Herz und Wissen



Capitel LX.

Da, ein Laut aus der gewöhnlichen Alltäglichkeit, das Anstreichen eines Streichholzes im Nebenzimmer, und der Zauber war endlich gebrochen.

Er erhob sich und tappte bis zur Thür. Teresa hatte sich nach oben gewagt und ein Licht angezündet. Instinktive Scheu vor ihm ließ sie schweigen, als er sie erblickte. Er stammelte und starrte verwirrt um sich, als er zu sprechen versuchte.

»Wo —— wo ——?« Er schien die Herrschaft über seine Gedanken verloren zu haben. Erschöpft hielt er inne, dann versuchte er es noch einmal. »Ich will allein sein,« war schließlich Alles, was er hervorbringen konnte.

Teresa nahm ihn bei der Hand, als wäre er ein Kind, und führte ihn die Treppe hinunter nach seinen Zimmern. Schweigend blickte er vor sich hin, während sie die Lichter anzündete »Kann ich sonst noch etwas für Sie thun?« fragte sie endlich. Er schüttelte den Kopf. Ihr Mitleiden gab ihr Muth, und: »Versuchen Sie zu beten,« sagte sie, bevor sie das Zimmer verließ.

Er sank auf die Knie; aber noch immer versagte ihm die Stimme. Vergebens suchte er Ruhe für seine Seele in heiligen Gedanken. Nein! Die dumpfe Qual in ihm vermochte keine Erleichterung zu finden. Nur noch Schatten von Gedanken kreuzten seinen Sinn, seine Augen brannten ihm von einer glühenden Hitze. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten. Die Gewohnheit des Wanderlebens, das er in letzter Zeit geführt, trieb ihn gleich dem Instinkt eines Thieres hinaus in den freien Raum und die frische Luft. Ohne zu wissen und ohne sich darum zu kümmern, wohin sein Weg ihn führte, eilte er weiter und weiter, bis die gedrängten Häuser sich zu vereinzeln begannen, schließlich ganz aufhörten, und er sich allein fand auf einer einsamen, vom Monde beschienenen Landstraße Er folgte derselben, bis er ihrer müde war, und wandte sich dann seitwärts auf einen gewundenen Fußpfad. Das Licht des Mondes im Wechsel mit den Schatten der Bäume erfreute und beruhigte ihn. In der Bewegung hatte er die Erleichterung gefunden, die ihm in der Ruhe versagt geblieben war. Er konnte wieder denken, er konnte wieder fest wollen, seine geliebte Braut entweder zu retten oder mit ihr zu sterben. Jetzt endlich war er Mannes genug, der schrecklichen Gefahr, die ihn mit seinem Liebsten bedrohte, unerschrocken entgegenzutreten und den Kampf seiner Kunst, seiner Wissenschaft und seiner Liebe gegen die Macht des Todes aufzunehmen. Jeder Augenblick —— das erkannte er jetzt —— jeder Augenblick war kostbar; unverzüglich mußte er zu ihr zurückeilen. Er blieb stehen und blickte um sich, aber er wußte nicht wo er war. Und hier auf dem einsamen Fußpfade würde er zu später Stunde schwerlich Jemandem begegnen, der ihm Auskunft geben könnte —— so wandte er sich denn zurück nach der Landstraße.

In demselben Augenblick trug ihm die stille Nachtluft ein Wölkchen stark riechenden Tabakrauches zu —— Jemand, der rauchte, mußte in seiner Nähe, auf oder dicht bei dem Fußpfade sein.

Sorgfältig folgte er der Richtung bis zu einem Gitterthor mit einem unbestellten Feld dahinter. Dort stand der Mann, dessen Tabaksrauch er gerochen hatte, an die Thürpforte sich anlehnend, die Pfeife im Munde.

Das Mondlicht fiel voll auf Ovids Züge, wie er sich jenem näherte, um ihn nach dem Wege zu fragen. Der Mann trat ihm plötzlich einen Schritt entgegen, starrte ihn an und rief: »Halloh! sind Sie es selbst oder Ihr Geist?«

Sein Gesicht war im Schatten, aber seine Stimme machte ihn kenntlich. Es war Benjulia.

»Wollen Sie mich besuchen s« fragte er.

»Nein.«

»Nun, geben Sie mir wenigstens die Hand.«

»Nein.«

»Was ist Ihnen denn in die Quere gekommen?«

Ovid hatte von Miß Minerva Alles gehört, was Teresa derselben über die Konsultationen zwischen Benjulia und Mr. Null erzählt, sowie was sie selbst bei den Besuchen Benjulia's beobachtet hatte. Nachdem er seinen aufsteigenden Jähzorn unterdrückt, antwortete er:

»Ich habe Carmina gesehen.«

Benjulia rauchte gelassen weiter und meinte: »Ein interessanter Fall, nicht wahr?«

»Sie wurden von Mr. Null konsultiert,« fuhr Ovid fort, »und Sie billigten seine unwissende, wirkungslose Behandlungsweise, trotzdem Sie es doch besser wissen mußten.«

»Natürlich wußte ich es besser ——«

»Mit offenen Augen leisteten Sie dem unwissenden Manne Vorschub, ließen Sie das arme Mädchen, ohne helfend einzugreifen, kränker und kränker werden —— zu irgend einem nichtswürdigen, selbstsüchtigen Zwecke ——«

»Das nichts« berichtigte ihn Benjulia gelassen. »Vielmehr zu einem sehr guten Zwecke, um der Wissenschaft willen, zur Bereicherung meines Wissens.«

»Wenn es mir nicht gelingt, die Gefahr, welche jetzt nur durch Ihre Schuld dem Leben Carmina's droht, noch abzuwenden ——«

