Armadale



Sechster Band

Erstes Kapitel.

»Wir gingen nach San-Carlo Selbst. in einer so einfachen Sache, wie das Besorgen einer Theaterloge, zeigte sich Armadales Einfalt. Er hatte die Oper mit dem Schauspiele verwechselt und eine Loge dicht an der Bühne genommen, im Wahne, daß bei einer musikalischen Ausführung die Hauptsache sei, die Sänger und Sängerinnen so nahe und deutlich wie möglich zu sehen! Zum Glücke für unsere Ohren sind Bellini’s liebliche Melodien größtentheils sanft und zart instrumentiert, sonst hätte uns das Orchester taub machen können.

Anfangs saß ich hinten in der Loge, dem Publikum ganz aus dem Gesicht; denn ich konnte nicht sicher sein, daß nicht zufällig einer meiner alten Bekannten von meinem frühem Aufenthalt hier im Theater war. Allmälig aber lockte mich die süße Musik aus meiner Zurückgezogenheit heraus. Ich war so entzückt und hingerissen, daß ich, ohne es zu wissen, mich verbeugte und auf die Bühne sah.

Eine Entdeckung, die ich machte und bei der mir buchstäblich das Blut in den Adern erstarrte, ließ mich erst meine Unvorsichtigkeit gewahr werden. Einer der Sänger im Chore der Druiden sah mich an, während er unter den andern sang. Langes weißes Haar verbarg seinen Kopf und ein wallender weißer Bart bedeckte, dem Charakter angemessen, den unteren Theil seines Gesichts vollkommen. Die Augen aber, die mich anblickten, waren die Augen des einen Mannes auf Erden, welche wiederzusehen ich mich am allermeisten fürchten mußte —— Manuel’s.

Hätte ich nicht mein Riechfläschchen bei mir gehabt, so glaube ich, wäre ich ohnmächtig geworden. So zog ich mich wieder in den Schatten des Hintergrundes zurück. Selbst Armadale bemerkte die Veränderung, die mit mir vorgegangen war; er wie Mitwinter fragten, ob ich unwohl sei. Ich sagte, die Hitze sei mir lästig, ich hoffe indeß alsbald mich wieder besser zu fühlen, und suchte allen meinen Muth zusammenzunehmen. Es gelang mir auch, meiner so weit wieder mächtig zu werden, daß ich, ohne mich selbst zu zeigen, von neuem auf die Bühne sehen konnte, als der Chor wieder auftrat. Da war der Mann wieder. Jedoch zu meiner unsäglichen Erleichterung sah er nicht ein einziges Mal wieder nach unserer Loge. Diese willkommene Gleichgültigkeit von seiner Seite trug dazu bei, mir die Beruhigung zu geben, daß ich eine merkwürdige zufällige Aehnlichkeit, nichts mehr, gesehen hätte, und nach gelassener Erwägung des Ganzen blieb ich auch bei diesem Schlusse; allein mein Gemüth würde doch viel ruhiger sein, als es ist, wenn ich das Gesicht des Mannes ohne die Bühnenmummerei, welches jede genaue Untersuchung ausschloß, hätte vor mir haben können.

Als nach dem ersten Acte der Vorhang fiel, kam der albernen italienischen Mode gemäß ein langweiliges italienisches Ballett als Zwischenspiel an die Reihe. Obschon ich nach und nach den ersten Schrecken überwunden hatte, war meist Bestürzung doch zu ernster Natur gewesen, als daß ich mich im Theater hätte behaglich fühlen können. Ich sah schon alles mögliche Unglück mir bevorstehen, und als Midwinter und Armadale von neuem nach meinem Befinden fragten, sagte ich ihnen, ich fühle mich nicht wohl genug, um bis zum Schlusse der Vorstellung im Theater bleiben zu können.

Am Portale des Theaters wollte uns Armadale gute Nacht sagen, doch Midwinter, der sich offenbar vor einem allein mit mir zuzubringenden Abende fürchtete, bat ihn zum Nachtessen, wenn ich nichts dawider hätte. Ich sprach die nöthigen Höflichkeitsphrasen, und alle drei fuhren wir zusammen nach Hause.

Zehn Minuten einsamer Ruhe in meinem Zimmer zusammen mit etwas Eau de cologne und frischem Wasser stellten mich wieder her. Ich Folgte dann den Männern zu Tische. Sie nahmen meine Entschuldigungen, sie der Oper entführt zu haben, mit der galanten Versicherung aus, daß damit keiner von ihnen nur das mindeste Vergnügen, geopfert hätte. Midwinter erklärte, wie er zu vollständig erschöpft sei, um sich für etwas Anderes zu interessieren, als für die beiden großen Wohlthaten, welche das Theater nicht bieten könne, Ruhe und frische Luft. Armadale seinerseits sagte mit dem zur Verzweiflung bringenden Stolze der Engländer auf seine eigene Dummheit, wo es sich um Gegenstände der Kunst handelt, er habe aus der Vorstellung nicht klug werden können. Ich, setzte er gutmüthig genug hinzu, habe ja am meisten, entbehren müssen, denn ich verstehe fremde Musik und könne sie genießen, wie die Damen in der Regel. Seine »süße kleine Neelie ——«

Nach dem Vorfall im Theater war ich nicht in der Stimmung, mich mit seiner »süßen Neelie« quälen zu lassen. War es der Zustand meiner Nerven oder stieg mir die Bau de Cologne zu Kopfe, die bloße Erwähnung des Mädchens brachte mich in Hitze. Ich suchte Armadales Aufmerksamkeit auf das Abendessen zu lenken; er antwortete sehr höflich, allein er hatte keinen Appetit mehr. Ich bot ihm Wein an, Landwein, denn andern vorzusetzen gestattet uns unsere Armuth nicht. Er dankte abermals. Der fremde Wein sei nicht viel mehr nach seinem Geschmack als die fremde Musik, mir zu Liebe wolle er indeß noch ein Glas trinken, und er that’s und trank meine Gesundheit nach altmodischer Männer, mit den besten Wünschen für die glückliche Zeit, wo wir alle wieder in Thorpe-Ambrose, zusammen sein würden und mich eine Herrin in seinem Hause willkommen heißen könne.

War er wahnsinnig, daß er in dieser Weise fortfuhr? Nein; sein Gesicht antwortete für ihn er lebte vielmehr in der Einbildung, daß er sich mir ganz besonders angenehm mache.

Ich sah Midwinter an. Hätte er seinerseits mich angeblickt, so hätte er vielleicht Grund gefunden, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Aber er saß schweigend in seinem Stuhle, reizbar und erschöpft, in stillen Gedanken und die Augen auf den Boden geheftet.

Ich stand auf und trat— ans Fenster. Noch immer, ohne daß ihm das Bewußtsein seines Ungeschicks und seiner Langweiligkeit aufdämmerte, folgte mir Armadale. Wäre ich stark genug gewesen, ihn zum Fenster hinaus ins Meer zu werfen, gewiß hätte ich’s in diesem Augenblicke gethan. Da ich dazu nicht stark genug war, sah ihn unverwandt nachdem jenseitigen Ufer der Bucht und gab ihm einen Wink, den derbsten und gröbsten, den man sich denken kann, daß er gehen möchte.

»Ein wunder lieblicher Abend zum Spazierengehen«, sagte ich, »wenn Sie Lust haben, zu Fuße in Ihr Hotel heimzukehren?«

Ich glaube kaum, daß er mich hörte. Jedenfalls machten meine Worte keinen Eindruck auf ihn. Er stand und starrte sentintental in den Mondschein hinaus und —— ich finde wirklich kein anderes Wort dafür —— blies einen Seufzer heraus. Ich ahnte, was kommen würde, wenn ich ihm nicht den Mund stopfte, dadurch daß ich zuerst wieder sprach.

»Bei aller Ihrer Vorliebe für England«, hob ich an, »müssen Sie doch zugeben, daß wir daheim solchen Mondschein nicht haben.«

Er sah mich geistesabwesend an und blies einen neuen Seufzer heraus.

»Ich mischte wissen, ob heute in England, so ein schöner Abend ist wie hier«, entgegnete er. »Ob wohl mein liebes kleines Mädchen zu Hause auch den Mondschein betrachtet und an mich denkt?«

Länger konnte ich’s nun nicht mehr aushalten. Ich fiel endlich über ihn her.

»Gott im Himmel, Mr. Armadale«, rief ich, »ist denn in der kleinen Welt »in welcher Sie leben, nur ein Gegenstand der Erwähnung werth? Ihrer Miß Milroy bin ich nachgerade herzlich satt. Bitte, sprechen Sie von etwas Anderem.«

Sein großes, breites, dummes Gesicht erröthete bis an die Wurzeln seines häßlichen gelben Haares.

»Verzeihen Sie«, stammelte er mit einer gewissen närrischen Verwunderung. »Ich konnte, nicht annehmen ———« stockte er verwirrt und sah von mir zu Midwinter hinüber. Ich verstand, was der Blick sagen sollte. »Ich konnte nicht annehmen, daß sie auf Miß Milroy eifersüchtig ist, nachdem sie Dich geheirathet hat!« das würde er Midwinter gesagt haben, wenn ich die Beiden allein zusammen gelassen hätte.

Midwinter hatte uns gehört. Bevor ich von neuem das Wort nehmen, bevor Allan weiter sprechen konnte, beendete er den Satz seines Freundes in einem Tone, welchen ich jetzt zum ersten Male vernahm, und mit einem Blicke, den ich zum ersten Male an ihm gewahr wurde.

»Du konntest nicht annehmen, Allan«, sagte er, »daß eine Dame so leicht sich zu übler Stimmung reizen läßt.«

Das erste bittere, ironische Wort, der erste böse Blick der Verachtung, die mir von ihm zu Theil geworden sind! Und Armadale schuld daran!

Auf der Stelle schwand mein Zorn. Ein anderes Gefühl trat an seine Stelle, das mich im Augenblicke alle meine Kraft und Festigkeit wiedergewinnen und mich schweigend aus dem Zimmer gehen ließ.

Ich setzte mich allein in meinem Schlafzimmer hin und hatte ein paar Minuten lang meine stillen Gedanken, die ich selbst auf diesen geheimen Blättern nicht einmal in Worte fassen mag. Ich stand auf und schloß etwas auf —— Niemand geht es an, was —— dann ging ich an den Tisch neben Midwinter’s Bett und nahm etwas zur Hand —— gleichgültig, was es war. Zuletzt, ehe ich das Zimmer wieder verließ, sah ich nach meiner Uhr. Es war halb elf, Armadale’s gewöhnliche Aufbruchszeit. Sofort fand ich mich wieder bei den beiden Männern ein.

Gutgelaunt trat ich zu Armadale heran und sagte zu ihm ——

Nein, nach nochmaliger Ueberlegung will ich nicht niederschreiben, was ich ihm sagte oder was ich darauf vornahm. Ich werde über das, was im Laufe der nächsten Stunde, zwischen halb elf und. halb zwölf, geschah, hinweggehen und meine Geschichte erst von dem Augenblicke an wieder aufnehmen, wo uns Armadale verlassen hatte. Kann ich sagen, was zwischen mir und Midwinter stattfand, sobald uns unser Gast den Rücken gekehrt hatte? Warum in diesem Falle nicht über das Geschehene hinweggehen so gut wie in jenem? Warum mich durch Niederschreiben des Vorgefallenen aufregen? Ich weiß es nicht! Warum führe ich überhaupt ein Tagebuch? Warum sind wir nicht in Allem, was wir thun, vernünftig? Warum bin ich nicht jederzeit auf meiner Hut? Warum niemals mir selbst ungetreu wie der schlechte Charakter in einer Novelle? Warum? Warum? Warum?

Es ist mir einerlei, warum! Ich muß niederschreiben, was sich zwischen mir und Midwinter heute Abend begeben hat, weil ich muß. Das ist ein Grund, den Niemand erklären kann, ich selbst nicht.

Es war halb zwölf. Armadale war fort. Ich hatte meinen Morgenrock angezogen und war eben daran, mein Haar für die Nacht zu arrangieren, als ich durch ein Klopfen an der Thür überrascht wurde und Midwinter eintrat.

Er war zum Erschrecken blaß. Seine Augen sahen mich mit einer in ihnen lodernden fürchterlichen Verzweiflung an. Er antwortete nicht, als ich ihm meine Verwunderung ausdrückte, daß er so viel früher als gewöhnlich komme; selbst als ich ihn fragte, wollte er mir nicht einmal sagen, ob er unwohl sei. Gebieterisch nach dem Stuhle zeigend, auf welchem ich mich bei seinem Eintritte erhoben hatte, ersuchte er mich, wieder Platz zu nehmen, und fügte dann, nach einem Momente des Schweigens, die Worte hinzu: »Ich habe etwas Ernstes mit Dir zu besprechen.«

Ich dachte an dass, was ich gethan; nein, an das, was ich zu thun versucht hatte in jener Zwischenzeit zwischen halb elf und halb zwölf, die ich in meinem Tagebuche unerwähnt gelassen habe, und eine Todesangst, wie ich sie nie empfunden hatte, überkam mich. Ohne Midwinter anzureden und ohne ihn anzusehen, setzte ich mich, wie mir geboten war, wieder hin.

Er schritt einmal im Zimmer auf und ab und blieb dann bei mir stehen.

»Wenn Allan morgen kommt«, begann er, »und wenn Du ihn siehst ——«

Seine Stimme bebte und er sagte nichts weiter. Ein entsetzlicher Kummer nagte an seinem Herzen, den er zu bemeistern suchte. Aber es gibt Zeiten, wo sein Wille eisern ist. Er machte einen neuen Gang durch das Zimmer und kämpfte den Schmerz nieder. Dann stellte er sich wieder zu mir hin.

»Wenn Allan morgen herkommt«, fuhr er fort, »so laß ihn in mein Zimmer kommen, falls er mich zu sprechen wünscht. Ich werde ihm sagen, daß es mir unmöglich ist, die Arbeit, welche ich gerade vorhabe, so rasch, wie ich gehofft, zu vollenden, und daß er sich deshalb? einrichten muß, ohne Beistand meinerseits sich eine Mannschaft für die Yacht zu verschaffen. Will er in seiner Enttäuschung seine Zuflucht zu Dir nehmen, so mache ihm keine Hoffnung, daß ich mich frei machen kann, auch wenn er wartet. Bestimme ihn, die erste beste Hilfe anzunehmen, die er von Fremden erlangen kann, und ohne weiteren Verzug an die Bemannung seines Schiffs zu gehen. Je mehr er Beschäftigung findet, die ihn von uns fern hält, und je weniger Du ihn zum Bleiben aufforderst, wenn er kommt, desto angenehmer wird es mir sein. Vergiß das nicht und vergiß auch die eine letzte Weisung nicht, welche ich Dir zu ertheilen habe. Wenn das Fahrzeug segelfertig ist und wenn Allan uns einladet, ihn auf der Fahrt zu begleiten, so ist es mein Wunsch, daß Du diese seine Einladung unbedingt ausschlägst. Er wird Dich zu einem andern Entschluß zu bringen suchen, denn natürlich werde ich meinerseits ablehnen, Dich in diesem fremden Hause und in diesem fremden Lande allein zu lassen. Einerlei, was er erwidert, laß Dich durch nichts von Deinem Entschlusse abwendig machen. Lehne es positiv und endgültig ab! Weigere Dich, ich bestehe darauf, den Fuß auf die neue Yacht zu setzen!«

Er schloß ruhig und fest, ohne Beben seiner Stimme und ohne Zeichen von Zaudern oder Nachgeben in seinen Zügen. Das Gefühl der Befremdung, das ich sonst wohl bei den wunderlichen Worten empfunden hätte, die er an mich gerichtet, ging in dem Gefühle der Erleichterung auf, welche sie mit gegeben hatten. Die Angst vor jenen andern Worten, die ich von ihm zu hören erwartete, schwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Ich konnte ihn wieder ansehen, konnte wieder zu ihm sprechen.

»Du kannst Dich darauf verlassen«, antwortete ich, »daß ich genau thun werde, was Du mir vorschreibst. Muß ich Dir aber blind gehorchen, oder darf ich den Grund der außerordentlichen Weisungen erfahren, die Du mir ertheilt hast?«

Sein Gesicht umdüsterte sich und er setzte sich an der andern Seite; meines Toilettentisches mit einem schweren Seufzer nieder.

»Du sollst den Grund erfahren«, sagte er, »wenn Du es wünschest.« Er hielt einen Augenblick inne und sann nach; »Du hast ein Recht, den Grund zu vernehmen«, begann, er wieder, »denn Du selbst kommst dabei ins Spiel.« Er hielt abermals inne und fuhr dann fort: »Ich kann Dir die seltsame Bitte, die ich so eben ausgesprochen habe, nur in einer Weise erklären«, sprach er traurig; ich muß Dich an das, erinnern, was da drüben im Nebenzimmer geschah, ehe uns Allan verließ.«

Er sah mich mit einem eigenthümlichen Ausdrucke an. Anfangs kam mir’s vor, als bedauere er mich. Dann schien mir’s Grausen zu sein, was ich ihm einflößte. Von neuem begann ich mich zu ängstigen, während ich schweigend seine nächsten Worte erwartete.

»Ich weiß, daß ich in der letzter Zeit zu angestrengt gearbeitet habe«, sprach er weiter, »und daß meine Nerven in trauriger Abspannung sind. In dem Zustande, in dem ich mich befinde, kann ich das Geschehene unbewußt leicht falsch verstanden oder nicht recht beobachtet haben. Du wirst mir darum einen Gefallen erzeigen, wenn Du mein Gedächtniß durch das Deinige unterstützen und auffrischen willst. Hat meine Phantasie etwas übertrieben, läßt mich mein Gedächtniß irgendwie im Stiche, dann wirft Du mir es sagen und meiner Erzählung Einhalt thun.«

Ich beherrschte mich so weit, um zu fragen, welche Umstände er meine und inwiefern ich dabei ins Spiel komme.

»Folgendermaßen berührt Dich die Sache«, antwortete er. »Die Umstände, auf welche ich mich beziehe, begannen, als Du, wie mir dünkte, in sehr unüberlegter und sehr ungeduldiger Weise zu Allan von Miß Milroy sprachst. Wie ich fürchte, drückte ich mich meinerseits ebenso heftig aus, und ich bitte, verzeihe mir, was ich in der Aufregung des Moments Dir sagte. Du gingst aus dem Zimmer. Nach kurzer Abwesenheit kamst Du wieder und machtest Allan Deine ganz und gar schicklichen Entschuldigungen wegen Deines Benehmens, die er mit gewohnter Güte und Sanftmuth aufnahm. Während dies vorging, standest Du und Allan am Eßtische und der letztere kam wieder auf den neapolitanischen Wein zu sprechen, von welchem Ihr Euch schon vorher unterhalten hattet. Mit der Zeit, sagte er, würde er ihn trinken lernen, und bat noch um ein Glas von dem Weine, der auf dem Tische stand. Ist es soweit richtig?«

Die Worte erstarben mir fast aus den Lippen, aber ich zwang sie heraus und erwiderte ihm, daß bis dahin Alles richtig sei.

»Du nahmst Allan die Flasche aus der Hand«, fuhr er fort, »und sagtest ihm freundlich: »Ich weiß, daß Sie eigentlich den Wein nicht mögen, Mr. Armadale. Lassen Sie mich Ihnen etwas zurecht machen, was vielleicht mehr nach Ihrem Geschmacke ist. Ich habe ein ganz besonderes Recept zu Limonade. Darf ich es für Sie versuchen?« Genau in diesen Worten machtest Du ihm Deinen Vorschlag und er nahm ihn an. Bat er Dich nicht auch um Erlaubniß, zusehen zu dürfen, um zu lernen, wie die Limonade bereitet würde? Und sagtest Du ihm nicht, daß dies Dich genierte und daß Du ihm lieber das Recept abschreiben wolltest, wenn er es gern haben wolle?«

Diesmal fand ich wirklich keine Worte. Ich konnte nur mit dem Kopfe nicken. Midwinter sprach weiter.

»Allan lachte und. trat an das Fenster, um auf den Golf hinauszublicken, Ich ging mit ihm. Nach einer Weile warf er scherzend hin, der bloße Ton der Flüssigkeiten, welche Du ausgössest, mache ihn durstig. Bei diesen Worten wandte ich mich vom Fenster und kam zu Dir heran. »Die Limonade braucht lange Zeit«, sagte ich. Als ich wieder dem Fenster zuschreiten wollte, hieltest Du mich am Arme fest und reichtest mir das bis zum Rande gefüllte Kelchglas. Im selben Augenblicke verließ Allan seinen Platz am Fenster und ich gab ihm das Glas. Ist das vielleicht nicht richtig?«

Das ungestüme Klopfen meines Herzens erstickte mich beinahe. Ich konnte nur. mit dem Kopfe schütteln —— mehr war ich nicht im Stande.

»Ich sah, wie Allan das Glas an seinen Mund setzte. Sahst Du es auch? Den Augenblick darauf sah ich, wie er erbleichte. Bemerktest Du es auch? Ich sah, wie ihm das Glas aus der Hand fiel, sah, wie er wankte, und fing ihn in meinen Armen auf, ehe er zu Boden« stürzte. Ist das Alles wahr? Um Gotteswillen strenge Dein Gedächtniß an und sage mir: ist das Alles wahr?«

Das Klopfen meines Herzens schien einen Augenblick nachzulassen. Im nächsten Moment durchzuckte mich’s wie Feuer, als sollte ich wahnsinnig werden. Ohne an die Folgen zu denken, sprang ich wüthend auf, verzweifelt genug, um etwas zu sagen.

»Deine Fragen sind Beleidigung! Deine Blicke sind Beleidigung!« brach ich los. »Denkst Du, ich hätte ihn vergiften wollen?«

Unwillkürlich kamen mir die Worte über die Lippen. »Es waren Worte, die ein Weib in meiner Lage am allerletzten hätte sprechen sollen. Und dennoch sprach ich sie!

Erschrocken stand er aus und gab mir ein Riechfläschchen. »Pst, Pst!« sagte er. »Auch Du bist abgespannt, auch Du nervös von Allem, was heute Abend passiert ist. Du sprichst toll und entsetzlich. Guter Gott! Ist’s denn möglich, daß Du mich so ganz und gar mißverstanden hast? Fasse Dich, bitte, fasse Dich!«

Er hätte ebenso gut einem wilden Thiere sagen können, daß es sich fassen solle. War ich toll genug, jene Worte zu sprechen, so war ich nicht minder toll genug, auf das Thema von der Limonade zurückzukommen, trotz seiner flehentlichen Bitten, still zu sein.

»Ich habe Dir gesagt, was ich in das Glas that im Augenblicke, als Mr. Armadale ohnmächtig wurde«, fuhr ich fort, erpicht darauf, mich vertheidigen zu wollen, wo Niemand mich angriff. »Ich habe Dir gesagt, daß ich die Flasche Branntwein nahm, die an Deinem Bette steht, und etwas daraus in die Limonade goß. Wie habe ich wissen können, daß er einen nervösen Widerwillen vor Geruch und Geschmack von Branntwein hat? Sagte er mir nicht selbst, als er wieder zu sich kam: »Ich bin schuld daran; ich hätte Sie warnen sollen, Branntwein dazu zu nehmen«? Hat er Dich nicht selbst an die Zeit erinnert, wo er mit Dir auf der Insel Man war und der Doctor in seiner Unschuld ganz denselben Mißgriff machte, den ich heute Abend beging?«

Ich legte einen großen Nachdruck auf meine Unschuld und auch mit einigem Rechte. Wie ich auch sonst sein mag, ich darf mich rühmen, keine Heuchlerin zu sein. Soweit Branntwein in Frage kommt, war ich unschuldig Ich hatte ihn in die Limonade gethan, in reiner Unkenntniß von Armadale’s seltsamer Idiosynkrasie, um den Geschmack von etwas Anderem zu maskieren! Worauf ich mir außerdem etwas einbilde, das ist, daß ich nie von meinem Ziele abschweife.

Midwinter sah mich einen Augenblick an, als dächte er, ich sei nicht mehr bei Sinnen. Dann kam er zu mir herüber und beugte sich über mich.

»Kann Dich nicht beruhigen, daß Du meine Motive ganz falsch auslegst«, sagte er, »und daß mir nicht einfällt, Dir in der Sache Vorwürfe zu machen, so lies das da!«

Er zog ein Papier aus der Brusttasche seines Rocks und entfaltete es vor meinen Augen. Es war die Erzählung von Armadale’s Traum.

Augenblicklich war mir die ganze Last von der Brust genommen. Ich fühlte mich wieder Herrin meiner selbst und verstand ihn endlich.

»Weißt Du, was das ist?« fragte er. »Entsinnst Du Dich noch dessen, was ich Dir in Thorpe-Ambrose über Allan’s Traum gesagt habe? Ich sagte Dir damals, daß zwei der drei Visionen sich bereits erfüllt hätten. Jetzt sage ich Dir, daß in diesem Hause heute Abend auch die dritte Vision in Erfüllung gegangen ist.«

Er schlug die Blätter des Manuscripts um und wies auf die Zeilen, welche ich lesen sollte.

Ich las die folgenden oder mindestens annähernd die folgenden Worte, wie sie Midwinter aus Allan’s Munde vernommen und niedergeschrieben hatte:

»Zum dritten Male that sich die Finsternis auf und zeigte mir den Schatten des Mannes und den Schatten des Weibes bei einander. Der erstere war der vorderste, das Weib stand im Hintergrunde. Von der Stelle, wo er stand, kam ein Ton, gleich dem leisen Ausgießen einer Flüssigkeit. Ich sah, wie der Schatten den des Mannes mit einer Hand berührte und ihm mit der andern ein Glas reichte. Er nahm das Glas und gab es mir. Im Augenblicke, wo ich es an die Lippen setzen wollte, überkam mich eine tiefe Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, waren die Schatten verschwunden und das Traumgesicht zerronnen.«

Für den Moment war ich von dem wunderbaren Zusammentreffen so bestürzt wie Midwinter selbst.

Er legte die eine Hand auf das offene Manuscript und faßte mich mit der andern fest am Arme.

»Jetzt verstehst Du, warum ich zu Dir gekommen bin?« fragte er. »Jetzt weißt Du, daß die letzte Hoffnung, an welche ich mich anklammerte, die Hoffnung war, Deine Erinnerung der Ereignisse dieses Abends möchte mein Gedächtniß Lügen strafen? Jetzt weißt Du, weshalb ich Allan nicht behilflich sein will, warum ich nicht mit ihm in See gehen mag, warum ich lüge und complotire und Dich zu Lügen und Complots anstifte, um meinen liebsten und besten Freund von unserm Hause fern zu halten?«

»Hast Du Mr. Brocks Brief vergessen?« fragte ich.

Er schlug leidenschaftlich auf das offene Manuscript. »Hätte Mr. Brock erlebt, was wir heute Abend gesehen haben, er würde auch empfinden, was ich empfinde, würde sagen, was ich sage!« Seine Stimme sank zu einem geheimnißvollen Flüstern herab und seine großen schwarzen Augen funkelten, als er diese Antwort gegeben hatte. »Dreimal warnten die Schatten Allan in seinem Traume und dreimal haben nachher die Schatten in Dir und in mir Körper gewonnen«, fuhr er fort. »Du und Niemand anders stand an des Weibes Stelle am Teiche. Ich und kein Anderer war an Stelle des Mannes am Fenster. Und Du und ich zusammen standen wieder an der Beiden Stelle, welche die letzte Vision des Traums gezeigt hatte. Zu dem Zwecke ist der jammervolle Tag heraufgedämmert, wo wir uns beide zuerst erblickt haben. Zu dem Zwecke hat mich der Einfluß zu Dir gezogen, als mich mein Schutzengel vor Dir warnte und mich Deinen Anblick fliehen hieß. Auf unser beider Leben ruht ein Fluch! An unsere Fußtapfen heftet sich das Verhängniß! Allan’s ganze Zukunft hängt davon ab, daß er sofort und für immer von uns scheidet. Treibe ihn hinweg von der Stätte, wo wir wohnen, und aus der Luft, welche wir athmen. Jage ihn zu Fremden; die Schlechtesten und Gottlosesten unter ihnen werden ihm minder zum Unheile gereichen als wir! Laß seine Yacht ohne uns segeln, und wenn er uns auf seinen Knieen anfleht, ihn zu begleiten, und sage ihm, wie ich ihn in einer andern Welt lieben will, wo die Bösen aufhören, Uebles zu thun, und die Müden Ruhe finden!«

Sein Schmerz übermannte ihn, seine Stimme ward zu einem Schluchzen, als er diese letzten Worte sprach. Er nahm die Erzählung des Traums vom Tische und verließ mich so jählings, wie er hereingekommen war.

Als ich ihn die Thür schließen hörte, die ihn von mir schied, dachte ich an das zurück, was er mir über mich selbst gesagt hatte. Ueber dem Gedanken an den jammervollen Tag, wo wir uns zuerst gesehen hätten, und an den Schutzengel, der ihn vor mir gewarnt, vergaß ich alles Andere. Was ich empfand, ist gleichgültig. Ich würde es nicht gestehen, selbst wenn ich es der treuesten Freundin anvertrauen könnte. Wer fragt nach dem Elend eines Weibes, wie ich, bin? Wer glaubt daran? Ohnedies sprach er unter dem Einfluß des wahnsinnigen Aberglaubens, welcher ihn ganz in Beschlag genommen hat. Für ihn gibt es alle mögliche Entschuldigungen, für mich gibt es keine. Ich kann mir nicht helfen, ich muß ihm gut sein trotz alledem, ich muß die Folgen auf mich nehmen und darunter leiden. Es geschieht mir recht, daß ich leide, ich verdiene Niemandes Liebe und Mitleid. Gott im Himmel, wie thöricht ich bin! Und wie unnatürlich das Alles erscheinen würde, stände es in einem Romane geschrieben!

Es hat eins geschlagen. Noch immer geht Midwinter ruhelos in seinem Zimmer auf und nieder.

