Namenlos



Zweites Capitel.

Hauptmann Wragge hielt fast bei der Mitte der einen kleinen Häuserreihe an, aus welcher das Rosmaringäßchen bestand, und ließ sich und seinen Gast mittelst seines eigenen Schlüssels in seine Wohnung ein. Als sie in den Gang kamen, erschien eine kummervoll aussehende Frau mit einer Witwenhaube, in der Hand einen Leuchter.

—— Meine Nichte, sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen vorstellte, meine Nichte auf Besuch in York. Sie ist so freundlich gewesen, mit Ihrer leeren Kammer vorlieb zu nehmen. Bemerken Sie wohl, wenn ich bitten darf, daß Sie sie meiner Nichte überlassen und besorgen Sie ja recht frische schöne Bettwäsche. Ist Mrs. Wragge oben? Sehr gut. Geben Sie mir gefälligst Ihr Licht einstweilen. Mein liebes Kind, Mrs. Wragges Empfangszimmer ist eine Treppe; Mrs. Wragge ist anwesend. Erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.

Da er die Treppe voran hinaufstieg, so wußte die kummervolle Witwe Magdalenen die klägliche Bitte zuzuraunen:

—— Ich hoffe, Sie werden mich bezahlen, Miss. Ihr, Oheim zahlt nicht.

Der Hauptmann öffnete die Thür des vorderen Zimmers im ersten Stock und zeigte eine weibliche Gestalt, welche in einem verschossenen bernsteingelben Atlaskleide einsam auf einein kleinen Stuhle saß, mit schmutzigen alten Handschuhen angethan auf den Knieen ein abgegriffenes altes Buch, neben sich ein kleines Kammerlämpchen. Die Gestalt endigte am obern Ende mit einem großen glatten, weißen runden Gesichte, wie ein Mond, eingefaßt mit einer Haube und grünen Bändern und spärlich belebt durch Augen von einem sanften und nichtssagenden Blau, welche vorwärts ins Leere schauten und nicht die geringste Notiz von Magdalenens Erscheinen in der offenen Thür nahmen.

—— Mrs. Wragge! schrie der Hauptmann indem er sie anrief, als ob, sie fest eingeschlafen sei, Mrs. Wragge!

Die Dame mit den nichtssagend blauen Augen erhob sich langsam zu einer anscheinend kein Ende nehmenden Große. Als sie endlich eine aufrechte Stellung erreicht hatte, hatte sie sich dergestalt zu einer Höhe von zwei bis drei Zoll über sechs Fuß aufgethürmt. Riesen beiderlei Geschlechts sind durch eine weise Anordnung der Vorsehung meistentheils sehr sanfter Natur. Wenn Mrs. Wragge und ein Lamm neben einander gestellt worden wären, so würde die Vergleichung unter solchen Umständen das Lamm als einen Umstürzler der natürlichen Ordnung hingestestellt haben.

—— Thee, mein Lieber? fragte Mrs. Wragge, indem sie mit Unterwürfigkeit herabschaute auf ihren Eheherrn, dessen Kopf, wenn er sich auf die Zehen stellte, mit knapper Noth ihre Schultern erreichte.

—— Miss Vanstone, die jüngere, sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen vorstellte. Unsere schöne Verwandte, welche ich durch einen glücklichen Zufall angetroffen habe. Unser Gast für die Nacht. Unser Gast! wiederholte der Hauptmann, indem er noch einmal schrie, als ob die große Dame schon wieder fest schliefe trotz des offenen Zeugnisses ihrer beiden Augen vom Gegentheil.

Ein Lächeln sprach sich, allerdings nur in schwacher Andeutung, auf dem großen leeren Zifferblatte von Mrs. Wragges Antlitz aus.

—— Ach so? sagte sie mit fragendem Tone. Ach wirklich? Ist’s Ihnen gefällig, Miss, Platz zu nehmen? Ich bin trostlos, —— nein, ich meine nicht, daß ich trostlos bin, ich meine, ich bin erfreut....

Sie hielt inne und sah ihren Eheherrn mit einem verlegenen, hilfesuchenden Blicke an.

—— Erfreut natürlich! schrie der Hauptmann.

—— Erfreut natürlich! wiederholte die Riesin im amberfarbenen Atlas noch zahmer als gewöhnlich.

—— Mrs. Wragge ist nicht taub, setzte der Hauptmann erklärend hinzu. Sie ist nur etwas langsam Von Begriffen, von vorherrschend schläfriger Anlage, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf. Ich spreche lediglich deßwegen etwas laut mit ihr —— und ich bitte, Sie wollen mir die Ehre geben, ebenfalls laut zu reden ——, weil dies ein nothwendiger Sporn für ihren langsamen Gedankengang ist. Schreien Sie sie ein wenig an, und sofort wird ihr Geist auf die rechte Bahn gelenkt. Sprechen Sie aber mit ihr im gewöhnlichen Tone, sofort wird sie meilenweit von Ihnen hinweg schweifen. Mrs. Wragge!

Mrs. Wragge ging augenblicklich aus den Sporn ein.

—— Thee, mein Lieber? frug sie zum andern Mal.

—— Setze Deine Haube gerade! schrie der Gatte. —— Ich bitte tausend Mal um Vergebung, begann er wieder, zu Magdalenen gewandt. Die traurige Wahrheit ist, ich bin ein Sklave meines eigenen Ordnungssinnes. Alles Unzeitige, jeder Verstoß gegen Ordnung und Regelmäßigkeit verursacht mir das allerlebhafteste Unbehagen. Meine Aufmerksamkeit ist abgezogen, meine Ruhe ist zerstört, ich kann nicht ruhen noch rasten, bis die Dinge wieder zurecht gebracht sind. Was das Aeußere anbetrifft, ist Mrs. Wragge zu meinem unendlichen Bedauern die verdrehteste Frau, mit der ich je zusammen gekommen bin. —— Noch mehr zurecht! schrie der Hauptmann, als Mrs. Wragge, wie ein wohlgezogenes Kind sich mit verbesserter Kopftracht dem kritischen Blicke des Gatten vorstellte.

Mrs. Wragge schob sofort die Haube nach links. Magdalene stand auf und setzte sie statt ihrer zurecht. Das Vollmondgesicht der Riesin erhellte sich zum ersten Male. Sie schaute mit Bewunderung Magdalenens Mantel und Hut an.

—— Lieben Sie die Kleider, Miss? fragte sie plötzlich in einem vertraulichen Flüstern. Ich liebe sie.

