusammenstellung, oder der vollständige Mangel an jeder Zurückhaltung. Ohne Anfang, Mitte oder Ende erzählte er die Geschichte seiner verhängnißvollen Verbindung mit Anne Silvester’s Angelegenheiten von dem denkwürdigen Tage an, wo Geoffrey Delamayn ihn nach Craig-Fernie geschickt hatte, bis zu dem ebenso denkwürdigen Abende, wo Sir Patrick es vergebens versucht hatte ihm in Hain-Farm die Lippen zu öffnen.

»Ich muß bekennen,« schloß der Brief, »daß, wie die Dinge sich jetzt herausgestellt haben, ich ein Narr gewesen bin, Geoffrey Delamayn’s Geheimniß zu bewahren; Aber wie konnte ich etwas über ihn aussagen, ohne Miß Silvester zu compromittiren. Lesen Sie ihren Brief und Sie werden sehen, was Sie sagt, und wie großmüthig sie mich jeder Verpflichtung entbindet. Es nützt nichts, daß ich sage, es thut mir leid, daß ich, zu rücksichtsvoll war, das Uebel ist geschehen, aber ich werde, wie ich schon vorhin gesagt habe, vor nichts zurückschrecken, um es wieder gut zu machen, nur sagen Sie mir, was der erste Schritt ist, den ich zu thun habe und verlassen Sie sich darauf, daß ich denselben, falls er mich nicht von Blanche trennt, sofort thun werde. In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich, lieber Sir Patrick, Ihr sich in der peinlichsten Verlegenheit befindender

Arnold Brinkworth.«

Sir Patrick faltete den Brief zusammen und betrachtete die beiden auf dem Tische liegenden Einlagen. Sein Auge blickte finster, als er die Hand ausstreckte, um Anne’s Brief aufzunehmen. Der Brief von Arnold’s Advocaten in Edinburgh lag ihm näher; mechanisch griff er daher zuerst nach, diesem. Der Advocat berichtete in Kurze, daß er die nöthigen Nachforschungen in Glasgow mit folgendem Ergebniß angestellt habe. Anne’s Spur war bis zum Schöpfen-Hotel verfolgt worden; dort hatte sie bis Anfang September schwer krank darnieder gelegen. Man hatte erfolglose Anzeigen in den Glasgower Blättern erlassen. Am fünften September endlich war sie soweit wiederhergestellt gewesen, um das Hotel verlassen zu können; man hatte sie an demselben Tage an der Eisenbahnstation gesehen, aber damit war jede Spur von ihr wieder verloren gegangen. Demnächst habe der Advocat, wie er weiter berichtete jedes weitere Verfahren eingestellt und erwarte jetzt eine Instruction von seinem Clienten.

Der Brief blieb nicht ohne Einfluß auf Sir Patrick, indem er ihn veranlaßte weniger hart und rasch über Anne zu urtheilen, als er es zu thun im ersten Augenblick geneigt gewesen war. Schon ihre Krankheit gab ihr das Recht auf ein wenig Sympathie; ihre hilflose Lage, welche sich in den durch die Zeitungen erlassenen Aufrufen so klar und traurig abspiegelte, forderte dringend dazu auf, ihre Fehler, wenn sie deren begangen hatte, milde zu beurtheilen. Ernst aber nicht mehr zornig öffnete Sir Patrick ihren Brief, —— den Brief, welcher einen Zweifel gegen die Gültigkeit der Ehe seiner Nichte erhob.


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