Benjulia nahm seine Pfeife aus dem Munde und unterbrach ihn mit lebhaftem Interesse: »Wie gedenken Sie sie zu behandeln? Haben Sie eine neue Idee, haben Sie ein neues Mittel gefunden?«

»Rette ich sie nicht,« wiederholte Ovid, »so tragen Sie allein die Schuld an ihrem Tode. Erbarmungsloser Schurke, so wahr der Mond jetzt über uns scheint, so wahr soll mir Dein Leben für das Carmina's bezahlen.«

Staunen —— maßloses Staunen —— versiegelte Benjulia's Lippen. In wortloser Verwirrung blickte er Ovid nach, wie derselbe den Weg hinab von ihm forteilte. Die einzig mögliche Erklärung für solch unvernünftige Reden eines gelehrten Mitgliedes seines eigenen, des ärztlichen Standes, war die alte Alternative. »Wahnsinnig oder betrunken?« fragte er sich, während er seine Pfeife wieder anzündete. Auf dem Wege nach seinem Hause überkam ihn noch einmal sein altes Mißtrauen gegen Ovid, und so beschloß er, morgen oder übermorgen sich nach Teresa's Wohnung zu begeben, um dort von der Wirthin und dem Apotheker Erkundigungen einzuziehen, wie Carmina behandelt würde.

Als Ovid auf die Landstraße zurückgelangte, begegnete er einem nach London zu fahrenden Lastwagen. Der Kutscher bot ihm höflich an, ihn bis zum ersten Droschkenhalteplatz mitfahren zu lassen.

Sowohl die Wirthin als auch Teresa waren noch aus, als er zu Hause anlangte. Ihr Bericht über Carmina’s Befinden während seiner Abwesenheit bot keinen Grund zu neuer Beunruhigung, und so bot er ihnen gute Nacht, voll eifrigen Verlangens nach ungestörtem Alleinsein in seinem Zimmer.

In und außer dem Hause herrschte jetzt die lautlose Stille der Nacht, in der man am besten zu denken und zu überlegen vermag. Seine Gedanken waren klar; seine Erinnerung ließ ihn deutlich alle Erfahrungen aus seiner früheren Praxis überblicken, die ihm in seiner Noth von Nutzen sein konnten. Aber wo es sich um Carmina's Leben handelte, wagte er es nicht, sich allein auf sich selbst zu verlassen. Er hatte die Möglichkeit, eine höhere Autorität als seine eigene zu befragen. Aus seinem Koffer nahm er jenes kostbare Manuskript, das Vermächtniß des unglücklichen Arztes, dem er während seiner letzten Stunden in Montreal hilfreich zur Seite gestanden hatte.

Ovid schlug sogleich den Theil der Arbeit auf, welcher von den Krankheiten des Gehirns handelte und durch folgende Ausführung eingeleitet wurde:

»Da ich nicht weiß, in wessen Hände dieses Manuskript fallen wird, oder in welch unerwarteter Weise sich nach meinem Tode eine Gelegenheit zur Nutzbarmachung demselben bieten mag, so enthalte ich mich bei Darlegung der folgenden Thatsachen absichtlich aller technischen, dem Laien unverständlichen Ausdrücke.

»Bei der medizinischem wie überhaupt bei aller menschlichen Forschung wird das angestrebte Resultat häufig auf indirekten und völlig unerwarteten, überraschenden Wegen gewonnen. Was ich hier über die Krankheiten des Gehirns zu sagen habe, darauf ward ich in erster Linie durch die praktischen Erfahrungen bei zwei Krankheitsfällen hingeführt, welche ursprünglich nicht die geringste Aussicht auf eine Bereicherung meiner Kenntnisse in diesem Felde zu bieten schienen. Beide Fälle waren die junger Mädchen, deren durch heftige seelische Erschütterung herbeigeführte hysterische Affektion schließlich in scheinbare Paralysis auslief. Den einen dieser Fälle behandelte ich mit günstigem Erfolge. Bei dem anderen wandte ich dieselbe Behandlungsweise an, aber ein verhängnißvoller Zwischenfall führte plötzlich den Tod der Kranken herbei und machte die Sektion der Leiche nothwendig. Von diesen beiden Ausgangspunkten gelangte ich auf dem jetzt darzulegenden Wege zu Schlußfolgerungen und Entdeckungen, welche ein völlig neues Licht auf das Wesen und die Behandlung der Gehirnkrankheiten werfen.«

Stunde auf Stunde studierte Ovid die jetzt folgenden Seiten, bis sein Geist völlig eins war mit dem Geist des Autors. Dann wandte er sich wieder zu gewissen Andeutungen über die erste vorläufige Behandlung der beiden Mädchen —— von unendlichem Werthe für ihn wegen des augenblicklichen Zustandes Carmina’s. Die Morgendämmerung fand ihn in jeder Hinsicht vorbereitet, nur darauf wartend, daß der Anbruch des Tages ihn in den Stand setzen sollte, die nothwendigen Medikamente zu beschaffen.

Aber ehe er sich zu kurzer Ruhe niederlegte, mußte er sich zuvörderst noch persönlich überzeugen, wie es oben stand.

Er zog sich die Schuhe aus und schlich in Strümpfen die Treppe hinauf vor Carmina's Thür. Die treue Teresa war schon wach und suchte dringend die Kranke zu überreden, wenigstens einige Löffel Suppe zu genießen. Der Laut ihrer Stimme, wie sie ihrer Amme antwortete, ließ sein Herz sich krampfhaft zusammenziehen —— so schwach und leise war dieselbe. Aber wenigstens vermochte sie noch zu sprechen, und noch galt das alte Wort, das so Viele getröstet und so Viele betrogen —— so lange noch Leben da ist, so lange ist auch noch Hoffnung.


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