—— Zeige Miss Vanstone ihr Zimmer, sagte der Hauptmann, indem er dabei aussah, als gehörte ihm das ganze Haus. Das Fremdenzimmer, das Gastzimmer der Wirthin im dritten Stock nach vorn. Stelle Miss Vanstone alle Artikel zur Verfügung, welche ihre Toilette etwa benöthigt. Sie hat kein Gepäck bei sich. Leg zu, was ihr fehlt, und dann komm zurück und mache Thee.

Mrs. Wragge bekannte sich mittels eines Blickes von willfähriger Verwirrung zum Empfange dieser stolzen Befehle und begab sich aus dem Zimmer. Magdalene folgte ihr mit einem Licht, das ihr der aufmerksame Hauptmann gereicht hatte.

Sobald sie auf dem äußern Treppenabsatz allein waren, hob Mrs. Wragge das zerlumpte alte Buch, in welchem sie gelesen hatte, als Magdalene sich ihr zum ersten Male gezeigt hatte, und welches sie seitdem nicht aus der Hand gelegt hatte, und klopfte sich langsam damit vor die Stirn.

—— Ach, mein armer Kopf, sagte die große Frau in kleinlautem Selbstgespräch, das Schwirren ist wieder schlimmer als je vordem!

—— Das Schwirren? wiederholte Magdalene in ungemessenem Erstaunen.

Mrs. Wragge stieg die Treppe hinauf, ohne eine Erklärung von sich zu geben, hielt bei einem Zimmer des zweiten Stockes an und ging hinein.

—— Dies ist nicht das dritte Stock, sagte Magdalene, Dies ist also gewiß auch mein Zimmer nicht.

—— Warten Sie ein Bißchen, bat Mrs. Wragge. Warten Sie ein Bißchen, Miss, ehe wir höher hinausgehen. Ich habe das Schwirren in meinem Kopfe schlimmer als je. Warten Sie ein wenig, wenn Sie so gut sein wollen, bis ich ein wenig wohler bin.

—— Soll ich Hilfe holen? fragte Magdalene. Soll ich die Wirthin rufen?

—— Hilfe? wiederholte Mrs. Wragge, wie ein Echo. Gott vergelts Ihnen, aber ich brauche keine Hilfe. Ich bin es schon gewohnt. Ich habe das Schwirren in meinem Kopfe ab und zu gehabt, ach wie viele Jahre!...

Sie hielt inne, verlor den Zusammenhang und stellte plötzlich in Verlegenheit eine Frage.

—— Sind Sie ein Mal in Darchs Speisehause zu London gewesen? fragte sie mit dem Anschein der größten Spannung.

—— Nein, erwiederte Magdalene, verwundert über solch eine merkwürdige Frage.

—— Dort war’s, wo ich zuerst das Schwirren im Kopfe bekam, sagte Mrs. Wragge, indem sie mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit und mit Eifer die neue Spur verfolgte. Ich war zur Bedienung der Herren in Darchs Speisehause angestellt, ja, ja. Die Herrn kamen alle zusammen; die Herrn hatten alle zusammen Hunger; die Herren gaben ihre Befehle alle zusammen...

Sie stockte und klopfte sich wieder verzweifelt mit dem zerlesenen Buche an die Stirn.

—— Und da hatten Sie alle Bestellungen in Ihrem Kopfe zu behalten, jede getrennt von der andern? fügte Magdalene hinzu, indem sie ihrem Gedankengange nachhalf. Und die Mühe, Solches zu bewerkstelligen, machte Sie verwirrt?

—— So ist es! sagte Mrs. Wragge und wurde in einem Augenblicke heftig aufgeregt. Schweinefleisch mit Gemüse und Erbsenpudding für Nummer Eins. —— Gedämpftes Rindfleisch mit Möhren und Stachelbeertorte für Nummer Zwei. —— Ein Stück Hammelbraten und Grünes darüber, gut durchgebraten und Viel Fett für Nummer Drei. —— Stockfisch mit Pastinaken, zwei Schnitt hinter einander weg, heiß, sehr heiß, sonst ist’s Ihr Tod für Nummer Vier. —— Fünf, Sechs, Sieben, Acht, Neun, Zehn. —— Möhren und Stachelbeertorte —— Erbsenpudding und sehr viel Fett —— Schweinefleisch, Rindfleisch und Hammel und Alles geschnitten und Grünes darüber —— Doppelbier für den Einen und Ale für den Andern —— altes Brod hier —— und frisch Brod dorthin —— dieser Herr liebt Käse und jener nicht —— Mathilde, Thildchen, Thildchen, Thildchen, fünfzig Mal in Einem fort, bis ich nicht mehr wußte, wie eigentlich mein Name war —— Ach Gott, ach Gott, ach Gott! Alle zusammen, Alle zur selbigen Zeit, Alle ohne Geduld, Alle um meinen armen Kopf schwirrend und summend wie vierzig Tausend Millionen Bienen. —— Sagen sie es dem Hauptmann nicht, sagen Sie’s dem Hauptmann nicht!

Das unglückliche Wesen ließ das alte zerlesene Buch fallen und schlug mit beiden Händen an den Kopf, den Blick mit hellem Schreck nach der Thür gewendet.

—— Still nur, still! sagte Magdalene. Der Hauptmann hat Sie nicht gehört. Ich weiß nun, wie es mit Ihrem Kopfe steht. Lassen Sie mich ihn kühlen.

Sie tauchte ein Handtuch ins Wasser und drückte es an den brennenden armen Kopf, welchen Mrs. Wragge mit der Gelehrigkeit eines kranken Kindes ihr hinhielt.

—— Was für eine hübsche Hand Sie haben, sagte das beklagenswerthe Geschöpf, als es durch die Kühlung Erleichterung fühlte, und nahm Magdalenens Hand mit Bewunderung in die eigene. —— Wie weich und weiß sie ist! Ich versuche auch, eine Dame zu sein; ich behalte immer die Handschuhe an, aber ich kann meine Hände nicht so bekommen, wie die Ihrigen. Ich bin aber doch hübsch gekleidet, nicht wahr? Ich liebe Kleider: es ist ein Trost für mich. Ich bin immer recht froh, wenn ich meine Sachen ansehe. Ich meine —— werden Sie es übel nehmen? —— ich möchte so gern Ihren Hut einmal aufsetzen.

Magdalene that ihr mit dem schnell bereiten Mitgefühl der Jugend den Willen. Sie stand lächelnd und sich selber zunickend vor dem Spiegel mit dem Hute, aufgestülpt auf die Spitze ihres Kopfes.

—— Ich hatte ’mal einen, so hübsch als dieser, sagte sie, nur war er weiß, nicht schwarz. Ich trug ihn, als der Hauptmann mich heirathete.