Wahrscheinlich ist er in Gedanken versunken. Nun, ich bin auch in Gedanken. Was soll ich zunächst nun beginnen? Ich werde warten und zusehen. Manchmal passieren seltsame Dinge, und die Ereignisse rechtfertigen vielleicht den lieben Mann im nächsten Zimmer, der den Tag verflucht, wo er mich zuerst erblickte. Vielleicht verflucht er ihn noch aus ganz andern Gründen, als er es jetzt thut. Bin ich das Weib, das der Traum bezeichnet, so wird mir in kurzem eine andere Versuchung entgegentreten, und dann wird kein Branntwein in Armadales Limonade sein, wenn ich sie ihm zum zweiten Male mische.

Den 24. October. Erst zwölf Stunden sind verflossen, seit ich das letzte Wort in mein Tagebuch eintrug, und schon ist jene andere Versuchung gekommen und hat mich überwunden.

Diesmal hatte ich keine Alternative. Sofortige Bloßstellung und augenblicklicher Untergang starrten mir in das Gesicht, ich hatte keine Wahl, ich mußte nachgeben, wollte ich mich selbst schützen. In noch deutlichem Worten, es war keine zufällige Aehnlichkeit, welche mich gestern Abend im Theater erschreckte. Der Opernchorsänger war Manuel selbst!

Kaum hatte Midwinter zehn Minuten unser Wohnzimmer verlassen, um sich in seinem Kabinet an die Arbeit zu begeben, als unsere Hausfrau mit einem schmutzigen dreieckigen Billet in der Hand erschien. Ein Blick auf die Handschrift der Adresse sagte mir genug. Er hatte mich in der Loge erkannt und das Ballet im Zwischenacte ihm Zeit gelassen, meiner Spur nach Hause zu folgen. Soviel war mir klar, noch ehe ich den Brief erbrochen hatte. In zwei Zeilen zeigte er mir an, daß er in einer zum Golf hinabführenden Seitengasse warte und daß, wenn ich nicht binnen zehn Minuten bei ihm erscheine, er dies als eine Aufforderung auslegen werde, mich in meiner Wohnung aufzusuchen.

Die Begebnisse des gestrigen Tages müssen mich wohl gestählt haben. Jedenfalls dachte und empfand ich nach der Lection des Briefes mehr wie das Weib, welches ich einst gewesen, als ich seit Monaten gedacht und empfunden habe. Ich setzte meinen Hut auf, ging die Treppe hinab und zum Hause hinaus, als sei nichts vorgefallen.

Am Eingange des Gäßchens wartete er auf mich. Im Augenblicke da wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, trat mir mein ganzes elendes früheres Leben wieder vor die Seele. Ich dachte an mein Vertrauen, das er getäuscht, ich dachte an die grausame Trauungskomödie, die er mir gespielt hatte, ich dachte an die Zeit, wo ich in Verzweiflung mir das Leben zu nehmen suchte, weil er mich, verlassen. Als ich mir alles dies ins Gedächtniß zurückrief und unwillkürlich Midwinter mit dem gemeinen, elenden Schurken vergleichen mußte, an den ich einst geglaubt hatte, da wußte ich zum ersten Male, was ein Weib empfindet, welches auch den letzten Schatten von Selbstachtung verloren hat. Hätte er mich in dem Momente insultirt, ich glaube, ich hätte mir’s gefallen lassen.

Doch es fiel ihm nicht ein, mich zu insultiren, wenigstens nicht in dem rein brutalen Sinne des Wortes. Ich war ihm auf Gnade und Ungnade anheimgegeben, und um mich das fühlen zu lassen, nahm er schlau die Maske der Reue und Hochachtung vor. Ich ließ ihn nach Lust und Neigung sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, ohne ihn nur noch einmal anzusehen, ohne daß nur mein Kleid ihn streifen durfte, während wir neben einander einer stilleren Stelle des Strandes zuwandelten. Die elende Beschaffenheit seiner Garderobe und das gierige Funkeln seiner Augen, als ich den ersten Blick auf ihn richtete, waren mir nicht entgangen, und ich wußte, es würde, wie es auch geschah, auf eine Bitte um Geld hinauslaufen.

Ja! Nachdem er mir dereinst den letzten Heller, den ich selbst besaß, und den letzten Heller, welchen ich von meiner alten Herrin erpressen konnte, abgenommen hatte, fragte er mich, während wir jetzt zusammen an der See standen, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, daß er solch einen Rock trüge, wie er ihn anhätte, und als Chorsänger sich seinen jämmerlichen Lebensunterhalt verdienen müßte!

Mein Abscheu mehr als meine Empörung veranlaßte mich endlich zum Sprechen.

»Sie brauchen Geld’, sagte ich. »Wie nun, wenn ich zu arm wäre, Ihnen welches zu geben?«

»In dem Falle«, entgegnete er, »muß ich daran denken, daß Sie selbst ein Schatz für mich sind. Ich würde mich in die schmerzliche Nothwendigkeit versetzt finden, einem der beiden Herren, die ich mit Ihnen in der Oper sah, meine Ansprüche auf Sie begreiflich zu machen, dem Herrn natürlich, den Sie jetzt mit Ihrer Gunst beglücken.«

Ich antwortete ihm nicht, denn ich hatte keine Antwort zu geben. Meine Worte wären doch nur verschwendet gewesen, hätte ich ihm seine Ansprüche an mich bestreiten wollen. Er wußte so gut wie ich, daß er auch nicht den Schatten von Anspruch an mich hatte. Allein ebenso gut wußte er, daß der bloße Versuch, einen solchen Anspruch zu erheben, mein ganzes früheres Leben nothwendig ans Licht ziehen und mich bloßstellen mußte.

Noch immer schwieg ich und sah auf die See hinaus. Warum, weiß ich nicht, vielleicht weil ich instinctgemäß lieber irgend sonst wohin sehen wollte als auf ihn.

Ein kleines Segelboot näherte sich der Küste. Den Mann, der es steuerte, verbarg das Segel, aber das Boot war so nahe, daß ich die Flagge auf dem Maste zu erkennen glaubte. Ich sah nach der Uhr. Ja, es war Armadale, der von Saum-Lucia herüberkam, uns in gewohnter Weise zu besuchen.

Ehe ich meine Uhr wieder in den Gürtel gesteckt hatte, sah ich die Mittel und Wege, mich aus der entsetzlichen Lage zu ziehen, in der ich mich befand, so deutlich vor mir, wie ich sie jetzt vor mir sehe.

Ich kehrte um und schritt einem höheren Punkte des Strandes zu, wo mehrere Fischerkähne an das Land gezogen waren, die uns den Blicken jedes unten Landenden vollkommen verbargen. Manuel sah wahrscheinlich, daß ich meine bestimmte Absicht dabei hatte, und folgte mir, ohne ein Wort zu äußern. Sobald wir unter dem Schirme der Boote sicher waren, zwang ich mich, zu meiner eigenen Rettung, ihn wieder anzusehen.

»Was würden Sie sagen«, fragte ich, »wenn ich nicht arm, sondern reich wäre? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen hundert Pfund geben könnte?«

Er stutzte. Ich sah deutlich, daß er sich nicht auf die Hälfte der erwähnten Summe Hoffnung gemacht hatte. Daß seine Zunge log, während sein Gesicht die Wahrheit sprach, und daß er mir zur Antwort gab: »Lange nicht genug«, ist überflüssig zu bemerken.

»Wie wäre es«, fuhr ich fort, ohne von Dem, was er sagte, Notiz zu nehmen, »wie wäre es, wenn ich Ihnen das Mittel zeigen könnte, wodurch Sie sich doppelt, dreimal, fünfmal soviel wie hundert Pfund zu verschaffen vermöchten? Wären Sie kühn genug, Ihre Hand auszustrecken und es zu nehmen?«

Von neuem funkelten seine Augen vor Begierde. In athemloser Erwartung meiner nächsten Worte sank seine Stimme zu einem Flüstern herab.

»Wer ist die Person?« fragte er. »Und welches Risico ist dabei?«

Ich antwortete ihm auf der Stelle in den deutlichsten Worten. Wie ich ein Stück Fleisch der wilden Bestie vorgeworfen hätte, die mich verfolgte, so warf ich ihm Armadale vor.

»Die Person ist ein reicher junger Engländer«, sagte ich. »Er hat eben die hier im Hafen liegende Yacht Dorothea gemiethet und braucht nun einen Bootsmeister und eine Mannschaft Sie sind vordem Offizier in der spanischen Marine gewesen, Sie sprechen englisch und italienisch gleich geläufig, Sie sind mit Neapel und Allem, was zu ihm gehört, gründlich bekannt. Der reiche junge Engländer kennt die Sprache nicht und der Dolmetscher, welcher ihm dient, versteht nichts vom Seewesen. Er weiß nicht mehr, wo und wie er sich hier an diesem fremden Orte die nöthige Hilfe verschaffen soll, kennt die Welt nicht besser als das Kind, das dort mit seinem Stöckchen Löcher in den Sand gräbt, und trägt all sein Geld in Creditbriefen bei sich. Soviel hinsichtlich der Person. Das Risico mögen Sie selbst schätzen.«

Mit jedem Worte, welches ich sprach, wurde der gierige Glanz in seinen Augen heller und heller. Ehe ich geendet hatte, war er schon völlig bereit, das Risico zu übernehmen.

»Wann kann ich den Engländer sehen?« fragte er hastig.

Ich näherte mich dem der See zugekehrten Ende des Kahns und bemerkte, daß Allan eben ans Land stieg.

»Sie können ihn jetzt sehen«, antwortete ich und deutete auf die Stelle.

Nach einem langen Blicke auf Armadale, der sorglos den Hang des Strandes hinan schlenderte, zog sich Manuel hinter das schützende Boot zurück. Er wartete einen Augenblick, versank in tiefes Nachdenken und stellte mir dann, diesmal im leisesten Flüstern, eine neue Frage.

»Wenn das Schiff bemannt ist«, sagte er, »und der Engländer in See sticht, wie viele Freunde werden mit ihm segeln?«

»Er hat nur zwei Freunde hier«, entgegnete ich, »den andern Herrn, den Sie in der Oper gesehen haben, und mich. Er wird uns beide einladen, ihn auf der Fahrt zu begleiten, wir werden beide aber ablehnen.«

»Stehen Sie mir dafür?«

»Ich stehe Ihnen unbedingt dafür.«

Er ging ein paar Schritte von mir fort und blieb dann, das Gesicht von mir abgewandt, abermals nachdenkend stehen. Alles, was ich sehen konnte, war, daß er seinen Hut abnahm und sich die Stirn mit dem Taschentuch abwischte, Alles, was ich hören konnte, daß er in höchster Aufregung in seiner Muttersprache zu sich selbst sprach.

Als er zu mir zurückkam, bemerkte ich eine Veränderung an ihm. Sein Gesicht überzog ein häßliches fahles Gelb und seine Augen sahen mich mit feindseligem Mißtrauen an.

»Eine letzte Frage«, sagte er und trat näher an mich heran, während er mit einem auffälligen Nachdruck fortfuhr: »Was haben Sie für ein Interesse bei der Sache?«

Ich schrak vor ihm zurück. Die Frage mahnte mich, daß ich ein Interesse bei der Sache hatte, das mit dem andern Interesse, Manuel und Midwinter von einander fern zu halten, ganz und gar nicht im Zusammenhange stand. Bis jetzt hatte ich blos daran gedacht, daß Midwinter’s Fatalismus mir den Weg gebahnt hatte, indem er von vornherein Armadale jedwedem Fremden preisgab, der diesem in seiner Verlegenheit zu Hilfe kam. Bis jetzt war das Einzige was ich im Auge hatte, der Gedanke gewesen, durch Aufopferung Armadale’s mich selbst gegen die Bloßstellung zu schützen, die mir drohte. In meinem Tagbuche lüge ich nicht. Ich heuchle nicht, daß ich keinen Augenblick Armadale’s Geldbeutel oder die Sicherheit von Armadale’s Leben in Erwägung gezogen habe. Ich haßte ihn zu wüthend, um mich um die Fallen zu kümmern, die meine Zunge ihm vielleicht unter die Füße legte. Gewiß aber hatte ich vor jener letzten Frage nicht bedacht, daß Manuel, wenn er in seiner gewissenlosen Geldgier seinen eigenen Zwecken diente, auch meine Pläne fördern. Die eine alles Andere überwiegende Sorge, mich von einer Bloßstellung vor Midwinter zu retten, hatte meinen Geist derart erfüllt, daß sie jeden andern Gedanken ausschloß.

Da ich nicht alsbald antwortete, so wiederholte Manuel seine Frage in einer andern Wendung.

»Sie haben mir Ihren Engländer vorgeworfen«, sprach er, »wie man weiland dem Cerberus seinen guten Bissen zuwarf. Würden Sie dazu so völlig bereit sein, wenn Sie nicht noch Ihre besonderen Motive dazu hätten? Ich wiederhole meine Frage; Sie haben ein Interesse bei der Sache —— worin besteht es?«

»Ich habe zweierlei Interessen«, antwortete ich. »Einmal das Interesse, Sie zu zwingen, daß Sie meine hiesige Stellung respectiren, und dann das Interesse, mich für immer und ewig von Ihrem Anblicke zu befreien? Ich sprach mit einer Kühnheit, wie er sie bisher noch nicht an mir gewohnt gewesen war. Das Bewußtsein, daß ich den Schuft zu einem Werkzeuge in meinen Händen machte und ihn zwang, blindlings meine Pläne zu fördern, während er seine eigenen Zwecke verfolgte, hoben meinen Muth; ich war wieder ich selbst.

Er lachte. »Starke Worte sind bei gewissen Gelegenheiten das Privilegium der Damen«, sagte er. »Vielleicht befreien Sie sich für immer und ewig von meinem Anblicke, vielleicht auch nicht. Wir wollen die Entscheidung darüber der Zukunft überlassen. Allein das andere Interesse, welches Sie bei der Sache haben, kann ich nicht recht begreifen. Was ich von dem Engländer und seiner Yacht wissen muß, das haben Sie mir gesagt und haben mir keine Bedingungen gestellt, ehe Sie den Mund aufthaten. Wodurch wollen Sie mich zwingen, wie Sie sagen, Ihre, hiesige Stellung zu respectiren?«

»Das will ich Ihnen erklären«, versetzte ich. »Zuerst sollen Sie meine Bedingungen hören. Ich bestehe darauf, daß Sie mich binnen fünf Minuten verlassen; ich bestehe darauf, daß Sie sich nie wieder in der Nähe des Hauses sehen lassen, wo ich wohne, und ich verbiete Ihnen, sich jemals wieder, auf welchem Wege es auch sei, mit mir oder mit dem andern Herrn in Verbindung zu setzen, welchen Sie mit mir im Theater gesehen haben?

»Und wenn ich nun nein sagte?« fiel er ein. »Was wollen Sie in diesem Falle thun?«

»In dem Falle«, antwortete ich, »werde ich dem jungen Engländer zwei Worte sagen, und Sie werden Ihren Platz im Opernchore wieder einnehmen?

»Sie sind ein kühnes Weib, daß Sie es für ausgemacht halten, ich hätte schon meine Absichten auf den Engländer und sicher dabei reüssiren würde. Wie wissen Sie ——«

»Ich kenne Sie«, sagte ich, »und das ist genug.«

Einen Augenblick schwiegen wir beide. Er sah mich an und ich ihn. Wir verstanden einander.

Er war der erste, welcher wieder das Wort nahm. Das schurkische Lächeln erstarb auf seinem Gesichte und seine Stimme sank von neuem mißtrauisch zu den leisesten Tönen herab.

»Ich nehme Ihre Bedingungen an«, sprach er. »So lange als Ihre Lippen verschlossen sind, werden es auch die meinigen sein, ausgenommen, wenn ich finde, daß Sie mich hintergangen haben. In diesem Falle ist unser Vertrag gelöst und Sie werden mich wiedersehen. Morgen werde ich mich dem Engländer mit den erforderlichen Zeugnissen vorstellen, die mir sein Vertrauen gewinnen sollen. Sagen Sie mir seinen Namen!«

Ich nannte ihn.

»Geben Sie mir seine Adresse!«

Ich gab sie ihm und wandte mich zum Gehen. Noch ehe ich aber aus dem Schutze der Boote herausgetreten war, hörte ich ihn wieder hinter mir.

»Noch ein Wort«, sagte er. »Manchmal passieren Unglücksfälle aufs der See. Interessiert Sie der Engländer genug, daß, im Falle ihm ein Unglück zustößt, Sie wissen wollen, was aus ihm geworden ist?«

Ich blieb stehen und überlegte meinerseits. Es war mir unverkennbar mißlungen, ihn zu überzeugen, daß ich, indem sich ihm Armadales Geld und in wahrscheinlicher Folge auch Armadale’s Leben preisgab, kein besonderes geheimes Interesse dabei verfolgte. Und ebenso war es jetzt klar, daß er in seiner Verschlagenheit sich selbst mit meinen geheimen Plänen in Verbindung zu bringen suchte, indem er die Wege zu einem späteren Verkehre zwischen uns anbahnen wollte. Unter den obwaltenden Umständen konnte kein Zweifel sein, wie ich ihm zu antworten hatte; Wenn der Unglücksfall auf welchen er anspielte, Armadale wirklich traf, so brauchte ich Manuel’s Vermittelung nicht, um Kenntniß davon zu erhalten. Ein leichtes Studium der Todeslisten in den Spalten der englischen Zeitungen benachrichtigte mich ja von Allem, was ich wissen wollte, und gewährte mir noch den weitem Vortheil, daß man in einer derartigen Angelegenheit auf die Wahrheit der Blätter bauen konnte. Ich dankte also Manuel in aller Form und lehnte seinen Vorschlag ab. »Da mich der Engländer nicht weiter interessiert«, sagte ich, »so hege ich auch nicht den besonderen Wunsch, von seinem Schicksale benachrichtigt zu werden.«

Er sah mich einen Augenblick aufmerksam und mit einem gewissen Interesse an, das er mir selbst noch nicht gezeigt hatte.

»Mag das Spiel, das Sie spielen«, erwiderte er, langsam und nachdrücklich sprechend, »sein, welches es will, ich mache keinen Anspruch darauf, es zu erfahren. Nichtsdestoweniger aber wage ich eine Prophezeiung: Sie werden es gewinnen. Denken Sie daran, wenn wir uns wieder treffen.« Er nahm seinen Hut ab und verneigte sich gravitätisch. »Gehen Sie Ihren Weg, Madame, und lassen Sie mich meinen gehen!«

Mit diesen Worten erlöste er mich von seinem Anblick. Ich blieb noch eine Minute, um mich in der frischen Luft wieder zu sammeln, und kehrte dann nach Hause zurück.

Der erste Gegenstand, auf den meine Augen fielen, als ich in das Wohnzimmer eintrat, war Armadale selbst.

Er hatte auf meine Heimkunft gewartet, um mich zu bitten, daß ich meinen Einfluß auf seinen Freund geltend machen möchte. Ich fragte, was er damit meinte, und erfuhr, daß Midwinter bereits gethan, was er beim nächsten Zusammensein mit Armadale hatte thun wollen. Er hatte diesem mitgetheilt, daß er mit seinem Journalartikel nicht so bald fertig werden könne, wie er gehofft, und ihm gerathen, er möchte sich eine Mannschaft für die Yacht zu verschaffen suchen, ohne auf seine Beihilfe zu warten.

Dies Vernehmend, hatte ich nun das Versprechen zu erfüllen, das ich Midwinter gegeben, als er mir mein Verfahren in dieser Angelegenheit vorgezeichnet. Armadales Aerger über meinen Beschluß, nicht zu vermitteln, äußerte sich in der vor allen andern mich am meisten beleidigenden Gestalt. Er wollte meinen wiederholten Betheuerungen, daß ich keinen Einfluß besäße, den ich zu seinen Gunsten geltend machen könne, durchaus nicht glauben. »Wäre Neelie meine Frau«, sagte er, »sie könnte mit mir Alles machen, was sie wollte, und ich bin überzeugt, wenn Sie nur wollen, Sie können mit Midwinter auch Alles machen, was Sie wollen.« Hätte der verblendete Narr wirklich die letzten schwachen Regungen von Reue und Mitleid in meinem Herzen ersticken wollen, so hätte er diesem verhängnißvollen Besuche nichts Entsprechenderes sagen können! Ich warf ihm einen Blick zu, welcher ihn, soweit ich dabei in Frage kam, energisch zum Schweigen brachte. Grollend und murrend ging er aus dem Zimmer. »Alles ganz schön«, sprach er zu sich selbst, »von der Bemannung der Yacht zu reden. Ich verstehe kein Wort von ihrem Kauderwelsch hier und der Dolmetscher denkt, ein Fischer und ein Seemann sind eins und dasselbe. Man mag mich hängen, wenn ich weiß, was ich mit dem Schiffe anfangen soll, jetzt, wo ich’s gemiethet habe!« Morgen wird er’s wahrscheinlich wissen. Und wenn er wie gewöhnlich zu uns kommt, so werde auch ich es wissen!

Den 25. October, zehn Uhr abends. Manuel hat ihn! Er hat uns so eben verlassen, nachdem er länger als eine Stunde hier gewesen ist und die ganze Zeit von nichts Anderm gesprochen hat als von seinem wunderbaren Glück, das ihn gerade die Hilfe finden ließ, wo er sie am nothwendigsten brauchte.

Heute Nachmittag war er auf dem Molo mit seinem Dolmetscher, wie es scheint, und versuchte vergeblich sich der am Strande umherlungernden Bevölkerung verständlich zu machen. Gerade als er in Verzweiflung das Beginnen aufgab, bot ein Fremder, der in der Nähe stand —— vermuthlich war ihm Manuel vom Hotel nach dem Molo gefolgt —— freundlich seine Vermittelung bei dem Geschäfte an. »Ich spreche Ihre Sprache, Sir, und die der Leute da«, sagte er, kenne Neapel gut und bin durch meinen Beruf mit dem Meere vertraut. Kann ich Ihnen dienen?« Das unvermeidliche Resultat erfolgte. In seiner gewohnten unbeholfenen Manier wälzte Armadale ohne Verzug und Bedenken alle seine Schwierigkeiten auf die Schultern des artigen Fremden. Sein neuer Freund drang indeß so ehrenhaft wie möglich darauf, erst die üblichen Formalitäten zu erfüllen, ehe er zugeben könne, daß die Sache in seine Hände gelegt würde. Er bat um die Erlaubniß, Mr. Armadale mit seinen Zeugnissen über Charakter und Befähigung aufwarten zu dürfen. Nachmittags war er dann verabredetermaßen mit allen seinen Papieren und mit der traurigsten Geschichte von seinen Leiden und Entbehrungen als politischer Flüchtling, die Armadale jemals gehört hatte, im Hotel erschienen. Die Unterredung war entscheidend. Mit dem Auftrage, die nöthige Mannschaft für die Yacht zu werben und während der beabsichtigten Versuchsreise den Posten eines Bootsmeisters zu bekleiden, verließ Manuel das Hotel.

Gespannt beobachtete ich Midwinter, während Armadale uns diese Einzelheiten erzählte, und auch dann als dieser die Zeugnisse seines neuen Bootsmeisters vorlegte, die er seinem Freunde zur Einsichtnahme mitgebracht hatte.

Für den —— Moment schienen Midwinter’s abergläubische Ahnungen sämtlich über seiner natürlichen Sorge für den Freund vergessen zu sein. Mit der scrupulösesten Gründlichkeit und dem geschäftsmäßigsten Mißtrauen prüfte er die Papiere des Fremden, nachdem er mir gesagt hatte, daß je eher je lieber Armadale in fremden Händen sein müsse. Als Midwinter die Zeugnisse zurückgab, flog ein leises Roth über sein Gesicht; er schien die Inconsequenz seines Benehmens zu empfinden und zum ersten Male zu bemerken, daß ich anwesend war und es wahrnahm. »Gegen die Zeugnisse da ist nichts einzuwenden; ich freue mich, daß Du endlich erlangt hast, was Du suchst.« Das war Alles, was er Armadale zum Abschiede sagte. Sobald als dieser den Rücken gewandt hatte, sah ich nichts mehr von Midwinter. Wiederum hat er sich für den Abend in seinem Zimmer eingeschlossen.

Nur noch eine Sorge bleibt mir übrig. Wird Midwinter fest bei seinem Entschlusse beharren, wenn die Yacht segelfertig ist, und ohne mich seine Begleitung verweigern?

Den 26. October. Schon die Vorboten des kommenden Verhängnisses. Ein Brief von Armadale an Midwinter, den dieser mir so eben zugeschickt hat. Er lautet folgendermaßen:

»Lieber Mid! Ich bin zu sehr beschäftigt, um heute kommen zu können. Um Himmelswillen mache, daß Du mit Deiner Arbeit fertig wirst! Der neue Bootsmeister ist seine Zehntausend werth. Er hat einen Engländer seiner Bekanntschaft ausfindig gemacht, der gleich als erster Matrose eintreten kann, und denkt sicher in Zeit von drei, vier Tagen die Mannschaft zusammen zu bringen. Ich sterbe vor Sehnsucht nach ein bischen Seewind, und Dir muß es auch so gehen, oder Du bist kein ordentlicher Seemann. Die Takelage ist fertig, die Provisionen kommen allmälig herbei und morgen oder übermorgen werden wir die Anker lichten können. Noch nie im Leben war ich in so guter Stimmung. Empfiehl mich Deiner Frau und sage ihr, sie würde mir eine große Gunst erweisen, wenn sie sofort käme und Alles anordnete, was sie noch in der Damenkajüte vermißt. Ganz der Deinige A. A«

Darunter war von Midwinter’s Hand geschrieben:

»Vergiß nicht, was ich Dir gesagt habe. Schreibe —— das wird ihm unsere Ablehnung milder beibringen —— und bitte ihn, uns zu entschuldigen und von der Probefahrt zu dispensieren.«

Ohne einen Augenblick zu verlieren, habe ich demgemäß geschrieben. Je eher Manuel erfährt, wie er es gewiß durch Armadale erfahren wird, daß meinerseits das Versprechen, nicht mitzufahren, bereits erfüllt ist, um so sicherer wird er sich fühlen.

Den 27. October. Ein Brief von Armadale als Antwort auf den Meinigen. Er ist voll ceremoniösen Bedauerns, daß er meine Gesellschaft auf der Fahrt entbehren soll und hofft, Midwinter werde mich noch zu einer Aenderung meines Beschlusses vermögen. Warte ein bischen, bald wirft du erfahren, daß auch Midwinter nicht mit dir segelt!

Den 30. October. Bis heute nichts Neues zu verzeichnen. Heute ist endlich die Veränderung in unserm beiderseitigen Leben eingetreten!

In der freudigsten Stimmung, voll lauten Jubels erschien Armadale diesen Morgen, um zu verkünden, daß die Yacht segelfertig sei, und zu fragen, wann Midwinter sich würde an Bord begeben können. Ich sagte ihm, er möchte bei Midwinter selbst sich danach erkundigen. Mit einer letzten Bitte, meine Ablehnung mir noch einmal zu überlegen, verließ er mich. Ich antwortete ihm mit einer letzten Entschuldigung und setzte mich dann allein ans Fenster, um das Resultat der im anstoßenden Zimmer stattfindenden Unterredung abzuwarten.

Von dem, was jetzt zwischen Midwinter und seinem Freunde vorging, hing meine ganze Zukunft ab. Bis hierher war Alles glatt und eben gegangen. Midwinter’s Entschluß oder vielmehr der Gedanke, daß Midwinter’s Fatalismus schließlich doch das Feld räumen könne, war die einzige Gefahr, die ich noch fürchtete. Ließ er sich bereden, Armadale auf seinem Ausfluge zu begleiten, dann würde Manuel’s Erbitterung gegen mich vor nichts zurückbeben, er würde sich erinnern, daß ich dafür eingestanden, Armadale werde von Neapel allein abfahren, und noch ehe das Schiff den Hafen verlassen, mein ganzes früheres Leben vor Midwinter enthüllen und bloßstellen. Wie ich daran dachte und wie Minute auf Minute langsam verstrich, ohne daß mir etwas Anderes als das unbestimmte Gesumme der Stimmen aus dem nächsten Zimmer ins Ohr drang, wurde mir die Ungewißheit fast unerträglich. Umsonst suchte ich meine Aufmerksamkeit auf das Leben unten auf der Straße zu richten. Ich sah mechanisch aus dem Fenster und gewahrte nichts.

Plötzlich, ich kann nicht sagen, nach wie langer oder wie kurzer Zeit, hörte das Stimmengesumme auf. Die Thür öffnete sich und Armadale trat allein über die Schwelle.

»Ich wünsche Ihnen wohl zu leben«, sagte er kurz, »und hoffe, wenn ich erst verheirathet bin, meine Frau wird Midwinter niemals derart der Quere kommen, wie mir Midwinter’s Frau der Quere gekommen ist!«

Er sah mich zornig an und machte mir eine zornige Verbeugung; dann wandte er sich brüsk um und ging.

Jetzt sah ich die Leute auf der Straße wieder! Ich sah die ruhige See und die Masten der Schiffe im Hafen, wo die Yacht lag! Von neuem konnte ich denken, konnte ich athmen! Die Worte, welche mich vor Manuel retteten, die Worte, die vielleicht Armadale’s Todesurtheil waren, sie waren gesprochen worden. Die Yacht segelte ohne Midwinter wie ohne mich!

Das erste Gefühl des Entzückens war fast sinne berückend. Es war indeß das Gefühl eines Moments. Wenn ich an den einsamen Midwinter drüben im Zimmer dachte, sank mir wieder der Muth.

Ich trat auf den Corridor hinaus, um zu horchen, und hörte nichts. Ich klopfte leise an die Thür und erhielt keine Antwort. Ich machte die Thür auf und sah hinein. Das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, so saß er am Tische. Ich sah ihn schweigend an und sah den Schimmer von Thränen, die ihm durch die Finger träufelten.

»Laß mich allein«, sagte er, ohne die Hände zu bewegen. »Ich muß es allein überwinden?

Ich ging wieder in das Wohnzimmer. Wer kann die Weiber verstehen? »Wir verstehen uns ja selbst nicht. Daß er mich fortschickte, schnitt mir ins Herz. Das harmloseste, das sanfteste Weib in der Welt hätte es nicht bitterer empfinden können, als ich es empfand. Und das nach dem, was ich gethan, nach dem, was ich den Augenblick zuvor, ehe ich zu ihm ins Zimmer ging, gedacht hatte! Wer vermag es zu erklären? Niemand, ich selbst am allerwenigsten.

