Zwei Schicksalswege

Dreizehntes Kapitel

Noch nicht geheilt

Wir besuchten Frankreich, Deutschland und Italien und waren beinahe zwei Jahre von England abwesend.

Hatte ich der Zeit und der Abwechselung recht vertraut? War in meiner Erinnerung das Bild von Frau van Brandt wirklich erloschen?

Nein! Was ich auch tat, um mit den prophetischen Worten der Dame Dermody zu reden, ich suchte unablässig den Weg zu einer dereinstigen Vereinigung mit dem mir verwandten Geiste. In den ersten zwei oder drei Monaten unserer Reise verfolgten mich Träume von der Frau, die mich so entschlossen verlassen hatte. Da sie mir im Schlaf immer reizend erschien, immer voll Anmut, immer bescheiden und herzlich gegen mich erschien, hegte ich die glühende Hoffnung, dass ihre Erscheinung sich mir noch einmal wieder im wachen Zustande zeigen würde - dass sie mich zu einer bestimmten Zeit wieder an irgend einen einsamen Ort berufen würde. Aber meine Erwartungen blieben unerfüllt, die Erscheinung kam nicht. Die Träume von ihr wurden seltener und weniger lebhaft, bis sie ganz aufhörten.

Konnte ich daraus annehmen, dass ihre Prüfungszeit zu Ende war und dass sie der Hilfe nicht mehr bedurfte, den Mann vergessen hatte, der sie ihr leisten wollte? Sollten wir uns nie wiedersehen?

»Ich bin nicht wert ein Mann zu sein,« sagte ich mir, »wenn ich sie nun nicht vergesse!« doch sie behielt unverändert ihren Platz in meinem Herzen, was ich mir auch sagen mochte.

Ich sah alle Wunder der Kunst und Natur, die fremde Länder aufzuweisen hatten und lebte in dem blendenden Glanze der besten Gesellschaft, die sich in Paris, Rom und Wien vereinigt hatte. Ich verbrachte viele Stunden in Gesellschaft der schönsten Frauen Europas - und doch behielten diese einsame Gestalt an St. Antonios Brunnen und diese großen, grauen Augen, die mit so schwermütigem Ausdruck auf mir geruht hatten, ihren Platz in meiner Erinnerung unwandelbar fest und prägten unauslöschlich ihr Bild in mein Herz ein.

Ob ich dem Zauber, der mich gefangen hielt zu widerstehen versuchte, oder ob ich ihm folgte - ich sehnte mich stets nach ihr und versuchte mühsam meiner Mutter meinen Zustand zu verbergen. Ihre liebenden Augen entdeckten aber mein Geheimnis, sie sah mich leiden und litt mit mir. Sie sagte mir oftmals: »George, durch Reisen kommen wir nicht zum Ziel, lass uns heimkehren,« und mehr als einmal antwortete ich ihr mit der Entschlossenheit der Verzweiflung:

»Nein lass uns noch neue Menschen und neue Umgebungen aufsuchen.« Erst als ich sah, dass unter den fortdauernden Anstrengungen des Reisens ihre Kraft und Gesundheit litten, gab ich das hoffnungslose Jagen nach Vergessenheit auf und wir kehrten heim.

Ich vermochte meine Mutter, erst in meinem Hause in London auszuruhen, ehe sie sich nach ihrem Lieblingsaufenthalte, dem Landsitze in Portshire zurückbegab und natürlich blieb ich bei ihr in der Stadt. Meine Mutter war ja jetzt der einzige Gegenstand, der mir das Leben noch wert und teuer machte, denn weder Politik, noch Literatur oder Landwirtschaft, alles Dinge, die ja sonst einem Mann in meiner Lebensstellung von Interesse sind, hatten die geringste Anziehungskraft für mich.

Wir kamen in London, wie man zu sagen pflegt »auf der Höhe der Saison« an. Auf der Bühne erregte in dem Jahre eine Tänzerin durch ihre Anmut und Schönheit die ungeteilteste Bewunderung. In der Zeit, von der ich schreibe war nämlich das Ballett noch die Hauptunterhaltung für das Publikum. Wohin ich kam, fragte man mich, ob ich sie gesehen, bis meine Stellung in der Gesellschaft, als der Einzige, der gleichgültig gegen die Reize der herrschenden Gottheit war, gerade zu unerträglich wurde. So nahm ich denn die nächste Einladung in die Loge eines Freundes an und, ungern genug, ging ich in die Wogen der großen Welt, das heißt, ich ging in die große Oper.