—— Wo kamen Sie denn zuerst mit ihm zusammen? fragte Magdalene, indem sie die zufällig sich bietende Gelegenheit, ihre geringfügige Kenntniß von Hauptmann Wragge zu vermehren, benutzte.

—— Im Speisehause, sagte Mrs. Wragge. Er war der hungrigste und der lauteste, den man zu bedienen hatte. Ich beging bei ihm mehr Fehler, als bei all den Anderen zusammen genommen. Er pflegte zu fluchen, ach, konnte er fluchen! Als er nicht mehr fluchte über mich, heirathete er mich. Es waren noch Andere da, welche mich wollten, außer ihm. Gott stärke mich, ich hatte meinen Dünkel. Warum auch nicht? Wenn Sie eine kleine Summe Geld erübrigt haben, mehr als Sie erwartet hatten, warum soll Eins da nicht auf den Gedanken kommen, daß man eine Dame werden möchte? Hat eine Dame nicht auch ihren absonderlichen Geschmack? Ich hatte mein bißchen Geld und hatte meinen Geschmack und nahm den Hauptmann, ja, ich nahm ihn. Er war der Gescheidteste und der Kurzangebundenste von Allen. Er nahm sich meiner und meines Geldes an. Ich bin noch da, das Geld ist fort. Legen Sie das Handtuch nicht auf den Tisch dort, er wills nicht haben! Rühren Sie seine Rasiermesser nicht an, thun Sie’s ja nicht, bitte, sonst vergesse ich, welches es ist. Ich habe zu merken, welches das Messer für morgen ist. Gott stärke Sie, der Hauptmann barbiert sich nicht selbst! Er hat mir’s gelehrt. Ich barbiere ihn. Ich mache ihm die Haare und schneide ihm die Nägel, —— er ist sehr eigensinnig mit seinen Nägeln. So ist er auch mit seinen Hosen. Und mit seinen Schuhen. Und seiner Zeitung morgens. Und seinen! ersten und dem zweiten Frühstück, seinem Mittagsessen und Thee....

Sie hielt plötzlich inne, als ob ihr auf einmal etwas einfiele, sah sich um und bemerkte, die Hände vor Verzweiflung zusammen schlagend, das abgegriffene alte Buch auf dem Boden.

—— Ich habe die Stelle verloren! rief sie aus und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen. Ach, erbarme Dich Gott, was wird aus mir werden! Ich habe die Stelle verloren!

—— Beruhigen Sie sich, sagte Magdalene. Ich will schon bald die Stelle wieder für Sie finden.

Sie hob das Buch auf, blätterte und fand, daß der Gegenstand von Mrs. Wragges Angst kein geringerer, als ein altvätersches Handbuch der Kochkunst war, das in die gewöhnlichen Abtheilungen Fisch, Fleisch und Geflügel zerfiel und die herkömmliche Reihe von Recepten enthielt. Indem Magdalene die Blätter umwandte, kam sie auf eine besondere Seite, welche dicht mit kleinen nassen Tropfen besäet war, die erst halb getrocknet schienen.

—— Merkwürdig! sagte sie, wenn Dies was Anderes, als ein Kochbuch wäre, so würde ich sagen, Jemand hätte darüber geweint.

—— Jemand? wiederholte Mrs. Wragge im Echo mit verwundertem Anstarren. Es ist nicht Jemand, ich bins. Ich danke Ihnen ergebenst, daß die Stelle wieder sicher ist. Gott stärke Sie, ich pflege darüber zu weinen! Sie würden auch weinen, wenn Sie des Hauptmanns Mittagessen darnach machen müßten. So gewiß ich mich je zu diesem Buche setze, so gewiß beginnt allemal das Schwirren in meinem Kopfe aufs Neue. Wer soll Das herausbekommen? Manchmal denke ich, ich habs, und Alles entfällt mir wieder. Manchmal denke ich, ich habs nicht, und Alles kommt mir im Haufen zurück. Sehen Sie her! Hier steht, was er für sein Frühstück morgen bestellt hat:

Eierkuchen mit Grünem.

Schlag auf zwei Eier mit ein wenig Wasser oder Milch, Salz, Pfeffer, Schnittlauch und Petersilie Hacke es klein.

—— Da haben wirs, es klein hacken. Wie soll ich es klein hacken, wenn Alles durch einander gemischt ist und läuft?

Thue ein Stückchen Butter, so groß wie Dein Daumen in die Bratpfanne.

—— Sehen Sie meinen Daumen an und sehen Sie Ihren an! Wie groß soll es denn da sein?

Koch es, aber nicht braun.

—— Wenn es nicht braun ist, welche Farbe soll es denn haben? Sie will es mir nicht sagen, sie erwartet, ich soll es wissen, und ich weiß es doch nicht.

Schütte den Eierkuchen hinein.

—— Das da, Das kann ich.

Laß es sich setzen, hebe es ringsum an den Rändern in die Höhe und wende es um, um es umzuschlagen.

—— Ach wie vielmals habe ich es gedreht und umgewandt in meinem Kopfe, ehe Sie heute Abend kamen.

Halt es weich, stülpe die Schüssel auf die Bratpfanne und kehre sie um.

—— Was soll ich umwenden? —— ach, mein Gott, nehmen Sie das kalte Tuch noch einmal und sagen Sie mir, was —— die Schüssel oder die Bratpfanne?

—— Stürze die Schüssel auf die Bratpfanne, sagte Madalene: und dann kehre die Bratpfanne um, so wirds wohl gemeint sein.

—— Ich danke Ihnen freundlich, sagte Mrs. Wragge. Ich muß es in den Kopf prägen, sagen Sie es mir doch noch einmal.

Magdalene sagte es ihr noch einmal.

—— Und dann kehre die Bratpfanne um, wiederholte Mrs. Wragge mit plötzlichem Anflug von Eifer. Ich habs nun behalten! Ach, die vielen Stück Eierkuchen, die alle in meinem Kopfe gar wurden und alle mißriethen. Sehr verbunden, das muß ich sagen. Sie haben mich aufs richtige Tapet gebracht: ich bin nur ein wenig angegriffen vom Sprechen. Und dann kehre die Pfanne, dann kehre die Pfanne, dann kehre die Pfanne um. Es klingt wie Verse, nicht wahr?

Ihre Stimme sank, und sie schloß schläfrig die Augen. Im selben Augenblick ging unten die Thür des Zimmers auf, und die honigsüße Baßstimme des Hauptmanns drang die Treppe herauf, verstärkt zu dem gewöhnlichen Sporn für die Fähigkeiten seiner Frau.

—— Mrs. Wragge! schrie der Hauptmann. Mrs. Wragge!

Sie sprang auf bei dieser schrecklichen Mahnung.

