Namenlos
Zweites Capitel.
Der Frühmorgen war, als Magdalene erwachte und hinausschaute, trübe und umzogen. Allein als die Zeit zur Frühstücksstunde Vorrückte, drohte der Regen nicht mehr, und sie konnte, ohne vom Wetter gestört zu werden, die erste Sorge des Tages beseitigen, die Sorge, ihre Reisegefährtin zeitweilig aus dem Hause zu schaffen.
Mrs. Wragge war angekleidet und stand, alle Hände voll Preiscourante und Prospekte, ungeduldig fortzukommen, gegen zehn Uhr fertig da. Früher am Tage hatte Magdalene bereits Einleitung getroffen, daß selbige unter die Obhut der ältesten Tochter der Wirthin, eines ruhigen, wohlerzogenen Mädchens, dessen eigenes Interesse bei dieser Einkaufsreise mittels eines kleinen Geldgeschenkes zum Ankauf eines Sonnenschirms und eines Musselinkleides alsbald gewonnen war, gestellt wurde. Gleich nach zehn Uhr ließ Magdalene Mrs. Wragge und ihre Begleiterin in einem Cab wegfahren. Sie selbst begab sich zur Wirthin, welche oben im Hause damit beschäftigt war, die Zimmer aufzuräumen; sie that Dies in der Absicht, um durch ein kleines zur rechten Zeit angeknüpftes Gespräch herauszufragen welches die Tagesgewohnheiten der Hausbewohner seien.
Sie erfuhr, daß außer Mrs. Wragge und ihr selbst keine anderen Miethleute da waren. Der Mann der Wirthin befand sich den ganzen Tag über außer dem Hause, da er auf einem Bahnhofe angestellt war. Ihre zweite Tochter war in Abwesenheit der älteren Schwester mit der Sorge für die Küche betraut. Die jüngeren Kinder waren in der Schule und sollten um Eins zum Essen nach Hause kommen. Die Wirthin selbst »machte feine Wäsche für Damen« und glaubte mit ihrer Arbeit den ganzen Vormittag vollauf zu thun zu haben in einem Stübchen hinter den vorderen Zimmern. Solchergestalt war es sehr leicht für Magdalenen, das Haus verkleidet zu verlassen und unbemerkt es zu verlassen, vorausgesetzt, daß sie nur ausging, ehe die Kinder zum Essen um ein Uhr zurückkamen
Um Elf waren die Zimmer in Ordnung, und hatte sich die Wirthin entfernt, um ihrer Beschäftigung nachzugehen. Magdalene schloß leise die Thür ihres Zimmers zu, ließ den Vorhang über das Fenster herunter und machte sofort ihre Anstalten zu dem gefährlichen Versuch dieses Tages.
Dasselbe lebhafte Vorgefühl von Gefahren, die vermieden, und Schwierigkeiten, die überwunden werden müßten, welches sie gemahnt hatte, das auffallende Stück des Charakteranzugs in dem Koffer zu Birmingham zurückzulassen, ließ jetzt ihren Geist den ungeheuren Unterschied zwischen einer bei Gaslicht zur Ergötzung eines Theaterpublicums angelegten Verkleidung und einer bei Tageslicht zur Täuschung der forschenden Augen zweier Fremden angenommenen Verkleidung klar genug empfinden. Das erste Stück des Anzugs, welches sie anlegte, war einer ihrer alten Röcke (gefertigt aus sogenanntem Alpacastoffe) von dunkelbrauner Farbe mit einem hübschen Muster von kleinen sternartigen weißen Tupfen. Eine doppelte Kante, welche unten am Saume dieses Gewandes herumlief, war die einzige Verzierung des Webers, welche sich darauf befand, eine Verzierung, welche mit dem Anzuge einer ältlichen Dame durchaus nicht unvereinbar war. Die Entstellung ihres Kopfes und ihres Gesichts war der nächste Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit. Sie setzte auf und ordnete die graue Perrücke mit der Geschicklichkeit, welche beständige Uebung ihr verliehen hatte, befestigte die falschen Augenbrauen (welche etwas groß gehalten und aus dunklerem Haar als die Perrücke gemacht waren) sorgfältig an ihrer rechten Stelle mit dem Gummi, den sie zu dem Ende zur Hand hatte, und schminkte ihr Gesicht mit dem gewöhnlichen Bühnenmaterial, um den durchsichtigen Schmelz ihrer Gesichtsfarbe in das düstere, gelbliche Ansehen einer kränklichen Frau zu verwandeln. Die Furchen und Runzeln des Alters folgten dann, und hier boten sich die ersten Schwierigkeiten. Die Kunst, welche bei Gaslicht von Erfolg war, verfing nicht bei Tage; die Schwierigkeit, die offenbar künstliche Natur der Runzeln zu verbergen, war schlechterdings unüberwindlich. Sie kehrte zu ihrer Reisetasche zurück, nahm daraus zwei Schleier und versuchte, indem sie ihren altmodischen Hut aufsetzte, hintereinander die Wirkung derselben. Einer der Schleier (aus schwarzen Spitzen) war zu dick, um zur Sommerzeit ohne Aufsehen zu erregen über dem Gesicht getragen zu werden. Der andere, von einfacher Gaze, ließ ihre Züge gerade noch so unbestimmt durch denselben sehen, daß sie etliche Furchen (viel weniger, als sie bei ihren Vorstellungen anzuwenden pflegte) auf der Stirn und an den Mundwinkeln anbringen konnte. Aber kaum war dies Hinderniß beseitigt, so that sich schon wieder neues auf: die Schwierigkeit, wie sie ihren Schleier unten behalten sollte, während sie mit Anderen sprach, ohne einen haltbaren Grund für ein solches Verfahren. Eine augenblickliche Ueberlegung und ein Blick auf ihre kleine Porzellanpalette von Schminkfarben gaben ihrem allezeit erfinderischen Geiste den Gedanken ein, eine sichtbare Entschuldigung, den Schleier beständig herunterzulassen, zu schaffen. Sie entstellte sich wohlweislich durch künstliches Rothumrändern ihrer Augenlider, um den Anschein einer Augenentzündung hervorzubringen, den kein anderer Mensch als höchstens ein Arzt —— und dieser Arzt selbst nur in der größten Nähe —— als falsch erkennen konnte. Sie sprang auf und blickte mit Siegesfreude auf die häßliche an sich selbst vollbrachte Verwandlung, welche ihr der Spiegel zeigte. Wen konnte es befremden, wenn sie jetzt ihren Schleier herunter trug und sie Mrs. Lecount um die Erlaubniß bat, mit ihrem Rücken gegen das Licht zu sitzen?