Als wir das Theater betraten, war der erste Akt der Vorstellung vorbei und das Ballett hatte noch nicht begonnen. Während meine Freunde sich damit unterhielten, bekannte Gesichter in den Logen und Rängen zu entdecken, setzte ich mich auf einen Stuhl in die Ecke und wartete auf den Tanz. Meine Gedanken schweiften fern von dem Theater umher. Wie allen Damen, war auch der Dame neben mir die Nachbarschaft eines stummen Herrn unangenehm und sie war entschlossen, mich zur Sprache zu nötigen.

»Haben Sie je ein Theater so voll gesehen, Mr. Germaine,« sagte sie, »wie dieses Theater heute Abend ist?«

Sie reichte mir ihr Opernglas, während sie sprach und ich trat an die Logenbrüstung vor, um die Versammlung zu übersehen.

Es war ein schöner Anblick, jeder benutzbare Raum schien mir ausgefüllt, als ich allmälig mein Glas vom Fußboden bis zu der Decke des Theaters erhob. Höher und höher sehend, trat dann endlich die Galerie in meinen Gesichtskreis und selbst auf diese Entfernung brachte mir das vorzügliche Glas, welches mir in die Hand gesteckt war, die Gesichter der Zuschauer ganz deutlich nah. Zuerst sah ich die Personen, die sich in der ersten Sitzreihe der Logen auf der Galerie befanden.

Ich drehte mein Glas allmälig im Halbkreise der Sitze herum, bis ich ungefähr in der Mitte anhielt.

Mein Herz begann so mächtig zu schlagen, als wollte es mir aus der Brust springen, jenes Gesicht war unter den gewöhnlichen Gesichtern, die es umgaben, nicht zu verkennen, ich hatte Frau van Brandt entdeckt. Sie saß vorne an - aber nicht allein. Ein Mann saß dicht hinter ihr, der sich zu ihr herüber neigte und mit ihr sprach. Sie hörte ihm, wie mir schien, mit müdem, traurigen Ausdruck zu. Wer aber war der Mann? War es möglich das zu ergründen? Jedenfalls wollte ich Frau van Brandt sprechen.

Der Vorhang hob sich zum Ballett, aber ich verließ unter dem bestmöglichen Vorwand meine Loge.

Es gelang mir nicht, Einlass zur Galerie zu erlangen, selbst mein Geld wurde zurückgewiesen, da nicht einmal ein Stehplatz auf der Galerie vorhanden war.

Es blieb mir nur die Möglichkeit, auf die Straße zurückzugeben und an der Ausgangstür der Galerie, wenn die Vorstellung vorüber war, Frau van Brandt zu erwarten.

Wer aber war ihr Begleiter, der Mann, der hinter ihr saß und sich zutraulich über ihre Schulter weg mit ihr unterhielt? Diese eine Frage nahm meine Gedanken beim Auf- und Abgehen vor der Tür so völlig ein, dass es mir endlich unerträglich wurde. Nur um den Mann noch einmal anzusehen, kehrte ich zur Loge meiner Freunde zurück.

Ich erinnere mich nicht mehr, wodurch ich mein seltsames Benehmen entschuldigte. Mit dem Opernglase der Dame bewaffnet, das ich nämlich ohne Gewissensbiss behielt, wendete ich, als Einziger in dieser großen Versammlung, der Bühne den Rücken und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Plätze der Galerie.

Er saß ruhig auf seinem Platz hinter ihr, allem Anschein nach ganz in die Reize der schönen Tänzerin versunken, Frau van Brandt dagegen schien die Leistungen auf der Bühne wenig anziehend zu finden. Sie sah dem Tanze, soviel ich wahrnehmen konnte, ermüdet und zerstreut zu und als der Beifall in wahrhaft wahnsinnigen Zurufen und Händeklatschen losbrach, blieb sie vollständig gleichgültig für den Enthusiasmus, der das Theater erfüllte. Der Mann hinter ihr, wie mir schien, verstimmt durch ihre sichtliche Gleichgültigkeit für die Aufführung, berührte sie ungeduldig an der Schulter, als ob er fürchtete, dass sie auf ihrem Platz einschlafen könnte. Die Vertraulichkeit seines Benehmens, die in mir die Vermutung befestigte, dass er van Brandt sei, versetzte mich in solche Aufregung, dass ich etwas sagte oder tat, was einen der Herren in meiner Loge zu einer Zurechtweisung veranlasse. »Gehen Sie lieber hinaus,« flüsterte er, »wenn Sie sich nicht beherrschen können.« Da er mit dem Rechte eines alten Freundes zu mir sprach, war ich klug genug seinen Rat anzunehmen und auf meinen Posten an der Tür der Galerie zurückzukehren.