—— Ach, was sollte ich doch gleich thun? fragte sie zerstreut. Eine ganze Menge Dinge, und ich hab’ sie alle vergessen.

—— Sagen Sie nur, Sie hätten Alles so gemacht, wenn er Sie fragt, redete Magdalene ihr zu. Es waren Dinge, die mich angingen, Dinge, die ich nicht nöthig habe. Ich erinnere mich an Alles, was nöthig ist. Mein Zimmer ist das Vorderzimmer im dritten Stock. Gehen Sie hinunter und sagen Sie, ich käme sogleich.

Sie nahm die Lampe und schob Mrs. Wragge hinaus auf die Treppe.

—— Sagen Sie, ich käme gleich, flüsterte sie und ging allein zum dritten Stock hinauf.

Das Zimmer war klein, enge und sehr ärmlich ausgestattet. In früheren Zeiten würde Miss Garth Anstand genommen haben, solch ein Zimmer einem der Dienstmädchen aus Combe-Raven zu bieten. Allein es war wenigstens ruhig, es war doch gut genug, um sie auf einige Minuten von aller Gesellschaft zu befreien, und in diesem Betracht war es erträglich, ja sogar willkommen. Sie schloß sich ein und ging unwillkürlich fast, in dem ersten Drange jeder Frau, wenn sie sich in einem fremden Schlafgemach befindet, an den wackligen kleinen Tisch und den trüben kleinen Spiegel. Sie wartete dort einen Augenblick und wandte sich dann mit mattem Verdruß hinweg.

—— Was schadet es, wenn ich bleich bin? dachte sie bei sich selbst, Frank kann mich nicht sehen, was schadet es nun?

Sie legte Mantel und Hut ab und setzte sich nieder, um sich zu sammeln. Aber die Ereignisse des Tages hatten sie erschöpft. Die Vergangenheit machte ihr Herzeleid, wenn sie anfing daran zu denken. Die Zukunft war eine finstere Leere, wenn sie anfing, in sie hinaus zu schauen. Sie stand wieder auf und stellte sich an das Fenster, das übrigens keine Vorhänge hatte, stellte sich hin und sah hinaus, als ob die trostlose Nacht da draußen doch noch irgendwo in ihrer eigenen Trostlosigkeit einiges geheime Mitgefühl für sie in sich berge.

—— Nora! sprach sie mit Innigkeit vor sich hin, ich möchte wissen, ob Nora an mich denkt? Ach, wenn ich so duldsam sein könnte, wie sie ist! Wenn ich nur die Schuld vergessen könnte, die wir Michael Vanstone heimzuzahlen haben!

Ihr Gesicht verfinsterte sich mit einem Ausdruck verzweifelter Rache, und sie maß ihren kleinen Käfig von einem Zimmer mit leisen Schritten hin und her.

—— Nein, nimmermehr, ehe nicht die Schuld getilgt ist!

Ihre Gedanken schweiften wieder zu Frank zurück.

—— Noch auf der See der arme Kerl ——, weiter und immer weiter von mir entfernt, auf raschem Kiel dahin fahrend die Tage, die Nächte hindurch! Ach, Frank liebe mich treu!

Ihre Augen füllten sich mit Thränen. Sie zerdrückte sie, ging nach der Thür und lachte mit dem Aufschrei der Verzweiflung, als sie wieder aufschloß.

—— Jedwede Gesellschaft ist mir besser, als die meiner eigenen Gedanken, rief sie jäh ausbrechend. Ich vergesse ja meine neubackenen Verwandten, meine schwachsinnige Tante und meinen Oheim, den erbärmlichen Menschen.

Sie stieg die Treppe hinunter bis zum Absatze auf der ersten Etage und blieb hier einen Augenblick zögernd stehen.

—— Wie wird es enden? fragte sie sich selbst. Wohin führt mich nun meine Reise ins Blaue? Wer weiß es und wen geht es an?

Sie trat ins Zimmer.

Hauptmann Wragge führte den Vorsitz beim Thee mit der Miene eines in seinem Banquetsaale sich fühlenden Fürsten. An der einen Seite des Tisches saß Mrs. Wragge und hing an ihres Gatten Augen, wie ein Thier, das gefüttert werden soll. An der andern Seite war ein leerer Stuhl, auf welchen der Hauptmann mit einer einladenden Handbewegung hinwies, als Magdalene eintrat.

—— Wie finden Sie Ihr Zimmer? frug er; ich hoffe doch, Mrs. Wragge hat sich nützlich gemacht? Nehmen Sie Milch und Zucker? Versuchen Sie das hiesige Brod, geben Sie der Yorker Butter die Ehre, kosten Sie die Frische eines neuen Eies aus der Nachbarschaft. Ich biete Ihnen all das Wenige, das ich habe. Eine Armenmannes-Mahlzeit, mein liebes Mädchen, aber gewürzt mit dem Willkommen eines Gentleman.

—— Gewürzt mit Salz, Pfeffer, Schnittlauch und Petersilie, murmelte Mrs. Wragge, welche sofort ein Wort aufschnappte, das mit der Kochkunst zusammenhing, und indem sie betreffs des Eierkuchens ihr Merk stärkte für den ganzen übrigen Abend.

—— Sitze gerade bei Tische! schrie der Hauptmann. Mehr nach links, noch mehr —— so wirds genug sein. —— Während Sie oben waren, fuhr er zu Magdalene gewendet fort —— ist mein Geist nicht müßig gewesen. Ich habe Ihre Lage in Betracht gezogen von einem Ihnen nur vortheilhaften Gesichtspunkte aus. Wenn Sie sich entschließen, sich morgen von dem Lichte meiner Erfahrung leiten zu lassen, so steht dies Licht ohne Vorbehalt ganz zu Ihrer Verfügung, Sie können natürlich sagen:

—— Ich weiß nur wenig von Ihnen, Hauptmann, und das Wenige ist unvortheilhaft.

—— Zugegeben unter dem Bedingung, daß Sie mir erlauben, Sie, wenn der Thee vorüber ist, mit mir selbst und meinem Charakter näher bekannt zu machen. Falsche Scham ist meiner Natur fremd. Sie sehen meine Frau, mein Haus, mein Brod, meine Butter und meine Eier, Alles, wie es eben ist. Sehen Sie mich nun ebenfalls, liebes Mädchen, weil Sie einmal dabei sind.

—— Als der Thee vorüber war, zog sich Mrs. Wragge auf ein Zeichen ihres Mannes in einen Winkel des Zimmers zurück, immer mit dem ewigen Kochbuche in der Hand.

—— Wiege es klein, flüsterte sie, als sie an Magdalenen vorbeiging; das ist eine Plage, nicht wahr?

