Namenlos



VI.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn-Fields,
den 6. Mai.

Hochgeehrte Frau.

Ich habe unerwarteterweise einige Nachrichten erhalten, welche von der höchsten Wichtigkeit für Ihre Interessen sind. Die Nachricht von Admiral Bartrams Tode traf heute bei mir ein. Er verschied in seinem Hause am Vierten dieses Monats.

Dies Ereigniß bringt sofort die Erwägungen zur Geltung, die ich Ihnen früher betreffs Ihrer Entdeckungen auf St. Crux vorgelegt hatte. Das klügste Verfahren, das wir nunmehr befolgen können, ist, sofort mit den Testamentsvollstreckern des verstorbenen Herrn in Briefwechsel zu treten, indem wir uns zuerst durch Vermittlung des Rechtsbeistandes des Admirals an sie wenden.

Ich habe heute an den in Frage kommenden Anwalt geschrieben. Mein Brief benachrichtigt ihn einfach, daß wir vor Kurzem von dem Vorhandensein eines Geheimartikels in Kenntniß gesetzt worden seien, der dem verstorbenen Herrn im Gebrauche des ihm durch Mr. Noël Vanstone’s Testament vermachten Vemögens die Hände gebunden habe. Mein Brief nimmt an, daß das Papier unter den Briefschaften des Admirals leicht aufgefunden werden könne, und erwähnt, daß ich der von Mrs. Noël Vanstone zugezogene Rechtsanwalt bin, welcher Mittheilungen an sie in Empfang zu nehmen habe. Meine Absicht dabei ist, daß nunmehr nach dem Geheimartikel für den nur zu wahrscheinlichen Fall, daß die Testamentsvollstrecker denselben noch nicht vorgefunden haben, eine Nachsuchung vorgenommen werde, und zwar ehe die gewöhnlichen Maßregeln getroffen werden, um das Vermögen des Admirals zu verwalten. Wir werden mit gerichtlichen Maßregeln drohen, wenn wir finden, daß wir unsere Absicht nicht erreichen. Allein ich setze nicht voraus, daß es dazu kommen wird. Admiral Bartrams Testamentsvollstrecker müssen Männer von hoher Stellung und Geburt sein, und sie werden Ihnen und sich selber in der Sache nur nützen, wenn sie den Artikel suchen.

Unter diesen Umständen werden Sie natürlich fragen: — was sind unsere Aussichten, wenn die Urkunde aufgefunden wird?

Unsere Aussichten haben eine Licht- und eine Schattenseite. Lassen Sie uns einmal zuerst die Lichtseite vornehmen.

Was wissen wir in diesem Augenblicke?

Wir wissen einmal, daß der Geheimartikel in Wirklichkeit vorhanden ist, zweitens, daß ein Vorbehalt darin ist bezüglich der Verheirathung Mr. George Bartrams in einer gegebenen Frist. Drittens, daß die Frist —— sechs Monate vom Todestage Ihres Gatten— am Dritten dieses Monats abgelaufen. Viertens, daß Mr. George Bartram —— wie ich in Ermangelung jeder sichern Mittheilung ans Ihrem Munde durch Nachforschungen herausbekommen habe, im gegenwärtigen Augenblicke noch unverheirathet ist. Es folgt daraus der Schluß: daß der im Geheimartikel vorgesehene Zweck in diesem Falle vereitelt ist.

Wenn keine anderen Vorkehrungen in dem Testamente getroffen sind, oder, sollten sie auch wirklich darin getroffen sein, sich als schließlich vereitelt erweisen, so halte ich es für unmöglich —— namentlich wenn ein Beweismittel dafür erbracht werden kann, daß der Admiral selbst das Testament als bindend für sich erklärt hat, ich halte es für unmöglich, sage ich, daß die Testamentsvollstrecker über Ihres Gatten Vermögen dergestalt verfügen können, als wenn es vor dem Gesetze ein Theil von Admiral Bartrams Nachlaßmasse wäre. Das Vermächtniß ist ausdrücklich ihm hinterlassen worden unter dem Vermerk, daß er es zu gewissen bestimmten Zwecken verwende, und diese Zwecke sind eben vereitelt worden. Was soll nun mit dem Gelde geschehen? Es war dem Admiral selbst nicht vermacht, wie der Erblasser selbst deutlich erklärt hat, und der Zweck, zu welchem es hinterlassen wurde, ist nicht aufgeführt worden, kann nicht aufgeführt werden. Ich glaube —— wenn der hier vorausgesetzte Umstand wirklich eintritt, —— daß das Geld wieder an den Erblasser zurückfällt. In diesem Falle theilt es das Gesetz, das sich desselben nothwendigerweise annimmt, in zwei gleiche heile. Die eine fällt an Mr. Noël Vanstone’s kinderlose Wittwe, in die andere Hälfte theilt sich Mr. Noël Vanstone’s nächste Verwandtschaft.

Sie werden ohne Zweifel das naheliegende Hinderniß eines Ausganges zu unseren Gunsten selbst herausfinden, wie ich denselben hier dargestellt habe. Sie werden sehen, daß der Ausgang zu seiner Verwirklichung nicht einer, sondern einer Kette von Fügungen bedarf, welche gerade so kommen müssen, wie wir sie uns selbst wünschen. Ich gebe die Stärke dieser Hindernisse gern zu, aber ich kann Ihnen zugleich sagen, daß jene eben erwähnten Fügungen durchaus nicht so unwahrscheinlich sind, als sie auf den ersten Anblick scheinen möchten.

Wir haben allen Grund, zu glauben, daß der Geheimartikel eben sowenig, als das Testament selbst aus der Feder eines ordentlichen Rechtsanwalts erflossen ist. Dies ist ein Umstand zu unseren Gunsten, das ist an sich genug, um die Richtigkeit aller oder mehrerer Punkte zu bezweifeln, die wir vielleicht noch nicht kennen. Eine andere Aussicht, auf die wir rechnen können, findet sich, vermuthe ich, in einer seltsamen Handschrift, die unter der Unterschrift der dritten Seite des Briefes stand, die Sie sahen, die Sie aber unglücklicherweise versäumten zu lesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind diese Zeilen von Admiral Bartram, und die Stelle, welche sie einnahmen, hängt gewiß mit der Annahme zusammen, daß sie die wichtige Frage berühren, ob er sich selbst durch den Geheimartikel für gebunden erachtet.

Ich will durchaus nicht falsche Hoffnungen in Ihnen erwecken, ich möchte nur Ihnen den Eindruck verschaffen, daß wir einen Rechtsstreit vor uns haben, der sich wohl der Mühe verlohnt.

Was die Schattenseite der Aussicht betrifft, so brauche ich nicht besonders dabei zu verweilen. Nach dem, was ich bereits geschrieben habe, werden Sie begreifen, daß der Beweis einer haltbaren Bedingung in dem Testamente, die wir nicht kennen, die aber der Admiral in aller Form zur Ausführung gebracht hat, oder welche von seinen Stellvertretern noch jetzt ausgeführt werden kann, für unsere Hoffnungen allerdings ein harter Schlag sein würde. Das Vermächtniß würde in diesem Falle nun zu dem von Ihrem Gatten ausgedachten Zwecke oder zu mehr Zwecken verwendet werden, und von dem Augenblicke an würden Sie keinen Anspruch weiter haben.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß, so bald ich von des verstorbenen Admirals Sachwalter höre, Sie das Ergebniß erfahren sollen.

Genehmigen Sie, verehrte Frau, die Versicherung meiner treuesten Ergebenheit als

Ihr gehorsamer

John Loscombe.


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