Kurz vor Mitternacht endete die Vorstellung und die Zuschauer strömten aus dem Theater.

Aus meiner stillen Ecke hinter der Tür beobachtete ich die Treppe zur Galerie und wartete auf sie. Nach einer, wie mir schien, endlosen Zeit, sah ich sie und ihren Begleiter die Treppe herunter kommen. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, ein zierlicher Hut bedeckte ihren Kopf und erschien darauf als die kleidsamste Kopfbedeckung, die eine Frau tragen kann. Ich hörte den Mann in verdrießlichem Tone zu ihr sprechen, als sie an mir vorüber kamen.

»Dich in die Oper führen, heißt sein Geld wegwerfen,« sagte er.

»Ich bin nicht wohl,« antwortete sie mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen. »Ich bin heute Abend so verstimmt.«

»Willst Du nach Hause fahren oder gehen?«

»Wenn es Dir recht ist, will ich gehen.«

Ich folgte ihnen, unbeobachtet, bis die Massen sich verlaufen hatten, dann wollte ich mich ihr zeigen. Nach wenigen Minuten bogen sie in eine Querstraße ein, ich beschleunigte meine Schritte, bis ich dicht neben ihr war, nahm dann den Hut ab und redete sie an.

Mit einem Ausruf des Erstaunens erkannte sie mich und für einen Augenblick erleuchtete ihr Gesicht der lieblichste Ausdruck der Freude, den ich je auf einem menschlichen Antlitz sah - im nächsten Augenblick war Alles vorbei! Die reizenden Züge wurden wieder düster und hart, sie stand vor mir, als wäre sie schuldbeladen und sprach kein Wort, nahm selbst nicht meine dargereichte Hand.

Ihr Begleiter brach das Schweigen.

»Wer ist der Herr?« fragte er, mit ausländischem Akzent und einer gewissen Unverschämtheit in Ton und Gebärde.

Im Augenblick, als er sie anredete, überwand sie sich und antwortete: »Es ist Mr. Germaine, ein Herr, der in Schottland sehr gütig gegen mich war.« Sie schlug einen Moment lang ihre Augen zu mir auf und nahm ihre Zuflucht zu einer förmlichen, höflichen Frage nach meinem Befinden. »Ich hoffe es geht Ihnen gut, Mr. Germaine,« sagte die weiche, süße Stimme immer bebend.

Ich gab die gewöhnliche Antwort und erklärte, dass ich sie in der Oper gesehen hätte. »Leben Sie in London?« fragte ich, »und kann ich die Ehre haben Ihnen meine Aufwartung zu machen?«

Ehe sie sprechen konnte, antwortete ihr Begleiter für sie:

»Meine Frau dankt Ihnen für die Ehre, die Sie ihr erweisen wollen, mein Herr, sie empfängt aber keinen Besuch. Wir beide wünschen Ihnen eine gute Nacht!«

Bei diesen Worten nahm er den Hut mit spöttischer Verbindlichkeit ab und zwang sie, ihren Arm fest haltend, ohne Aufenthalt mit ihm weiter zu gehen. In der festen Überzeugung, die ich nun gewonnen hatte, dass der Mann kein Anderer als van Brandt war, stand ich im Begriff ihm eine scharfe Antwort zu geben, die Frau van Brandt aber sogleich abschnitt.

»Um meinetwillen!« flüsterte sie mir zu und ihr flehender Blick brachte mich sofort zum Schweigen. Es lag ja allerdings ganz in ihrem freien Willen zu dem Mann zurückzukehren, der sie so abscheulich betrogen und verlassen hatte oder nicht. Ich verneigte mich und ging. Das Gefühl der Demütigung, dass ich der Nebenbuhler von Herrn van Brandt war, erfüllte mich mit grenzenloser Bitterkeit.

Ich ging auf die andere Seite der Straße, aber ehe ich drei Schritte weit gegangen war, bemächtigte sich der alte Zauber, den sie auf mich ausübte, wieder meiner und, ohne mich zur Selbstbeherrschung zu zwingen, entschloss ich mich, mich zum Spion zu erniedrigen und ihnen nach ihrer Wohnung zu folgen. Das gelang mir denn auch, da ich vorsichtig auf der andern Seite der Straße hinter ihnen her ging und so ihre Haustür erreichte, ich verzeichnete Straße und Nummer genau in mein Notizbuch.