Eine halbe Stunde später that sich die Thiir auf und ich sah ihn die Treppe hinabeilen. Ohne weitere Ueberlegung lief ich ihm nach und fragte, ob ich vielleicht mit ihm gehen solle. Er blieb nicht stehen und antwortete mir auch nicht. Ich kehrte ans Fenster zurück und sah ihn, Neapel und dem Meere den Rücken kehrend, eiligen Fußes die Straße hinabschreiten.

Vielleicht hatte er mich gar nicht gehört, das begreife ich jetzt. Für den Augenblick hielt ich sein Benehmen für unverzeihlich und ihn für lieblos und brutal gegen mich. In wahnwitziger Wuth auf ihn setzte ich meinen Hut auf, schickte nach einem Wagen und sagte, er solle mich hinfahren, wohin er wolle. Wie alle Fremde fuhr er mich nach dem Museum, damit ich mir die Statuen und Gemälde beschaue. Glühenden Gesichts stürmte ich von Saal zu Saal, während sämtliches anwesendes Publikum mich verwundert anstarrte. Wie ich wieder zu mir kam, weiß ich nicht. Ich setzte mich wieder in den Wagen und ließ mich, ich weiß nicht warum, nach Hause jagen, soviel die Pferde laufen konnten. Ich riß Hut und Mantel ab und setzte mich abermals ans Fenster. Der Anblick des Meeres kühlte mich. vergaß Midwinter und dachte an Armadale und seine Yacht. Kein Lüftchen rührte sich, keine Wolk war am Himmel, der weite Golf glatt wie ein Spiegel.

Die Sonne ging unter, die kurze Dämmerung kam und schwand. Ich trank eine Tasse Thee und dachte und träumte dabei. Als ich mich vom Tische erhob und wieder ans Fenster trat, war der Mond herausgekommen, doch das Meer lag so ruhig wie vorher.

Noch immer sah ich hinaus, als Midwinter wieder unten auf der Straße erschien. Inzwischen hatte ich mich so weit gefaßt, um mich seiner Gewohnheiten zu erinnern und zu wissen, daß er versucht haben mochte, durch eine seiner langen, einsamen Wanderungen sich die Last vom Herzen zu wälzen. Als ich ihn die Thür seines Zimmers öffnen hörte, war ich klug genug, ihn nicht wieder zu stören; gern wartete ich, wo ich war.

Kurz daraus hörte ich, wie er das Fenster aufmachte, und sah, wie er auf den Balcon hinaustrat und nach einem raschen Blick auf die See seine Hand emporhob. Für den Moment war ich zu einfältig, daran zu denken, wie er einst selbst Seemann gewesen war, und konnte darum nicht begreifen, was seine Gebärde bedeuten sollte. Neugierig wartete ich, was nun zunächst geschehen würde.

Er ging ins Zimmer zurück, kam aber nach wenigen Minuten wieder heraus und hielt wie zuvor seine Hand in die Luft. Diesmal blieb er stehen, lehnte sich über die Balustrade des Balcons und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit beharrlich in den Mondschein hinaus.

Lange stand er unbeweglich. Dann sah ich ihn plötzlich zusammenschrecken. Im nächsten Augenblicke sank er auf die Kniee und legte die Hände gefaltet auf das Eisengitter des Balcons »Gott der Allmächtige segne und erhalte Dich, Allan«, sprach er andächtig. »Lebe wohl auf ewig!«

Ich sah auf das Meer hinaus. Eine sanfte Brise hatte sich erhoben und kräuselte das im ruhigen Mondlichte funkelnde Wasser. Ich sah wieder hin, da glitt zwischen mir und dem Reflex des Mondes ein langes schwarzes Schiff mit großen, dunkeln, geisterhaften Segeln sanft und geräuschlos wie eine Schlange über die See.

Mit der Nacht war der ersehnte Wind gekommen und Armadales Yacht hatte ihre Probefahrt begonnen.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

»London, den 19. November. Ich bin wieder allein in der großen Stadt, zum ersten Male allein seit unserer Verheirathung. Vor fast acht Tagen trat ich meine Heimreise an, Midwinter in Turin zurücklassend.

Seit Anfang dieses Monats sind die Tage so reich an Ereignissen und ich bin den größeren Theil der Zeit körperlich und geistig so abgehetzt gewesen, daß mein Tagebuch jämmerlich vernachlässigt worden ist. Wenige Notizen in solcher Eile und Verwirrung geschrieben, das; ich sie kaum selbst entziffern kann, sind Alles, was mich Schwarz auf Weiß an das erinnert, was seit Armadale’s Abreise von Neapel geschehen ist. Ich will versuchen, ob ich ohne weiteren Zeitverlust damit zu Stande kommen kann, versuchen, ob ich mir die Begebnisse in der Folge, wie sich vom Anfang dieses Monats an eins nach dem andern zugetragen hat, ins Gedächtniß zurückzurufen vermag.

Am dritten November —— wir waren damals noch in Neapel —— empfing Midwinter einen flüchtigen Brief von Armadale aus Messina. Das Wetter schrieb er, wäre prächtig gewesen und die Yacht hätte eine der schnellsten Fahrten gemacht, die man sich denken könne. Die Mannschaft wäre eine etwas rohe Bande, allein Kapitän Manuel und sein englischer Bootsmann —— der letztere der Schilderung nach der beste aller guten Kumpane —— hielte sie bewundernswerth in Zucht. Nach solchem glücklichen Anfang hatte Armadale als selbstverständlich eine Verlängerung der Fahrt angeordnet und auf des Kapitäns Rath sich entschlossen, einige Häfen des Adriatischen Meeres zu besuchen, die ihm Manuel als höchst charakteristisch und sehenswerth beschrieben hatte.

Eine Nachschrift folgte, die erklärte, daß Armadale sehr eilig geschrieben, um den nach Neapel gehenden Dampfer nicht zu versäumen, und den Brief rasch wieder geöffnet habe, um noch etwas zu bemerken, was er beinahe vergessen. Am Tage vor seiner Abfahrt sei er bei seinem Banquier gewesen, um sich noch etliche Hundert in Gold zu holen, und glaube daselbst seine Cigarrentasche liegen gelassen zu haben. Dieselbe sei ihm ein sehr werthes Andenken und Midwinter möge doch so gut sein, sie für ihn wiederzuerlangen und ihm bis zu ihrem Wiedersehen aufzuheben.

Als mich Midwinter allein gelassen hatte, dachte ich über den Inhalt des Briefes ernstlich nach. Mein Gedanke war und ist es noch, daß Manuel nicht umsonst Armadale überredet hat, in einem so wenig von Schiffen belebten Meere wie das Adriatische Meer zu kreuzen. Auch die Art und Weise, wie der geringfügige Verlust der Cigarrentasche erwähnt war, fiel mir als bedeutsam auf. Ich schloß, daß Armadale’s Creditbrief nicht durch seine eigene Vorsicht oder Geschäftskenntniß in die etlichen Hundert in Gold verwandelt worden war. Auch hierbei war Manuel’s Einfluß jedenfalls und nicht ohne Grund thätig gewesen. Die ganze schlaflose Nacht hindurch drängten sich mir in kurzen Pausen diese Erwägungen wieder und wieder auf und immer wiesen sie auf einen und denselben Weg, auf den Weg heimwärts nach England.

Wie dahin gelangen und insbesondere wie dahin ohne Midwinter’s Begleitung gelangen, das war mehr, als mein Verstand diese Nacht ausklügeln konnte. Ich versuchte und versuchte, der Schwierigkeit zu begegnen, und schlief, ohne daß mir es gelang, gegen Morgen erschöpft ein.

Ein paar Stunden später, sobald ich angekleidet war, kam Midwinter herein mit Briefen seiner Zeitungsverleger in London, die er diesen Morgen erhalten hatte. Der Redacteur hatte den Herren einen so günstigen Bericht über seinen Neapler Correspondenten abgestattet, daß sie diesen zu dem einträglicheren und bedeutenderen Posten in Turin befördern wollten. Seine neuen Inftructionen waren in dem Briefe enthalten und er sollte keine Zeit verlieren, Neapel mit seinem neuen Aufenthaltsorte zu vertauschen.

Ehe er mich noch darum fragen konnte, befreite ich ihn von aller Angst hinsichtlich meiner Zustimmung zu dem Tausche Turin besaß in meinen Augen die große Anziehung, daß es auf dem Wege nach England lag. Ich versicherte ihm sofort, daß ich, sobald er es wünsche, zur Reise bereit sei.

Er dankte mir für meine Bereitwilligkeit, mich seinen Plänen zu fügen, mit fast der alten Freundlichkeit und Herzlichkeit, wie ich sie die letzte Zeit von ihm nicht erfahren hatte. Die tags vorher von Armadales eingelaufenen guten Nachrichten schienen ihn etwas aus der dumpfen Verzweiflung aufgerüttelt zu haben, in welche er seit der Abfahrt der Yacht versunken war. Und jetzt hatte die Aussicht einer Beförderung in seinem Berufe und mehr noch, die Aussicht, den verhängnißvollen Ort verlassen zu dürfen, wo sein drittes Traumgesicht in Erfüllung gegangen war, seinem eigenen Geständnisse nach ihn noch mehr erheitert und erleichtert. Ehe er wegging, um die nöthigen Vorbereitungen zu unserer Abreise zu treffen, fragte er, ob ich vielleicht Nachrichten von meiner Familie in England erwarte und ob er Anweisung ertheilen solle, daß meine Briefe mir mit den seinigen poste restante nach Turin nachgesandt würden. Dankend nahm ich das Anerbieten an. Augenblicklich stieg mir bei seinem Antrag der Gedanke auf, daß meine fingierten Familienverhältnisse von neuem bestens verwerthet werden könnten als Grund einer unerwarteten Heimberufung nach England.

Den neunten des Monats waren wir in Turin installiert. Am dreizehnten sagte mir Midwinter, der sehr beschäftigt war, es würde ihm ein großer Zeitgewinn sein, wenn ich so gut sein wollte, auf der Post für ihn nach Briefen zu fragen, die uns etwa von Neapel nachgesandt wären. Auf die mir jetzt gebotene Gelegenheit hatte ich gewartet und war rasch entschlossen, sie ohne Säumen zu ergreifen. Weder für ihn noch für mich waren poste-restante-Briefe da; ich sagte ihm indeß bei meiner Heimkehr, daß ich einen mit sehr beunruhigenden Nachrichten von Hause erhalten habe. Meine Mutter wäre gefährlich erkrankt und man ersuche mich, unverzüglich nach England zu kommen, wenn ich sie noch sehen wolle.

Jetzt, wo ich fern von ihm bin, scheint es mir ganz unerklärlich, es ist aber nichtsdestoweniger wahr, daß ich selbst jetzt noch nicht ihm direct und absichtlich ins Gesicht lügen konnte, ohne ein Gefühl von Angst und Scham zu empfinden, was die Meisten und ich selbst auch mit einem Charakter wie der meinige für ganz unvereinbar halten dürften. Unvereinbar oder nicht, ich empfand es. Und was noch Wunderbarer, vielleicht richtiger ausgedrückt, verrückter ist, ich bin fest überzeugt, hätte er auf seinem ersten Entschlusse bestanden, mich nicht allein nach England reisen zu lassen, sondern mich selbst nach England zu begleiten, zum zweiten Male hätte ich der Versuchung den Rücken gekehrt und mich noch einmal in den alten Traum eines glücklichen und harmlosen Lebens an der Seite und in der Liebe meines Mannes einlullen lassen.

Täusche ich mich selbst hierin? Ich glaube annehmen zu müssen, daß ich’s thue; es kommt ja nichts darauf an. Was hätte geschehen können, ist gleichgültig. Was geschehen ist, das allein ist jetzt von Bedeutung.

Midwinter ließ sich endlich überzeugen, daß ich alt genug wäre, auf einer Reise nach England allein fortkommen zu können, und daß er es seinem Redacteur, der ihm seine Interessen anvertraut habe, schuldig sei, Turin nicht zu verlassen, wo er sich eben erst etabliert. Der Abschied von mir ging ihm nicht so nahe wie der Abschied von seinem Freunde. Endlich habe ich nun meine Schwäche für ihn vollkommen überwunden. Kein Mann, der mich wahrhaft liebte, würde die Pflichten gegen ein paar Zeitungseigenthümer den Pflichten gegen seine Frau vorangestellt haben. Ich hasse ihn, daß er sich von mir überzeugen ließ! Ich glaube, er war froh, mich los zu werden, ich glaube, er hat in Turin ein Weib kennen gelernt, das er liebt. Nun, mag er seiner Phantasie folgen, wenn es ihm Vergnügen macht! Ehe noch viele Tage vergehen, werde ich die Wittwe Mr. Armadale’s auf Thorpe-Ambrose sein, und was frage ich dann nach seinen Zu- und Abneigungen?

Meine Reisebegebnisse sind nicht bemerkenswerth und meine Ankunft in London steht schon auf der ersten Zeile einer neuen Seite berichtet.

Heute ist das Einzige von einiger Wichtigkeit, was ich, seitdem ich in diesem billigen und stillen Hotel hier wohne, gethan, daß ich nach dem Wirth geschickt und ihn gebeten habe, mir eine Reihe älterer Nummern der Times zur Durchsicht zu verschaffen. Höflich bot er mir an, ihn morgen früh nach einem Lokale in der City zu begleiten, wo alle Zeitungen, wie ersagte, der Reihe nach aufbewahrt werden. Bis morgen also muß ich meine Ungeduld nach Nachrichten von Armadale, so gut ich kann, bezähmen Gute Nacht denn dem hübschen Spiegelbild meiner selbst, das auf diesen Seiten erscheint!

Den 20. November. Noch kein Wort der bewußten Nachricht, weder unter den Todesanzeigen noch sonst wo in der Zeitung. Ich habe Nummer für Nummer sorgfältig durchgesehen von: Tage an, an welchem Armadale’s Brief aus Messina geschrieben war, bis auf heute, und was sich auch ereignet hat, in England ist noch nichts davon bekannt, dessen bin ich sicher. Geduld! Bis aus weiteres werde ich jeden Morgen beim Frühstück die Zeitung finden und jeder Tag kann mir zeigen, was ich vor allem sehen möchte.

Den 21. November. Wieder keine Nachricht. Um den Schein zu wahren, habe ich heute an Midwinter geschrieben.

Als ich mit dem Briefe fertig war, fühlte ich mich, ich weiß nicht warum, so jämmerlich verstimmt und niedergedrückt und hatte eine solche Sehnsucht nach etwas Gesellschaft, daß ich, weil ich sonst nicht wußte wohin, in Verzweiflung wirklich nach Pimlico ging, auf die Möglichkeit hin, Mutter Oldershaw könnte vielleicht in ihre alte Wohnung zurückgekehrt sein. Seit ich während meines früheren Londoner Aufenthalts den Ort zum letzten Male gesehen hatte, waren dort Veränderungen vorgegangen. Doctor Downward’s Seite des Hauses war noch immer unbewohnt, aber der Laden wurde für den Einzug einer Putz- und Modehändlerin hergerichtet. Als ich hineinging, um Erkundigungen einzuziehen, fand ich nur unbekannte Leute darin. Sie hatten jedoch kein Bedenken, mir auf meine Anfrage Mrs. Oldershaw’s Adresse zu geben, woraus ich schließe, daß die kleine Verlegenheit, welche sie im letzten August zwang, sich zu verbergen, inzwischen, wenigstens soweit sie davon berührt wurde, ihr Ende gefunden. Hinsichtlich des Doctors waren die Leute, oder behaupteten dies mindestens, außer Stande, mir zu sagen, was aus ihm geworden sei.

Ich weiß nicht, war es der Anblick des Platzes in Pimlico oder meine eigene Schlechtigkeit oder was sonst, was mich traurig machte. Sowie ich aber Mrs. Oldershaw’s Adresse bekommen hatte, empfand ich, daß sie die allerletzte Person in der Welt war, nach deren Wiedersehen ich Verlangen trug. Ich nahm ein Cab und fuhr nach dem Hotel zurück. Jede Stunde wächst meine Ungeduld, von Armadale zu erfahren, ich weiß kaum mehr, was ich in meiner Unruhe beginnen soll. Wann wird mir die Zukunft etwas minder dunkel erscheinen? Morgen ist Sonnabend. Wird das Sonnabendblatt den Schleier lüften?

Den 22. November. Das Sonnabendblatt hat den Schleier gelüftet! Worte sind außer Stande, mein Erstaunen, die entsetzliche Aufregung zu schildern, in der ich schreibe. Was nun geschehen ist, hatte ich mir nie gedacht, ich kann es nicht glauben, kann es mir auch nicht Vergegenwärtigen. Winde und Wogen selbst sind meine Mitschuldigen geworden! Die Yacht hat Schiffbruch erlitten und jede Seele an Bord ist umgekommen!

Das ist der Bericht, wie ich ihn aus der Zeitung von heute Morgen herausgeschnitten habe:

»Unglück auf der See. Dem königlichen Yachtgeschwader und den Versicherern ist Kunde geworden, welche zu unserm Bedauern keinem vernünftigen Zweifel mehr Raum gibt, daß am 5. des laufenden Monats die Yacht Dorothea mit Allem, was an Bord war, untergegangen ist. Die Einzelheiten der Katastrophe sind folgende: Am 6. d. stieß mit Tagesanbruch die von Venedig nach Marfala segelnde italienische Brigg Speranza beim Cap Spartivento —— an der südlichsten Spitze Italiens —— auf verschiedene im Meere schwimmende Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der Mannschaft erregten. Der vorhergehende Tag war durch einen jener plötzlichen und heftigen Stürme bezeichnet gewesen, welche diesen südlichen Meeren eigenthümlich sind, einen so heftigen, wie man seit Jahren sich nicht zu erinnern weiß. Da die Speranza selbst während des Sturms sich in höchster Gefahr befunden hatte, so schloß der Kapitän, die schwimmenden Gegenstände möchten auf die Spur eines Wracks leiten, und ein Boot ward hinabgelassen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Ein Hühnerstall, ein paar zertrümmerte Sparren und Bruchstücke einer zerbrochenen Planke waren die ersten Anzeichen von dem furchtbaren Unglück, das sich begeben hatte. Später wurden noch einige von den leichtern Stücken des Kajütenmobiliars zerrissen und beschädigt gefunden, und endlich traf man auf ein Andenken von schmerzlichem Interesse ein Life.Buoy mit einer daran befestigten verkorkten Flasche. Diese letzteren Gegenstände sowie das Kajütenmobiliar wurden an Bord der Speranza gebracht. Auf dem Buoy war der Name des Schiffs folgendermaßen angeschrieben: Dorothea, R. Y.-S. (Königl. Yacht-Geschwader). Als man die Flasche entstöpselte, fand man darin einen Streifen starken Papiers, worauf flüchtig mit Bleistift bemerkt war: »Cap Sparttivento vorüber; zwei Tage von Messina abgegangen. 5. November 4 Uhr nachmittags (die Stunde, wo nach dem Schiffsbruche der Brigg der Sturm am stärksten war). Unsere beiden Boote treiben auf der See. Das Ruder ist fort und wir haben ein Leck am Hinterdeck, so groß, daß wir’s nicht mehr verstopfen können. Gott stehe uns bei —— wir sinken. John Mitchenden, Bootsmann.« Bei seiner Ankunft in Marsala erstattete der Kapitän der Brigg dem englischen Consul seinen Bericht und übergab ihm die gefundenen Gegenstände. In Messina eingezogene Erkundigungen thaten dar, daß das unglückliche Fahrzeug dort von Neapel eingelaufen war. In Neapel stellte es sich heraus, daß die Dorothea durch den Agenten ihres Besitzers an einen englischen Gentleman, Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose in Norfolk, vermiethet worden war. Ob Mr. Armadale einige Freunde mit sich an Bord hatte, ist nicht aufzuklären gewesen. Leider unterliegt es aber keinem Zweifel, daß der unglückliche Gentleman selbst von Neapel aus an Bord der Yacht war und sich auch darauf befand, als sie Messina verließ.«

Das die Geschichte des Schiffbruchs, wie ihn die Zeitungen in den bündigsten und deutlichsten Worten erzählen. Der Kopf schwindelt mir; meine Verwirrung ist so groß, daß ich, wenn ich an einen bestimmten Gegenstand zu denken suche, an fünfzig verschiedene Dinge zugleich denke. Ich muß warten —— auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an —— ich muß warten, bis ich meiner neuen Situation ins Gesicht sehen kann, ohne daß mich der Gedanke daran schwindeln macht.

Den 23. November, acht Uhr früh. Vor einer Stunde bin ich aufgestanden und habe klar vor mir gesehen, was ich unter den gegenwärtigen Umständen zuerst zu thun habe.

Zu erfahren, was jetzt in Thorpe-Ambrose vorgeht, ist von der höchsten Wichtigkeit für mich, aber solange ich darüber im Unklaren bin, mich selbst dahin zu wagen, würde mehr als unbesonnen sein. Nur die Alternative, Jemand an Ort und Stelle um Nachricht zu bitten, bleibt mir übrig, und der Einzige, an den ich schreiben kann, ist —— Bashwood.

Eben bin ich mit dem Briefe fertig geworden. Ich habe oben darüber »Privatim und confidentiell« und unten darunter »Lydia Armadale« gesetzt. Fühlt sich der alte Narr von meinem Betragen gegen ihn tödtlich gekränkt und zeigt in seiner Erbitterung meinen Brief herum, so steht nichts darin, was mich compromittiren kann. Doch ich glaube nicht, daß er es thun wird. Ein Mann in seinem Alter verzeiht einem Weibe Alles, wenn dies ihm nur entgegenkommt. Als eine mir zu erzeigende persönliche Gunst habe ich ihn ersucht, unsere Correspondenz streng geheim zu halten. Ferner habe ich darauf angespielt, daß meine Ehe mit meinem nun verstorbenen Manne keine glückliche gewesen sei und daß ich die Thorheit, einen jungen Mann geheirathet zu haben, schmerzlich empfinde. In der Nachschrift gehe ich noch weiter und riskiere kühn diese Trostesworte: »Wenn Sie mir dazu Gelegenheit geben, mein lieber Mr. Bashwood, so kann ich Ihnen mündlich erklären, was Ihnen in meinem Verhalten gegen Sie falsch und hinterlistig erschienen sein mag.« Stände er noch diesseits der Sechzig, so wäre mir’s zweifelhaft, ob ich damit reüssirte. Allein er steht schon jenseits derselben und ich glaube, er wird mir die Gelegenheit zu mündlicher Erörterung nicht vorenthalten.

Zehn Uhr.Ich habe mir meinen Trauschein angesehen, den ich mir vorsorglich an unserm Hochzeitstage verschaffte, und zu meinem unaussprechlichen Unbehagen ein Hinderniß entdeckt, das sich meinem Auftreten als Armadale’s Wittwe entgegenstellt und das ich jetzt zum ersten Male erblicke.

Die Personalbeschreibung Midwinter’s unter seinem wahren Namen, wie sie der Trauschein gibt, entspricht in jeder wichtigen Beziehung der Person Armadales von Thorpe-Ambrose, hätte ich diesen wirklich geheirathet Name und Vorname: Allan Armadale. Alter: einundzwanzig, anstatt zweiundzwanzig, was leicht als Irrthum gelten kann. Stellung und Beruf: Junggeselle und Gentleman. Wohnung zur Zeit der Verheirathung: Franks Hotel, Darley-Street. Name und Vorname des Vaters: Allan Armadale. Stellung oder Beruf des Vaters: Gentleman. Jeder dieser einzelnen Punkte —— den kleinen Unterschied in ihrem beiderseitigen Alter ausgenommen —— paßt auf einen so gut wie auf den andern. Wie aber, wenn ich meinen Trauschein producire und ein pedantischer Rechtsanwalt darauf besteht, die Kirchenbücher selbst einzusehen? Midwinters Handschrift ist von der seines verstorbenen Freundes so total verschieden! Die Hand, in welcher er sein »Allan Armadale« in das Buch eingeschrieben hat, kann nun und nimmermehr für die Hand passieren, in der Armadale von ThorpesAmbrose seinen Namen zu unterzeichnen pflegt!

Solch einen Abgrund unter meinen Füßen, kann ich da mit Sicherheit in der Sache vorgehen? Wie kann ich davon sprechen? Wo einen erfahrenen Mann finden, an den ich mich um die nöthige Auskunft wenden dürfte? Ich muß mein Tagebuch zumachen und nachdenken.

Sieben Uhr. Meine Prospecte sind inzwischen andere geworden. Ich habe eine Warnung erhalten, die mich nicht umsonst zur Vorsicht für die Zukunft gemahnt haben soll, und bin so glücklich gewesen, mir, wie ich glaube, den erforderlichen Rath und Beistand zu verschaffen.

Umsonst suchte ich mir eine geeignetere Persönlichkeit auszudenken, an die ich mich in meiner großen Verlegenheit wenden könnte; ich mußte mithin aus der Noth eine Tugend machen und ohne Verzug Mrs. Oldershaw mit einem Besuche von ihrer theuern Lydia überraschen. Es ist wohl überflüssig hinzuzusetzen, daß ich beschlossen hatte, sie gründlich zu sondieren und mir kein Geheimniß von Wichtigkeit entschlüpfen zu lassen.

Eine mürrische und feierliche alte Dienerin ließ mich in das Haus ein. Als ich nach ihrer Herrin fragte, wurde mir mit bitterstem Nachdruckes bedeutet, welche Unschicklichkeit ich begangen habe, an einem Sonntage zukommen. Mrs. Oldershaw war zu Hause, aber lediglich, weil sie sich zu unwohl befand, um in die Kirche gehen zu können! Die Dienerin hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß ihre Herrin mich vorlassen werde. Ich hielt es im Gegentheil für sehr wahrscheinlich daß sie mich in ihrem eigenen Interesse mit einer Unterredung beehren würde, wenn ich ihr meine Karte mit ihrem »Miß Gwilt« darauf schickte, und der Erfolg bewies, daß ich Recht hatte. Nach ein paar Minuten Wartens ward ich in den Salon geführt.

Da saß, mit dem Aussehen eines Weibes, das auf der Heerstraße zum Himmel ausruht, unsere Mutter Jesabel, in einem schiefergrauen Kleide mit grauen Halbhandschuhen an den Händen, einer sehr einfachen Haube auf dem Kopfe und einem Predigtbuche auf ihrem Schooße. Himmelnd zeigte sie das Weiße ihrer Augen, als sie meiner ansichtig wurde, und die ersten Worte, welche sie sagte, waren: «.O Lydia, Lydia, warum bist Du nicht in der Kirche?«

Wäre ich weniger in Sorgen gewesen, das plötzliche Auftreten Mutter Oldershaw’s in einer ganz neuen Rolle würde mich ergötzt haben. Ich war jedoch nicht in der Stimmung zu lachen und, nachdem meine Wechsel sämtlich bezahlt, ohne alle Verbindlichkeit, die mir und meinen Worten hätte einen Zwang auflegen können. Dammes Zeug!« sagte ich. »Stecke Dein Sonntagsgesicht in die Tasche! Seit ich zuletzt von Thorpe-Ambrose schrieb, habe ich allerhand Neuigkeiten für Dich.«

Sowie ich Thorpe-Ambrose erwähnte, kam das Weiße der heuchlerischen alten Augen wieder zum Vorschein und sie weigerte sich entschieden, von meinem Thun und Treiben in Norfolk etwas Weiteres zu hören. Ich drang in sie, doch ganz umsonst. Mutter Oldershaw schüttelte blos den Kopf und stöhnte und sagte mir, ihre Beziehungen zu dem Gepränge und den Eitelkeiten der Welt seien für immer abgebrochen. »Ich bin neu geboren worden, Lydia«, sprach die unverschämte alte Hexe, während sie sich die Augen wischte. »Nichts in der Welt kann mich vermögen, von Deiner sündhaften Speculation auf die Thorheit eines reichen jungen Mannes noch etwas zu hören.«

Nach diesen Worten wäre ich auf der Stelle gegangen, hätte mich nicht noch eine Erwägung einen Augenblick länger zurückgehalten.

Man konnte leicht erkennen, daß die Umstände, welcher Art sie auch gewesen, die während meines letzten Besuchs in London Mutter Oldershaw zu einem Verstecke gezwungen hatten, ernst genug gewesen sein mochten, um sie, wenigstens scheinbar, zur Aufgabe ihres früheren Geschäfts zu veranlassen. Ebenso war es klar, daß sie es vortheilhaft gefunden hatte, wie so Viele in England, die weiche Maske heuchlicher Frömmigkeit vorzunehmen. Das ging mich indessen nichts an, und ich würde diese Betrachtungen außerhalb, nicht innerhalb des Hauses angestellt haben, hätte es nicht in meinem Interesse gelegen, die Aufrichtigkeit von Mutter Oldershaw auf die Probe zu stellen, soweit unsere frühere Verbindung davon berührt wurde. Als sie mich zu unserm unternehmen ausgerüstet, hatte ich, wie ich mich entsann, ein gewisses Document unterzeichnen müssen, welches sie an meinem Erfolge wesentlich interessierte und ihr, sobald ich Mrs. Armadale wäre, ein gut Stück Geld sicherte. Dies Papier jetzt zu einem Prüfstein für sie zu machen, war zu verführerisch, als daß ich der Verlockung hätte widerstehen können. Ich bat denn meine fromme Freundin, mir ein letztes Wort zu gestatten, ehe ich mich verabschiedete.

»Da Du jetzt an meiner sündhaften Speculation auf Thorpe-Ambrose kein Interesse mehr hast«, sagte ich, »so gibst Du mir vielleicht die Urkunde zurück, die ich unterzeichnete, als Du und ich noch nicht ganz so musterhafte Personen waren, wie Du es jetzt bist.«

Die schamlose alte Heuchlerin schloß alsbald ihre Augen und schauderte.

»Heißt das Ja oder Nein?« fragte ich.

»Aus moralischen und religiösen Gründen, Lydia, heißt es Nein«, sagte Mrs. Oldershaw.

»Aus bösen und weltlichen Gründen«, versetzte ich, »danke ich Dir, daß Du mir Deine wahre Farbe gezeigt hast?