—— Schon wieder umgetreten! schrie der Hauptmann, indem er auf die schwerfälligen, plumpen Füße seiner Frau hindeutete, als sie dieselben schlürfend durchs Zimmer zog. —— Der rechte Schuh. Zieh ihn wieder herauf, Mrs. Wragge, zieh ihn wieder an die Ferse! —— Bitte, erlauben Sie mir, fuhr er fort, indem er Magdalenen den Arm bot und sie zu einem schmutzigen Roßhaarsopha führte. Sie bedürfen der Ruhe —— nach Ihrer langen Reise, Sie bedürfen wirklich der Ruhe.

Er zog seinen Stuhl an das Sopha und betrachtete sie mit einem einschmeichelnd forschenden Blicke, als wenn er ihr Arzt gewesen wäre und ihre Diagnose im Kopfe gehabt hätte.

—— Sehr angenehm, sehr angenehm! sagte der Hauptmann, als er seinen Gast sich auf dem Sopha bequem machen sah. Ich fühle mich ganz und gar im Schooße meiner Familie. Sollen wir auf unsern Gegenstand zurückkommen, den Gegenstand meiner eigenen schuftigen Person? Nein, nein! Keine Beschönigungen, keine Einwände, ich bitte Sie. Machen Sie Ihrerseits die Sache nicht kleiner und verlassen Sie sich darauf, daß ich meinerseits sie nicht kleiner machen werde. Kommen wir nun, wenn ich bitten darf, auf das Thatsächliche. Wer und was ich bin? Leuten Sie Ihren Geist zurück zu unserer Unterredung auf dem Walle dieser anziehenden Stadt und lassen Sie uns von Ihrem Gesichtspuncte aus noch einmal unsern Ausgang nehmen. Ich bin ein erbärmlicher Mensch und in dieser Eigenschaft, wie ich Ihnen schon bemerklich gemacht habe, gerade der nützlichste Mann, den Sie hätten finden können. Nun bemerken Sie wohl! Es gibt viele Spielarten erbärmlicher Menschen; lassen Sie mich Ihnen zunächst sagen, zu welcher Classe denn eigentlich ich gehöre. Ich bin ein Industrieritter, ein Schwindler.

Seine vollständige Schamlosigkeit war wirklich übermenschlich. Nicht die Spur eines Erröthens unterbrach die bleiche Einförmigkeit seines Gesichts, das Lächeln schwebte so angenehm wie immer um seine gekräuselten Lippen, seine doppelfarbenen Augen zwinkerten Magdalenen zu mit der stillvergnügten Offenheit eines natürlich harmlosen Mannes. Hatte seine Frau ihn gehört? Magdalene sah über ihre Schulter nach dem Zimmerwinkel, wo sie hinter ihr saß. Nein, die angehende Schülerin der edlen Kochkunst war ganz in ihren Gegenstand vertieft Sie hatte ihren Zukunftseierkuchen zu dem Stadium gebracht, wo die Butter dazu gethan werden soll, jenes unbestimmt angegebene Stückchen Butter von der Größe Deines Daumens. Mrs. Wragge saß da versunken in den Anblick eines ihrer eigenen Daumen und schüttelte ihren Kopf darüber, als ob sie gar nicht recht damit zufrieden wäre.

—— Erschrecken Sie nicht darüber, fuhr der Hauptmann fort, erstaunen Sie nicht darüber. Schwindler ist nur ein Wort von zwei Sylben S, ch, w, i, n, d: Schwind, l, e, r: ler, Schwindler Erklärung: ein »moralischer« Landwirth, ein Mann, welcher das Feld des menschlichen Mitleids bebaut. Ich bin jener moralische Landwirth, jener Feldbebauer. Engherzige Mittelmäßigkeit, neidisch auf meinen Erfolg im Berufe, nennt mich einem Schwindler. Was ist Das weiter? Derselbe anschwärzende Geist pflegt auch Männer von anderen Berufsarten auf ähnliche Weise in den Staub zu ziehen, nennt große Schriftsteller Scribenten, große Generäle Menschenschlächter und so weiter. Es kommt ganz auf den Gesichtspunkt an. Wenn ich Ihre Gesichtspunkt annehme, so kennzeichne ich mich selbst unverholen als Schwindler. Nun seien Sie mir wieder gefällig und nehmen Sie einmal meinen Gesichtspunct an. Hören Sie, was ich für mich selbst zu sagen habe, hinsichtlich der Ausübung meines Berufs. Soll ich fortfahren, es frei herauszusagen?

—— Ja, sagte Magdalene, und ich will Ihnen nachher frei heraus sagen, was ich davon denke.

Der Hauptmann räusperte sich und sammelte seine ganzen Hilfstruppen an Worten, Reiterei, Fußvolk, Geschütz und Nachschub, stellte sich selbst an die Spitze und stürzte sich in den Kampf, um die Sittlichkeitsschanzen der Gesellschaft mit einem Angriff auf der ganzen Linie zu nehmen.