Ihre letzte Verrichtung war das Umwerfen des ruhigen grauen Mantels, welchen sie von Birmingham mitgebracht hatte und welcher inwendig von Hauptmann Wragges eigenen kundigen Händen wattiert worden war, um die jugendliche Anmuth und Schönheit ihres Rückens und ihrer Schultern zu verbergen. Da ihr Anzug nunmehr vollständig war, o probierte sie nun den Gang, den man ihr als zu ihrer Maske passend gelehrt hatte, einen Gang mit etwas Hinken. Dann, nach einem Versuch von einer Minute, ehrte sie vor den Spiegel zurück, um sich in der Verstellung ihrer Stimme und ihrer Gebärden zu üben. Dies war der einzige Theil ihrer Rolle, in welchem sie mit ihren natürlichen Mitteln eine Nachahmung Von Miss Garth zu bewerkstelligen im Stande war, und hier war die Aehnlichkeit vollständig. Die rauhe Stimme, die etwas derbe Art, die Gewohnheit, gewisse Redewendungen mit einem nachdrücklichen Kopfnicken zu begleiten, das northumbrische Schnurren (burr), das sich bei jedem Worte mit einem r vernehmen ließ: alle diese persönlichen Eigenthümlichkeiten der alten nordenglischen Erzieherin waren sprechend ähnlich wiedergegeben. Die nunmehr vollendete Verstellung ihrer ganzen Person war buchstäblich, wie Hauptmann Wragge sie bezeichnet hatte, ein Triumph der Kunst der Verkleidung. Den einzigen Fall ausgenommen, daß man ihr nahe ins Gesicht sah bei starkem Lichte, hätte kein Mensch, der jetzt Magdalenen sah, einen Augenblick gedacht, daß sie etwas anderes als ein kränkliches, mißgegstaltetes, abstoßendes Weib von wenigstens fünfzig Jahren sei.
Ehe sie die Thür aufschloß, sah sie sich sorgfältig um, um sich zu versichern, daß keines von ihren Bühnenrequisiten offen liegen geblieben war, falls die Wirthin in ihrer Abwesenheit das Zimmer betreten sollte. Der einzige vergessene Gegenstand, welcher ihr gehörte, war ein Päckchen mit Briefen von Nora. Sie hatte sie in der Nacht gelesen und jetzt während des Ankleidens unter den Spiegel bei Seite gelegt. Als sie die Briefe wegnahm, um sie beizulegen, durchblitzte sie der Gedanke zum ersten Male:
—— Ob wohl Nora mich erkennen würde, wenn wir uns auf der Straße träfen?
Sie sah in den Spiegel und lächelte traurig.
—— Nein, sagte sie, —— nicht einmal Nora.
Sie riegelte die Thür auf, nachdem sie erst von ihrem Beobachtungsposten aus sich umgeschaut hatte. Es war bald zwölf Uhr. Es blieb nur eine Stunde übrig, um ihr verzweifeltes Wagstück auszuführen und in die Wohnung zurückzukehren, ehe die Kinder der Wirthin aus der Schule zurückkamen.
Ein augenblickliches Lauschen auf dem Treppenabsatze überzeugte sie, daß Alles in dem Gange unten ruhig war. Sie stieg geräuschlos die Treppe hinunter und erreichte die Straße, ohne ein lebendes Wesen auf ihrem Wege aus dem Hause angetroffen zu haben. Eine Minute später war sie über die Straße und hatte den Klopfer an Noël Vanstones Thür angeschlagen.
Die Thür wurde von demselben Dienstmädchen geöffnet, dem sie den Abend vorher zu dem Papierladen gefolgt war. Mit einem augenblicklichen Zittern, welches an den denkwürdigen ersten Abend ihres öffentlichen Auftretens erinnerte, fragte Magdalene (mit Miss Garths Stimme und mit Miss Garths Art und Weise) nach Mrs. Lecount.
—— Mrs. Lecount ist ausgegangen, Madame, sagte das Dienstmädchen.