In der That konnte jetzt kein Zweifel mehr obwalten über das Verhalten, welches sie einzuschlagen gedachte. Sie wollte keine Gefahr weiter laufen und kein Geld mehr borgen, sie wollte Sieg oder Niederlage lediglich meinen eigenen Händen überlassen. Siegte ich, so producirte sie das von mir unterzeichnete Papier und steckte ihr Geld ohne Gewissensbisse ein. In meiner gegenwärtigen Lage wäre es reine Wort- und Zeitverschwendung gewesen, hätte ich unsere Unterredung durch nutzlose Beschuldigungen meinerseits in die Länge ziehen wollen. Ich ließ mir die Sache im Stillen zur Warnung dienen und schickte mich an zu gehen.

Im Augenblick, wo ich mich aus meinem Stuhle erhob, ließ sich ein lauter Doppelschlag an der Hausthür vernehmen. Offenbar wußte Mrs. Oldershaw, was er zu bedeuten hatte. Sie stand in ungestümer Hast auf und zog die Klingel. »Ich bin zu unwohl, um irgendwen empfangen zu können«, sagte sie zu dem Dienstmädchen. »Warte noch einen Augenblick«, wandte sie sich an mich, als die Dienerin wieder die Treppe hinabgegangen war.

Es war eine kleine, sehr kleine Rache von meiner Seite, das weiß ich, allein die Genugthuung, Mutter Jesabel selbst in einer Kleinigkeit in die Quere zu kommen, konnte ich mir nicht versagen. »Ich kann nicht warten«, erwiderte ich; »Du selbst hast mich eben daran erinnert, daß ich eigentlich in der Kirche sein sollte.« Bevor sie antworten konnte, war ich schon aus dem Zimmer hinaus.

Als ich meinen Fuß aus die Stufe setzte, stand die Hausthür offen und die Stimme eines Mannes erkundigte sich, ob Mrs. Oldershaw zu Hause wäre.

Auf der Stelle erkannte ich die Stimme Doctor Downwards!«



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

»Der Doctor wiederholte die Auskunft der Dienerin in einem Tone, aus dem unverkennbar heftiger Aerger sprach, daß er nicht weiter als bis zur Hausthür vorgelassen werden sollte.

»Ihre Herrin ist nicht wohl genug, um Besuch empfangen zu können? Geben Sie ihr diese Karte«, sprach er, »und sagen Sie ihr, das nächste Mal, wenn ich käme, erwartete ich, sie werde wohl genug sein, mich empfangen zu können.«

Hätte mir seine Stimme nicht deutlich verrathen, daß er sich gegen Mrs. Oldershaw nicht eben freundlich gesinnt fühlte, so hätte ich bestimmt unsere alte Bekanntschaft nicht geltend gemacht. Allein wie die Dinge lagen, fühlte ich mich getrieben, mit ihm oder mit sonst Jedem zu sprechen, der mit Mutter Jesabel ein Hühnchen zu pflücken hatte. Das war wohl mehr als meine kleine Rancune gegen sie. Jedenfalls schlüpfte ich rasch die Treppe hinunter und hinter dem Doctor aus der Thür tretend holte ich ihn bald auf der Straße ein.

Wie ich seine Stimme erkannt hatte, so erkannte ich jetzt seinen Rücken, als ich ihm nachging. Als ich ihn indeß bei seinem Namen rief und er einigermaßen betroffen sich umdrehte und vor mir stand, war ich meinerseits betroffen. Das Gesicht des Doctors war vollkommen metamorphosirt! Sein kahler Kopf stak unter einer künstlich graumelirten Perücke. Er hatte sich den Backenbart wachsen lassen und ihn gefärbt, damit er zu seiner Haartour paßte. Eine häßliche Brille mit großen runden Gläsern thronte anstatt des zierlichen Augenglases, dessen er sich sonst zu bedienen pflegte, auf seiner Nase, und ein schwarzes Halstuch, welches ein ungeheuerer Hemdkragen überragte, erschien als der unwürdige Nachfolger der geistlich weißen Cravatte von ehedem. Nichts blieb an dem Manne, wie ich ihn einst kannte, als die behagliche Beleibtheit seiner Figur und die vertrauliche Verbindlichkeit und Sanftheit seiner Stimme und Manier.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er, sich etwas ängstlich umsehend und seine Visitenkartentasche äußerst hastig hervorziehend. »Aber, meine liebe Miß Gwilt, erlauben Sie mir, daß ich einen kleinen Irrthum Ihrerseits berichtige. Doctor Downward von Pimlieo ist todt und begraben und Sie werden mich außerordentlich verpflichten, wenn sie ihn unter keiner Bedingung je wieder erwähnen.«

Ich nahm die Karte, die er mir darbot, und entdeckte, daß ich jetzt mit »Doctor Le Doux vom Sanatorium Fairweather-Vale in Hampstead« zu sprechen hatte, wenn ich dem neuen Namen meines alten Bekannten gerecht werden wollte.

»Sie scheinen es für nöthig erachtet zu haben«, sagte ich, »sehr Vieles zu verändern, seit ich Sie zum letzten Male gesehen habe. Ihren Namen, Ihre Wohnung, Ihre persönliche Erscheinung ——«

»Und die Specialität meiner Praxis«, fiel der Doctor ein. »Ich habe von dem ursprünglichen Besitzer, einem Mann von wenig Unterenehmungsgeist und ohne Hilfsquellen, einen Namen, ein Diplom und ein zur Aufnahme von Nervenkranken bestimmtes, nur erst theilweise vollendetes Sanatorium gekauft. Wir sind bereits so weit, einigen bevorzugten Freunden einen Blick in unser Etablissement gestatten zu können; kommen Sie und besuchen Sie uns. Gehen Sie meinen Weg? Bitte, nehmen Sie meinen Arm und sagen Sie mir, welchem glücklichen Zufall ich das Vergnügen verdanke, Sie wiederzusehen?«

Ich unterrichtete ihn von den Umständen, genau wie sie statt gehabt hatten, und setzte hinzu, um mich seiner Beziehungen zu seinen früheren Verbündeten in Pimlico zu vergewissern, daß ich höchlichst erstaunt gewesen sei, vor einem so alten Bekannten, wie er es sei, Mrs. Oldershaw’s Thür verschlossen zu sehen. Vorsichtig, wie er war, that mir doch die Art und Weise, wie er meine Bemerkung aufnahm, sofort dar, daß mein Verdacht in Betreff einer Entfremdung wohlbegründet war. Sein Lächeln verschwand und ärgerlich und aufgeregt setzte er seine häßliche Brille auf seinem Nasensattel fest.

»Verzeihen Sie gefälligst, wenn ich die Beantwortung dieser Frage ganz Ihrem eigenen Scharfsinne überlasse«, sagte er. »Leider ist mir unter den obwaltenden Umständen eine Unterhaltung über Mrs. Oldershaw nichts weniger als angenehm. Eine geschäftliche Verlegenheit, die mit unserer früheren Verbindung in Pimlico im Zusammenhange sieht, ohne alles Interesse für eine elegante und geistreiche junge Dame wie Sie. Was haben Sie mir Neues zu erzählen? Haben Sie Ihre Stellung in Thorpe-Ambrose aufgegeben? Wohnen Sie jetzt in London? Kann ich in irgend einer Weise, in meinem Beruf oder sonst wie Ihnen dienen?«

Diese letzte Frage war von größerer Bedeutung für mich, als er ahnte. Bevor ich antwortete, fühlte ich die Notwendigkeit, mich von seiner Gesellschaft los zu machen und eine kleine Frist zur Ueberlegung zu gewinnen.

»Sie haben mich gütig um meinen Besuch gebeten, Doctor«, sagte ich. »Sehr wahrscheinlich, daß ich in Ihrem stillen Hause in Hampstead Ihnen etwas zu sagen habe, was ich Ihnen in der lärmenden Straße hier nicht sagen kann. Wann treffe ich Sie in Ihrem Sanatorium? Vielleicht zu einer späteren Stunde noch heute?«

Der Doctor versicherte mir, er sei eben auf dem Nachhausewege begriffen, und bat mich, selbst die Stunde meines Besuchs zu bestimmen. »Nachmittags«, sagte ich, und eine anderweitige Verabredung vorschützend, rief ich den ersten der vorüberfahrenden Omnibusse an. »Vergessen Sie die Adresse nicht«, sprach der Doctor, während er mir in den Wagen half. »Ich habe ja Ihre Karte«, antwortete ich, und so schieden wir.

Ich begab mich nach dem Hotel zurück und in mein Zimmer, wo ich mich sehr ernstem Nachdenken überließ.

So unverrückt wie zuvor stand mir das ernste Hinderniß der Unterschrift im Trauungsregister noch immer im Wege. Alle Hoffnung, bei Mrs. Oldershaw Hilfe zu finden, war dahin. Fortan konnte ich sie nur als eine im Verborgenen lauernde Feindin betrachten, die Feindin, die, wie ich jetzt nicht mehr zweifeln konnte, mich verfolgt und belauert hatte, als ich das letzte Mal in London war. Wohin konnte ich mich sonst um den Rath wenden, den mich meine unselige Geschichts- und Gesetzunkenntniß bei Erfahreneren, als ich es bin, zu suchen zwingt? Konnte ich zu dem Sachwalter gehen, den ich consultirte, als ich Mitwinter gern unter meinem Mädchennamen heirathen wollte? unmöglich! Ganz abgesehen von der kalten Aufnahme, die er mir bei meinem letzten Besuche zu Theil werden ließ, bezog sich der Rath, den ich diesmal brauchte —— bemäntle ich die Thatsachen noch so sehr —— auf die Vollführung eines Betrugs, eines Betrugs, wie ihn kein respectabler Rechtsanwalt fördern helfen würde, der noch Namen und Charakter zu verlieren hat. Gab es sonst eine andere competente Persönlichkeit, an die ich denken konnte? Es gab eine und nur diese eine —— den Doctor, welcher in Pimlico gestorben und in Hampstead wieder ausgelebt war.

Ich wußte, daß er keine Scrupel kannte, daß er die Geschäftserfahrung besaß, die mir abging, und so gescheidt, verschlagen und weitsichtig war wie nur irgend ein Mann in London. Ueberdies hatte ich heute Morgen zwei wichtige Entdeckungen gemacht, die ihn berührten. Erstens stand er auf keinem guten Fuße mit Mrs. Oldershaw, was alle Gefahr ausschloß, daß wenn ich ihm traute, sich die Beiden wider mich verbinden möchten. Zweitens nöthigten ihn die Verhältnisse noch immer, sich unter falscher Hülle sorgfältig zu verstecken, woraus mir eine Gewalt über ihn erwuchs, wie er sie in keiner Beziehung je größer über mich gewinnen konnte. Unter solchen Umständen war es so nach für meine Zwecke der rechte, der einzige Mann, und dennoch trug ich Bedenken, zu ihm zu gehen, zauderte eine volle Stunde und länger, ohne zu wissen warum.

Es war zwei Uhr, als ich mich endlich entschloß, dem Doctor einen Besuch zu machen. Nachdem ich hierauf fast noch eine ganze Stunde mit der Ueberlegung verbracht hatte, wie weit ich ihn ins Vertrauen ziehen sollte, sandte ich schließlich nach einem Cab und machte mich nach drei Uhr auf den Weg nach Hampstead.

Ich hatte einige Schwierigkeit, das Sanatorium zu finden.

Fairweather-Vale stellte sich als eine ganz neue Gegend dar, südlich unter dem Plateau von Hampstead gelegen. Der Tag war trübe und der Ort sah sehr trist aus. Den Zugang zu demselben bildete eine alte Allee, die vordem die Parkavenue eines Landsitzes gewesen sein mochte. An ihrem Ende gelangten wir zu einer Wildniß von freiem Lande, aus dem hier und da halbfertige Villen aufragten und wo ein häßliches Ensemble von Bretern, Schubkarren und Baumaterialien aller Art nach rechts und links den Weg versperrte. In einem Winkel dieser Scene der Verwüstung stand ein trübseliges, hochaufgeschossenes, großes Haus mit schwarzbraunem Stuck überkleidet und von einem kahlen, unfertigen Garten umgeben, ohne Busch oder Blume darin —— ein schauerlicher Anblick. An der offenstehenden eisernen Thür, die in die Umzäunung führte, befand sich eine neue Messingplatte, auf welcher in großen schwarzen Buchstaben Sanatorium zu lesen war. Der Droschkenkutscher zog die Glocke, ihr Schall hallte durch das öde Haus wie eine Todtenglocke, und der bleiche, verwitterte, alte, schwarzgekleidete Diener, der auf das Geläute erschien, sah aus, als wäre er eben dem Grabe entstiegen, um seine Pförtnerpflicht zu erfüllen. Der Geruch von nassem Pflaster und neuem Firniß strömte mir aus dem Hause zu, während von mir der kältende Hauch der feuchten Novemberluft in dieses eindrang. Im Augenblicke selbst achtete ich nicht darauf, wie ich indeß jetzt schreibe, entsinne Ich mich, daß mich schauderte, als ich die Schwelle überschritt.

Ich gab dem Diener als meinen Namen Mrs. Armadale an und wurde in den Wartesaal geführt. Die Feuchtigkeit ließ selbst das Feuer auf dem Kaminroste nicht aufkommen. Die einzigen Bücher, welche auf dem Tische lagen, waren des Doctors eigene Schriften, in nüchternen schwarzbraunen Einbänden, und der einzige Gegenstand, der die Wände schmückte, war das fremde Diplom unter Glas und Rahmen, welches der Doctor zugleich mit dem fremden Namen käuflich an sich gebracht hatte.

Nach ein paar Minuten trat der Eigenthümer des Sanatoriums ein und hielt in freudigem Erstaunen, als er mich erblickte, die Hände in die Höhe.

»Ich hatte keine Idee, wer Mrs. Armadale wäre«, sagte er« »Meine liebe Dame, haben Sie auch Ihren Namen gewechselt? Wie hinterlistig von Ihnen, mir bei unserm Zusammentreffen diesen Morgen nichts davon zu sagen! Kommen Sie in mein Privatzimmer, es kann mir nicht einfallen, eine alte und theure Freundin wie Sie in dem allgemeinen Patientenwartezimmer zu empfangen.«

Das Privatzimmer des Doctors lag nach hinten heraus und sah auf Felder und Bäume, die wohl dem Untergang geweiht, aber vom Baumeister noch nicht zerstört waren. Schreckliche Gegenstände in Glas, Messing und Leder, verschlungen und gewunden, als wären sie fühlende Wesen, die sich vor Schmerz und Todesangst krümmten, nahmen das eine Ende des Zimmers ein. Ein großer Bücherschrank mit Glasthüren erstreckte sich über die ganze gegenüberliegende Wand und zeigte auf seinen Regalen lange Reihen von Glasgefäßen, worin in einer gelben Flüssigkeit formlose todte Geschöpfe von einem monotonen Weiß schwammen. Ueber dem Kamin hing eine Sammlung photographischer Portraits von Männern und Frauen in zwei großen Rahmen, die in kleinem Zwischenraume neben einander angebracht waren. Der Rahmen zur Linken stellte in Bildern en face die verschiedenen Wirkungen von Nervenleiden vor, der zur Rechten die Verheerungen, welche der Wahnsinn im Gesichte der Menschen hervorbringt; den Zwischenraum zwischen beiden zierte ein elegant illuminiertes Blatt mit dem altehrwürdigen Motiv: »Besser vorgebeugt als curirt.«

»Da bin ich mit meinem galvanischen Apparat und meinen präparierten anatomischen Raritäten und was sonst noch dazu gehört«, begann der Doctor, während er mich in einen Stuhl neben dem Kamin drückte. »Und gerade über Ihnen bittet mein »System« stumm um Ihr Interesse, in einer Gestalt, die ich ihnen jetzt ganz offen und rückhaltslos darlegen will. Das Haus hier ist kein Irrenhaus, meine liebe Freundin. Mögen Andere den Wahnsinn behandeln, wie sie Wollens ich komme ihm zuvor. Bis jetzt sind noch keine Kranken im Hause, allein wir leben in einer Zeit, wo Nervenzerrüttung —— eine Schwester des Wahnsinns —— in steter Zunahme begriffen ist, und bald genug werden sich Leidende einstellen. Ich kann warten, wie Harvey und wie Jenner gewartet hat. Jetzt aber stemmen Sie Ihre Füße hier auf das Kamingitter und erzählen Sie mir von Ihnen selbst. Natürlich sind Sie verheirathet? Und was für ein hübscher Name! Empfangen Sie meine besten und herzlichsten Glückwünsche Sie besitzen die beiden größten Segnungen, welche das Geschick dem Weibe spenden kann: einen Gatten und ein Daheim!«

Bei der ersten passenden Gelegenheit unterbrach ich den genialen Fluß von des Doctors Beredtsamkeit.

»Ich bin verheirathet; die Verhältnisse sind jedoch keineswegs gewöhnlicher Art«, sagte ich ernst. »Meine derzeitige Lage weiß nichts von den Segnungen, wie sie in der Regel und der Annahme nach dem Weibe zu Theil werden. Bereits bin ich in einer Situation, die ihre sehr ernsten Verlegenheiten hat, und binnen kurzem dürfte ich mich sogar in einer Lage befinden, wo mir sehr ernste Gefahren drohen.«

Der Doctor schob seinen Stuhl etwas näher zu mir heran und fiel sofort in seine alte ärztliche Manier und seinen alten confidentiellen Ton.

»Wenn Sie mich consultiren wollen«, sagte er sanft, »so wissen Sie ja, daß ich in letzter Zeit sehr gefährliche Geheimnisse zu bewahren verstanden habe, und auch das ist Ihnen bekannt, daß ich zwei an einem Rathgeber sehr werthvolle Eigenschaften besitze. Ich erschrecke nicht so leicht und es kann mir unbedingt vertraut werden.«

Selbst jetzt, in der elften Stunde, wo ich mit ihm allein in seinem Privatzimmer saß, zögerte ich noch. Es war mir so neu und ungewohnt, Jemand anders als mir selbst zu trauen! Und doch, wie konnte ich es umgehen, in einer Verlegenheit, wo es sich um eine Frage von Recht und Gesetz handelte, Jemand anders zu Rathe zu ziehen?

«Ganz wie Sie wollen, das wissen Sie«, setzte der Doctor hinzu. »Ich fordere vertrauliche Mittheilungen nie heraus, ich pflege sie nur zu empfangen.«

Da gab’s nun keinen Ausweg mehr; ich war nicht gekommen, zu zögern, sondern zu sprechen. Ich riskierte es und sprach:

»Die Angelegenheit, in der ich Sie gern consultiren möchte, liegt nicht, wie Sie zu denken scheinen, innerhalb des Vereichs Ihrer ärztlichen Praxis. Ich glaube indeß, Sie werden mir Beistand gewähren können, wenn ich Ihrer größeren Praxis als Mann von Welt vertraue. Zuvor aber mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie bestimmt überrasche und möglicherweise erschrecke, ehe ich mit meiner Geschichte zu Ende bin.«

Nach dieser Einleitung begann ich meine Rede und sagte ihm, was ich beschlossen hatte, ihm zu sagen, nicht mehr.

Von vornherein machte ich kein Geheimniß daraus, daß ich willens sei, Armadales Wittwe vorzustellen, und nannte ohne Rückhalt —— ich wußte ja, daß der Doctor auf das Bureau gehen und selbst das Testament einsehen konnte —— das hübsche Einkommen, das mir im Falle meines Erfolgs ausgesetzt werden würde. Einige Umstände, die in nächster Linie bedacht sein wollten, hielt ich für nothwendig zu verändern oder zu verheimlichen. Ich zeigte ihm das Zeitungsblatt, das den Untergang der Yacht berichtete, von den Begebnissen in Neapel aber sagte ich ihm nichts; setzte ihn von der Gleichheit der beiden Namen in Kenntniß, ihn in dem Wahne lassend, sie sei eine zufällige; erzählte ihm, als wichtiges Moment in der Sache, daß mein Mann außer mir vor Jedem seinen wahren Namen verheimlicht habe; um aber jedweden Verkehr zwischen ihnen zu verhindern, verbarg ich ihm sorgfältig, unter was für einem angenommenen Namen Midwinter die ganze Zeit seines Lebens existiert hatte. Ich bekannte, daß ich meinen Gatten auf dem Festlande zurückgelassen; als indes; der Doctor danach fragte, ließ ich ihn schließen —— mit aller meiner Entschlossenheit konnte ich es ihm nicht positiv sagen —— daß Mitwinter um den beabsichtigten Betrug wisse und daß er sich geflissentlich fern halte, um mich durch seine Gegenwart nicht zu compromittiren. Nachdem diese Schwierigkeit geebnet oder, wie ich’s jetzt fühle, diese Niederträchtigkeit begangen war, kehrte ich zur Wahrheit zurück. Einen nach dem andern erwähnte ich alle die Umstände, von denen meine geheime Heirath begleitet war und die Armadales und Midwinter’s Thun und Treiben betrafen, um darzulegen, daß jede Entdeckung der falschen Rolle, welche ich zu spielen gedachte, durch die Evidenz Anderer eine pure Unmöglichkeit sei. »So viel«, sagte ich, »über mein Vorhaben. Jetzt muß ich Ihnen ohne Umschweif von einem sehr ernstlichen Hinderniß erzählen, das mir im Wege steht.«

Der Doctor, welcher mir bis hierher ohne Unterbrechung seinerseits zugehört hatte, bat mich nun, ihm ein paar Worte zu gestatten, ehe ich fortführe.

Die paar Worte waren sämtlich Fragen, gescheidte, forschende, argwöhnische Fragen, die ich jedoch fast; ohne jeglichen Rückhalt beantworten konnte, denn sie bezogen sich beinahe alle auf die Verhältnisse, unter welchen meine Verheirathung stattgefunden, und auf die Chancen pro oder contra, die mein rechtmäßiger Gatte hätte, wenn es ihm später einfallen sollte, seine Ansprüche an mich geltend zu machen.

Zuerst erwiderte ich dem Doctor, daß ich in Thorpe-Ambrose Alles so einzurichten gewußt habe, um allgemein das Gerücht zu verbreiten, als hätte ich Armadale heirathen wollen; sodann, daß das frühere Leben meines Mannes nicht der Art gewesen sei, ihn in den Augen der Welt vortheilhaft zu präsentieren, und drittens, daß wir ohne anwesende Zeugen, die uns kannten, in einer großen Pfarrkirche an dem nämlichen Morgen getraut worden seien, an welchem zwei andere Paare verbunden worden wären, von den Dutzenden und aber Dutzenden von Paaren gar nicht zu reden, die seitdem in der selben Kirche copulirt worden, sodaß sich die Erinnerung an uns bei den officiell betheiligten Personen längst verwischt haben müsse. Als ich dem Doctor diese Facta mitgetheilt und er sich ferner vergewissert hatte, daß Midwinter und ich unmittelbar nach der kirchlichen Ceremonie ins Ausland und unter Fremde gereist waren, und daß die Mannschaft der Yacht, auf der Armadale —— vor meiner Verheirathung —— von Sommersetshire abgefahren, jetzt auf Schiffen diente, welche die Reise um die Welt machten, da zeigte sich sein Vertrauen auf meine Aussichten deutlich auf seinem Gesichte. »Soweit ich es beurtheilen kann«, sagte er, »würde Ihr Mann, wenn Sie einmal die Stelle von Mr. Armadale’s Wittwe eingenommen haben, seine Ansprüche auf Sie auf nichts Anderes als auf seine eigene nackte Behauptung gründen können. Und dem, denke ich, werden Sie ruhig Trotz zu bieten vermögen. Entschuldigen Sie, wenn ich anscheinend einem Gentleman mißtraue. Es könnten indeß zwischen Ihnen und ihm später einmal Mißverständnisse eintreten, und darum ist es höchst wünschenswerth vorher genau zu wissen, was er unter solchen Umständen vermöchte oder nicht vermöchte. Jetzt aber, wo wir mit dem Haupthinderniß fertig sind, das ich auf Ihrem Wege zum Erfolge erblicke, lassen Sie uns auf das Hinderniß kommen, das Sie ferner vor Augen haben.«

Ich kam sehr gern darauf. Der Ton, in dem er von Midwinter sprach, berührte mich außerordentlich unangenehm, obschon ich selbst daran schuld war, und weckte in mir für den Augenblick etwas von dem alten thörichten Gefühl, das ich längst auf immer zur Ruhe gebettet wähnte. Begierig ergriff ich die Gelegenheit, das Gesprächsthema zu wechseln, und erwähnte die Verschiedenheit der Handschrift, in der Midwinter den Namen Allan Armadale ins Kirchenbuch eingetragen hatte, von der Handschrift, in der Armadale von Thorpe-Ambrose seinen Namen zu unterzeichnen pflegte, mit einem Eifer, welchen der Doctor mit Ergötzen zu bemerken schien.

»Ist das Alles?« fragte er zu meiner unendlichen Ueberraschung und Erleichterung als ich geendet hatte. »Meine theure Dame, bitte, beruhigen Sie sich! Wenn die Sachwalter des seligen Mr. Armadale eine Urkunde Ihrer Verheirathung begehren, so werden sie sich nicht an das Kirchenbuch wenden, das kann ich Ihnen Versprechen?

»Was!« rief ich erstaunt aus. »Meinen Sie, daß der Eintrag in das Kirchenbuch kein Beweis meiner Verheirathung sei?«

»Es ist ein Beweis«, antwortete der Doctor, »daß Sie mit Jemand getraut worden sind, allein kein Beweis, daß Sie Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose geheirathet haben. Jack Rokes oder Tom Styles —— entschuldigen Sie diesen trivialen Vergleich —— hätten sich den Erlaubnißschein verschaffen und zur Kirche begeben können, um sich mit Ihnen unter Mr. Armadale’s Namen trauen zu lassen, und das Kirchenbuch —— wie könnte es anders! —— hätte in solchem Falle unschuldig an dem Betrug Theil nehmen müssen. Ich sehe, das befremdet Sie, aber, meine Verehrteste, als Sie mit mir in diese interessante Verhandlung traten, da hat es mich befremdet, wie ich jetzt nur gestehen will, daß Sie so viel Aufhebens über die seltsame Gleichheit der beiden Namen machten. Sie hätten das sehr kühne und romantische unternehmen, mit welchem Sie gegenwärtig beschäftigt sind, ganz ebenso gut beginnen können, wenn sie auch Ihren jetzigen Gatten gar nicht geheirathet hätten. Jeder andere beliebige Mann hätte die Stelle vertreten, vorausgesetzt, daß er bereitwillig gewesen wäre, zu dem Zwecke Mr. Armadale’s Namen anzunehmen.«

Ich wurde ärgerlich über diese Worte des Doctors. »Nicht jeder beliebige Manns versetzte ich heftig, »würde mir zu meinem Vorhaben gedient haben; ohne die Gleichheit der beiden Namen wäre ich nun und nimmermehr auf die Idee gekommen!«

Der Doctor gab zu, daß er zu weit gegangen sei. »Ich gestehe«, sagte er, »daß ich an diese persönliche Ansicht von der Sache nicht gedacht habe. Indeß lassen Sie uns aus unser eigentliches Thema zurückkommen. Im Laufe meines, wie ich es wohl nennen kann, abenteuerlichen ärztlichen Lebens bin ich mehr als einmal mit den Herren vom Jus zusammengekommen und habe mannichfache Gelegenheit gehabt, ihr Verhalten in der, wenn ich mich so ausdrücken soll, häuslichen Jurisprudenz zu beobachten. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich Ihnen sage, daß der Beweis, welchen Mr. Armadales Vertreter verlangen werden, der Ausspruch eines Zeugen des Acts sein wird, welcher die Identität von Braut und Bräutigam aus seiner eigenen persönlichen Bekanntschaft bestätigen kann?

»Ich habe Ihnen schon mitgetheilt«, nahm ich das Wort, »daß keine solche Person zugegen gewesen ist.«

»Ganz recht«, versetzte der Doctor »In dem Falle thut Ihnen, ehe Sie mit Sicherheit einen weiteren Schritt in der Sache wagen können, vor allem ein rasch fabricirter Zeuge von seltenen moralischen und persönlichen Eigenschaften noth, dem man zutrauen kann, daß er sich den erforderlichen Charakter zu verleihen weiß und vor einer Behörde die nothwendige Erklärung abgibt. Kennen Sie etwa eine solche Person?« fragte der Doctor, indem er sich in seinen Stuhl zurückwarf und mich in höchster Unschuld ansah.

»Ich kenne nur Sie«, sagte ich.

Der Doctor lächelte. »Ganz wie ein Frauenzimmer! bemerkte er mit empörendem Humor. »Im Augenblicke, wo es sein Ziel erblickt, stürzt es sich kopfüber auf den nächsten Weg, der dahin führt. O, das weibliche Geschlecht, das Geschlecht!«

»Denken Sie nicht an das Geschlecht«, sprudelte ich ungeduldig heraus. «Ich verlange eine ernste Antwort —— ja oder nein?«

Der Doctor stand auf und zeigte in höchster Gravität und Würde mit der Hand im Zimmer umher. »Sie sehen dies große Etablissement«, begann er; »vielleicht können Sie einigermaßen schätzen, wie viel für mich auf dem Spiele steht, daß es gedeiht und prosperiert. Ihr vortrefflicher natürlicher Verstand wird Ihnen sagen, daß der Chef dieses Sanatoriums ein Mann von unbeflecktem Charakter sein muß ——«

»Warum so viele Worte verschwenden«, fiel ich ein, »wo ein einziges genügt. Sie meinen nein!«

Der Chef des Sanatoriums fiel sofort in den Charakter meines vertrauten Freundes zurück.

»Meine liebe Madame«, sagte er, »augenblicklich heißt es nicht ja und heißt es nicht nein. Lassen Sie mir Zeit bis Morgen Nachmittag. Bis dahin verpflichte ich mich, zu einem von Beidem bereit zu sein, entweder mich sofort aus diesem Handel herauszuziehen oder mit Herz und Seele mich daran zu betheiligen. Sind Sie damit einverstanden? Gut, so können wir also bis morgen das Thema fallen lassen. Wo darf ich Ihnen aufwarten, wenn ich meinen Entschluß gefaßt habe?«

Ich hatte kein Bedenken, ihm meine Adresse zu geben. Im Hotel hatte ich mich vorsorglich als Mrs. Armadale eingeschrieben und Midwinter das nächste Postamt genannt, wohin er die Antworten auf meine Briefe richten solle. Wir stellten die Stunde fest, wo der Doctor bei mir vorsprechen sollte, und als dies abgethan, erhob ich mich, zu gehen, alle Anerbietungen von Erfrischungen und ebenso alle Anträge, mich im Etablissement umherführen zu wollen, ausschlagend. Daß er, nachdem wir uns doch gegenseitig vollkommen verstanden hatten, noch immer den Schein bewahren wollte, ärgerte mich. Sobald ich konnte, eilte ich hinweg und zu meinem Tagebuche und meinem Gasthofzimmer heim.

