Namenlos
VI.
Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.
Lincoln’s Inn, den 15. November.
(Vertrauliche Mittheilung)
Verehrte Frau!
Ich bedaure, daß das Andauern Ihres Unwohlseins sie verhindert, mich zu besuchen. In Gemäßheit Ihres Ersuchens gehe ich nun daran, Ihnen schriftlich mitzutheilen, was ich Ihnen lieber mündlich mitgetheilt hätte. Betrachten Sie diesen Brief als durchaus vertraulicher Natur, nur für Sie und mich bestimmt und berechnet.
Ich lege Ihnen auf Ihren Wunsch eine Abschrift des von Ihrem verstorbenen Gatten am Dritten dies es, Monats gemachten Testaments bei. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Urschrift echt ist. Ich legte der Form halber Verwahrung ein gegen den Sachwalter des Admiral Bartram, welcher auf Villa Baliol sich als maßgebende Persönlichkeit benahm. Aber er trat dennoch als solcher auf, indem er sich als der gerichtliche Vertreter des einzigen Vollstreckers des zweiten Testamentes auswies. Ich muß gestehen, daß ich an seiner Stelle ganz ebenso verfahren hätte.
Es kommt nun die ernste Frage: Was können wir in unserem Interesse am Besten thun? Das Testament, das unterm dreißigsten September l. J. von mir notariell aufgesetzt wurde, wird jetzt durch das zweite und spätere Testament, das am dritten November gemacht wurde, aufgehoben und widerrufen. Können wir diese Urkunde ausstoßen?
Angesichts des neuen Testaments zweifle ich an der Möglichkeit, dasselbe umzustoßen. Es ist ohne Zweifel nicht ordnungsmäßig abgefaßt, allein es ist mit Datum, Unterschrift und Zeugen versehen, wie es das Gesetz vorschreibt, und die ganz einfachen und unumwundenen Anordnungen, die es enthält, sind in keinem Betracht, der mir auffällig wäre, geeignet, Handhaben für den Angriff zu bieten.
Wenn dies der Fall ist, können wir das Testament angreifen etwa darauf hin, daß es zu einer Zeit aufgesetzt wurde, als der Erblasser nicht in der gehörigen Verfassung war, um über sein Eigenthum verfügen zu können? Oder wo der Erblasser einem ungesetzlichen widrigen Einflusse unterlag?
Im ersten dieser Fälle würde die Aussage des Arztes uns ein Hinderniß sein. Wir können unmöglich behaupten, daß vorhergehendes Unwohlsein den Geist des Erblassers schwach gemacht habe. Es erhellt, daß er in Folge eines Herzschlages eines plötzlichen Todes starb, wie die Aerzte schon längst vorausgesagt hatten. Er war an dem Tage seines Todes wie gewöhnlich außen im Garten und ging spazieren; er genoß sein ordentliches Mittagsessen; keines von den Leuten in seinen Diensten bemerkte eine Veränderung an ihm. Er war ein wenig gereizter gegen sie, als gewöhnlich; aber Das war auch Alles. Es ist unmöglich, seine Geistesverfassung anzugreifen und so weit ist es nicht statthaft, einen Proceß anzustrengen.
Können wir behaupten, daß er unter gesetzlichem Einflusse von Mrs. Lecount handelte?
Auch hier stellen sich uns ernste Schwierigkeiten entgegen, um dies Verfahren einzuschlagen. Wir können zum Beispiel nicht behaupten, daß Mrs. Lecount in dem Testament eine Stelle eingenommen habe, die ihr nicht von Rechtswegen zukomme. Sie hat pfiffig ihr eigenes Interesse nicht nur auf Das beschränkt, was ihr von Rechtswegen zukommt, sondern so gar einzig und allein auf Das, was der verstorbene Mr. Michael Vanstone selbst die Absicht hatte, ihr seinerseits zu vermachen. —— Wenn ich über diesen Gegenstand befragt worden wäre, so müßte ich wohl oder übel anerkennen, daß ich selbst ihn diese Absicht aussprechen hörte. Es ist nur die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich ihn diese Ansicht mehr denn einmal habe aussprechen hören. Es ist also kein Angriffspunkt in Mrs. Lecount’s Vermächtniß, und dann ist auch keiner in der Wahl des Testamentsvollstreckers, die Ihr verstorbener Gemahl getroffen hat. Er hat den ältesten und zuverlässigsten Freund, den er hienieden hatte, gewählt, eine kluge und sehr nahe liegende Wahl.
Es bleibt nur noch eine Erwägung, —— die wichtigste, zu welcher ich noch gekommen bin und die ich daher bis zuletzt aufgespart habe.
Am dreißigsten September macht der Erblasser ein Testament, in welchem er seine Wittwe als einzige Vollstreckerin einsetzt mit einem Vermächtniß von achtzig Tausend Pfund Sterling. Am dritten November darauf widerruft er ausdrücklich dies Testament und hinterläßt an Stelle desselben ein anderes, in welchem seine Wittwe auch nicht ein einziges Mal erwähnt ist und in welchem er den ganzen Rest seines Vermögens nach Abzug eines vergleichsweise unbedeutenden Vermächtnisses einem Freunde vererbt.
Es bleibt durchaus Ihre Sache zu sagen, was für ein handhafter Grund vorhanden sein oder nicht vorhanden sein kann, um ein solches außerordentliches Verfahren zu erklären. Wenn kein Grund gefunden werden kann —— und ich selber kenne keinen —— so denke ich, daß wir hier einen Punkt haben, der unsere sorgfältigste Erwägung verdient; denn es ist ein solcher, welcher uns Handhaben zum Angriff bieten dürfte. Verstehen Sie mich recht, daß ich mich jetzt lediglich als Sachwalter, der genöthigt ist, alle Möglichkeiten ins Dinge zu fassen, an Sie wende. Ich habe kein Verlangen, in Ihre geheimsten Angelegenheiten einzudringen, ich habe kein Verlangen, ein Wort niederzuschreiben, das als eine Art von halben Vorwurf gegen Sie selbst gedeutet werden könnte.
Wenn Sie mir erklärten, daß, so weit Sie wüßten, Ihr Gatte Sie nur aus einer Laune aus seinem Testamente strich, ohne einen nachweisbaren Grund oder Anlaß und ohne andere fügliche Erklärung dieses seiner Handlungsweise, als daß er in dieser Sache ganz unter dem Einflusse von Mrs. Lecount handelte: —— dann will ich sofort die Ansicht des Gerichtshofes einholen betreffs der Angemessenheit, auf diesen Grund hin das Testament anzufechten.
Wenn Sie aber andernfalls mir sagen, daß es Gründe gäbe, die Sie selber kennen, ich aber nicht kenne, um nicht das Verfahren einzuschlagen, das ich angerathen habe, so will ich diese Mittheilung hinnehmen, ohne Sie fürder zu behelligen, Sich deutlicher auszudrücken, den Fall ausgenommen Sie wünschten es selbst.
Im letzteren Falle will ich wieder an Sie schreiben; denn ich werde dann über das Testament noch Etwas zu sagen haben, was Sie höchlich verwundern wird.
Ihr getreuer
John Loscombe.
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