—— Ist Mr. Vanstone zu Hause? fragte Magdalene, die ihre Entschlossenheit wiederfand beim ersten Hindernisse, das ihr entgegentrat.
—— Mein Herr ist noch nicht ausgestanden, Madame.
Abermals eine Täuschung! Ein schwächerer Charakter würde die Warnung beachtet haben. Magdalenens Charakter erhob sich erst recht zum Widerstande gegen selbige.
—— Welche Zeit wird Mrs. Lecount zurück sein? fragte sie.
—— Gegen ein Uhr, Madame.
—— Sagen Sie, daß ich wieder vorfragen werde, sobald als möglich nach ein Uhr. Ich wünsche namentlich Mrs. Lecount zu sprechen. Mein Name ist Miss Garth.
Sie wandte sich und verließ das Haus. Zurück auf ihr Zimmer zu gehen, davon konnte nicht die Rede sein. Das Dienstmädchen sah ihr nach (wie Magdalene daran bemerkte, daß sie nicht die Thür schließen hörte) und überdies würde sie sich, wenn sie wieder hineinginge, der Gefahr aussetzen, gerade um die Zeit wieder auszugehen, wenn die Kinder der Wirthin in der Nähe des Hauses wären. Sie wandte sich, ohne Etwas zu denken, nach der rechten Seite und schritt weiter, bis sie die Vauxhallbrücke erreichte; dort wartete sie, indem sie über den Fluß sah.
Die Pause unbenutzter Zeit vor ihr war beinahe eine Stunde. Wie konnte sie dieselbe ausfüllen?
Als sie sich diese Frage verlegte, erwachte in ihrer Seele aufs Neue der Gedanke, der ihr zuerst aufgestoßen war, als sie das Päckchen Briefe von Nora weggelegt hatte. Ein plötzlicher Gedanke der That, der nämlich, das elende Ganze ihrer Verkleidung auf die Probe zu stellen, mengte sich unter die höheren und reineren Gefühle ihres Herzens und verstärkte noch ihr natürliches Verlangen, das Angesicht ihrer Schwester zu sehen, obschon sie nicht wagte, sich zu erkennen zu geben und zu sprechen. Noras spätere Briefe hatten mit allen Einzelheiten ihr Leben als Erzieherin beschrieben, ihre Lehrstunden, ihre Freistunden, ihre Ausgehstunden für sich und ihre Zöglinge. Es war gerade noch Zeit für Magdalene, wenn sie sofort einen Wagen finden konnte, nach dem Hause von Noras Herrschaft zufahren mit der Aussicht, noch ein paar Minuten eher dahin gelangen, als die Ausgehstunde ihrer Schwester kam.
—— Ein Blick auf sie wird mir mehr sagen, als hundert Briefe!
ZNit diesem Gedanken in ihrer Seele, mit dem einzigen Zwecke, unter dem Schutze der Verkleidung Nora auf ihren täglichen Spaziergang zu folgen, eilte Magdalene über die Brücke und begab sich auf das nördliche Ufer des Flusses.
So beim Wendepunkte ihres Lebens, so in der Zwischenzeit, ehe sie den unwiderruflichen Schritt that und die Schwelle von Noël Vanstones Thür überschritt —— führten sie die himmlischen Mächte, siegreich über die Mächte der Finsternis; in dem Kampfe um sie, weg von dem Schauplatze ihrer beabsichtigten Täuschung und trieben gnädig sie eilends weiter und immer weiter von dem unseligen Hause.
Sie ließ den ersten leeren Cab halten, der an ihr vorüberkam, sagte dem Kutscher, er solle sie nach New-Street in den Spring-Gardens fahren, und versprach ihm das doppelte Fährgeld, wenn er den Bestimmungsort in einer gegebenen Zeit erreiche. Der Mann verdiente das Geld, ja verdiente mehr, wie der Erfolg zeigte. Magdalene hatte nicht zehn Schritte vorwärts gethan in New-Street, auf dem Wege nach dem St. James-Park, als die Thür eines Hauses gegenüber aufging, und eine Dame in Trauerkleidern heraustrat, begleitet von zwei kleinen Mädchen. Die Dame schlug ebenfalls die Richtung nach dem Park ein, ohne ihren Kopf nach Magdalenen zu wenden, als sie die Treppenstufen vor dem Hause herunterstieg. Es that Das nichts, denn Magdalene sah mit dem Herzen, und dieses sagte ihr, daß sie Nora vor sich habe.
Sie folgte Derselben hinein in St. James-Park und von da längs des Mall in den Grünen Park, indem sie näher und näher kam, als sie das Gras erreichten und den Zügel hinanstiegen in der Richtung des Hyde-Park-Ende. Ihre begierigen Augen verschlangen jede Einzelheit an Noras Anzuge und entdeckten jede, auch die leiseste Veränderung, welche an ihrer Gestalt und ihrer Haltung stattgefunden hatte. Sie war seit dem Herbste magerer geworden, ihr Haupt neigte sich ein wenig nach vorn, sie ging mit Mühe. Ihre Trauerkleidung, welche in der bescheidenen Anmuth und Sauberkeit gehalten war, die kein Mißgeschick von ihr nehmen konnte, war ihrer veränderten Lage angemessen; ihr schwarzes Kleid war von Taffet, ihr schwarzer Shawl und schwarzer Hut waren von der schlichtesten und wohlfeilsten Art. Die beiden kleinen Mädchen, welche sie, auf jeder Seite eines, führte, waren in Seide gekleidet. Magdalene haßte sie instinctmäßig.