—— Nun merken Sie auf, begann er. Hier bin ich, ein armer Teufel. Sehr gut. Ohne die Frage dadurch noch verwickelter zu machen, daß ich frage, wie ich in diese Lage gekommen bin, will ich nur untersuchen, ob es die Pflicht eines christlichen Gemeinwesens ist oder nicht ist, den Armen zu helfen. Wenn Sie Nein sagen, so werfen Sie mich in den Sand, und ich bin fertig. Wenn Sie Ja sagen, dann erlauben Sie mir die Frage: Warum verdiene ich Tadel, daß ich einer christlichen Gemeinde dazu verhelfe ihre Pflicht zu erfüllen? Sie können sagen: Ist ein bedächtiger Mann, der sich Geld gespart hat, verbunden, es an einen sorglosen Fremden wieder wegzugeben, der keins gespart hat? Jawohl ist er verbunden! Und warum, wenns gefällig ist? Guter Gott, darum, weil er das Geld einmal hat, natürlich. Durch die ganze Welt erhält der Mann, der kein Geld hat, solches von Dem Manne, welcher es hat, unter dem einen oder dem andern Vorwande, und in neun Fällen unter zehn ist der Vorwand ein falscher. Wie? Ihre Taschen sind voll, und meine Taschen sind leer, und doch weigern Sie sich mich zu unterstützen? Geizige Person, denken Sie, ich werde Ihnen erlauben, die heiligen Pflichten der christlichen Liebe mir gegenüber zu verletzen? Ich werde es Ihnen nicht gestatten, ich sage es mit Bestimmtheit, ich werde es nicht zugeben. Das sind meine Grundsätze als ein moralischer Landwirth. Grundsätze, welche zweideutig sind? Gewiß! Verdiene ich Tadel, wenn nun einmal das Feld des menschlichen Mitgefühls nicht anders bearbeitet werden kann? Fragen Sie nur meine Collegen die wirklichen Landwirthe, ob sie ihre Ernten so ohne weiteres Zuthun bekommen? Nein, sie müssen auch der dürren Natur mit List Etwas abgewinnen, wie ich es mit geizigen Menschen mache. Sie müssen pflügen, säen, oben und unten bearbeiten, auf der Oberfläche und tief unten entwässern, und was dergleichen mehr ist. Wie soll ich dabei gestört werden, wenn ich meinerseits im weitesten Umfange die tiefe Drainage bei der Menschheit anwende? Warum soll ich darob verfolgt werden, weil ich für gewöhnlich die edelsten Empfindungen unserer gemeinen Natur rege zu machen suche? Schändlich! Ich kann es mit keinem andern Worte bezeichnen, schändlich! Wenn ich nicht Vertrauen auf die Zukunft hätte, so könnte ich an der Menschheit irre werden. Aber ich vertraue der Zukunft. Ja, eines schönen Tages, wenn ich todt und dahin sein werde, wenn die Ideen sich erweiteren und die Aufklärung zunimmt, werden die eigentlichen Verdienste des Berufes, den man jetzt Schwindel nennt, zu Ehren kommen. Wenn jener Tag kommt, zieht mich nicht aus meinem Grabe und gebt mir etwa ein öffentliches Begräbniß, macht Euch nicht den Vortheil zu nutze, daß ich keine Stimme mehr habe zu meiner Vertheidigung, und beleidigt mich nicht durch eine nationale Bildsäule. Nein, laßt mir Gerechtigkeit widerfahren auf meinem Grabsteine, reißt mich durch einen herrlichen Spruch in meiner Grabschrift heraus. »Hier liegt Wragge, einbalsamiert nach der zu späten Erkenntniß seiner Gattung: er bearbeitete seine Mitmenschen mit Pflug, Säemaschine und Erntesichel, und die aufgeklärte Nachwelt wünscht ihm Glück zu der gleichförmigen ausgezeichneten Güte seiner Ernten.«

Er hielt inne, nicht aus Mangel an Vertrauen, nicht weil es ihm an Worten fehlte, lediglich aus Mangel an Athem.

—— Ich stelle freimüthig und mit Humor dar, sagte er selbst gefällig. Ich erschrecke Sie doch nicht, nicht wahr?

Müde und verstimmt, wie sie war, argwöhnisch gegen Andere, zweifelnd an sich selbst, fühlte Magdalene doch mit ihrem angeborenen Sinne für Humor das Komische dieser ausbündigen Unverschämtheit von Hauptmann Wragges Vertheidigungsrede über den Schwindel und mußte lächeln, sie mochte wollen oder nicht.

—— Ist die Yorkshirer Ernte eine besonders reiche in diesem Augenblick? fragte sie, indem sie echt weiblich ihm mit gleicher Waffe diente.

—— Ein guter Einfall, ein kluger Einfall, sagte der Hauptmann, indem er scherzend die Enden seines abgetragenen Jagdkollers in die Höhe hob als sprechendes Zeugniß für Magdalenens Bemerkung. Mein liebes Kind, hier oder anderswo fehlt es nie an Ernten, aber ein einzelner Mann kann sie nicht immer heim bringen. Der Beistand eines mitwirkenden Geistes ist, wie ich bedauern muß zu sagen, mir versagt. Ich habe Nichts gemein mit dem plumpen Troß meiner Berufsgenossen, welche sich vor Magistrat und Obrigkeit des größten Fehlers schuldig machen: der unheilbaren Unfähigkeit in der Ausübung ihres Geschäfts. So wie Sie mich hier sehen, stehe ich allein da. Nach Jahren glücklicher Unabhängigkeit fangen die unausbleiblichen Kehrseiten des Ruhmes an, sich auch bei mir unangenehm geltend zu machen. Auf meinem Zuge vom Norden her bleibe ich in dieser anziehenden Stadt zum dritten Male halten, ich befrage meine Bücher nach den gewöhnlichen Notizen über frühere Erfahrungen am Orte. Ich finde dann unter dem Kopftitel: Persönliche Stellung in York die Anfangsbuchstaben: Z. G. B., welche heißen Zu Gut Bekannt. Ich erhole mir Rath in meinem Ortsverzeichnisse und wende mich zu der umgebenden Nachbarschaft. Dieselben kurzen Bemerkungen begegnen meinem Auge: Leeds. Z. G. B. —— Scarborough. Z. G. B. —— Harrowgate. Z. G. B. und so fort. Was ist die unausleibliche Folge? Ich unterbreche meine Maßregeln, meine Hilfsquellen versiegen, und meine schöne Anverwandte findet mich in einer Krisis meiner Laufbahn.

—— Ihre Bücher? sagte Magdalene Welche Bücher meinen Sie?

—— Sie sollen gleich sehen, versetzte der Hauptmann. Haben Sie oder haben Sie nicht Vertrauen zu mir, wie es Ihnen beliebt: ich aber vertraue Ihnen ganz und gar. Sie sollen sehen.

Mit diesen Worten zog er sich in das hintere Zimmer zurück. Während er fort war, richtete Magdalene noch einmal einen verstohlenen Blick auf Mrs. Wragge. War sie noch immer außer Bereich der Sündfluth von ihres Mannes Redefluß? Vollständig außer Bereich. Sie hatte den Zukunftseierkuchen zum letzten Stadium des culinarischen Vorgangs gebracht und machte eben die letzte Bewegung des Umdrehens zur Probe, indem ihre flache Hand die Schüssel und das Kochbuch die Bratpfanne vorstellte.

—— Ich habs behalten, sagte Mrs. Wragge, indem sie über das Zimmer weg Magdalenen zunickte. Erst decke die Bratpfanne über die Schüssel und dann wende Beides um.

Hauptmann Wragge kam zurück und brachte ein hübsches schwarzes Futteral mit einem blanken Messingschloß mit. Er holte aus dem Futteral fünf bis sechs kleine Bücher hervor, welche in das kaufmännische Kalbsleder mit Pergament gebunden und jedes mit seinem besonderen Schlößchen verschlossen waren.