Morgen werden wir sehen, wie die Sache abläuft. Ich glaube, mein Vertrauter Freund wird ja sagen.

Ich habe recht vermuthet, der Doctor hat ja gesagt, allein unter Bedingungen, die ich nicht geahnt habe. Die Bedingung, unter der mir seine Dienste zu Gebote stehen, besteht in nichts Geringerem, als daß ich ihm, sobald ich die Stelle von Armadale’s Wittwe wirklich einnehme, die Hälfte meiner ersten Jahresrente, mit andern Worten sechshundert Pfund bezahlen muß!

Auf alle nur erdenkliche Weise protestierte ich gegen eine so übertriebene Forderung. Alles umsonst. Der Doctor entgegnete mir mit der verbindlichsten Offenheit. Nichts, sagte er, als die Verlegenheit, in der er sich zufällig befinde, würde ihn überhaupt vermocht haben können, sich mit der Sache zu befassen. Er müsse offen bekennen, daß er durch den Ankauf und die Einrichtung des Sanatoriums nicht blos seine eigenen, sondern auch die Mittel Anderer erschöpft habe, welche er als Förderer seines Unternehmens bezeichnete. Unter solchen Umständen wären sechshundert Pfund für ihn ein Kapital. Für diese Summe wolle er das Risico laufen, mir zu rathen und zu helfen; kein Heller weniger könnte ihn reizen. Und damit gab er die Angelegenheit mit seinen besten und freundschaftlichsten Wünschen ganz in meine Hände.

Der Ausgang war, wie er eben nicht anders sein konnte. Mir blieb keine Wahl, ich mußte seine Bedingung annehmen und mit ihm auf der Stelle die Sache in Richtigkeit bringen. Sowie wir einmal im Reinen waren, ließ er das Gras nicht unter seinen Füßen wachsen, diese Gerechtigkeit muß ich ihm wiederfahren lassen. Rasch rief er nach Tinte, Feder und Papier, um noch mit der Nachtpost den Feldzug auf Thorpe-Ambrose zu eröffnen.

Wir vereinigten uns über die Form des Briefs, welchen ich schrieb und den er ungesäumt copirte. Von vornherein ging ich auf keine Details ein; ich behauptete einfach, daß ich die Wittwe des verstorbenen Armadale, daß ich insgeheim mit ihm verheirathet gewesen, daß ich, nachdem er Neapel und seine Yacht verlassen habe, nach England heimgekehrt sei und mir erlaube, eine Copie meines Trauscheins beizulegen, als eine Sache der Form, wie sie wohl gewöhnlich erfüllt werde. Der Brief war an die »Vertreter des seligen Allan Armadale, Esq., von Thorpe-Ambrose in Norfolk« adressiert und der Doctor selbst nahm ihn mit und trug ihn auf die Post.

Jetzt, wo der erste Schritt gethan ist, sehe ich nicht mehr so ungeduldig und aufgeregt dem Erfolge entgegen, wie ich erst gedacht hatte. Midwinter’s Bild verfolgt mich wie ein Gespenst; um den Schein zu bewahren, habe ich ihm, wie früher schon, wieder geschrieben. Es wird mein letzter Brief sein, glaube ich. Mein Muth ist erschüttert, meine Seele beklommen, wenn ich an Turin zurückdenke. Der Tag der Abrechnung mit ihm, einst fern und zweifelhaft, wer weiß, wie bald er mir nun kommen mag. Und da vertraue ich noch immer auf den Zufall!

Den 25. November. Heute um zwei Uhr kam der Doctor wie verabredet. Er ist bei seinen Advocaten gewesen, natürlich ohne sie ins Vertrauen zu ziehen, einfach, um ihnen den Beweis meiner Verheirathung vorzulegen. Dass Resultat ist so ausgefallen, wie er es mir vorausgesagt hat. Der Punkt, um welchen sich die ganze Geschichte drehen wird, wenn man meinen Anspruch bestreitet, wird die Frage der Identität sein, und es dürfte nothwendig werden für den Zeugen, daß er noch vor Ablauf der Woche seine Erklärung vor der Behörde abgibt.

Bei so bewandten Umständen erachtet es der Doctor für unerläßlich, daß wir uns einander leicht erreichen können, und schlägt mir vor, in seiner Nachbarschaft mir eine ruhige Wohnung zu verschaffen. Ich bin völlig bereit, überall hinzugehen, denn wie ich so viele Einbildungen habe, so bilde ich mir auch ein, daß ich für Midwinter vollständiger verloren sein werde, wenn ich mich aus der Gegend weg begebe, wohin er seine Briefe an mich adressiert. Die letzte Nacht, die ich nicht schlafen konnte, dachte ich an ihn. Heute Morgen habe ich endgültig beschlossen, nicht mehr an ihn zu schreiben.

Nach einer halben Stunde verließ ich den Doctor. Zuvor fragte er mich noch, ob ich ihn nicht nach Hampstead begleiten wolle, um mich gleich nach einer Wohnung umzuthun. Ich theilte ihm mit, daß mich noch Geschäfte in London zurückhielten »Morgen oder übermorgen werden Sie erfahren, was für Geschäfte dies sind«, antwortete ich ihm, als er sich danach erkundigte.

Wieder allein, ward ich von einem nervösen Zittern befallen. Mein Geschäft, das beiläufig für eine Frau ein sehr wichtiges war, ermahnte mich unwillkürlich an Midwinter. Die Idee einer neuen Wohnung hatte mich an die Nothwendigkeit erinnert, mich meinem neuen Charakter gemäß zu kleiden, die Zeit war gekommen, wo ich mir meine Wittwentrauer besorgen mußte.

Zuerst hatte ich mich mit Geld zu versehen. Nur durch den Verkauf des Rubinringes, den mir Armadale zum Hochzeitsgeschenk gemacht hatte, erhielt ich, was ich brauchte. Es stellte sich heraus, daß es ein werthvollerer Juwel war, als ich geglaubt hatte, sodaß ich wahrscheinlich auf einige Zeit aller finanziellen Verlegenheit überhoben bin.

Vom Goldschmied verfügte ich mich zu dem bekannten großen Trauermagazine in Regent-Street. In vierundzwanzig Stunden, wenn ich ihnen nicht mehr Zeit lassen könne, haben sie sich dort verbindlich gemacht, mich vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz zu stecken. Mit einem neuen fieberhaften Schauer verließ ich den Laden, und um an diesem bewegten Tage noch mehr Aufregung zu haben, fand ich bei meiner Rückkunft im Hotel eine Ueberraschung meiner harrend. Ein ältlicher Herr, so sagte man mir, warte auf mich. Ich machte mein Zimmer auf und —— da saß der alte Bashwood.

Am Morgen hatte er meinen Brief empfangen und war, diesen in Person zu beantworten, sofort mit dem nächsten Zug nach London gefahren. Wohl hatte ich viel von ihm erwartet, so viel aber doch nicht. Es schmeichelte mir, für den Moment, gestehe ich, schmeichelte es mir.

Die Entzückungen und Vorwürfe, das Schluchzen und Weinen, die langweiligen Expectorationen des elenden alten Geschöpfes über die einsamen Tage, die er, verlassen von mir, in dumpfem Brüten in Thorpe-Ambrose verbracht habe, übergehe ich. Zu Zeiten ward er ganz beredt, seine Beredtsamkeit aber kann ich hier nicht brauchen. Natürlich setzte ich mich erst mit ihm auseinander und sondierte seine Empfindungen, ehe ich ihn fragte, was er mir Neues bringe. Welche Wohlthat manchmal die Eitelkeit des Weibes ist! In meinem Bemühen, liebenswürdig zu sein, vergaß ich fast meine Gefahren und Verpflichtungen. Ein paar Minuten fühlte ich selbst einen kleinen Kitzel des Triumphs. Und es war ein Triumph, selbst einem alten Manne gegenüber! In einer Viertelstunde hing er lächelnd und schmunzelnd und wie verzückt an meinen unbedeutendsten Worten und antwortete auf alle meine Fragen wie ein gutes kleines Kind.

Da ist der Bericht der Thorpe-Ambroser Zustände und Verhältnisse, wie ich ihn Brocken für Brocken dem alten Manne entlockte.

Die Kunde von Armadales Tod hat bereits Miß Milroy erreicht. Sie ist vollkommen zu Boden geschmettert davon, sodaß ihr Vater sie hat aus der Pension nehmen müssen. Jetzt ist sie wieder zu Hause und der Arzt besucht sie täglich. Bedaure ich sie? Ja! Ich bedaure sie gerade so sehr, wie sie einst mich bedauert hat!

Die Zustände im Herrenhause, die ich ziemlich unbegreiflicher Art erwartete, sind völlig unverständlich und sicher nicht eben ermuthigend. Erst gestern sind die Sachwalter beider Parteien zu einer Vereinbarung gelangt. Mr. Darch, der Anwalt der Blanchards und vordem Armadale’s bitterer Feind, vertritt die Interessen von Miß Blanchard, welche die nächste Erbin des Gutes ist und, wie es scheint, vor einiger Zeit sich in eigenen Angelegenheiten in London aufgehalten hat. Mr. Smart von Norwich, ursprünglich nur beauftragt, Bashwoods Intendantur zu controliren, vertritt den verstorbenen Armadale. Der erstere hat den Besitz des Gutes und das Recht, die Pachtsummen am nächsten Weihnachtsfeiertage in Empfang zu nehmen, für seine Clientin beansprucht. Mr. Smart seinerseits räumt ein, daß alle Umstände für Mr. Darch sprechen, da er keinen Grund findet, Armadales Tod zu bestreiten, und wird den Intentionen Mr. Darch’s keinen Widerstand entgegensetzen, wenn dieser alle Verantwortlichkeit einer Besitzergreifung für Miß Blanchard übernehmen will. Dies hat nun Mr. Darch bereits gethan, und das Gut ist factisch schon in Miß Blanchard’s Besitze.

Wie Bashwood meint, wird aus diesem Uebereinkommen folgen, daß Mr. Darch die Entscheidung über meinen Anspruch auf die Stellung und das Einkommen der Wittwe in die Hand bekommt. Das Einkommen, welches auf den Grundbesitz hypothekarisch eingetragen ist, muß somit aus Miß Blanchard’s Tasche kommen und seine Auszahlung folglich in den Bereich ihres Rechtsanwalts fallen. Morgen wird sich wahrscheinlich ergeben, ob diese Ansicht richtig ist, denn heute Morgen wird mein Schreiben an Armadale’s Vertreter im Herrenhause übergeben worden sein.

Das war’s, was mir der alte Bashwood zu berichten hatte. Nachdem ich meinen Einfluß auf ihn mir wieder gesichert und Alles, was er wußte, in Erfahrung gebracht hatte, kam es nun zunächst darauf an, wie ich in Zukunft seine Dienste für mich zweckmäßig verwenden sollte. Er stand mir ganz zu Gebote, denn sein Posten war bereits von Miß Blanchard’s Intendanten eingenommen worden, und bat mich dringend, in London bleiben und da meine Interessen wahrnehmen zu dürfen. Es, wäre nicht die geringste Gefahr damit verknüpft gewesen, wenn ich ihm darin willfahrte, denn natürlich hatte ich seine Ueberzeugung daß ich wirklich Armadale’s Wittwe sei, nicht erschüttert. Allein jetzt, wo ich den Doctor mit seinen Mitteln und Wegen mir helfend zur Seite wußte, brauchte ich weiter keinen Beistand in London, und überdies kam mir der Gedanke, Bashwood dürfte mir nützlicher werden können, wenn ich ihn nach Norfolk heimschickte und dort auf meine Interessen sehen ließ.

Er schnitt ein sehr betrübtes Gesicht —— offenbar hatte er neuerdings der Wittwe den Hof machen wollen! —— als ich ihn von meinem desfalls getroffenen Entschlusse unterrichtete; indeß ein paar überredende Worte und ein leiser Wink, daß er, wenn er jetzt gehorsam meinen Wünschen nachkäme, vielleicht für die Zukunft Hoffnungen nähren dürfte, thaten Wunder, ihn von der Nothwendigkeit meiner Bitte zu überzeugen. Rathlos ersuchte er mich um Verhaltungsmaßregeln, als es Zeit wurde, daß er ging, um mit dem Abendzuge nach Hause zu fahren. Ich konnte ihm keine geben, denn ich hatte ja noch keine Idee, was die Herren Advocaten thun oder lassen würden. «Wenn nun aber etwas passiert«, wandte er ein, »etwas, was ich nicht verstehe, was soll ich dann, so fern von Ihnen, anfangen?« Ich konnte ihm nur eine Antwort ertheilen. »Fangen Sie gar nichts an«, sagte ich. »Was es auch sein mag, halten Sie Ihren Mund darüber und schreiben Sie oder kommen Sie unverzüglich zu mir nach London, um meinen Rath einzuholen.« Mit diesen Abschiedsweisungen und mit dem Abkommen, daß wir einen regelmäßigen Briefwechsel unterhalten wollten, ließ ich ihn meine Hand küssen und schickte ihn auf die Eisenbahn.

Jetzt, wo ich wieder allein bin und über die Unterredung mit meinem ältlichen Bewunderer ruhig nachdenken kann, erinnere ich mich, daß ich in Bashwood’s Art und Weise eine gewisse Veränderung bemerkte, die ich mir nicht recht erklären konnte und noch immer nicht recht erklären kann.

Selbst in seiner ersten Aufregung über unser Wiedersehen kam es mir vor, als ob seine Augen, während ich mit ihm sprach, mit einem ganz eigenthümlichen Interesse auf mir ruhten. Außerdem ließ er bei der Schilderung seines einsamen Lebens in Thorpe-Ambrose ein paar Worte fallen, aus denen hervorzugehen schien, daß ihn in seiner Verlassenheit ein gewisses Vertrauen auf unsere künftigen Beziehungen, wenn wir uns nur erst einmal wiedergesehen hätten, aufrecht erhalten habe. Wäre er ein jüngerer und kühnerer Mann und wäre solch eine Entdeckung überhaupt möglich, so würde ich fast argwöhnen, er habe etwas von meinem früheren Leben ausspioniert und fühle sich nun im Stillen sicher, mich in der Gewalt zu haben, falls ich wieder Miene machen sollte, ihn zu verlassen und zu betrügen. Solch ein Gedanke in Verbindung mit dem alten Bashwood ist jedoch geradezu abgeschmackt! Vielleicht macht mich die Ungewißheit und Angst meiner gegenwärtigen Lage nervenkrank, vielleicht sehe ich in meiner Aufregung allerlei Trug- und Schreckbilder. Sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls habe ich mich mit ernsteren Dingen zu beschäftigen als mit dem alten Bashwood. Wahrscheinlich morgen schon sagt mir die Post, was Armadale’s Vertreter von den Ansprüchen seiner Wittwe denken.

Den 26. November. Diesen Morgen ist die Antwort eingelaufen, wie Bashwood vermuthete, in einem Briefe von Mr. Darch. Der grämliche alte Advocat beantwortet mein Schreiben in drei Zeilen. Bevor er irgendwelche Schritte thun oder seine Ansicht über die Sache aussprechen könne, müsse er sich sowohl von der Identität der Personen wie von der Echtheit des Trauscheins überzeugt haben, weshalb es wünschenswerth sein dürfe, ihn an meine Rechtsfreunde zu verweisen, ehe die Sache weiter verfolgt werde.

Zwei Uhr. Kurz nach zwölf Uhr kam der Doctor und theilte mir mit, daß er kaum zwanzig Minuten vom Sanatorium entfernt eine Wohnung für mich gefunden habe. Ich meinerseits zeigte ihm darauf Mr. Darch’s Brief. Auf der Stelle ging er damit zu seinen Advocaten und brachte mir die nöthige Auskunft bezüglich meines weiteren Verhaltens. Ohne auf den Wunsch nach ferneren Beweisen für meine Verheirathung ein Wort zu erwidern, habe ich Mr. Darch’s Zuschrift einfach damit beantwortet, daß ich ihm die Adresse meiner Rechtsbeistände oder vielmehr der Sachwalter des Doctors übersandte. Mehr kann heute nicht geschehen. Morgen haben wir wichtigere Begebnisse zu erwarten, denn morgen wird der Doctor seine Erklärung vor der Behörde abgeben und morgen werde ich in Wittwentrauer meine neue Wohnung beziehen.

Den 27. November. Fairweather-Vale-Villen. Die Erklärung ist mit allen nothwendigen Formalitäten abgegeben worden, und ich habe in meiner Wittwentracht von meinen neuen Zimmern Besitz ergriffen.

Dieser neue Act des Dramas und die riskante Rolle, welche ich darin spiele, sollten mich in Aufregung versetzen, Merkwürdig aber, ich bin ruhig und deprimiert. Der Gedanke an Midwinter ist mir in meine neue Wohnung gefolgt und liegt mir augenblicklich schwer auf dem Herzen. Vor einem zufälligen Ereigniß, das vielleicht in der Zwischenzeit geschieht, ehe ich öffentlich als Armadale’s Wittwe austreten kann, fürchte ich mich nicht, aber wenn die Zeit kommt und wenn Midwinters ausfindig macht, was früher oder später eintreten muß, wie ich meine falsche Rolle spiele und in der usurpierten Stelle mich eingerichtet habe, was soll, so frage ich mich, alsdann geschehen? Darauf habe ich nur die Antwort, welche ich mir heute Morgen gab, als ich meine Wittwenkleider anlegte: jetzt wie damals überkommt mich das Vorgefühl, daß er mich umbringen wird. Ach, wäre es nicht zu spät, die Sache aufzugeben! Abgeschmackt! Ich will mein Tagebuch zumachen.

Den 28. November.Mr. Darch hat von sich hören lassen; unsere Rechtsfreunde haben ihm in Erwiderung die Erklärung übersandt.

Als mir der Doctor dies mittheilte, fragte ich ihn, ob seine Advocaten meine gegenwärtige Adresse hätten, und bat, da dies nicht der Fall, auch fernerhin sie vor ihnen geheim halten zu wollen. Der Doctor lachte. »Fürchten Sie, daß uns Mr. Darch etwas anhaben und Sie persönlich angreifen könnte?« fragte er.

Um ihn am leichtesten zur Erfüllung meiner Bitte zu bewegen, that ich, als wenn dem so wäre. »Ja«, sagte ich, «ich fürchte mich vor Mr. Darch.«

Seit der Doctor mich verlassen, hat sich meine Stimmung gehoben. Es ist ein angenehmes Gefühl von Sicherheit, wenn man weiß, daß kein Fremder unsere Adresse kennt. Ich fühle mich heute so leicht in meinem Gemüthe, daß ich bemerkte, wie gut mir die Trauer steht, und gegen meine Hausleute die Liebenswürdige spielte.

Vergangene Nacht beunruhigte mich Midwinter wieder ein wenig; ich habe jedoch den gespensterhaften Wahn überwunden, von dem ich gestern besessen war. Gewalt fürchte ich jetzt nicht mehr von ihm, sollte er entdecken, was ich gethan habe, und noch weniger ist zu besorgen, daß er sich soweit erniedrigen wird, seinen Anspruch auf eine Frau geltend zu machen, welche ihn dergestalt betrogen hat. Die einzige harte Prüfung, die mir, wenn der Tag des Gerichts kommt, auferlegt sein wird, ist, in seiner Gegenwart meinen falschen Charakter aufrecht zu erhalte Ist dies geschehen, dann werde ich in seiner Verachtung, in seinem Abscheu vor mir gerade meine Sicherheit finden. An jenem Tage, wo ich ihn ins Gesicht verleugnet, habe ich ihn zum letzten Male in seinem Leben gesehen.

Werde ich es über mich gewinnen, ihn ins Gesicht zu verleugnen? Werde ich im Stande sein, ihn anzusehen, zu ihm zu sprechen, als wäre er mir nie mehr gewesen denn ein Freund? Wie kann ich’s wissen, ehe die Zeit kommt! Hat es je solch eine verblendete Thörin gegeben, wie ich bin, die da immer von ihm schreibt, wo doch das Schreiben mich stets von neuem an ihn zu denken zwingt? Ich will einen Entschluß fassen: von heute an soll sein Name nie wieder in diesen Blättern erscheinen.

Montag, den 1. December. Der letzte Monat des abgestandenen alten Jahres achtzehnhunderteinundfünfzig! Gestattete ich mir einen Rückblick, welch jämmerliches Jahr würde ich all den andern jämmerlichen Jahren, die dahin sind, angereiht sehen! Allein ich habe beschlossen, nur vorwärts zu schauen, und denke, ich will dabei bleiben.

Von den letzten beiden Tagen habe ich nichts weiter zu berichten, als daß ich am 29. an Bashwood dachte und ihm meine neue Adresse mittheilte. Diesen Morgen haben unsere Rechtsfreunde neue Nachrichten von Mr. Darch erhalten. Er bekennt sich zum Empfange der Erklärung, setzt aber die Mittheilung der Entscheidung, zu welcher er gelangt ist, noch aus, bis er sich mit den Vollstreckern von Mr. Blanchards letztem Willen benommen und von seiner Clientin selbst endgültige Instructionen erhalten hat. Die Advocaten des Doctors behaupten, daß dies Schreiben nur ein Kunstgriff sei, um Zeit zu gewinnen, zu welchem Zweck, können sie natürlich nicht errathen. Der Doctor selbst sagt scherzend: »Es ist ein gewöhnlicher Advocatenkniff, um eine lange Rechnung machen zu können? Mein eigener Gedanke ist, daß Mr. Darch argwöhnt, etwas sei nicht in Ordnung, und daß er allerdings Zeit gewinnen will ——

Abends zehn Uhr. Soweit, bis zu diesem uuvollendeten Satze hatte ich, gegen vier Uhr nachmittags, geschrieben, als ich durch das Rollen einer Droschke aufgeschreckt wurde, die gerade auf unser Haus zufuhr. Ich trat ans Fenster und kam eben zur rechten Zeit, um den alten Bashwood mit einer Lebhaftigkeit aus dem Wagen steigen zu sehen, welche ich ihm nimmermehr zugetraut hätte. So wenig hatte ich eine Ahnung von der furchtbaren Entdeckung, die ich in der nächsten Minute machen sollte, daß ich mich zum Spiegel wandte und dachte, was wohl der alte Herr zu meiner Wittwenhaube sagen würde.

Sowie er ins Zimmer trat, sah ich den Augenblick, daß ein ernstes Unheil geschehen war. Seine Augen rollten wild, seine Perrücke war schief. Mit einem eigenthümlichen Gemisch von Bangigkeit und Aufregung näherte er sich mir. »Ich habe befolgt, was Sie mir gesagt haben«, flüsterte er athemlos. »Ich habe meinen Mund darüber gehalten und komme nun direct zu Ihnen!« Ehe ich antworten konnte, faßte er mich bei der Hand einer Kühnheit, die mir etwas ganz Neues an ihm war. »Ach, wie kann ich’s Ihnen beibringen!« rief er aus. »Ich bin außer mir, wenn ich daran denke!«

Sobald Sie sprechen können, sprechen Sie«, sagte ich und pflanzte ihn in einen Lehnstuhl. »Auf Ihrem Gesichte sehe ich, daß Sie mir unerwartete Nachrichten aus Thorpe-Ambrose bringen?

Er steckte die Hand in die Brusttasche seines Rocks und zog einen Brief heraus. Dann sah er mich an. »Nach —— Nach —— Nachrichten, die Sie nicht erwarten«, stotterte er; doch nicht aus Thorpe-Ambrose.«

»Nicht aus Thorpe-Ambrose?«

»Nein —— von der See!«

Bei diesen Worten dämmerte mir die Wahrheit auf. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte blos meine Hand nach dem Briefe ausstrecken.

Noch zauderte er, ihn mir zu geben. »Ich wag’s nicht, ich wag’s nicht«, sprach er geistesabwesend zu sich selbst. »Der Schlag könnte ihr Tod sein!«

Ich riß ihm den Brief aus der Hand. Ein Blick auf die Handschrift der Adresse war genug! Meine Hände sanken auf den Schooß, den Brief krampfhaft umklammernd. Regungslos, sprachlos, ohne ein Wort von dem zu hören, was Bashwood mir sagte, saß ich wie versteinert da und kam langsam zum Bewußtsein der entsetzlichen Wahrheit. Der Mann, dessen Wittwe ich spielen wollte, lebte und konnte mir die Stirn bieten! Umsonst hatte ich den Trank in Neapel gemischt, umsonst hatte ich ihn in Manuel’s Hände geliefert! Zweimal hatte ich ihm die Todesfalle gelegt und zweimal war er mir entronnen!

Wieder zum Bewußtsein der Außenwelt kommend, fand ich Bashwood weinend mir zu Füßen liegen.

»Sie sehen so zornig aus«, murmelte er trostlos. Sind Sie bös auf mich? Ach, wenn Sie wüßten, welche Hoffnungen ich nährte, als wir einander neulich wiedersahen, und wie grausam dieser Brief sie alle zu Boden schmettert!«

Ich stieß das elende alte Geschöpf von mir, doch sehr sanft. »Pst!« sagte ich. »Stören Sie mich jetzt nicht! Ich muß mich fassen, muß den Brief lesen.«

Unterwürfig schritt er nach dem andern Ende des Zimmers. Sobald mein Auge nicht mehr auf ihm ruhte, hörte ich, wie er mit schwächlicher Bosheit zu sich selbst sprach: »Hätte die See meine Gedanken gehabt, sie hätte ihn verschlungen!«

Langsam entfaltete ich den Brief, mich, während ich dies that, völlig unfähig fühlend, meine Aufmerksamkeit auf die Zeilen zu richten, die zu lesen ich doch so brennendes Verlangen trug. Warum aber länger bei Empfindungen verweilen, die sich nicht beschreiben lassen? Es wird zweckmäßiger sein, wenn ich zu späterer Vergleichung den Brief hier wörtlich meinem Tagebuche einverleibe.

»Mr. Bashwood.

Fiume in Illyrien, 21. Nov. 1851.

Datum und Adresse meines Briefes werden Sie in Erstaunen setzen, und noch mehr werden Sie erstaunen, wenn Sie vernehmen, wie es kommt, daß ich Ihnen aus einem Hafen des Adriatischen Meeres schreibe.

Ich bin das Opfer eines schurkischen Attentats von Raub und Mord geworden. Der Raub ist gelungen, und lediglich Gottes Gnade hat den Mord nicht auch gelingen lassen.

Vor etwas länger als einem Monat miethete ich in Neapel eine Yacht und —— wie froh bin ich jetzt in diesem Gedanken! —— segelte, ohne einen Freund oder Bekannten zum Begleiter zu haben, nach Messina. Von Messina machte ich einen kleinen Kreuzzug nach dem Adriatischen Meere. Zwei Tage in See, wurden wir von einem Sturme ereilt; in diesen Gegenden kommen und gehen Stürme mit Blitzesschnelle. Das Schiff hielt sich brav; ich muß gestehen, Thränen treten mir in die Augen, wenn ich es nun auf dem Grunde des Meeres denken muß! Gegen Sonnenuntergang ließ das Unwetter nach und um Mitternacht war die See bis auf eine lange sanfte Brandung so glatt wie nur möglich. Etwas ermüdet —— ich hatte mit arbeiten helfen, solange der Sturm dauerte —— ging ich in meine Kajüte hinunter und war in fünf Minuten eingeschlafen. Zwei Stunden später erweckte mich das Geräusch eines durch eine Spalte in dem am oberen Ende der Thür angebrachten Ventilator in die Kajüte fallenden Gegenstandes. Ich sprang auf und fand einen um einen Schlüssel gewickelten Papierstreifen, auf dessen innerer Seite von einer nicht sehr leicht zu lesenden Hand etwas geschrieben war.

Bis zu dieser Stunde hatte ich nicht den Schatten von Verdacht, daß ich mich mit einer Bande von mörderischen Vagabunden (einen ausgenommen) auf offener See befand, die vor nichts zurückbebte. Ich war vielmehr mit meinem Bootsmeister (dem größten Schurken von allen) sehr gut verkommen und noch besser mit dem ersten Matrosen, einem Engländer. Da die Matrosen sonst samt und sonders Ausländer waren, konnte ich nicht viel mit ihnen verkehren. Sie verrichteten ihre Arbeit, und weder Streitereien noch andere Unannehmlichkeiten fielen vor. Hätte, ehe ich in der Nacht nach dem Sturme zu Bette ging, mir Jemand gesagt, der Bootsmeister, die Mannschaft und der erste Matrose, der ursprünglich nicht besser war als die Uebrigen, hätten sich alle verschworen, mir das Geld zu rauben, welches ich mit mir auf dem Schiffe hatte, und mich dann in meinem eigenen Schiffe zu ertränken, ich hätte ihm gerade ins Gesicht gelacht. Das behalten Sie im Auge, und dann stellen Sie sich vor, denn sagen kann ich’s Ihnen wahrhaftig nicht, was ich gedacht haben muß, als ich das um den Schlüssel gewickelte Papier aufmachte und Folgendes las, was ich hier wörtlich abschreibe.