Sie machte einen weiten Bogen auf dem Grase, dergestalt, um sich nach und nach zu wenden und ihrer Schwester entgegen zu kommen, ohne den Verdacht zu erwecken, daß das Zusammentreffen ein absichtliches wäre. Ihr Herz schlug hastig, eine brennende Glut stieg in ihr auf, als sie an ihr falsches Haar, ihre falsche Farbe, ihre falsche Kleidung dachte und das traute Schwesterangesicht näher und näher kommen sah. Sie gingen aneinander dicht vorüber. Noras dunkle, sanfte Augen schauten anf mit einem tieferen Licht in sich, mit einer trüberen Schönheit als früher —— und sahen wieder weg davon, als von dem Gesicht einer Fremden. Dieser Blick von der Dauer eines Moments traf Magdalenen ins Herz. Sie stand in den Boden gewurzelt da, als Nora vorübergegangen war. Ein Abscheu vor der elenden Verkleidung, welche sie trug, ein herzzerschneidendes Bangen, die Bande zu zerreißen und ihr schamerglühtes gemaltes Angesicht an dem Busen Noras zu bergen, kam über sie und versetzte Leib und Seele in Spannung. Sie wandte sich und sah sich um.
Nora und die beiden Kinder hatten die Anschwellung des grünen Grundes erreicht und waren nahe bei einem der Thore in dem eisernen Gitter, welches den Park von der Straße trennt. Gezogen von einem unwiderstehlichen Zauber folgte Magdalene ihnen abermals, holte sie ein, als sie das Thor erreichten und hörte die Stimmen der Kinder ungezogen darüber streiten, welchen Weg sie gehen sollten. Sie sah, wie Nora sie durch das Thor führte und dann stehen blieb und mit ihnen sprach, indem sie auf einen Augenblick wartete, um über die Straße gehen zu können. Sie wurden um so lauter und ungeduldiger, je mehr sie ihnen zusprach. Das Jüngere; ein Mädchen von acht bis neun Jahren, wurde, wie es bei Kindern vorkommt, plötzlich sehr unleidlich, weinte, schrie und schlug sogar nach der Erzieherin. Die Leute auf der Straße blieben stehen und lachten, einige von ihnen riethen scherzend zu einer kleinen gesunden Züchtigung, eine Frau fragte Nora, ob sie die Mutter der Kinder wäre, eine Andere beklagte sie laut, daß sie die Erzieherin des Kindes wäre. Ehe Magdalene ihren Weg durch die Menge nehmen konnte, ehe ihr alles Andere vergessen machender Eifer, ihrer Schwester zu helfen, sie für jede andere Erwägung blind gemacht und sie halbverrathen an Noras Seite gebracht hatte, fuhr ein offener Wagen langsam über das Pflaster in seinem Weiterfahren gehindert durch das Gedränge der Wagen vor ihm. Eine alte Dame saß darin, hörte das Schreien des Kindes, erkannte Nora und rief sie augenblicklich an. Der Bediente drängte die Menge auseinander, und die Kinder wurden in den Wagen geschafft.
—— Ein wahres Glück, daß ich des Weges einher kam, sagte die alte Dame, indem sie mit Geringschätzung Nora bedeutete, auf dem Rücksitze Platz zu nehmen; Sie konnten niemals meine Tochterkinder leiten, und Sie werden es niemals.
Der Bediente schlug den Tritt in die Höhe, der Wagen fuhr dahin mit den Kindern und der Erzieherin, der Haufe zerstreute sich, und Magdalene war wieder allein.
—— Da mag es denn drum sein! dachte sie mit bitterem Gefühl. Ich würde sie nur schmerzlich aufgeregt haben. Wir würden nur den Jammer des Abschieds gehabt haben, um aufs Neue zu leiden.
Sie kehrte unwillkürlich um und wandte sich wie im Traume nach dem freien Platze im Parke zurück. Indem sie sich mit der Stärke ihrer Liebe zu ihrer Schwester wappnete, mit der Heftigkeit des Unwillens, den sie fühlte um ihrer Schwester willen, gewann der schreckliche Versucher ihres Lebens noch einmal soviel Macht über sie, als zuvor. Durch all die Schminke und die Entstellung der Verkleidung blitzte die stolze Verzweiflung dieser starken und leidenschaftlichen Seele in ihren wilden und entsetzlichen Blicken hindurch. Nora zu einem Gegenstande öffentlicher Neugier und Belustigung gemacht, Nora auf offener Straße ausgescholten; Nora, das um schnöden Lohn erkaufte Opfer der Unverschämtheit einer alten Frau und der Ungezogenheit eines Kindes —— und derselbe Mann, der Frank nach China geschickt hatte, schuld auch hieran! und nach diesem Manne der Sohn desselben schuld daran! Der Gedanke an ihre Schwester, welcher sie von dem Schauplatz ihrer beabsichtigten Täuschung weggeführt hatte, welcher ihr das Bewußtsein ihrer Verkleidung verhaßt gemacht, war nun der Gedanke, der jene Mittel heiligte oder alle Mittel, um ihr Ziel zu erreichen; der Gedanke, welcher Schwingen setzte an ihre Füße und sie zurücktrieb näher und immer näher nach dem verhängnißvollen Hause!