—— Bemerken Sie, sagte der moralische Landwirth: ich lege meinerseits kein großes Gewicht darauf, es ist meine Natur, ordentlich zu sein, und ordentlich bin ich. Ich muß jedes Ding schwarz auf weiß niedergeschrieben haben, sonst werde ich toll. Hier ist meine kaufmännische Bibliothek: Tagebuch, Hauptbuch, Bezirksbuch, Briefwechselbuch, Bemerkungenbuch u. s. w. Werfen Sie gefälligst einen Blick in eines derselben. Ich schmeichle mir, es ist nichts von einem Klex oder einem nachlässig hingeworfenen Eintrag darin von der ersten bis zur letzten Seite. Sehen Sie dies Zimmer an: ist ein Stuhl nicht an seinem Platze? Nicht daß ich wüßte wenigstens. Sehen Sie mich an. Bin ich staubig, bin ich schmutzig, bin ich schlecht rasiert? Bin ich mit einem Worte ein sauberer Armer oder nicht? Bemerken Sie! Ich lege keinen Werth darauf, es ist nun einmal meine Natur, liebes Mädchen, einmal meine Natur so!

Er öffnete eines von den Büchern Magdalene konnte die bewundernswerthe Genauigkeit, mit der die Einträge alle ausgeführt waren, nicht beurtheilen, aber wohl konnte sie die Schönheit der Handschrift, die Regelmäßigkeit der Zahlenreihen, die mathematische Genauigkeit der gezogenen rothen und schwarzen Linien, die vollständige Makellosigkeit in Hinsicht auf Klexe, Flecke oder Ausradirungen würdigen. Obschon Hauptmann Wragges angeborener Ordnungssinn bei ihm, sowie bei Anderen ein zu äußerliches, durch die Gewohnheit befestigtes Moment war, um irgend welche tiefere moralische Wirkung auf seine Handlungen auszuüben, so hatte er doch auf seine Gewohnheiten seinen naturgemäßen Einfluß geübt und seine schlechten Streiche so genau in eine Methode und ein System gebracht, als ob es die Geschäftsunternehmungen eines ehrlichen Mannes gewesen wären.

—— Auf den ersten Blick erscheint mein System verwickelt? fuhr der Hauptmann fort. In der That aber ist es die Einfachheit selbst. Ich vermeide einfach die Fehler der kleineren Berufsgenossen D. h. ich bitte niemals für mich selbst, und dann wende ich mich niemals an reiche Leute. Beides bedeutungsvolle Mißgriffe, welche der kleinere Berufsgenosse beständig begehen Leute mit geringem Einkommen haben oft großmüthige Regungen betreffs Geldsachen, reiche Leute niemals. Mylord mit vierzig Tausend Pfund im Jahr, Sir John mit Liegenschaften in einem halb Dutzend Grafschaften: das sind die Menschen, welche dem vornehmen Bettler es niemals vergeben, wenn er ihnen ein Goldstück abgeschwindelt hat, das sind die Menschen, welche nach der Armenpolizei schicken, das sind die Menschen, welche ihr Geld in Acht nehmen. Wer sind die Leute, die Schillings und halbe Schillinge aus reiner Nachlässigkeit verlieren? Dienstboten und kleine Schreiber, für die Schillinge und halbe Schillinge schwer genug sind. Haben Sie je gehört, daß Rothschild oder Baring ein Vierpencestück in ein Canalloch haben fallen lassen? Vierpencestücke in Rothschilds Tasche sind sicherer als in der Tasche des Weibes, welches eben in Skeldergate alte Krabben ausruft. Durch diese gesunden Grundsätze gewappnet, durch die Schätze niedergeschriebener Nachweise in meiner kaufmännischen Bibliothek aufs Beste unterrichtet, habe ich die Bevölkerung in früherer Zeit förmlich durchs Sich getrieben und meine Wohlthätigkeitsernten mit dem erfreulichsten Erfolge von ihr erhoben. Hier in Buch Numero Eins sind alle meine Bezirke aufgezeichnet mit den in jedem vorherrschenden Volksneigungen: —— Militärischer Bezirk, Geistlicher Bezirk, Landwirthschaftlicher Bezirk, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Zwei sind meine Fälle, welche ich zum Vorwand meiner Gesuche nehme: —— Familie eines bei Waterloo gefallenen Offiziers; Weib eines armen Landgeistlichen, das an einem Nervenleiden darnieder liegt; Witwe eines bedrängten Viehhändlers, den ein wüthender Stier zu Tode gespießt hat, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Drei sind die Leute, welche von der Offiziersfamilie gehört haben, von des Landgeistlichen Frau, des Viehhändlers Witwe wissen, und die, welche Nichts davon wissen die Leute, welche Ja gesagt, und die, welche Nein gesagt haben; die Leute, die man wieder anbohren kann; die Leute, welche einen neuen Fall brauchen, um gepackt zu werden; die Leute, welche zweifelhaft, die Leute endlich, welche zu vermeiden sind, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Vier sind meine nachgemachten Handschriften von öffentlichen Beamten, meine Zeugnisse über meine eigene Würde und Unbescholtenheit, meine herzbrechenden Schilderungen von der Familie des Offiziers, von der Frau des Geistlichen und der Witwe des Viehhändlers, befleckt mit Thränen, getränkt mit Rührung u. s. w., u. s. w. Hier in den Nummern Fünf und Sechs sind meine eigenen Zeichnungen zu wohlthätigen Zwecken am Orte, wirklich eingezahlt in lohnenden Nachbarschaften nach dem Sprache: eine Wurst nach der Speckseite werfen; ebenso mein Tagebuch über jede Tagesverrichtung, meine persönlichen Betrachtungen und Bemerkungen, meine Schilderung bestehender Schwierigkeiten (sowie die Schwierigkeit z. B. mich Z. G. B. in dieser anziehenden Stadt zu wissen); meine Ausgänge und mein Nachhausekommen; Wind und Wetter; Politik und öffentliche Vorkommnisse; Schwankungen in meiner Gesundheit, Schwankungen in Mrs. Wragges Kopfe, Schwankungen in unseren Einkünften und Mahlzeiten, unseren Zahlungen, Aussichten und Grundsätzen, u. s. w., u. s. w. So liebes Kind, »geht die Mühle« des Schwindlers. So sehen Sie mich, ganz wie ich bin. Sie wußten, bevor ich Sie traf, daß ich »von meinem Witz lebte«. Gut, habe ich nun Ihnen gezeigt oder nicht, daß ich allerdings Witz habe, um davon zu leben?

—— Ich hege keinen Zweifel, daß Sie sich selbst alle Gerechtigkeit haben widerfahren lassen, sagte Magdalene ruhig.

—— Ich bin durchaus noch nicht fertig, fuhr der Hauptmann fort. Ich kann, wenns sein muß, noch den ganzen Abend fortfahren. —— Indessen, wenn ich mir selbst volle Gerechtigkeit habe widerfahren lassen, so kann ich vielleicht die übrigen Punkte in meinem Charakter für künftige Gelegenheiten zu schildern vorbehalten. Für jetzt ziehe ich mich in den Hintergrund zurück Wragge tritt ab. Und nun zum Geschäftlichen! Gestatten Sie mir, Sie zu fragen, welche Wirkung ich auf Ihren Geist hervorgebracht habe? Glauben Sie noch, daß der erbärmliche Mensch, der Ihnen alle seine Geheimnisse vertraut hat, ein Kerl ist, der darnach verlangt, von einer schönen Verwandten einen gemeinen Nutzen zu ziehen?