»Sir, bleiben Sie in Ihrem Bett, bis Sie hören, daß das Boot von der Steuerbordseite abstößt, oder Sie sind ein todter Mann. Ihr Geld ist Ihnen gestohlen, und im Verlauf von fünf Minuten wird die Yacht durchlöchert und die Kajütenluke zugenagelt sein. Todte können nicht reden, und der Bootsmeister hat im Sinne, Beweisstücke auf dem Meere umhertreiben zu lassen, daß das Schiff mit Mann und Maus zu Grunde gegangen ist. Das war sein Plan von Anfang an und wir alle waren dabei betheiligt. Aber ich kann’s nicht über’s Herz bringen, Ihnen nicht eine Chance des Entrinnens an die Hand zu geben. Freilich ist’s nur eine zweifelhafte Chance, doch mehr kann ich nicht thun. Wollte ich mir nicht den Anschein geben, daß ich mitthäte mit der Bande, so würde ich selbst umgebracht werden. In diesem Papiere finden Sie den Schlüssel zu Ihrer Kajütenthür. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie oben den Hammer hören. Ich werde es selbst thun und nur kurze Nägel nehmen. Warten Sie, bis Sie das Boot mit uns allen abstoßen hören, und dann stemmen Sie die Luke mit Ihrem Rücken auf. Eine Viertelstunde, nachdem die Löcher hineingebohrt sind, wird sich das Schiff noch über Wasser halten. Gleiten Sie dann auf der backbordseite ins Meer und lassen Sie das Schiff zwischen sich und dem Boote. Sie werden eine Menge loser Planken und Balken finden, die, absichtlich hineingeworfen, umherschwimmen und an denen Sie sich halten können. Es ist eine schöne Nacht und ruhige See und vielleicht Aussicht vorhanden, daß, solange Sie noch leben, ein vorbeisegelndes Schiff Sie entdeckt und aufnimmt. Ich kann nicht mehr thun. Ihr aufrichtig ergebener J. M.«

Als ich an diese letzten Worte kam, hörte ich, wie man über mir die Luke zunagelte Ich glaube nicht, feiger zu sein als die meisten andern Menschen, allein für den Augenblick troff mir der Schweiße von der Stirn. Ehe jedoch das Hämmern vorüber, war ich wieder der Alte und ertappte mich, wie ich an Jemand in England dachte, der mir sehr theuer ist. Ich sagte zu mir selbst: »Um ihretwillen will ich um mein Leben kämpfen, obgleich die Chancen wider mich sind.«

Ich that einen Brief von dieser Person in eins der verstöpselten Flacons meines Toilettenkastens zugleich mit der Warnung des Matrosen für den Fall, daß ich am Leben bliebe und ihn wiedersähe. Dies und eine Flasche Whisky hing ich mir an einer Schlinge um den Hals, und nachdem ich mich in meiner Verwirrung erst angekleidet hatte, kam ich auf einen bessern Gedanken und legte, um schwimmen zu können, bis auf Hemd und Beinkleider Alles wieder ab. Während ich das gethan, war inzwischen das Hämmern vorüber und solch eine Stille eingetreten, daß ich das Wasser in das durchlöcherte Schiff rauschen hören konnte. Darauf kam das Geräusch des von der Steuerbordseite abstoßenden Bootes mit den Schurken darin. Ich wartete, bis ich das Plätschern der Ruder vernahm, und stemmte dann meinen Rücken unter die Luke. Der Matrose hatte sein Versprechen gehalten; ich konnte sie leicht aufdrücken, kroch unter dem Schutze der Bollwerke auf allen Vieren quer über das Deck und schlüpfte auf der Backbordseite ins Meer. Allerhand Gegenstände trieben darin umher; ich packte den ersten besten, den ich erreichen konnte —— es war ein Hühnerstall —— und schwamm ein paar hundert Schritte weit, immer die Yacht zwischen mir und dem Boote lassend. Soweit gelangt, wurde ich von einem Fieberschauer überfallen, und in Angst, es möchte nun der Krampf eintreten, hielt ich still und nahm einen derben Schluck aus meiner Flasche. Als ich die Flasche wieder zumachte, drehte ich mich einen Augenblick und schaute zurück —— eben war die Yacht im Sinken begriffen. Eine Minute darauf war nichts mehr zwischen mir und dem Boote zu erblicken, als die Stücke des Wracks, welche absichtlich ins Meer geworfen worden waren. Der Mond schien, und wenn sie ein Fernglas im Boote gehabt hätten, so würden sie wohl meinen Kopf gesehen haben, obgleich ich den Hühnerstall immer thunlichst zwischen mir und ihnen zu halten suchte.

Sie ruderten scharf und ich hörte laute streitende Stimmen unter ihnen. Nach einer Weile, die mir eine Ewigkeit schien, entdeckte ich, worum sie sich stritten. Die Spitze des Bootes stand auf einmal mir zugekehrt. Offenbar hatte ein Halunke, der gescheidter war als die Andern —— wahrscheinlich der Bootsmeister —— sie überreden zurückzurudern nach der Stelle, wo die Yacht gesunken war, um sich zu vergewissern, ob ich auch wirklich mit ihr untergegangen sei. Schon waren sie mir bis auf halben Weg nahe und ich hatte mich verloren gegeben, als ich einen jähen Schrei hörte und plötzlich den Lauf des Bootes gehemmt sah. Ein paar Minuten darauf war das Boot wieder umgewandt, und sie ruderten aus Leibeskräften von mir ab, wie Männer, die um ihr Leben kämpfen.

Ich sah nach dem Lande zu, entdeckte indeß nichts. Ich sah nach der andern Seite und fand jetzt, was die Mannschaft des Bootes noch vor mir gesehen hatte, ein Segel in der Entfernung, das, je länger ich hinblickte, im Mondscheine immer heller und größer wurde. In einer Viertelstunde befand sich das Fahrzeug im Bereich meiner Stimme und die Mannschaft zog mich an Bord.

Es waren sämtlich Ausländer und sie betäubten mich förmlich durch ihr Kauderwelsch. Ich versuchte es mit Zeichen, ehe ich jedoch mich verständlich machen konnte, überfiel mich ein neuer Fieberfrost und ich ward in die Kajüte hinunter geschafft. Zweifelsohne hielt das Schiff seinen Curs, denn irgend etwas bestimmt zu wissen, war ich nicht in der Verfassung. Ehe noch der Morgen anbrach, lag ich in heftigem Fieber, und von da an kann ich mich auf nichts mehr deutlich besinnen, bis ich endlich hier wieder zur Besinnung kam und mich in der Pflege eines ungarischen Kaufmanns fand, des Rheders des Schiffes, das mich aufgenommen hatte. Er spricht englisch so gut oder besser als ich und hat mich mit einer Liebe behandelt, für deren Lob ich keine Worte habe. Als junger Mann ist er selbst in England gewesen, um sich zum Kaufmann auszubilden, und sagt, er denke so gern an unser Vaterland zurück, daß sein Herz für jeden Engländer schlage. Er hat mich mit Kleidern ausgestattet und mir Geld geliehen, damit ich abreisen kann, sobald als der Arzt mir gestattet, nach der Heimat aufzubrechen. Wenn ich keinen Rückfall bekomme, werde ich von jetzt ab in einer Woche reisefähig sein. Kann ich in Triest die Mallepost erreichen und die Strapaze aushalten, so werde ich acht oder höchstens zehn Tage, nachdem Sie diesen meinen Brief empfangen haben, wieder in Thorpe-Ambrose sein. Sie werden mir zugeben, daß es ein entsetzlich langer Brief ist, allein ich kann’s nicht ändern; es kommt mir vor, als hätte ich meine alte Kunst vergessen, mich kurz zu fassen und gleich auf der ersten Seite fertig zu werden. Indeß jetzt bin ich bald zu Ende, denn es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen zu sagen, warum ich Ihnen von dem, was mir widerfahren, schreibe, anstatt bis zu meiner Rückkunft zu warten und Ihnen dann Alles mündlich zu erzählen.

Es dünkt mich, daß mein Kopf noch von der Krankheit angegriffen, ist. Jedenfalls fiel mir diesen Morgen ein, daß es kaum wahrscheinlich ist, ein Schiff werde die Stelle passiert haben, wo die Yacht unterging, um die Möbel und andere Gegenstände, die aus ihr in der See umhertreiben, zu finden und mitzunehmen. Sollte dies aber doch zufällig geschehen sein, so dürfte sich vielleicht die falsche Nachricht von meinem Tode in England verbreitet haben. Wäre dies geschehen —— hoffentlich ist’s nur eine unbegründete Furcht von meiner Seite —— so gehen Sie auf der Stelle ins Parkhäuschen zum Major Milroy. Zeigen Sie ihm diesen Brief —— er ist gerade so gut für ihn wie für Sie geschrieben —— geben Sie ihm dann das eingeschlossene Billet und fragen Sie ihn, ob nicht die Umstände meine Hoffnung rechtfertigten, daß er es seiner Tochter senden werde. Ich kann nicht erörtern, warum ich nicht direct an den Major schreibe, nur sagen, daß gewisse Rücksichten, die ich mich zu beobachten verpflichtet habe, mich zu diesem mittelbaren Wege veranlassen.

Ich bitte um keine Antwort auf mein Schreiben, denn ehe Ihr Brief mir in diesem abgelegenen Orte zukommen könnte, bin ich hoffentlich lange auf dem Heimwege. Was Sie auch sonst thun, gehen Sie unverzüglich zu Major Milroy. Gehen Sie, gleichviel, ob der Untergang der Yacht in England bekannt ist oder nicht.

Aufrichtig der Ihrige

Allan Armadale.«

An den Schluß des Briefes gelangt, blickte ich auf und sah jetzt erst, daß Bashwood aus seinem Stuhle aufgestanden war und sich mir gerade gegenübergestellt hatte. Mit dem forschenden Ausdruck eines Menschen, der meine Gedanken zu lesen suchte, studierte er eifrig mein Gesicht Schuldbewußt schlug er seine Augen nieder, wenn die meinigen ihnen begegneten, und wich zu seinem Stuhle zurück. In dem Glauben, daß ich mit Armadale wirklich verheirathet sei, betrachtete er zu ergründen, ob die Kunde von Armadale’s Rettung aus dem Meere mir als gute oder schlechte Nachricht erschien. Mit ihm in Erörterungen einzutreten, war jetzt keine Zeit; das Erste, was geschehen mußte, war vielmehr, unverweilt mich mit dem Doctor in Vernehmen zu setzen. Ich rief Bashwood zu mir her und gab ihm die Hand.

»Sie haben mir einen Dienst geleistet«, sagte ich, »der unsere Freundschaft noch mehr befestigt. Noch heute werde ich Ihnen hierüber und über andere Dinge, die für uns beide von Belang sind, Mittheilungen machen. Für jetzt bitte ich Sie, mir Mr. Armadale’s Brief, den ich Ihnen unversehrt zurückbringen werde, zu leihen und hier meine Zurückkunft abzuwarten. Wollen Sie mir diesen Gefallen thun, Mr. Bashwood?«

Alles, was ich verlangte, wolle er thun, antwortete er. Ich ging dann in mein Schlafzimmer und holte mir Hut und Shawl.

»Ehe ich Sie verlasse, beruhigen Sie mich noch über einen Punkt«, sprach ich. »Sie haben den Brief außer mir Niemand sonst gezeigt?«

»Keine Seele hat ihn gesehen, außer uns Zweien!«

»Was haben Sie mit dem für Miß Milroy beigelegten Billet angefangen?

Er brachte es aus seiner Tasche zum Vorschein. Ich überlief es rasch, sah, daß nichts von der allergeringsten Bedeutung darin stand, und warf es auf der Stelle ins Feuer. Dies gethan, ließ ich Bashwood in meinem Zimmer und verfügte mich, Armdale’s Brief in der Hand, zum Sanatorium.

Der Doctor war ausgegangen, und der Diener konnte mir nicht gewiß sagen, wann er wieder zu Hause sein würde. Ich begab mich denn in sein Arbeitszimmer und schrieb, um ihn auf die Kunde vorzubereiten, die ich brachte, ein paar Zeilen an ihn, welche ich zusammen mit Armadale’s Brief in ein Couvert einsiegelte. In einer Stunde würde ich wieder vorsprechen, sagte ich dem Diener.

Ehe ich wußte, was der Doctor jetzt zu thun gedachte, hatte es keinen Zweck, nach Hause zu gehen und mit Bashwood zu sprechen. So wanderte ich mit einem dumpfen, der Erstarrung ähnlichen Gefühle, das nicht nur jedes Denken, sondern auch die Empfindung körperlicher Ermüdung verhinderte, in der Gegend umher, neue Straßen und Plätze auf und ab. Ich erinnerte mich, daß mich vor Jahren ganz das nämliche Gefühl übermannte, damals als ich von den Gefängnißbeamten vor den Gerichtshof geführt ward, um hier auf Tod und Leben gerichtet zu werden. Auf die seltsamste Art trat mir diese ganze Scene wieder vor die Seele, als wäre es eine Scene gewesen, in der eine andere Person die Hauptrolle gespielt hätte. Ein paarmal wunderte ich mich in dumpfer Gleichgültigkeit, daß man mich nicht gehängt hatte!

Ins Sanatorium zurückgekehrt, vernahm ich, daß der Doctor seit einer halben Stunde wieder zu Hause sei und in seinem Zimmer mich sehnsüchtig erwarte.

Ich trat dort ein und fand ihn, den Kopf geneigt und die Hände auf seinen Knieen, am Feuer sitzen. Neben ihm auf dem Tische sah ich außer Armadales Brief und meinem Billet ein aufgeschlagenes Eisenbahncursbuch liegen, gerade im kleinen Lichtkreise, den die brennende Lampe warf. Dachte er an Flucht? Auf seinem Gesichte, als er auf- und mich anblickte, war unmöglich zu lesen, über was er nachsann, oder welchen Schlag ihm die Kunde von Armadales Leben versetzt hatte.

»Setzen Sie sich hier ans Kamin«, redete er mich an. »Es ist heute sehr rauh und unfreundlich.«

Schweigend nahm ich Platz, schweigend saß seinerseits, sich die Kniee am Feuer wärmend, der Doctor da.

»Haben Sie mir nichts zu sagen?« fragte ich.

Er stand auf und nahm plötzlich den Schirm von der Lampe, sodaß das volle Licht auf mein Gesicht fiel.

»Sie sehen nicht wohl aus«, sprach er. »Was fehlt Ihnen?«

»Mein Kopf ist mir schwer und meine Augen schmerzen«, erwiderte ich. »Wohl das Wetter.«

Es war merkwürdig, wie wir uns beide immer weiter und weiter von dem einen alles Andere absorbierenden Gegenstande entfernten, zu dessen Besprechung wir doch ausdrücklich zusammengekommen waren!

»Ich denke, eine Tasse Thee würde Ihnen gut thun«, bemerkte der Doctor.

Ich meinte es auch, und er bestellte den Thee. Bis dieser kam, ging er im Zimmer auf und nieder und ich blieb ruhig am Feuer sitzen, und keins von uns sprach ein Wort.

Der Thee belebte mich und der Doctor bemerkte, daß ich besser auszusehen beginne. Dann setzte er sich mir gegenüber an den Tisch und fing endlich zu sprechen an.

»Hätte ich jetzt tausend Pfund«, sagte er, »ich würde sie bis zum letzten darum geben, wenn ich mich in Ihre verzweifelte Speculation auf Mr. Armadale’s Tod nicht mit eingelassen hätte!«

Ganz seiner gewöhnlichen Manier zuwider stieß er diese Worte auffallend kurz, fast heftig heraus. War er selbst in Angst oder wollte er mir Angst einjagen? Er sollte sich darüber von vornherein erklären, das stand bei mir fest. »Halt, einen Augenblick, Doctor«, sagte ich deshalb. »Glauben Sie, daß ich an dem Geschehenen schuld bin?«

»Bestimmt nicht«, entgegnete er steif. Weder Sie noch irgendwer konnte voraussehen, was passiert ist. Wenn ich sage, ich würde tausend Pfund darum geben, wenn ich aus dem Handel heraus wäre, so mache ich Niemand einen Vorwurf als mir selbst, und wenn ich Ihnen dann sage, aß ich, einmal für allemal, nicht zulassen werde mich Mr. Armadale’s Wiederaufstehung aus der See ruinieren soll, ohne daß ich dagegen ankämpfe, so spreche ich so deutlich und wahr, wie nur je ein Mensch deutlich und wahr gesprochen hat, meine beste Dame. Glauben Sie nicht, daß ich in der Gefahr, welche uns jetzt gemeinsam droht, selbstsüchtig meine Interessen von den Ihrigen scheide; ich gebe Ihnen einfach den Unterschied in der Gefahr an, die jedes von uns läuft. Sie haben nicht alle Ihre Mittel in ein Sanatorium gesteckt, und Sie haben keine falsche Erklärung vor der Behörde abgegeben, die vom Gesetze ganz wie Meineid bestraft wird.«

Ich unterbrach ihn wieder. Seine Selbstsucht that mir wohler als sein Thee, sie hob meine Stimmung gewaltig. »Wie wär’s«, sagte ich, »wenn wir Ihr Risico und mein Risico jetzt beiseite ließen und zur Sache kämen? Was meinen Sie, wenn wir darum kämpfen? Ich sehe ein Eisenbahncursbuch da auf Ihrem Tische Heißt darum kämpfen etwa fortlaufen?«

»Fortlaufen?« wiederholte der Doctor. »Sie scheinen zu vergessen, daß jeder Heller, den ich auf Erden mein nenne, in dem Etablissement hier steckt.«

»Sie bleiben also hier?« fragte ich.

»Ohne Zweifel!«

»Und was meinen Sie, wenn Mr. Armadale nach England kommt?«

Eine einsame Fliege, die letzte ihres Geschlechts, welche der Winter verschont hatte, summte matt dem Doctor um das Gesicht herum. Er fing sie, ehe er mir antwortete, und hielt sie, in seiner geschlossenen Hand über den Tisch hin.

»Wenn diese Fliege da Armadale hieße«, sagte er, »und wenn Sie ihn so erwischt hätten, wie ich sie erwischt habe, was würden Sie dann thun?«

Seine Augen, mit denen er mich ernst fixierte, hefteten sich darauf bezeichnend auf meine Wittwentracht; ich auch sah darauf, als er hinblickte. Ein Schauer von dem alten tödtlichen Hasse und dem alten mörderischen Entschlusse durchrieselte mich wieder.

»Ich würde ihn umbringen«, gab ich zur Antwort.

Die Fliege noch immer in der Hand, sprang der Doctor von seinem Sitze auf und sah mich, etwas zu theatralisch, mit dem Ausdrucke höchsten Schreckens an.

»Ihn umbringen!« wiederholte er in einem Anfall tugendhafter Bestürzung »Gewaltthat, mörderische Gewaltthat in meinem Sanatorium! Sie machen mich sprachlos vor Erstaunen!«

Ich erhaschte einen Blick seines Auges, während er mit studierter Beredtsamkeit seinen Schrecken ausdrückte, wie es mich mit einer forschenden Neugier ansah, die mit der Heftigkeit seiner Sprache und mit dem Feuer seines Tons einigermaßen contrastirte. Als sich unsere Augen begegneten, lachte er unbehaglich und nahm, noch ehe er seine Lippen zum Weitersprechen öffnete, sein sanftes, vertrauliches Wesen wieder an.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte er. »Ich hätte Sie besser kennen sollen, als daß ich eine Dame zu buchstäblich beim Worte zu nehmen hätte. Erlauben Sie mir indeß zu erinnern, daß die Umstände zu ernster Natur sind, um irgend etwas zu rechtfertigen, was wie Uebertreibung oder gar wie Scherz aussieht. Ohne weitere Vorrede sollen Sie hören, was ich vorschlage.« Er hielt inne und brauchte wieder die noch immer in seiner Hand gefangen gehaltene Fliege zum Gleichniß. »Da ist Mr. Armadale. Ich kann ihn herauslassen oder festhalten, ganz wie es mir beliebt, und er weiß es. Ich sage zu ihm, fuhr der Doctor fort, die Fliege anredend: Garantieren Sie mir, Mr. Armadale, daß weder gegen diese Dame hier noch gegen mich selbst Schritte irgendwelcher Art gethan werden sollen, und ich will Sie aus meiner Hand herauslassen. Versprechen Sie mir das nicht, so werde ich Sie, sei die Gefahr, welche sie wolle, darin behalten. Können Sie noch zweifeln, was Mr. Armadale früher oder später sicher antworten wird? Können Sie zweifeln; fuhr er fort und gab der Fliege, um dem Worte die That folgen zu lassen, ihre Freiheit wieder, »daß es zur völligen Genugthuung aller Parteien so enden wird?«

»Zuvörderst will ich nicht sagen, ob ich zweifle oder nicht«, antwortete ich. »Erlauben Sie mir, mich vor allem zu versichern, ob ich Sie recht verstehe. Wenn ich nicht irre, so schlagen Sie vor, Mr. Armadale hier in diesem Hause einzusperren und ihn nicht eher wieder herauszulassen, als bis er sich mit den Bedingungen einverstanden erklärt, welche wir ihm in unserm Interesse auflegen müssen? Darf ich Sie unter diesen Umständen fragen, wie Sie ihn in die Falle zu bringen denken, die Sie für ihn hier aufgestellt haben?«

»Zunächst schlage ich vor«, erwiderte der Doctor, die Hand aus das Eisenbahncursbuch legend, »nachzusehen, zu welcher Stunde jeden Abend dieses Monats die mit der Flut correspondirenden Züge von Dover und Folkstone an der Station von London-Bridge eintreffen; sodann Jemand, der Mr. Armadale kennt und dem wir beide trauen dürfen, dorthin zu postieren, damit er die Ankunft der Züge abwartet und unsern Mann empfängt, sobald dieser aus dem Waggon steigt.«

»Haben Sie schon daran gedacht«, fragte ich, »wer diese Person sein soll?«

»Ich habe«, sagte der Doctor und nahm Armadale’s Brief in die Hand, »an die Person gedacht, an welche dies Schreiben gerichtet ist.«

Die Antwort frappierte mich. War es möglich, daß er und Bashwood sich kannten? Das fragte ich auf der Stelle.

»Bis heute habe ich nie den Namen des Herrn nennen hören«, entgegnete der Dotter. »Ich habe einfach den inductiven Proceß des Geistes verfolgt, den wir dem unsterblichen Bacon verdanken. Wie kommt dieser höchst wichtige Brief in Ihren Besitz? Ich kann Sie nicht mit der Annahme kränken, daß Sie ihn gestohlen haben; folglich haben Sie ihn mit Erlaubniß und Autorisation des betreffenden Adressaten an sich genommen; mithin ist dieser in Ihrem Vertrauen und folglich ist er die erste Person, an welche ich denke. Sie sehen den Geistesproceß, nicht wahr? Gut. Gestatten Sie mir nun, ehe wir weitergehen, ein paar Fragen in Betreff Mr. Bashwood’s.«

Wie immer gingen die Fragen des Doctors direct auf die Sache los. Meine Antworten theilten ihm mit, daß Mr. Bashwood zu Armadale im Verhältnisse eines Intendanten stehe; daß er diesen Morgen den Brief in Thorpe-Ambrose empfangen und mit dem ersten Zuge ihn mir überbracht; daß er vor seiner Abfahrt weder mit Major Milroy noch sonst Jemand gesprochen, noch weniger den Brief irgendwem gezeigt; daß ich mir diesen seinen Dienst nicht durch Offenbarung meines Geheimnisses erkauft; daß ich mit ihm als Armadale’s Wittwe correspondirt und verkehrt; daß er unter diesen Umständen den Brief einzig und allein geheim gehalten, weil ich ihm geboten, wenn irgend etwas Besonderes in Thorpe-Ambrose vorfallen sollte, sich still zu verhalten, bis er zuerst meinen Rath eingeholt, und daß ich endlich als Grund, warum er in dieser Angelegenheit wie in allen andern streng nach meinen Instructionen gehandelt habe, nur den angeben könne, daß Mr. Bashwood mir und meinen Interessen blind ergeben sei.

Die Augen des Doktors sahen mich unter seiner Brille hervor mißtrauisch an.

»Worin«, fragte er, »liegt das Geheimniß dieser blinden Hingebung Mr. Bashwoods an Ihre Interessen?»

Aus Mitleiden mit Bashwood, nicht mit mir zögerte ich einen Augenblick. »Wenn Sie es denn wissen wollen«, antwortete ich, »Mr. Bashwood ist in mich verliebt.«

»Ach, ach!« rief der Doctor mit einer Miene der Erleichterung aus. »Jetzt fange ich an zu begreifen. Ist er ein junger Mann?«

»Ein alter.«

Der Doctor warf sich in seinen Stuhl zurück und kicherte leise. »Um« so besser!« sagte er. »Das ist ganz der Mann, den wir brauchen. Wer wäre so gegeeignet wie Mr. Armadale’s Intendanz ihn bei seiner Rückkunft auf dem Bahnhofe zu empfangen, und wer besser im Stande, Mr. Bashwood auf die gehörige Art zu beeinflussen, als der reizende Gegenstand von Mr. Bashwood’s Bewunderung?«

Daß Bashwood der rechte Mann war, um den Plan des Doctors zu fördern, und daß mein Einfluß ihn dazu vermögen würde, darüber konnte kein Zweifel obwalten. Hierin lag die Schwierigkeit nicht, sie lag in jener unbeantwortet gebliebenen Frage, ich dem Doctor vor einer Minute vorgelegt hatte. Ich stellte sie ihm von neuem.

»Gesetzt auch, Mr. Armadale’s Intendant findet seinen Herrn auf dem Bahnhofe«, sagte ich, »darf ich noch einmal fragen, wie Mr. Amadale überredet werden soll, hierher zu kommen?«

»Halten Sie mich nicht für ungalant«, versetzte der Doctor in der artigsten Manier von der Welt, »wenn ich meinerseits frage, wie können die Männer zu neun Zehnteln zu ihren thörichtsten Handlungen vermocht werden? Durch Ihr reizendes Geschlecht. Die schwache Seite jedes Mannes ist seine weibliche Seite. Wir haben nur diese weibliche Seite Mr. Amadale’s ausfindig zu machen, ihn sanft daran zu kitzeln und ihn an seidener Schnur auf unsern Weg zu leiten. Ich sehe hier«, fuhr er fort, während er Armadale’s Brief aufmachte, »eine Anspielung auf eine junge Dame. Das erscheint mir vielversprechend. Wo ist das an Miß Milroy gerichtete Billet, von dem Mr. Armadale spricht ?«

Anstatt ihm zu antworten, sprang ich in plötzlicher Erregung auf. Im Augenblicke, wo er Miß Milroy’s Namen nannte, kam mir Alles, was ich von Bashwood über Miß Milroy’s Krankheit und die Ursache der letzteren gehört hatte, auf einmal wieder ins Gedächtniß. So deutlich, wie ich den Doctor an der andern Seite des Tisches mir gegenüber sitzen und seine Verwunderung über die plötzlich in mir vorgehende Veränderung sah, ebenso deutlich sah ich jetzt das Mittel vor mir, um Armadale in das Sanatorium locken zu können. Welch eine Wollust war es, daß endlich Miß Milroy meinen Zwecken dienstbar zu machen vermochte!

»Lassen wir das Billet!« sagte ich. »Um alle Zufälligkeiten zu vermeiden, habe ich’s verbrannt. Ich kann Ihnen Alles und mehr sagen, als was Sie aus dem Billet ersehen haben würden. Miß Milroy endet alle Schwierigkeiten! Sie ist insgeheim mit ihm verlobt, hat die falsche Kunde von seinem Tode vernommen und ist seitdem ernstlich krank in Thorpe-Ambrose gewesen. Wenn ihn Bashwood auf dem Bahnhofe trifft, so ist sicher feine allererste Frage ——«

»Ich sehe es!« fiel der Doctor rasch ein. »Mr. Bashwood hat nichts weiter zu thun, als der Wahrheit ein ganz klein wenig Dichtung zuzusetzen. Wenn er seinem Herrn sagt, daß die falsche Nachricht bis zu Miß Milroy gedrungen ist, so braucht er nur hinzuzufügen, daß der Schlag ihren Kopf angegriffen hat und daß sie sich unter ärztlicher Pflege hier befindet. Vortrefflich! Vortrefflich! So rasch, wie ihn nur der rascheste Droschkengaul von London hierher bringen kann, werden wir ihn in unserm Sanatorium haben. Und bedenken Sie, keine Gefahr, nicht die Nothwendigkeit, uns andern Leuten anvertrauen zu müssen! Das Sanatorium ist kein Irrenhaus, kein concessionirtes Etablissement und keine ärztlichen Atteste sind erforderlich! Meine verehrte Dame, ich gratuliere Ihnen, ich gratuliere mir selbst. Gestatten Sie mir, Ihnen das Eisenbahncursbuch mit meinen besten Empfehlungen für Mr. Bashwood zu übergeben. Aus weiterer Rücksicht für ihn habe ich ihm schon die richtige Seite darin eingeknickt.«

Es fiel mir ein, daß ich Bashwood schon sehr lange hatte auf mich warten lassen. Ich nahm das Buch und wünschte dem Doctor ohne weitere Ceremonie guten Abend. Als er mir höflich die Thür aufmachte, kam er, ohne die geringste Nothwendigkeit und ohne daß ich meinerseits nur durch ein Wort dazu Anlaß gegeben hatte, wieder auf den Ausbruch tugendhafter Entrüstung, der ihm zu Anfang unserer Unterredung entschlüpft war.

»Hoffentlich«, sagte er, »werden Sie meinen gänzlichen Mangel an Takt und Verständniß gütig vergessen und vergeben, den ich —— kurz den ich mir zu Schulden kommen ließ, als ich die Fliege fing. Ich erröthe, wahrhaftig, ich erröthe förmlich über meine eigene Dummheit, den kleinen Scherz einer Dame buchstäblich zu nehmen! Gewaltthat in meinem Sanatorium!« rief der Doctor aus, mich von neuem mit seinen Blicken fixierend, »Gewaltthat in unserm aufgeklärten Jahrhundert! Hat es je so etwas Lächerliches gegeben? Nehmen Sie den Mantel fest um, ehe Sie hinausgehen —— es ist so kalt und rauh! Soll ich Sie begleiten? Soll ich Ihnen meinen Diener mitgeben? Ach, Sie sind immer selbstständig gewesen, immer Ihr eigener Schutz! Soll ich morgen früh bei Ihnen vorkommen und hören, was Sie mit Mr. Bashwood ausgemacht haben?«

»Ja«, sagte ich und machte mich endlich von ihm los. Auf meinem Zimmer wartete der ältliche Herr, wie das Dienstmädchen sagte, noch immer ruhig auf mich.