Sie verließ den Park wieder und fand sich in den Straßen, ohne zu wissen wo. Noch einmal rief sie den ersten Cab an, der an ihr vorbeikam, und wies den Kutscher an, nach der Vauxhallpromenade zu fahren.
Der Wechsel vom Gehen zum Fahren beruhigte sie. Sie fühlte, wie sie wieder zu sich selber und zu ihrem Anzuge zurückkam. Die Notwendigkeit, sich zu versichern, daß kein widriger Zufall sich zugetragen bezüglich ihrer Verkleidung in der Zwischenzeit, daß sie ihr Zimmer verlassen hatte, drängte sich ihrer Seele sofort auf. Sie ließ den Kutscher an dem ersten Pastetenladen halten, an dem er vorüber kam, und erhielt dort Gelegenheit, einen Spiegel zu befragen, ehe sie sich wieder nach Vauxhallpromenade zurück wagte.
Ihr grauer Kopfputz war in Unordnung gerathen und der altmodische Hut ein wenig verschoben. Sonst hatte Nichts gelitten. Sie berichtigte die wenigen Mängel ihres Anzugs und kehrte zu dem Cab zurück. Es war halb Zwei, als sie an das Haus kam und zum zweiten Mal an Noël Vanstones Thür klopfte. Die Magd öffnete dieselbe, wie vorher.
—— Ist Mrs. Lecount zurückgekommen?
—— Ja, Madame. Gehen Sie hierhin, wenns gefällig ist.
Die Magd ging Magdalenen auf einem leeren Gange voran, führte sie hinter einer Treppe ohne Teppich weg und öffnete die Thür eines Zimmers im hinteren Theile des Hauses. Das Zimmer wurde von einem Fenster erhellt, das auf einen Hof hinausging, die Wände waren kahl, der getäfelte Fußboden war ohne Decke. Zwei Kammerstühle standen an der Wand, und ein Küchentisch war unter das Fenster gestellt. Auf dem Tische stand ein Glasgefäß mit Wasser und einer Miniaturpyramide von Felsstückchen, dazwischen grünes Moos in der Mitte Schnecken klebten an den Wänden des Gefäßes, Froschzwerge und kleine Fische schwammen in dem grünlichen Wasser, glatte Eidechsen und schlammige Frösche schlichen ihren stillen Weg hinein und heraus auf dem moosigen Felsen, und auf dem Gipfel der Pyramide da saß einsam und allein, kalt wie der Stein, braun wie der Stein, unbeweglich wie der Stein, eine kleine helläugige Kröte. Die Kunst, Fische und Gewürm als Hausschooßthiere zu halten, war zu damaliger Zeit noch nicht heimisch in England, und Magdalene bebte daher beim Eintritt in das Zimmer mit unüberwindlichem Erstaunen und Abscheu beim Anblick des ersten Aquariums, das sie gesehen, zurück.
—— Erschrecken Sie nicht, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. Meine Lieblinge thun Niemandem Etwas.
Magdalene drehte sich um und stand Mrs. Lecount gegenüber. Sie hatte, indem sie ihre Vorurtheile aus den Brief gründete, welchen die Haushälterin an sie geschrieben hatte, ein hartes, verschlagenes, übellauniges, unverschämtes altes Weib zu sehen erwartet. Und nun fand sie sich einer Dame von sanftem, einschmeichelndem Benehmen gegenüber, deren Kleidung die Sauberkeit, der Geschmack und die matronhafte Einfachheit selber, deren äußere Persönlichkeit nichts mehr und nichts weniger als ein Sieg des Widerstandes ihrer Natur über den zerstörenden Einfluß der Zeit war. Wenn Mrs. Lecount ein fünfzehn bis sechszehn Jahre von ihrem wahren Alter verleugnet und sich für eine Achtunddreißigerin ausgegeben hätte, so würde kein Mann unter Tausenden oder keine Frau unter Hunderten Bedenken getragen haben, ihr Glauben zu schenken. Ihr dunkles Haar hatte eben nur einen Anflug von Grau und nicht mehr. Es war glatt gescheitelt unter einem fleckenlosen Spitzenhäubchen Nicht eine Runzel war auf ihrer glatten weißen Stirn oder ihren vollen weißen Wangen zu entdecken. Ihr Doppelkinn hatte ein Grübchen, und ihre Zähne waren ein Wunder von Regelmäßigkeit und blendender Weiße. Ihre Lippen hätte man genau genommen als zu dünn betrachten können, wenn sie nicht ihren Mangel durch ein gefälliges und einschmeichelndes Lächeln aufs Wirksamste gut zu machen verstanden hätten. Ihre großen schwarzen Augen würden stolz ausgesehen haben, wenn sie im Gesicht einer andern Frau sich befunden hätten; in Mrs. Lecounts Antlitz waren sie von sanftem und schmachtendem Ausdrücke. Sie ruhten mit zärtlichem Interesse auf jedem Gegenstande, den sie sahen, auf Magdalenen, auf der Kröte ob dem künstlichen Felsen, auf der Hofaussicht aus dem Fenster, auf ihren eigenen fleischigen, schönen Händen, welche sie beim Sprechen sanft an einander rieb, auf ihrem hübschen Batistvorhemdchem welches sie mit Wohlgefallen anzuschauen pflegte, so lange sie Anderen beim Sprechen zuhörte. Das elegante schwarze Kleid, in welchem sie das Andenken an Michael Vanstone betrauerte, war nicht eigentlich ein Anzug, es war vielmehr ein gut ausgeführtes Compliment für den Tod. Ihre Musselinschürze, weiß wie die Unschuld, war selbst ein kleines häusliches Gedicht. Ihre schwarzen Ohrringe waren so anspruchslos, daß sogar ein Quäker sie anzusehen für keine Sünde gehalten haben würde. Der behäbigen Fülle ihres Gesichts entsprach die behäbige Fülle ihrer Gestalt; dieselbe gleitete sanft über den Boden, wenn sie ging, sie floß dahin in ruhiger Wellenbewegung. Es gibt wenig Männer, welche Mrs. Lecount so ganz und gar vom platonischen Standpunkte aus würden haben betrachten können; junge Leute, Neulinge im Leben, würden sie unwiderstehlich gefunden haben, nur Frauen hätten ihre Herzen gegen sie verhärten und unbarmherzig durch diese schöne lächelnde Außenseite in das Innere dringen können. Magdalene konnte nach dem ersten Blicke auf diese Venus aus der Herbstzeit des weiblichen Lebens sich nur zu sehr Glück dazu wünschen, daß sie den Boden erst in Verkleidung zu sondieren gekommen war, ehe sie in ihrer eigenen Person den Kampf gegen Mrs. Lecount aufnahm.