—— Ich will noch ein wenig warten, begann Magdalene bevor ich diese Frage beantworte. Als ich zum Thee herunterkam, sagten Sie mir, daß sich eben Ihr Geist meinetwegen beschäftigt habe? Darf ich fragen wieso?

—— Jedenfalls, sagte Hauptmann Wragge Sie sollen das reine Ergebniß der ganzen geistigen Arbeit haben. Besagte Denkarbeit betraf die gegenwärtigen und zukünftigen Maßregeln Ihrer trostlosen Freunde und der Advocaten, welche denselben Sie suchen helfen. Ihre gegenwärtigen Maßregeln sind aller Wahrscheinlichkeit nach folgende. —— Der Schreiber des Rechtsanwalts hat Sie bei Mr. Huxtable aufgegeben und hat Sie zugleich nach sorgfältigen Nachforschungen auch in allen Hotels aufgegeben. Seine letzte Hoffnung ist, daß Sie nach Ihrem Koffer im Garderobezimmer schicken würden. Sie schicken nicht darnach, und nun ist der Schreiber heute Nacht (Dank Hauptmann Wragge und dem Rosmaringäßchen) zu Ende mit seinen Hilfsmitteln. Er wird diese Thatsache sofort seinen Dienstherren in London mittheilen, und diese seine Herren (erschrecken Sie nicht!) werden nunmehr ihre Zuflucht zur Criminalpolizei nehmen. Etwaige Verzögerungen unvermeidlicher Art zugestanden, wird ein berufsmäßiger Polizeispion mit all seiner Verschmitztheit und jenen Placaten, um ihn insgeheim in den Stand zu setzen, Sie zu erkennen, sicherlich nicht später als übermorgen, vielleicht sogar noch eher hier sein. Wenn Sie in York bleiben, wenn Sie mit Mr. Huxtable sich Verbindung setzen, wird Sie der Späher ausfindig machen. Wenn Sie im andern Falle die Stadt verlassen, ehe er kommt (indem Sie Ihre Abreise natürlich anders als mit Eisenbahn bewerkstelligen) versetzen Sie ihn in dieselbe Klemme wie den Schreiber —— Sie machen es ihm unmöglich, eine neue Fährte von Ihnen aufzuspüren. Das ist meine kurze Ansicht von Ihrer gegenwärtigen Lage. Was halten nun Sie selbst davon?

—— Ich halte davon, sie hat einen Mangel, sagte Magdalene. Sie endigt im Leeren.

—— Berzeihen Sie mir, versetzte der Hauptmann, Sie endigt mit einer Anordnung für Ihre sichere Abreise und mit einem Plan zur gänzlichen Befriedigung Ihrer Wünsche Betreffs der Bühne: Beides aus den Hilfsquellen meiner Erfahrung geschöpft und Beides auf das erste Wort von Ihnen mit allen Einzelheiten zu Ihrer sofortigen Verfügung.

—— Ich denke, ich weiß, was das für ein Wert ist, antwortete Magdalene indem sie ihn aufmerksam anschaute.

—— Sehr erfreut, Dies zu hören, wahrhaftig. Sie haben nur zu sagen: —— Hauptmann Wragge nehmen Sie sich meiner an, —— und meine Pläne sind Ihr Eigenthum auf der Stelle.

—— Ich will mir über Nacht Ihren Vorschlag überlegen, sagte nach einem augenblicklichen Nachdenken Magdalene. Sie sollen morgen früh meine Antwort haben.

Hauptmann Wragge sah ein wenig enttäuscht aus. Er hatte nicht vorausgesehen, daß diese Rückhaltung von seiner Seite ganz ruhig auch eine Rückhaltung von ihrer Seite finden werde.

—— Warum entscheiden Sie sich nicht gleich mit einem Male? stellte er ihr mit seinem einschmeichelndsten Tone vor. Sie haben nur zu erwägen....

—— Ich habe mehr zu erwägen, als Sie denken, antwortete sie. Ich habe noch etwas Anderes vor außer dem Ziel, das Sie schon kennen.

—— Darf ich fragen ...?

—— Entschuldigen Sie, Hauptmann Wragge, nein, Sie dürfen nicht fragen. Erlauben Sie mir, Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken und Ihnen gute Nacht zu wünschen. Ich bin erschöpft. Ich bedarf der Ruhe.

Noch einmal fügte sich der Hauptmann wohlweislich in ihre Laune mit der schnellen Selbstbeherrschung eines erfahrenen Mannes.

—— Erschöpft, natürlich! sagte er mitleidig. Unverzeihlich von meiner Seite, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Wir wollen unser Gespräch morgen fortsetzen. Erlauben Sie mir Ihnen ein Licht zu reichen. Mrs. Wragge!

Ermüdet von der geistigen Abmühung verfolgte Mrs. Wragge im Traume das weitere Schicksal ihres Eierkuchens. Ihr Kopf war nach der einen, ihr Leib nach der andern Seite umgesunken Sie schnarchte süß. In Zwischenräumen hob sich eine ihrer Hände in die Luft, schüttelte eine eingebildete Pfanne und fiel mit leisem Klappen wieder auf das Kochbuch in ihrem Schooße nieder. Beim Tone von ihres Gatten Stimme sprang sie auf und stellte sich vor ihn halb schlaftrunken, die Augen weit offen.

—— Hilf Miss Vanstone, sagte der Hauptmann. Und das nächste Mal, wenn Du Dich wieder auf dem Stuhle vergissest, schlaf in gerader Haltung, ärgere mich nicht dadurch, daß Du so schief umgelegt schläfst.

Mrs. Wragge machte ihre Augen noch weiter auf und sah Magdalenen an in hilfloser Verwunderung.

—— Frühstückt der Hauptmann bei Kerzenlicht? fragte sie leise. Und habe ich den Eierkuchen nicht gemacht?

Ehe die Berichtigung ihres Gatten mit einem neuen Anschreien erfolgen konnte, nahm Magdalene sie mitleidig beim Arme und führte sie aus dem Zimmer.

—— Noch etwas Anderes außer dem Ziel, das ich kenne? wiederholte Hauptmann Wragge, als er allein war. Ist nach alle Dem doch ein Herr im Hintergrunde? Wird Unheil im Finstern gebrütet, auf das ich nicht gerechnet hatte?


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