Viel Worte über das zu verschwenden, was zwischen mir und Bashwood vorging, habe ich entweder den Muth nicht oder die Geduld, ich weiß nicht, welches von beiden. Es war so leicht, so verächtlich leicht, die Fäden an der armen alten Puppe zu ziehen, wie man nur wollte! Ich stieß auf keine der Schwierigkeiten, auf die ich bei einem jüngeren oder einem vor Verliebtheit minder blinden Mann gestoßen sein würde. Ihm die Anspielungen auf Miß Milroy, die ihn natürlich verdutzt hatte, zu erklären, das überließ ich einer späteren Zeit, ich gab mir nicht einmal die Mühe, einen plausiblen Grund zu erfinden, warum er Armadale auf dem Bahnhofe ablauern und ihn durch eine Kriegslist in des Doctors Sanatorium locken sollte. Alles, was ich zu thun für nothwendig erachtete, war, daß ich ihn auf das verwies, was ich ihm bei meiner Ankunft geschrieben und was ich ihm nachmals gesagt hatte, als er im Hotel erschienen war, meinen Brief persönlich zu beantworten.

»Daß meine Ehe keine glückliche gewesen ist«, sprach Ich, »wissen Sie schon. Machen Sie sich hieraus selbst Ihren Schluß und drängen Sie mich nicht, Ihnen zu sagen, ob mir die Kunde von Armadale’s Errettung aus der See so willkommen ist, wie sie von Rechtswegen seiner Gattin sein sollte!« Das genügte, sein altes, welkes Gesicht in Glut zu setzen und seine welken alten Hoffnungen neu zu beleben. Ich brauchte nur hinzuzusetzen, »Wenn Sie thun wollen, was ich von Ihnen verlange, einerlei, wie unbegreiflich und mysteriös, Ihnen mein Begehren erscheinen mag, und wenn, meinen Versicherungen glauben, daß Sie selbst Gefahr laufen und die rechte Erklärung zur rechten Zeit erhalten werden, dann werden Sie sich einen solchen Anspruch auf meine Dankbarkeit und Rücksicht erworben haben, wie ihn noch nie ein Mann auf Erden hatte.« Nur diese Worte hatte ich zu sagen und sie mit einem Blicke und einem verstohlenen Händedruck zu begleiten, und er lag mir zu Füßen, blindlings bereit, mir zu willfahren. Wüßte er, woran ich selbst dachte —— doch das macht nichts aus, er wußte eben nichts.

Schon sind Stunden vergangen, seit ich ihn mit den nöthigen Verhaltungsmaßregeln, mit dem Cursbuche und mit seinem Gelöbniß des Stillschweigens nach dem nahe dem Bahnhofe gelegenen Hotel geschickt habe, wo er warten soll, bis Armadale auf dem Perron erscheint. Alle Aufregung von diesem Abend ist verschwunden und das dumpfe, beklemmende Gefühl beherrscht mich wieder. Erschöpft sich meine Energie, gerade wo ich sie am nöthigsten brauche? Das möchte ich wissen. Oder will mich eine Ahnung Von kommendem Unheil beschleichen, das ich noch nicht recht begreife?

Ich wäre in der Stimmung, über solchen Gedanken und Aufzeichnungen noch stundenlang zu sitzen, wenn es nur mein Tagebuch zulassen wollte. Allein meine Feder ist so fleißig gewesen, daß das Ende des Buchs da ist. Ich bin am letzten freien Plätzchen der letzten Seite angelangt, und ich mag nun wollen oder nicht, diesmal muß ich das Buch für immer zumachen, wenn ich’s heute Abend schließe.

Fahre wohl, du mein alter Freund und Genosse an so manchem elenden Tage! Ich besitze sonst nichts, was ich lieben könnte, es scheint mir daher fast, als wenn ich dich unvernünftigerweise lieb hätte.

Wie thöricht ich bin!«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Am Abende des zweiten December nahm Mr. Bashwood zum ersten Male seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe der Südostbahn ein. Es war sechs Tage früher als der Zeitpunkt, welchen Allan selbst zu seiner Rückkunft bestimmt hatte; allein der Doctor hatte es nach seiner ärztlichen Erfahrung gerade für wahrscheinlich gehalten, daß »Mr. Armadale in seinem beneidenswerthen Alter so eigensinnig sein möchte, eher zu genesen, als sein Arzt vorausgesehen hätte«. Der Vorsicht halber wurde daher Mr. Bashwood angewiesen, sein Warten auf dem Bahnhofe schon tags darauf, nachdem er den Brief seines Herrn empfangen, zu beginnen.

Vom zweiten bis zum siebenten December wartete der Verwalter pünktlich auf dem Bahnhofe, sah die Züge ankommen und überzeugte sich zu seiner Genugthuung Abend für Abend, daß ihm die Reisenden sämtlich fremd waren. Vom zweiten bis zum siebenten December empfing Miß Gwilt —— um auf den Namen zurückzukommen, unter dem sie uns am besten bekannt ist —— seinen täglichen Bericht, den er manchmal persönlich abstattete, manchmal brieflich übersandte. Der Doctor, welchem die Berichte mitgetheilt wurden, nahm sie seinerseits bis zum Morgen des achten mit unerschüttertem Vertrauen in die getroffenen Vorsichtsmaßregeln entgegen. An diesem Tage hatte die Aufregung der beständigen Ungewißheit Miß Gwilt’s wandelbare Stimmung sehr zum Schlimmen verändert, was Jeder in ihrer Umgebung wahrnahm und was merkwürdig genug sich in dem Wesen des Doctors ebenso auffällig widerspiegelte, als er ihr seinen gewöhnlichen Besuch machte. Durch ein so außerordentliches Zusammentreffen, daß seine Feinde es überhaupt für ganz und gar kein Zusammentreffen gehalten haben dürften, kam an dem Morgen, wo Miß Gwilt die Geduld auszugehen begann, dem Doctor zum ersten Male sein Vertrauen abhanden.

»Natürlich keine Nachricht«, sagte er, indem er sich mit einem schweren Seufzer niederließ. »Gut! gut!«

Miß Gwilt sah ihn von ihrer Arbeit her aufgeregt an.

»Sie scheinen mir heute Morgen wunderbar kleinlaut«, sagte sie. »Vor was fürchten Sie sich denn jetzt?«

»Einem Manne«, antwortete der Doctor, »selbst wenn er einem so wesentlich friedlichen Berufe angehört, wie es der meinige ist, macht man nicht so leichthin den Vorwurf der Furcht. Ich fürchte mich nicht, ich bin nur, wie Sie zuerst richtiger bemerkten, kleinlaut. Sie wissen, ich bin von Natur sanguinischen Temperaments und erkenne nur heute, was ich ohne gewohnte Zuversicht schon vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte.«

Ungeduldig warf Miß Gwilt ihre Arbeit hin. »Wenn Worte Geld kosteten«, versetzte sie, »so würde dies Ihnen zu einem sehr kostspieligen Luxus werden.«

»Was ich vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte«, wiederholte der Doctor, ohne von der Unterbrechung die geringste Notiz zu nehmen. »Um mich deutlicher auszusprechen, ich fühle mich keineswegs mehr so sicher, wie ich’s war, daß Mr. Armadale sich ohne Widerstreben den Bedingungen fügen wird, die ich ihm in meinem Interesse —— in geringerem Grade auch in Ihrem —— auferlegen muß. Merken Sie wohl auf! Ich stelle es nicht in Frage, daß es uns gelingen wird, ihn in das Sanatorium zu locken, ich zweifle blos, daß er ganz so traitable sein wird, als ich ursprünglich annahm, wenn wir ihn drin haben. Denken Sie«, fuhr er fort, zum ersten Male aufblickend und Miß Gwilt forschend fixierend, »denken Sie, er ist verwegen, halsstarrig, wie Sie’s nennen wollen, und hält aus, hält wochenlang, monatelang aus, wie Menschen in einer der seinigen ähnlichen Lage schon ausgehalten haben. Was folgt daraus? Die Gefahr, ihn in gezwungenem Versteck zu halten, ihn, wenn ich so sagen soll, zu unterdrücken, wächst in steigender Potenz und wird enorm! Im Augenblick ist nun mein Haus wirklich zur Aufnahme von Kranken bereit; schon im Laufe einer Woche dürften Patienten sich einstellen, dürften mit Mr. Armadale oder Mr. Armadale dürfte mit ihnen verkehren, ein Billet könnte herausgeschmuggelt und der Commission zur Feststellung des Wahnsinns in die Hände gespielt werden. Selbst in dem Falle eines nicht concessionirten Etablissements wie das meinige ist, haben diese Herren —— nein, diese patentierten Despoten in einem Lande der Freiheit —— nur den Lordkanzler um einen Befehl anzugehen, um ohne weiteres in mein Sanatorium einzudringen und das ganze Haus vom Dache bis zum Keller zu durchsuchen. Um Himmelswillen, in mein Sanatorium eindringen! Ich verzage nicht, ich will Sie nicht erschrecken, ich behaupte nicht, daß die Mittel, die wir zu unserer eigenen Sicherheit ergreifen, nicht die besten sind, welche uns überhaupt zur Verfügung stehen, ich bitte, sich nur die Commission in meiner Anstalt denken und die Folgen davon ins Auge fassen zu wollen. Die Folgen!« wiederholte der Doctor, indem er sich ernst erhob und seinen Hut nahm, als wolle er das Zimmer verlassen.

»Haben Sie mir nichts weiter zu sagen?« fragte Miß Gwilt.

»Haben Sie Ihrerseits einige Bemerkungen zu machen?« erwiderte der Doctor.

Den Hut in der Hand stand er wartend da. Eine volle Minute sahen sich beide schweigend an.

Miß Gwilt nahm zuerst wieder das Wort.

»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie, mit einem Male ihre Fassung wiedergewinnend.

»Verzeihen Sie gefälligst«, entgegnete der Doctor, die Hand ans Ohr legend. »Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sollten Sie zufällig heute Morgen wieder eine Fliege fangen«, sagte Miß Gwilt ihren Worten einen bitter-sarkastischen Nachdruck gebend, »so wäre ich vielleicht im Stande, Sie wieder durch einen kleinen Scherz in Schrecken zu jagen.«

Höflich protestierend hielt der Doctor beide Hände empor und sah aus, als wollte sich seine gute Laune wieder einstellen.

»Es ist grausam«, murmelte er sanft, »daß Sie mir selbst jetzt noch nicht meinen unseligen Mißgriff vergeben haben!«

»Was haben Sie mir sonst noch zu sagen?« sprach Miß Gwilt »Ich wartete darauf.« Mit höhnischer Miene drehte sie ihren Stuhl nach dem Fenster um und nahm, während sie sprach, ihre Arbeit wieder auf.

Der Doktor stellte sich hinter sie und legte seine Hand auf die Lehne ihres Stuhls.

»Zuerst möchte ich eine Frage an Sie richten«, sagte er, »und sodann eine nothwendige Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Wenn Sie mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren wollen, stelle ich jetzt zuvörderst meine Frage.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Sie wissen, daß Mr. Armadale noch am Leben ist, und wissen auch, daß er nach England zurückkehrt. Warum tragen Sie nach wie vor Ihre Witwenkleidung?«

Ohne einen Augenblick zu zögern, antwortete sie ihm, emsig fort nähend:

»Weil ich wie Sie sanguinischen Temperaments bin; ich denke mich bis zuletzt auf das Kapitel der Zufälligkeiten zu verlassen. Mr. Armadale kann ja noch auf seinem Heimwege sterben.«

»Gesetzt aber, er kommt lebendig nach Hause, was dann?«

»Dann bleibt immer noch eine andere Chance übrig.«

»Bitte, was für eine?«

»Er kann in Ihrem Sanatorium sterben.«

»Madame!« remonstrirte der Doctor in dem tiefen Baß, den er für seine Ausbrüche tugendhafter Entrüstung aufzusparen pflegte. »Halt! Sie haben vom Kapitel der Zufälligkeiten gesprochen«, ging er weiter, in seinen sanfteren Conversationston zurückfallend. »Ja, ja! Natürlich! Diesmal Verstehe ich Sie. Selbst die Heilkunst ist von Zufälligkeiten abhängig, selbst solch ein Sanatorium wie das meinige kann vom Tode überrascht werden. Ganz richtig, ganz richtig!« sagte der Doctor, in höchster Unparteilichkeit diese Concession machend. »Es gibt ein Kapitel der Zufälligkeiten, ich räume das ein, wenn Sie sich darauf verlassen wollen. Geben Sie Acht! Ich sage ausdrücklich, wenn Sie sich darauf verlassen wollen.«

Abermals trat ein Moment des Schweigens ein, eines so tiefen Schweigens, daß im ganzen Zimmer kein Laut zu vernehmen war, als der Ton, welchen Miß Gwilt’s Nadel hervorbrachte, wenn sie den Faden durch die Leinwand zog.

»Fahren Sie fort«, sprach endlich Miß Gwilt. »Sie sind noch nicht fertig.«

»Allerdings«, sagte der Doktor. »Nachdem ich meine Frage gestellt, muß ich Ihnen jetzt meine Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Daß ich meinerseits nicht gesonnen bin, mich auf das Kapitel von den Zufälligkeiten zu verlassen, werden Sie daraus ersehen. Ich habe mir überlegt, daß Sie und ich, räumlich gesprochen, für eine Eventualität nicht so passend situirt sind, als es der Fall sein sollte. Vor der Hand sind in dieser indeß rasch aufblühenden Gegend Droschken noch eine Seltenheit; ich habe zwanzig Minuten zu Ihnen, Sie haben zwanzig Minuten zu mir zu gehen. Wie Sie wissen, kenne ich meinerseits Mr. Armadale’s Charakter nicht; es kann daher die Notwendigkeit, die sehr dringende Nothwendigkeit eintreten, einmal rasch an Ihre genauere Kenntniß desselben zu appellieren. »Wie aber soll ich das bewerkstelligen, wenn wir uns nicht immer, unter einem und demselben Dache, erreichen können? In unserm beiderseitigen Interesse erlaube ich mir deshalb, meine verehrte Dame, die Bitte, daß Sie auf eine gewisse Zeit eine Insassin meines Sanatoriums werden möchten.«

Miß Gwilt’s behende Nadel kam plötzlich zum Stillstand. »Ich verstehe Sie«, sagte sie, wieder so ruhig wie zuvor.

»Entschuldigen Sie«, entgegnete der Doctor, der in einem neuen jähen Anfall von Taubheit abermals die Hand vor das Ohr hielt.

Sie lachte vor sich hin —— ein entsetzliches heimliches Lachen, das selbst den Doctor erschreckte, sodaß er schnell die Hand vom Ohre wegnahm.

»Eine Insassin Ihres Sanatoriums?« wiederholte sie. »Sie nehmen doch sonst in allen Stücken auf den Anstand Rücksicht und suchen den Schein zu wahren —— meinen Sie dies zu thun, wenn Sie mich in Ihr Haus aufnehmen?«

»Ganz gewiß!« versetzte der Doctor enthusiastisch. »Ich bin erstaunt, daß Sie nur so fragen können! Haben Sie je einen bedeutenden Mann meines Berufs gekannt, der dem äußern Schein ins Gesicht schlug? Wenn Sie mir die Ehre erzeigen, meiner Aufforderung Folge zu leisten, so werden Sie mein Sanatorium in dem Charakter beziehen, der von allen am wenigsten bemäkelt werden kann —— als Patientin.«

»Wann wünschen Sie meine Antwort zu erhalten?«

»Können Sie sich heute noch entschließen?«

»Nein!«

»Morgen?«

»Ja. —— Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«

»Nichts mehr.«

»So verlassen Sie mich also. Ich kümmere mich nicht um den Schein. Ich will allein sein und sage dies. Guten Morgen!«

»Ach, das Geschlecht, das Geschlecht!« rief der Doctor in wieder vollkommen guter Laune aus. »So entzückend impulsiv, so entzückend ohne Rücksicht auf das, was die Leute sagen und wie sie es sagen! Ja, ja! Guten Morgen!«

Als die Hausthür sich hinter ihm geschlossen hatte, trat sie ans Fenster und sah ihm voll Verachtung nach.

»Zuerst ist’s Armadale selbst gewesen«, sagte sie, »der mich dazu getrieben hat. Dann war’s Manuel. Du feiger Schurke da unten, sollst du mich zum dritten und letzten Male dazu treiben?«

Sie wandte sich vom Fenster ab und betrachtete sich ihre Wittwenkleidung gedankenvoll im Spiegel.

Die Stunden des Tages vergingen, und sie konnte sich zu nichts entschließen. Die Nacht kam heran, und sie schwankte noch immer. Der neue Morgen dämnrerte, und die fürchterliche Frage war noch ungelöst.

Da brachte die Morgenpost ihr einen Brief. Es war Mr. Bashwood’s gewöhnlicher Bericht. Wieder und wieder hatte er vergeblich aus Allan’s Ankunft gewartet.

»Ich will länger Zeit haben«, rief sie leidenschaftlich. »Kein Mensch auf der Welt soll mich mehr drängen, als ich will!«

Beim Frühstück, am Morgen des neunten, wurde der Doctor von einem Besuche Miß Gwilt’s überrascht.

»Ich muß noch einen Tag Frist halten«, sagte sie, sobald der Diener hinter ihr die Thür zugemacht hatte.

Der Doctor sah sie an, bevor er antwortete, und las auf ihrem Gesichte wie gefährlich es war, sie zum Aeußersten zu treiben.

»Die Zeit verstreicht«, remonstrirte er so überredend wie möglich. »Mr. Armadale kann trotz alledem heute Abend hier sein«

»Ich muß noch einen Tag Frist haben!« wiederholte sie laut und leidenschaftlich.

»Zugestanden!« sagte der Doctor und blickte ängstlich nach der Thür »Sprechen Sie nicht zu laut, meine Leute könnten es hören. Merken Sie sich«, setzte er hinzu, »ich verlasse mich auf Ihre Ehre, daß Sie mich morgen nicht um einen ferneren Aufschub drängen!«

»Sie sollten sich lieber aus meine Verzweiflung verlassen!« sprach sie und ging.

Der Doctor blätterte die Schale von seinem Ei ab und lächelte.

»Recht so, meine Beste!« dachte er. »Ich weiß noch, wohin Sie in früheren Zeiten Ihre Verzweiflung geführt hat, und ich glaube sicher zu sein, sie führt Sie denselben Weg auch jetzt.«

Am nämlichen Abende dreiviertel auf acht Uhr nahm Mr. Bashwood wie gewöhnlich seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe von London-Bridge ein.

Er war in heiterster Stimmung; er lächelte und schmunzelte vor unwiderstehlicher Lust. Das Bewußtsein, daß er vermöge seiner Kenntniß von Miß Gwilt’s früherer Laufbahn ein Mittel in Reserve hatte, seinen Einfluß bei ihr geltend zu machen, trug keine Schuld an der Veränderung, die jetzt sichtlich mit ihm vorgegangen war. In seinem einsamen Leben in Thorpe-Ambrose hatte es seinen Muth aufrecht erhalten und ihm die größere Sicherheit in seinem Wesen gegeben, welche selbst Miß Gwilt bemerkt hatte; von dem Augenblicke aber, wo er seinen alten Platz in ihrer Gunst wieder gewann, war ihm die Ueberzeugung seiner Macht durch die elektrische Gewalt ihrer Berührung und ihres Blicks ganz entschwunden. Seine Eitelkeit —— eine Eitelkeit, die bei Männern seines Alters nur versteckte Verzweiflung ist —— hatte ihn jetzt von neuem bis in den siebenten Himmel thörichter Glückseligkeit erhoben. Er glaubte wieder an sie, wie er an den flotten neuen Winterpaletot glaubte, den er trug, wie an das zierliche Stöckchen, welches er in seiner Hand schwang Er summte vor sich hin! Das abgelebte alte Geschöpf, das seit seinen Kindertagen nicht mehr gesungen hatte, summte, während es den Perron hinab schritt, die wenigen Brocken vor sich hin, deren es sich von einem abgenutzten alten Liede noch entsinnen konnte.

Der Zug mußte heute schon um acht Uhr eintreffen. Fünf Minuten nach dem Glockenschlage pfiff die Locomotive; noch fünf Minuten, und die Passagiere stiegen aus den Coupés.

Den ihm ertheilten Verhaltungsmaßregeln getreu, schritt Mr. Bashwood, so schnell es ihm die Menschenmenge erlaubte, an der Wagenreihe hin, und da er auf die erste Prüfung hin kein bekanntes Gesicht entdeckte, so gesellte er sich zu weiterer Forschung zu den im Wartesaale des Zollhauses auf ihre Abfertigung harrenden Reisenden.

Er hatte sich rings im Saale umgesehen und abermals überzeugt, daß ihm sämtliche der hier versammelten Personen fremd waren, als er hinter sich eine Stimme vernahm, welche ausrief: »Ist das nicht Mr. Bashwood?«

In gespannter Erwartung drehte er sich um und fand sich dem Manne gegenüber, den er hier zu treffen am allerwenigsten erwartet hatte.

Es war Midwinter.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Midwinter, dem Bashwood’s Verlegenheit nicht entging, wie er sofort die Veränderung in dessen äußerer Erscheinung bemerkt hatte, sprach zuerst.

»Ich sehe, ich habe Sie überrascht«, sagte er. »Sie haben sich wohl nach Jemand anders umgesehen? Haben Sie Nachricht von Allan? Ist er schon auf dem Heimwege?«

Die Frage nach Allan, die doch in diesem Augenblicke bei Midwinters Beziehungen zu jenem so ganz natürlich war, trug nur zur Erhöhung von Bashwood’s Verlegenheit bei. Da er nicht wußte, wie er sich aus dieser kritischen Stellung ziehen sollte, nahm er einfach seine Zuflucht zum Leugnen.

»Ich weiß nichts von Mr. Armadale, ach Gott, Sir, nein, ich weiß gar nichts von ihm«, antwortete er ohne Noth hastig und eifrig. »Willkommen in England, Sir«, fuhr er fort, in seiner ängstlichen, geschwätzigen Manier zu einem andern Thema überspringend. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie im Auslande waren. Es ist so lange, daß wir das Vergnügen —— daß ich das Vergnügen gehabt habe. Hat es Ihnen auf dem Continente gefallen, Sir? Ach, so von den unsern verschiedene Sitten, so verschieden, ja, ja, ja, so ganz verschieden! Werden Sie jetzt wieder lange in England bleiben?«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete Midwinter. »Ich habe» meine eigentlichen Pläne aufgeben und ganz unerwartet nach England kommen müssen.« Er hielt inne und fügte dann leiser hinzu: »Eine ernstliche Sorge hat mich hierher geführt; ehe ich von dieser Sorge nicht befreit bin, weiß ich nicht, was ich vornehmen werde.

Das Licht einer Gaslaterne fiel bei diesen Worten auf sein Gesicht, und erst jetzt bemerkte Mr. Bashwood, daß Midwinter höchst angegriffen und überhaupt traurig verändert aussah.

»Das thut mir leid, Sir, sehr, sehr leid. Könnte ich Ihnen vielleicht irgendwie von Nutzen sein ——« brachte Bashwood vor, theils einigermaßen unter dem Einflusse seiner ängstlichen Höflichkeit, theils in Erinnerung an das, was in früheren Tagen Midwinter für ihn in Thorpe-Ambrose gethan hatte.

Midwinter dankte ihm und wandte sich wehmüthig ab. »Leider werden Sie mir kaum etwas helfen können, Mr. Bashwood, nichtsdestoweniger aber bin ich Ihnen für Ihr Anerbieten sehr verbunden.« Er schwieg und sann eine Weile nach. »Wenn sie nun nicht krank wäre? Wenn ihr anderes Unheil zugestoßen sein sollte?« sprach er zu sich selbst und kehrte sein Gesicht wieder dem Verwalter zu. »Hat sie ihre Mutter verlassen, dann dürfte ihre Spur wohl zu finden sein, wenn man sich in Thorpe-Ambrose erkundigte.«

Augenblicklich war Bashwood’s Neugier erweckt. Um Miß Gwilt’s Willen interessierte ihn jetzt das ganze weibliche Geschlecht.

»Eine Dame, Sir?« fragte er. »Sehen Sie sich nach einer Dame um?«

»Nach meiner Frau«, antwortete Midwinter einfach.

»Sie sind verheirathet, Sir?« rief Bashwood aus. »Verheirathet, seitdem ich zum letzten Male das Vergnügen hatte, Sie zu sehen? Darf ich mir die Freiheit nehmen zu fragen ——«

Unbehaglich schlug Midwinter die Augen nieder.

»Sie haben die Dame vordem gekannt«, sagte er; »ich habe Miß Gwilt geheirathet.«

Der Intendant fuhr zurück, wie er vor einer auf seinen Kopf gerichteten geladenen Pistole zurückgefahren sein würde. Seine Augen stierten, als hätte er plötzlich den Verstand verloren, und das nervöse Zittern, dem er unterworfen war, durchbebte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.

»Was haben Sie?« fragte Midwinter. Keine Antwort erfolgte.

»Was liegt denn so Erschreckliches darin«, fuhr er etwas ungeduldig fort, »daß Miß Gwilt meine Frau ist?«

»Ihre Frau?« wiederholte Bashwood verblüfft. »Mrs. Armadale!« Mit einer gewaltsamen Anstrengung hielt er sich im Zaume und sagte nichts weiter.

War der Verwalter starr vor Erstaunen gewesen, so war es jetzt Midwinter nicht weniger, wie sich auf seinem Gesichte deutlich ausprägte. Der Name, unter welchem er seine Frau heimlich geheirathet hatte, war über die Lippen des Mannes gegangen, dem er zuletzt von allen Menschen in der Welt sein Geheimniß anvertraut haben würde! Er nahm Mr. Bashwood beim Arme und führte ihn nach einer minder belebten Gegend des großen Bahnhofs, als die war, wo sie bisher mit einander gesprochen hatten.

»Sie haben so eben meine Frau erwähnt und im selben Athem von Mrs. Armadale gesprochen«, sagte er. »Was meinten Sie damit?«

Wiederum keine Antwort. Ganz unfähig, mehr zu begreifen, als daß er sich in eine ernste Verwickelung hineingezogen sah, die ihm ein vollständiges Geheimniß war, suchte sich Mr. Bashwood von dem Griffe loszumachen, der seinen Arm festhielt, allein umsonst.

Streng wiederholte Midwinter seine Frage. »Ich frage Sie noch einmal«, sprach er, »was wollten Sie damit sagen?«

»Nichts, Sir! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich habe nichts damit gemeint!« Er fühlte, wie die Hand seinen Arm fester packte, er sah, selbst im Dunkel des abgelegenen Winkels, in dem sie standen, daß Midwinter’s Jähzorn aufzulodern begann und nicht mit ihm zu spaßen war. Die Gefahr, die ihm drohte, gab ihm das einzige Mittel in die Hand, welches ein feiger Mensch bereit zu haben pflegt, wenn er sich gezwungen sieht, einer plötzlichen Bedrängniß die Spitze zu bieten, die Lüge. »Ich wollte nur sagen«, stotterte er heraus und strengte sich in Verzweiflung an, Blick und Rede den Anstrich der Vertraulichkeit zu geben, »daß Mr. Armadale überrascht sein würde ——«

»Sie sagten Mrs. Armadale!«

»Nein, Sir, auf mein Ehrenwort, auf mein heiliges Ehrenwort, Sie irren sich; wahrhaftig, Sie irren sich! Ich sagte Mr. Armadale. Wie hätte ich denn auch anders sagen können? Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen; ich bin pressiert; ich versichere Ihnen, ganz entsetzlich pressiert!«

Midwinter hielt ihn noch einen Augenblick fest und entschloß sich in diesem Augenblick, was er zu zu thun habe.

Wie es sich in der That verhielt, hatte er angegeben, daß Sorge um seine Frau das Motiv gewesen, welches ihn zur Rückreise nach England veranlaßt, eine Sorge, die ihm natürlich hatte kommen müssen, weil er auf einmal länger als eine Woche ohne Nachricht von ihr geblieben war, nachdem sie ihm vorher jeden zweiten oder dritten Tag geschrieben hatte. Der erste unbestimmt-schreckliche Argwohn, daß ihr Schweigen einen andern Grund haben könne als Unfall oder Krankheit, hatte ihn plötzlich mit eisiger Kälte durchschauert, sowie er hörte, daß Bashwood den Namen Mrs. Armadale mit dem Gedanken an seine Frau in Verbindung brachte. Kleine Unregelmäßigkeiten in ihren Briefen, die ihm bis dahin nur eigenthümlich erschienen waren, fielen ihm jetzt wieder ein und dünkten ihm ebenfalls verdächtig. Bis jetzt hatte er den Gründen Glauben geschenkt, die sie ihm angab, als sie ihn ersuchte, seine Briefe an ein gewisses Postbureau zu adressieren, ohne ihm eine bestimmte Wohnung zu nennen. Nunmehr dünkten ihm auch diese Gründe nichts als bloßer Vorwand zu sein. Bis jetzt war er willens gewesen, bei seiner Ankunft in London blos an dem einzigen Orte nach ihr zu forschen, der ihm einen Faden zu ihrer Auffindung darbot, in dem Hause, das sie ihm als die Wohnung ihrer Mutter bezeichnet hatte. Nunmehr beschloß er, aus einem Motiv, das er sich selbst nicht weiter zu erklären wagte, das aber jede andere Erwägung seines Geistes überwand, vor allen Dingen das Räthsel zu lösen, wie Bashwood in ein Geheimniß hatte eingeweiht werden können, das ein eheliches Geheimniß zwischen ihm und seiner Frau war. An einen Mann von Bashwood’s Art und Weise und Bashwoods gegenwärtiger Gemüthsverfassung sich deshalb direct zu wenden, wäre offenbar ein fruchtloses unternehmen gewesen. So war denn Midwinter die Waffe der Täuschung buchstäblich in die Hand gezwungen worden. Er ließ Bashwood’s Arm los und acceptirte dessen Erklärung.