—— Habe ich das Vergnügen, die Dame vor mir zu sehen, welche diesen Morgen zum Besuch kam? fragte die Haushälterin. Spreche ich mit Miss Garth?
Etwas in dem Ausdrucke ihrer Augen, als sie diese Frage that, mahnte Magdalene, ihr Gesicht weiter ab von dem Fenster nach dem Zimmer hinein zu drehen, als sie es bisher gethan. Der bloße Gedanke, daß die Haushälterin vielleicht sie doch schon unter einem zu starken Lichte gesehen, erschütterte ihre Selbstbeherrschung für den Augenblick. Sie ließ sich Zeit, dieselbe wiederzugewinnen und antwortete nur durch eine Verneigung.
—— Empfangen Sie meine Entschuldigung, Madame, wegen des Ortes, an welchem ich genöthigt bin Sie zu empfangen, fuhr Mrs. Lecount in fließendem Englisch, aber mit fremdem Accent, fort. Mr. Vanstone ist hier nur zu einem vorübergehenden Zwecke. Wir reisen morgen Nachmittag an die See, und es wurde für nicht der Mühe werth erachtet, das Haus ordentlich einzurichten. Wollen Sie nicht einen Stuhl nehmen und mich durch Angabe des Zweckes Ihres Besuches erfreuen?
Sie trat unmerklich Magdalenen einen bis zwei Schritte näher und stellte einen Stuhl für sie hin gerade gegenüber dem Lichte des Fensters.
—— Bitte, nehmen Sie Platz, sagte Mrs. Lecount, indem sie mit dem zärtlichsten Interesse die entzündeten Augen ihres Gastes durch den Gazeschleier betrachtete.
—— Ich leide, wie Sie sehen, an einem Augenübel, erwiderte Magdalene, indem sie fortwährend ihr Gesicht halb vom Fenster abhielt und ihre Stimme sorgsam dem Klange von Miss Garths Organe näherte. Ich muß Sie um die Erlaubniß bitten, meinen Schleier heruntergelassen zu tragen und mich vom Lichte abwärts zu setzen.
Sie sagte diese Worte und fühlte sich wieder Herrin ihrer selbst. Mit vollkommener Fassung zog sie den Stuhl in den Winkel des Zimmers vom Fenster zurück und setzte sich so, daß der Schatten ihres Hutes stark auf ihr Gesicht niederfiel. Mrs. Lecounts salbungsvoller Mund murmelte eine höfliche Beileidsbezeigung. Mrs. Lecounts liebenswürdige schwarze Augen sahen mit noch mehr Interesse auf die fremde Dame als zuvor. Sie stellte einen Stuhl für sich selbst hin, gerade in eine Linie mit Magdalenens Sessel und hielt sich so nahe an die Wand, daß ihr Gast genöthigt war, entweder sein Haupt ein weniger nach dem Fenster herumzuwenden, oder durch Nichtansehen der Person, mit der er sprach, unhöflich zu werden.
—— Ja, sagte Mrs. Lecount mit einem vertraulichen kleinen Husten. Und welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs?
—— Darf ich Sie erst fragen, ob mein Name Ihnen schon zufällig bekannt ist? sagte Magdalene, indem sie sich nothgedrungen zu ihr hinwendete, aber dabei kaltblütig ihr Taschentuch zwischen ihr Gesicht und das Licht hielt.
— Nein, antwortete Mrs. Lecount mit einem zweiten Hüsteln, das vielleicht ein wenig härter klang als das erste. Der Name Miss Garth ist mir nicht bekannt.