Niemand, der diese Zeilen liest, kann mich härter beurteilen, als ich selbst es tat. Wie durfte ich eine Frau lieben, die mir absichtlich einen Schurken vorzog, der sie heiratete, während er schon mit einer andern Frau getraut war und doch trotzdem ich Alles das wusste, liebte ich sie mit derselben Innigkeit! Es war unglaublich und entsetzlich - aber es war wahr! Zum ersten Male in meinem Leben nahm ich meine Zuflucht zum Wein, um das Gefühl meiner Erniedrigung zu vergessen. Ich ging nach meinem Club, wo ich mich einer heiteren Abendgesellschaft zugesellte und vergeblich den Champagner Glas auf Glas herunter goss, denn meine Stimmung erheiterte sich dennoch nicht und es gelang mir nicht, auch nur für einen Augenblick das Bewusstsein meiner verächtlichen Handlungsweise loszuwerden. Verzweifelt ging ich zu Bett und in der schlaflosen Nacht, verfluchte ich jenen verhängnisvollen Abend, wo ich ihr zum ersten Male am Ufer des Flusses begegnete. Wie ich sie aber auch schmähen mochte, wie tief ich mich selbst verachtete, ich liebte sie trotz alledem!

Unter den Briefen, die ich am andern Morgen auf meinem Tische fand, waren zwei, die in der Erzählung erwähnt werden müssen.

Die Handschrift auf dem Einen hatte ich schon einmal in dem Hotel in Edinburgh gesehen, die Schreiberin war Frau van Brandt.

»Um meinetwillen,« so lautete der Brief, »machen Sie keinen Versuch weiter, mich zu sehen und schlagen Sie die Einladung aus, die Sie, wie ich fürchte, mit diesen Zeilen zugleich erhalten werden. Ich bin für mein Leben entehrt und Ihrer Beachtung nicht mehr würdig, Sie sind es sich selbst schuldig, mein Herr, ein elendes Weib zu vergessen, das Ihnen heute zum letzten Male schreibt und Ihnen voll Dankgefühl ein letztes Lebewohl sendet.«

Diese traurigen Worte waren nur mit Buchstaben unterzeichnet und befestigten in mir, was ich wohl kaum zu sagen brauche, den Entschluss sie auf jeden Fall wiederzusehen. Als ich das Papier geküsst hatte, das ihre Hand berührt, las ich den zweiten Brief, der richtig die oben erwähnte »Einladung« enthielt und also lautete:

»Indem Herr van Brandt Mr. Germaine seine Hochachtung bezeigt, erbittet er sich seine Verzeihung für die etwas schroffe Weise, in der er Mr. Germaines höfliches Entgegenkommen, erwiderte. Da Herr van Brandt stets an nervöser Reizbarkeit leidet und gerade gestern Abend besonders unwohl war, hofft er, dass Mr. Germaine diese aufrichtige Entschuldigung in dem Sinne auffassen wird, wie sie niedergeschrieben ist und erlaubt sich hinzuzufügen, dass Frau van Brandt sich glücklich schätzen wird, Mr. Germaine zu empfangen, sobald es ihm belieben wird, bei ihr vorzusprechen.«

Nachdem ich die beiden Briefe gelesen hatte, stand die Überzeugung in mir fest, dass Herr van Brandt, als er dieses unverschämte Schriftstück an mich verfasste, irgendeinem schmutzigen eigennützigen Zwecke diente und dass die unglückliche Frau, die seinen Namen trug, über sein Vorhaben tief beschämt sein musste. Der natürliche Argwohn, den ich gegen diesen Mann und seine Zwecke empfand, brachte mich unverzüglich zum Entschluss, welchen Weg ich ihm gegenüber einzuschlagen hatte und ich war sogar erfreut, dass Herr van Brandt selbst mir ein Wiedersehen mit seiner Frau ermöglichte, mochten seine Beweggründe nun sein, welche sie wollten.

Bis Mittag wartete ich geduldig zu Hause, dann aber war es mir unmöglich länger auszuhalten; indem ich für meine Mutter, der zu begegnen mich doch mein natürliches Schamgefühl verhinderte, eine Entschuldigung zurück ließ, eilte ich davon um gleich von meiner Einladung an demselben Tage, wo ich sie erhielt, Gebrauch zu machen.


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