—— In diesem Falle, fuhr Magdalene fort, werde ich die Veranlassung, die mich dazu bringt, Ihnen beschwerlich zu werden, am Besten erklären, wenn ich Ihnen sage, wer ich bin. Ich lebte viele Jahre als Erzieherin in der Familie des verstorbenen Mr. Andreas Vanstone auf Combe-Raven, und ich komme hierher im Interesse seiner verwaisten Kinder.
Mrs. Lecounts Hände, welche immer bis dahin rastlos sanft über einander weggeglitten waren, wurden auf einmal still, und Mrs. Lecounts Lippen, welche sich unwillkürlich schlossen, verriethen gleich zu Anfang der Unterredung, daß sie in der That, zu dünn waren.
—— Ich bin überrascht, daß Sie draußen das Licht vertragen können ohne einen grünen Augenschirm, bemerkte sie gelassen, indem sie die Selbstvorstellung der Pseudo Miss Garth so vollständig unbeachtet ließ, als ob sie gar nicht gesprochen hätte.
Ich finde, daß ein Schirm über meinen Augen in dieser Jahreszeit sie zu sehr erhitzt, versetzte Magdalene, indem sie ohne Wanken der Haushälterin eine gleiche Ruhe entgegensetzte. Darf ich Sie fragen, ob Sie gehört haben, was ich Ihnen soeben über den Gegenstand meines Besuchs in diesem Hause gesagt habe?
—— Darf ich meinerseits Sie fragen, Madame, in welcher Art dieser Gegenstand mich betreffen kann? antwortete Mrs. Lecount.
—— Ei gewiß, sagte Magdalene. Ich komme zu Ihnen, weil Mr. Noël Vanstones Absichten in Bezug auf die beiden jungen Damen denselben kund gethan wurden in einem Briefe von Ihnen selbst.
Diese offene Antwort that ihre Wirkung. Sie belehrte Mrs. Lecount, daß die fremde Dame besser unterrichtet war, als sie Anfangs vermuthet hatte, und daß es unter diesen Umständen kaum gerathen sei, sie ungehört gehen zu lassen.
—— Bitte um Verzeihung, sagte die Haushälterin, ich verstand erst nicht recht, jetzt verstehe ich Vollkommen. Sie sind im Irrthum, Madame, wenn Sie glauben, daß ich von Einfluß bin oder irgend etwas ausrichten kann in dieser unliebsamen Sache. Ich bin das Organ von Mr. Noël Vanstone, die Feder, die er hält, wenn Sie den Ausdruck gestatten wollen, —— weiter Nichts. Er ist ein Manier, und wie andere Kranken hat er seine schlechten und seine guten Tage. Es war sein böser Tag, als seine Antwort an die junge Person geschrieben wurde. —— (Soll ich sie Miss Vanstone nennen? —— ich will es mit Vergnügen. Das arme Mädchen! Denn wer bin ich, daß ich Unterscheidungen machen sollte, und was geht es mich an, ob ihre Eltern verheirathet waren oder nicht? Wie ich schon gesagt habe, es war einer von Mr. Noël Vanstones bösen Tagen, als jene Antwort abgeschickt ward, und daher hatte ich sie zu schreiben, einfach als sein Secretär in Ermangelung eines Bessern. Wenn Sie in Angelegenheiten dieser jungen Damen —— soll ich sie junge Damen nennen, wie Sie sie eben genannt haben? —— nein, ich will sie die Miss Vanstones nennen, die armen Dinger.
—— Wenn Sie in Angelegenheiten dieser Miss Vanstones sprechen wollen, so will ich Mr. Noël Vanstone Ihren Namen melden und den Zweck Ihres werthen Besuches bei mir. Er ist allein in dem Empfangszimmer und heute ist einer seiner guten Tage. Ich habe den Einfluß einer alten Dienerin über ihn, und ich will diesen Einfluß mit Vergnügen zu Ihren Gunsten anwenden. Soll ich gleich gehen? fragte Mrs. Lecount, indem sie mit dem freundlichsten Eifer, sich nützlich zu machen, aufstand.
—— Wenn es Ihnen gefällig ist, sagte Magdalene mit dankbarer Heiterkeit, und wenn ich nicht Ihre Güte zu sehr in Anspruch nehme.
—— Im Gegentheil, erwiderte Mrs. Lecount, Sie thun mir damit einen gefallen, indem Sie mir verstatten, in meinem beschränkten Kreise die Ausführung einer edelen That fördern zu dürfen.
Sie verneigte sich, lächelte und verschwand aus dem Zimmer.
Als Magdalene allein war, ließ sie dem Unwillen, den sie in Mrs. Lecounts Gegenwart hatte unterdrücken müssen, freien Lauf. Im Mangel eines bessern Gegenstandes für ihren Zorn nahm sie die Kröte vor. Der Anblick des häßlichen kleinen Gewürmes, welches behaglich auf seinem Felsenthrone saß und mit seinen glänzenden Augen ausdruckslos ins Leere starrte, regte jeden Nerv in ihrem Körper auf. Sie sah das Thier mit tiefem Haß und Abscheu an und redete zornig mit demselben durch ihre Zähne.
—— Ich möchte wissen, wessen Blut am Kältesten fließt, sagte sie, Deines, Du kleines Scheusal, oder Mrs. Lecounts? Ich möchte wissen, welches das Schlammigste ist, ihr Herz oder Dein Rücken? Du abscheulicher Molch, weißt Du, was Deine Herrin ist? Deine Herrin ist ein Satan!
Die fleckige Haut unter dem Maul der Kröte zog sich geheimnißvoll zusammen, dann streckte sie sich wieder, als ob sie die eben an sie gerichteten Worte hinunter gewürgt hätte. Magdalene fuhr zurück aus Abscheu vor der ersten wahrnehmbaren Bewegung an dem Leib des Thieres, so gering sie war, und setzte sich wieder. Sie hatte sich keinen Augenblick zu früh gesetzt. Die Thür ging geräuschlos auf, und Mrs. Lecount erschien noch einmal.
—— Mr. Vanstone will Sie empfangen, sagte sie, wenn Sie so gut sein wollen, ein paar Minuten zu verziehen. Er wird die Klingel des Sprechzimmers ziehen, wenn seine augenblickliche Beschäftigung beendigt, und er bereit ist, Sie zu empfangen. Nehmen Sie sich in Acht, Madame, daß Sie nicht seine Laune verderben oder ihn irgendwie aufregen. Sein Herz ist für Die, welche um ihn waren, von frühester Jugend auf ein Gegenstand ernster Sorge gewesen. Es ist kein wirkliches Leiden da, es ist nur chronische Schwäche, eine fettige Entartung, ein Mangel an Lebenskraft im Organe selbst. Sein Herz wird ganz ruhig gehen, wenn Sie seinem Herzen nicht zu viel zumuthen. Das ist der Rath all der Aerzte, die ihn besucht haben. Vergessen Sie Das nicht und halten Sie daher Maß in Ihrer Unterhaltung. Da wir einmal von Aerzten sprechen, haben Sie schon ein Mal die Goldene Salbe gegen Ihr trauriges Augenleiden versucht? Sie ist mir als ein treffliches Mitte! geschildert worden.
—— Bei mir hat sie nicht angeschlagen, versetzte Magdalene scharf. Bevor ich Mr. Noël Vanstone sehe, fuhr sie fort, möchte ich fragen ...
—— Bitte um Entschuldigung, unterbrach sie Mrs. Lecount. Bezieht sich Ihre Frage irgendwie auf jene beiden armen Mädchen?
—— Sie betrifft die Miss Vanstones.
—— Dann kann ich nicht darauf eingehen. Entschuldigen Sie mich, ich kann mich in der That nicht über diese armen Mädchen auslassen (ich bin wirklich erfreut zu hören, daß Sie sie die Miss Vanstones nennen!), außer in Gegenwart meines Herrn und mit meines Herrn ausdrücklicher Erlaubniß. Lassen Sie uns von etwas Anderm sprechen, während wir hier warten. Wollen Sie meinen Schauthierbehälter in Augenschein nehmen? Ich habe allen Grund anzunehmen, daß er in England eine vollständige Neuigkeit ist.
—— Ich nahm ihn in Augenschein, als Sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Magdalene.
—— Wirklich? Sie haben kein Interesse daran, möchte ich behaupten. Ganz natürlich. Ich nahm auch kein Interesse daran, bis ich heirathete. Mein theurer Gatte —— todt seit vielen Jahren —— bildete meinen Geschmack und erzog mich nach sich selbst. Sie haben doch von dem verstorbenen Professor Lecomte, dem ausgezeichneten schweizerischen Naturforscher, gehört? Ich bin seine Wittwe. Der englische Kreis in Zürich, in welchem ich in Diensten meines verstorben Herrn lebte, änderte meinen Namen englisch in Lecount um. Ihre edlen Landsleute wollen nichts Ausländisches um sich haben, selbst nicht einen Namen, wenn sie es irgend umgehen können. Aber ich sprach ja von meinem Gatten —— meinem theuren Gatten, der mir gestattete, ihn in seinen Forschungen zu unterstützen. Ich habe nach seinem Tode nur noch ein einziges Interesse behalten, das Interesse an der Wissenschaft. Ausgezeichnet in Vielen Dingen, war der Professor groß in den Reptilien. Er hinterließ mir seine Exemplare und seinen Thierbehälter, ein anderes Vermächtniß hatte ich nicht. Hier ist der Behälter. Alle Exemplare starben, nur nicht dieser kleine ruhige Kerl, diese allerliebste kleine Kröte. Sind Sie verwundert, daß ich sie liebe? Da ist Nichts zu verwundern. Der Professor lebte lange genug, um mich über das gemeine Vorurtheil gegen das Geschlecht, »das da kreucht auf Erden«, zu erheben. Wenn mans recht betrachtet, ist das Reptiliengeschlecht schön zu nennen. Wenn mans recht zergliedert, ist das Reptiliengeschlecht lehrreich im höchsten Grade.
Sie streckte ihren kleinen Finger aus und streichelte sanft den Rücken der Kröte mit der Spitze desselben.
—— So wohlthuend bei der Berührung, sagte Mrs. Lecount. So allerliebst und kühl in diesem Sommerwetter! Die Klingel des Sprechzimmers erscholl. Mrs. Lecount stand auf, beugte sich zärtlich über das Aquarium und zirpte beim Fortgehen der Kröte zu, als ob es ein Vogel gewesen wäre.
—— Mr. Vanstone ist bereit, Sie zu empfangen. Folgen Sie mir, wenn es gefällig ist, Miss Garth.
Mit diesen Worten öffnete sie die Thür und ging voran aus dem Zimmer.
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