»Verzeihen Sie«, sagte er; »ich zweifle nicht mehr, daß ich falsch gehört habe. Bitte, schreiben Sie meine Heftigkeit meiner großen Sorge und Erschöpfung zu. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Der Bahnhof war mittlerweile fast ganz leer geworden, die mit dem Zuge gekommenen Passagiere waren alle im Wartesaale des Zollhauses bei der Revision ihres Gepäcks versammelt. Es war mithin nichts Leichtes, ostensibel sich von Bashwood zu verabschieden und in Wahrheit ihn doch im Auge zu behalten. Allein Midwinter’s frühere Zigeunerexistenz hatte ihn mit dergleichen Kriegslisten vertraut gemacht, wie er sie jetzt in Anwendung bringen mußte. An der Reihe der leeren Waggons hinab schreitend, öffnete er die Thür von einem derselben, als wolle er nach einem darin zurückgelassenen Gegenstande sehen, und entdeckte, wie Bashwood der Droschkenlinie zueilte, die auf der andern Seite des Perrons aufgestellt war. Im Nu war auch Midwinter hindurch und um die lange Wagenreihe herum, sodaß er vom Perron aus nicht gesehen werden konnte. Im Augenblick, wo Bashwood in die erste Droschke durch den rechten Wagenschlag stieg, glitt Midwinter rasch in die zweite Droschke durch den linken. »Doppelte Taxe«, sagte er dem Kutscher, »wenn Sie den Wagen vor uns nicht aus dem Gesichte verlieren und ihm folgen, wohin er auch fährt. Eine Minute später befanden sich beide Droschken bereits auf ihrer Tour aus dem Bahnhofe hinaus.

Im Wachhäuschen am Thor saß der Beamte und notierte die Bestimmungsorte der vorüberrollenden Wagen. Midwinter hörte, daß sein Kutscher »Hampstead!« rief, als er am Fenster des Beamten vorbeikam.

»Warum nannten Sie Humpstead?« fragte er, als sie sich außerhalb des Bahnhofs befanden.

»Weil der Mann vor mir Hampstead genannt hat, Sir«, antwortete der Kutscher.

Immer und immer wieder auf ihrem langen Wege nach der nordwestlichen Vorstadt fragte Midwinter, ob das Cab noch in Sicht sei. Wieder und immer wieder antwortete der Mann: »Gerade vor uns.«

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als der Kutscher endlich die Pferde anhielt. Midwinter stieg aus und sah die Droschke vor ihnen vor einer Hausthür warten. Sobald er sich überzeugt hatte, daß der andere Kutscher wirklich der von Bashwood genommene war, zahlte er die versprochene Belohnung und entließ seine eigene Droschke.

Ein paarmal ging er vor dem Hause auf und nieder. Der unbestimmte fürchterliche Verdacht, der auf dem Bahnhofe in ihm aufgestiegen war, hatte inzwischen eine feste Gestalt angenommen, vor der er sich entsetzte Ohne den Schatten eines plausiblen Grundes zu haben, mußte er an der Treue seiner Frau blind zweifeln und ebenso blind argwöhnen, daß Bashwood dabei die Rolle des Unterhändlers spiele. In purem Schrecken vor seiner krankhaften Einbildung beschloß er sich die Nummer des Hauses und den Namen der Straße zu notieren, in welcher er sich eben befand, und dann, um seiner Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sofort sich nach der Wohnung zu verfügen, die sie ihm als die Adresse ihrer Mutter angegeben hatte. Er hatte sein Notizbuch aus der Tasche genommen und ging der Straßenecke zu, als er den Kutscher bemerkte, der Bashwood gefahren hatte, wie derselbe ihn mit einem Ausdruck von forschender Ueberraschung ansah. Sofort kam ihm der Gedanke, die Gelegenheit zu benutzen und den Droschkenkutscher auszufragen. Er zog eine halbe Krone aus seinem Portemonnaie und gab sie dem Mann, der bereitwillig seine Hand ausstreckte.

»Ist der Herr, den Sie von der Bahn gefahren haben, in das Haus dort gegangen?« fragte er.

»Ja, Sir.«

»Haben Sie ihn nach Jemand fragen hören, als die Thür aufgemacht wurde?«

»Er fragte nach einer Dame, Sir. Mrs. ——« Der Mann überlegte. »Es war kein gewöhnlicher Name; ich würde ihn gleich wiedererkennen, wenn er mir genannt würde.«

»War es Midwinter?«

»Nein, Sir.«

»Armadale?«

»Richtig, der war’s. Mrs. Armadale.«

»Sie sind sicher, daß es Mrs. und nicht Mr. war?«

»So sicher, wie ein Mann sein kann, der nicht besonders darauf Acht gegeben hat.«

Der Zweifel, welcher in dieser letzten Antwort lag, bestimmte Midwinter, die Sache auf der Stelle ins Klare zu bringen. Er stieg die Stufen vor dem Hause hinan. Als er die Hand erhob, um die neben der Thür angebrachte Klingel zu ziehen, überwältigte ihn momentan seine heftige Aufregung; ein eigenthümliches Gefühl, als springe etwas von seinem Herzen nach seinem Kopfe, machte ihn schwindeln. Er mußte sich am Treppengeländer festhalten und, das Gesicht der frischen Abendluft preisgebend, warten, bis der Anfall vorüber war. Dann erst schellte er.

»Ist« ——« er wollte nach Mrs. Armadale fragen, als ihm das Dienstmädchen die Thür geöffnet hatte, aber er brachte den Namen trotz aller Anstrengung nicht über die Lippen — »ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er.

»Ja, Sir.«

Das Mädchen wies nach einem Hinterzimmer und führte ihn zu einer alten Dame mit verbindlichen Manieren und einem hellen Augenpaar.

»Das ist ein Mißverständniß«, sagte Midwinterr. »Ich wollte zu ——« Noch einmal versuchte er den Namen auszusprechen, und nochmals war er außer Stande, ihn über seine Lippen zu bringen.

»Mrs. Armadale?« half ihm die alte Dame lächelnd ein.

»Ja.«

»Führe den Herrn hinauf, Jenny.«

Das Mädchen ging mit ihm ins erste Stock.

»Soll ich einen Namen melden?«

»Nein, keinen Namen.«

Mr. Bashwood war eben erst mit seinem Rapport über das auf dem Bahnhofe Vorgefallene fertig, seine stolze Gebieterin saß noch sprachlos da von dem Schlag, der sie plötzlich getroffen hatte, als sich die Thür des Zimmers aufthat und ohne ein Wort vorheriger Meldung Midwinter auf der Schwelle erschien. Er that einen Schritt in das Gemach hinein und schloß mechanisch hinter sich die Thür. In tiefstem Schweigen stand er da und seinem Weibe gegenüber, es vom Kopf bis zu den Füßen mit einem forschenden Blicke ansehend, der fürchterlich war in seiner unnatürlichen Selbstbeherrschung.

In tiefstem Schweigen erhob sie ihrerseits sich von ihrem Stuhle. In tiefstem Schweigen stand sie hoch aufgerichtet auf dem Kaminteppich ihrem Gatten in Wittwenkleidung gegenüber.

Er trat einen Schritt näher zu ihr heran, blieb dann aber stehen und zeigte mit seinem magern braunen Finger auf ihre Kleidung.

»Was soll das bedeuten?« fragten, ohne seine fürchterliche Selbstbeherrschung zu verlieren und ohne seine ausgestreckte Hand zu bewegen.

Bei dem Klange seiner Stimme hörte das rasche Wogen ihres Busens, welches bis jetzt das einzige äußere Zeichen der sie quälenden Todesangst gewesen war, mit einem Male auf. In undurchdringlichem Schweigen, athemlos stand sie da, als hätte seine Frage ihr den Todesstoß versetzt und seine zeigende Hand sie versteinert.

Er trat noch einen Schritt näher und wiederholte seine Worte noch leiser und gelassener als vorher.

Noch ein Augenblick des Schweigens, noch ein Augenblick der Unbeweglichkeit, und sie wäre vielleicht gerettet gewesen. Aber ihre verhängnißvolle Charakterstärke trug schließlich über die Katastrophe ihres und seines Geschicks den Sieg davon. Bleich und ruhig, hager und alt, begegnete sie der entsetzlichen Krisis mit einem furchtbaren Muthe und sprach die unwiderruflichen Worte, welche ihm ins Gesicht hinein ihn verleugneten.

»Mr. Midwinter«, sagte sie in unnatürlich hartem und unnatürlich scharfem Tone, »Unsere Bekanntschaft berechtigt Sie schwerlich solchergestalt zu mir zu sprechen.« Das waren ihre Worte, die sie sprach, ohne ihre Augen, die starr auf den Boden geheftet waren, zu ihm zu erheben. Als sie ihre Antwort gegeben hatte, schwand auch der letzte Schein von Farbe aus ihrem Gesichte.

Eine Pause trat ein. Noch immer unverwandt sie ansehend, suchte Midwinter sich in seinem Geiste die Sprache zurecht zu legen, welcher sie sich gegen ihn bedient hatte. »Sie nennt mich Mr. Midwinter«, flüsterte er langsam. »Sie spricht von unserer Bekanntschaft.« Er hielt inne und sah sich rings im Zimmer um. Jetzt erst bemerkten seine umherschweifenden Augen Mr. Bashwood; er gewahrte, daß der Verwalter am Kamine stand und ihn zitternd ansah.

»Ich habe Ihnen früher einmal einen Dienst geleistet«, sagte er, »und Sie haben mir damals gesagt, sie seien kein undankbarer Mensch. Sind Sie so dankbar, daß Sie mir antworten wollen, wenn ich Sie etwas frage?«

Er hielt wieder etwas inne. Bashwood stand noch immer zitternd am Kamine und fixierte ihn schweigend.

»Ich bemerke«, fuhr Midwinter fort, »daß Sie mich ansehen. »Ist etwa eine Veränderung mit mir vorgegangen, von der ich selbst nichts weiß? Sehe ich vielleicht Dinge, die Sie nicht sehen? Höre ich Worte, welche Sie nicht hören? Sehe ich aus oder spreche ich wie ein Mann, der von Sinnen gekommen ist?«

Wiederum hielt er inne und wiederum brach Niemand das Schweigen. Seine Augen begannen zu funkeln und das wildheiße Blut, das er von seiner Mutter geerbt hatte, stieg ihm langsam und dunkel in die aschfarbenen Wangen.

»Ist das Weib da«, fragte er, »dasselbe, welches Sie einst als Miß Gwilt gekannt haben?«

Noch einmal nahm seine Frau ihren verhängnißvollen Muth zusammen, noch einmal sprach sie ihre verhängnißvollen Worte.

»Sie zwingen mich, Ihnen zu wiederholen«, sagte sie, »daß Sie unsere Bekanntschaft zur Anmaßung verleitet und daß Sie vergessen, was Sie mir schuldig sind!«

Mit einer wilden Wuth, die Bashwood’s Lippen einen Angstschrei entlockte, drehte er sich nach ihr um.

»Bist Du mein Weib oder bist Du es nicht?« fragte er, die Zähne zusammenbeißend.

Zum ersten Male richtete sie ihre Augen auf ihn. Die ganze Hölle der eigenen Verzweiflung ihrer verlorenen Seele sprach aus dem trotzigen Blick, mit dem sie ihn fest ansah.

»Ich bin nicht Ihr Weib«, sprach sie.

Er taumelte zurück, während seine Hand wie die eines im Dunkeln tappenden Menschen nach etwas tastete, woran er sich halten könne. Schwer lehnte er sich endlich an die Wand des Zimmers und starrte das Weib an, das an feinem Herzen geruht und ihn jetzt ins Gesicht hinein verleugnet hatte.

Von Entsetzen getroffen schlüpfte Bashwood an ihre Seite. »Gehen Sie da hinein!« flüsterte er, indem er sie an die Flügelthür zu ziehen suchte, die ins anstoßende Zimmer führte. »Um Gotteswillen machen Sie schnell! Er bringt Sie sonst um!l«

Sie stieß den alten Mann mit. ihrer Hand zurück, sah ihn an mit plötzlich aufleuchtendem Gesicht und antwortete ihm mit Lippen, um die sich langsam ein fürchterliches Lächeln legte.

»Lassen Sie ihn mich umbringen!« sagte sie.

Als diese Worte über ihre Lippen kamen, stürzte Midwinter mit einem Schrei, der durch das Haus gellte, von der Wand aus sie zu. Die Wuth eines Wahnsinnigen flammte aus seinen gläsernen Augen und griff nach ihr mit seinen drohenden Händen. Bis auf Armeslänge kam er an sie heran, dann blieb er plötzlich stehen und das dunkle Roth erstarb aus seinem Gesichte Seine Augenlider senkten sich, seine ausgestreckten Hände zitterten und fielen hilflos herab. Er fiel um wie eine Leiche und lag wie ein Todter in den Armen des Weibes, welches ihn verleugnet hatte.

Sie kniete aus den Teppich nieder, legte seinen Kopf auf ihre Kniee und umklammerte den Arm Bashwood’s, der zu ihrer Hilfe herbeigeeilt war, fest wie eine Schraube. »Gehen Sie zum Doctor«, sagte sie, »und halten Sie die Leute im Hause fern, bis er kommt.« Aus ihren Augen und aus ihrer Stimme sprach etwas, das Jedem gerathen haben würde, ihr stillschweigend zu gehorchen. Stillschweigend gehorchte Bashwood und eilte aus dem Zimmer.

Im Augenblicke, wo sie allein war, hob sie Midwinter von ihren Knieen in die Höhe. Mit beiden Armen ihn umfangend, legte die unglückliche sein lebloses Gesicht an das ihre und wiegte ihn an ihrem Busen in einem Uebermaß von schmerzlicher Liebe, für welche es keine erleichternden Thränen gab, in einer leidenschaftlichen Reue, die sich mit Worten nicht schildern läßt. Schweigend hielt sie ihn an ihrer Brust, schweigend bedeckte sie seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen mit Küssen. Kein Laut entschlüpfte ihr, bis sie draußen hastige Schritte die Treppe herauskommen hörte. Dann entrang sich ein leiser Jammerschrei ihrem Munde, als sie ihn zum letzten Male ansah und seinen Kopf wieder auf ihre Kniee legte, ehe die Fremden eintraten.

Zuerst kamen die Hauswirthin und Bashwood; der Arzt, ein in derselben Straße wohnender Chirurg, folgte ihnen auf dem Fuße. Der Schrecken und die Schönheit ihres Gesichts, als sie aufblickte, nahmen ihn für den Augenblick so ausschließlich in Anspruch, daß er erstaunt stehen blieb. Sie mußte ihn erst heranwinken und ihm den Bewußtlosen zeigen, ehe sich seine Aufmerksamkeit von ihr ab und dem Kranken zuwandte.

»Ist er todt?« fragte sie.

Der Wundarzt schaffte Midwinter auf das Sopha und ließ die Fenster öffnen. »Es ist eine Ohnmacht«, sprach er, »nichts weiter.«

Bei dieser Antwort verließ sie ihre Kraft zum ersten Male. Sie seufzte tief auf und lehnte sich, eine Stütze suchend, an den Kaminsims. Bashwood war der Einzige, der bemerkte, daß sie vor Erschöpfung umzusinken drohte. Er führte sie nach einem Lehnstuhl ans andere Ende des Zimmers und überließ der Wirthin, dem Arzte die erforderlichen Belebungsmittel darzureichen.

»Wollen Sie hier warten, bis er wieder zu sich kommt?« flüsterte der Verwalter, zitternd nach dem Sopha blickend.

Die Frage weckte sie aus ihrer Betäubung zum Gefühle ihrer Lage, zum Bewußtsein der Nothwendigkeiten, welche diese Lage ihr erbarmungslos auflegte. Mit einem tiefen Seufzer sah sie nach dem Sopha, überlegte einen Augenblick und beantwortete Bashwoods Frage mit einer solchen ihrerseits.

»Ist das Cab noch unten, mit dem Sie vom Bahnhofe gekommen sind?«

»Ja.«

»Fahren Sie sogleich ans Thor des Sanatoriums und warten Sie dort, bis ich selbst komme.«

Mr. Bashwood zögerte. Sie heftete die Augen auf ihn und trieb ihn mit einem einzigen Blicke aus dem Zimmer.

»Der Herr kommt zu sich Madame«, sagte die Wirthin, als Bashwood hinaus war. »Eben hat er wieder geathmet.«

Sie nickte blos, stand aus und überlegte von neuem, blickte zum zweiten Male nach dem Sopha und ging dann durch die Flügelthür in ihr Schlafzimmer.

Bald war die körperliche Wiederherstellung des Kranken gesichert. Vor der Hand blieb jetzt nichts mehr zu thun übrig, als zu warten und ihn allmälig zum Bewußtsein des Geschehenen kommen zu lassen.

»Wo ist sie?« waren die ersten Worte, die er zu dem Arzte und der Wirthin sagte, welche ihn sorglich beobachtete.

Die Wirthin klopfte an die Flügelthür, erhielt aber keine Antwort. Sie ging hinein und fand das Zimmer leer. Auf dem Toilettentische lag ein kleiner Streifen Papier und darauf das Honorar für den Doctor. Das Papier enthielt die nachstehenden, offenbar in großer Eile geschriebenen Zeilen: »Nach dem, was vorgefallen, kann ich heute Nacht unmöglich hier bleiben. Morgen will ich wiederkommen, mein Gepäck zu holen und zu bezahlen, was ich Ihnen schulde.«

»Wo ist sie?« fragte Midwinter wieder, als die Wirthin allein in das Wohnzimmer zurückkam.

»Fort, Sir.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wenn Sie Ihre Handschrift kennen, Sir«, antwortete die alte Dame, einigermaßen über den ihr gemachten Vorwurf der Unwahrheit pikiert, und überreichte ihm den Papierstreifen, »so werden Sie dem da vielleicht glauben.«

Er sah auf das Papier. »Verzeihen Sie«, sagte er, ihr das Billet zurückgebend. »Von ganzem Herzen bitte ich Sie um Verzeihung.«

Es war etwas in seinem Gesicht, als er dies sprach, was die Aufregung der alten Dame mehr als beschwichtigte, ein plötzliches Mitleid mit dem Manne, der sie beleidigt hatte, überkam sie. »Ich fürchte, dem Allem liegt ein entsetzlicher Kummer zu Gründe«, sagte sie einfach. »Haben Sie etwas an die Dame zu bestellen, wenn sie wiederkommt?«

Midwinter erhob sich und stützte sich einen Augenblick auf das Sopha. »Ich will morgen selbst meine Botschaft«bringen«, sagte er; »ehe sie Ihr Haus verläßt, muß ich sie sehen«

Der Arzt begleitete den Patienten bis aus die Straße. »Darf ich Sie nach Hause geleiten?« fragte er freundlich. »Sie thaten besser, nicht zu Fuße zu gehen; es ist so weit. Sie dürfen sich nicht überanstrengen, dürfen sich heute Abend nicht erkälten.«

Midwinter nahm seine Hand und dankte ihm. »Ans Gehen und an kalte Nächte bin ich gewöhnt, Sir«, sagte er, »und ermatte nicht leicht, selbst wenn ich so angegriffen und erschöpft aussehe wie jetzt. Wenn Sie mir den nächsten Weg zeigen wollen, der aus dieser Straße ins Freie führt, denke ich, die Stille des Landes und die Stille der Nacht sollen mir gut thun. Morgen habe ich Schweres zu vollbringen«, setzte er leise hinzu, »und ich glaube, ich kann nicht ruhen noch schlafen, als bis ich darüber ernstlich nachgedacht habe.«

Der Arzt begriff, daß er es mit keinem gewöhnlichen Mann zu thun hatte. Ohne weitere Bemerkungen beschrieb er Midwinter den einzuschlagenden Weg und sagte ihm an seinem Hause gute Nacht.

Wieder allein, blieb Midwinter stehen und blickte schweigend zum Himmel auf. Dieser hatte sich aufgeklärt und die Sterne waren erschienen, die Sterne, die ihn damals zuerst sein Zigeunerherr kennen gelehrt hatte. Zum ersten Male dachte er in wehmüthiger Sehnsucht an seine Knabentage zurück. »Ach das alte liebe Leben!« dachte er schmerzlich. »Heute erst weiß ich, wie glücklich es war!«

Er raffte sich auf und schritt ins Freie hinaus, in die Einsamkeit und Dunkelheit, die jenseits der Straße sich vor ihm öffneten.

»Heute hat sie ihren Gatten verleugnet«, sagte er mit erglühendem Gesicht; »morgen soll sie ihren Herrn kennen lernen.«



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Die Droschke hielt am Thore, als Mrs. Gwilt sich dem Sanatorium näherte. Bashwood stieg aus und ging ihr entgegen. Sie nahm seinen Arm und führte ihn, damit sie der Kutscher nicht hören konnte, ein paar Schritte abseits.

»Denken Sie von mir, was Sie wollen«, sagte sie, ihren dichten schwarzen Schleier über das Gesicht herabziehend, »aber sprechen Sie heute Abend nicht mit mir. Fahren Sie nach Ihrem Hotel zurück, als wäre nichts passiert. Warten Sie morgen wie gewöhnlich auf den Zug und kommen Sie nachher zu mir ins Sanatorium. Gehen Sie, ohne weiter ein Wort zu sagen, und ich werde glauben, daß es einen Menschen auf der Erde gibt, der mich wirklich liebt. Bleiben Sie und fragen Sie mich, so sage ich Ihnen auf immer Lebewohl!«

Sie zeigte auf das Cab. Eine Minute später war es abgefahren und führte Bashwood nach seinem Gasthofe zurück.

Langsam wandelte sie durch das eiserne Gitterthor dem Hause zu. Ein Schauder durch rieselte sie, als sie die Klinge! zog. Sie lachte bitter. »Wieder schaudern!« sagte sie zu sich selbst. »Wer hätte gedacht, daß noch so viel Empfindung in mir geblieben wäre?«

Einmal in seinem Leben sprach das Gesicht des Doctors die Wahrheit, als sich zwischen zehn und elf Uhr abends die Thür seines Studierzimmers öffnete und Miß Gwilt eintrat.

»Gott erbarme sich!« rief er aus und sah sie mit dem höchsten Erstaunen an; »was hat dies zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten«, antwortete sie, »daß ich mich anstatt morgen früh schon heute Abend entschlossen habe. Sie, der Sie die Frauen so gut kennen, sollten doch wissen, daß sie immer ihren Impulsen folgen; ich bin hier, weil mir’s eben in den Sinn kam. Nehmen Sie oder verlassen Sie mich nun, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Sie nehmen oder verlassen?« wiederholte der «Doctor, seine Geistesgegenwart wiedererlangend. »Meine verehrte Dame, wie furchtbar, dies so auszusprechen! Auf der Stelle soll Ihr Zimmer bereit sein! Wo ist Ihr Gepäck? Soll ich danach schicken? Nein? Sie können sich diese Nacht ohne Ihre Sachen behelfen? Welche bewundernswerthe Bravour! Sie wollen es morgen selbst holen? Was für eine außerordentliche Selbstständigkeit! Setzen Sie Ihren Hut ab und kommen Sie ans Feuer! Was kann ich Ihnen vorsetzen?«

»Setzen Sie mir den stärksten Schlaftrunk vor, den Sie noch je in Ihrem Leben bereitet haben«, entgegnete sie, »und lassen Sie mich allein, bis die Zeit kommt, wo ich ihn nehmen muß. Ich werde in vollem Ernste Ihre Kranke sein«, setzte sie heftig hinzu, als der Doctor ihr erwidern wollte. »Wenn Sie mich heute Abend reizen, so werde ich die Tollste von allen Ihren Tollen sein.«

Augenblicklich wurde der Chef des Sanatoriums berufsmäßig ernst und kurz.

»Setzen Sie sich dort in die dunkle Ecke«, sagte er; »keine Seele soll Sie stören. In einer halben Stunde wird Ihr Zimmer bereit sein und Ihr Schlaftrunk auf dem Tische stehen. « —— Es ist für sie ein härterer Kampf gewesen, als ich geahnt habe!« dachte er, als er aus dem Zimmer ging und über den Vorsaal nach der gegenüberliegenden Hausapotheke schritt. »Gott im Himmel, was hat sie noch mit dem Gewissen zu thun nach einem Leben, wie das ihre gewesen ist!«

Die Apotheke war mit all den neuesten Erfindungen und Verbesserungen von medicinischen Apparaten und Geräthen ausgestattet, eine der Wände indeß war frei von Regalen und hier füllte den leeren Raum ein hübscher alter Schrein von geschnitztem Holze aus, der äußerlich mit dem sonst nur utilitarisch einfach aussehenden Lokale sehr contrastirte. Zu beiden Seiten des Schrankes waren zwei Sprachrohre in die Wand eingelassen, die mit den oberen Räumlichkeiten des Hauses communicirten und mit »Hauslaborant« und »Erste Krankenwärterin« bezeichnet waren. In das zweite dieser Rohre sprach der Doctor hinein, sowie er ins Zimmer getreten war. Eine ältliche Frau erschien, nahm den Befehl zur Instandsetzung von Mrs. Armadale’s Schlafzimmer entgegen und zog sich wieder zurück.

Jetzt schloß der Doctor die mittlere Abtheilung des Schrankes auf, welche eine Reihe von Flaschen enthielt, in denen die in der Medicin gebräuchlichen verschiedenen Gifte aufbewahrt wurden. Nachdem er die für den Schlaftrunk erforderliche Opiumtinctur herausgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, ging er noch einmal an den Schrank, sah sich eine Weile darin um, schüttelte zweifelnd den Kopf und trat dann vor die offenen Regale auf der andern Seite. Hier hob er nach einiger weiteren Ueberlegung eine der großen Flaschen herunter, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, stellte dann die Flasche ebenfalls auf den Tisch und öffnete hierauf ein anderes Fach des Schrankes, in dem sich allerhand böhmische Krystallflaschen befanden. Von ihnen wählte er ein mit Glasstöpsel versehenes hohes und enges rubinrothes Flacon aus. Dies füllte er mit der gelben Flüssigkeit, sodaß in der großen Flasche nur noch ein kleiner Rest blieb, der eben den Boden bedeckte, und schloß es dann wieder in das Fach ein, aus welchem er es herausgenommen hatte. Auch die Flasche selbst stellte er wieder an ihren Platz, nicht ohne jedoch zuvor aus einem daneben stehenden Becken Wasser hineingegossen zu haben, in welches er kleine Quantitäten chemischer Flüssigkeiten tröpfelte, sodaß dem Anschein nach der Inhalt der Flasche noch ganz derselbe war wie zuvor, ehe er diese zum größeren Theil entleert hatte. Endlich waren alle diese Operationen geschehen und der Doktor lachte leise, während er an das zweite Sprachrohr trat, um den Hausapotheker zu citiren.

Mit der gehörigen weißen Schürze angethan erschien dieser. Der Doctor schrieb gravitätisch das Recept zu einem Schlaftrunke und händigte es seinem Assistenten ein.

»Wird unverzüglich gebraucht, Benjamin«, sagte er in sanftem und melancholischem Tone. »Für eine kranke Dame, Mrs. Armadale, Zimmer 21 im zweiten Stock. Ach Bester, Bester«, seufzte er, »ein schlimmer Fall, Benjamin, ein schlimmer Fall!« Er schlug das funkelnagelneue Journal des Etablissements auf und trug den Fall in voller Länge nebst einer kurzen Angabe des Recepts ein. »Sind Sie fertig mit dem Laudanum? Stellen Sie es wieder hinein und schließen Sie den Schrank zu. Den Schlüssel geben Sie mir. Auf den Trank schreiben Sie: »,Vor Bettgehen zu nehmen«, und bringen Sie ihn der ersten Wärterin, Benjamin, der ersten Wärterin, hören Sie?«

Während des Doctors Lippen feierlich diese Instructionen ertheilten, waren seine Hände damit beschäftigt, unter dem Pulte, auf welchem das Journal lag, einen Kasten hervorzuziehen. Hieraus nahm er mehrere buntgedruckte Eintrittskarten »zur Besichtigung des Sanatoriums in den Stunden von zwei bis vier Uhr nachmittags« und füllte darauf das Datum des nächsten Tages »10. December« aus. Als er ein Dutzend solcher Karten in ein Dutzend lithografierter Einladungsschreiben gewickelt und in ein Dutzend Couverts gesteckt hatte, adressierte er die Briefe an ein dutzend Familien der Nachbarschaft, von denen er ein Verzeichniß besaß. Anstatt sich wieder eines der Sprachrohre zu bedienen, schellte er diesmal, um den Diener zu berufen, dem er die Billets zur Besorgung für nächsten Morgen übergab. »So wird’s gehen, denke ich«, sagte der Doctor, nachdem der Bediente sich entfernt hatte; »es wird gehen, denke ich.« Während er noch in seine Betrachtungen versunken war, erschien die erste Wärterin wieder, um zu melden, daß das Schlafzimmer der Dame bereit sei, und darauf begab sich der Doctor wieder in sein Studierzimmer, um Miß Gwilt diese Mittheilung in aller Form zu machen.

Noch immer saß diese auf ihrem alten Platze. Ohne ein Wort zu sagen oder nur ihren Schleier aufzuschlagen, erhob sie sich jetzt aus ihrer dunkeln Ecke und glitt wie ein Geist aus dem Zimmer.

Kurze Zeit darauf kam die erste Wärterin wieder die Treppe herab.

»Die Dame hat mir befohlen«, sagte sie leise, »sie morgen früh um sieben Uhr zu wecken. Sie will ihre Sachen selbst holen und, sobald sie angekleidet ist, eine Droschke haben. Was soll ich thun?«

»Thun Sie, was Ihnen die Dame sagt««, entgegnete der Doctor. »Man kann« sich ruhig darauf verlassen, daß sie sich im Sanatorium wieder einstellt.«

Die Frühstücksstunde der Anstalt war halb neun Uhr. Bis dahin hatte Miß Gwilt in ihrer vormaligen Wohnung Alles in Ordnung gebracht und war mit ihren Habseligkeiten zurückgekehrt. Der Doctor war ganz erstaunt über die Pünklichkeit seiner Patientin.

»Warum strapazieren Sie sich so?« fragte er, als sie sich am Frühstückstische trafen. »Warum sind Sie in solcher Eile, meine liebe Dame, wo Sie doch den ganzen Morgen vor sich hatten?«

»Nichts als Ruhelosigkeit«, gab sie zur Antwort. »Je länger ich lebe, desto ungeduldiger werde ich.«

Der Doctor, der bemerkt hatte, daß ihr Gesicht, ehe sie sprach, merkwürdig bleich und alt aussah, gewahrte, daß auch, als sie ihm antwortete, der sonst in nicht gewöhnlichem Grade bewegliche Ausdruck ihrer Züge von der Anstrengung des Sprechens ganz unberührt blieb. Nichts von dem gewöhnlichen Mienenspiel um ihre Lippen, nichts von dem gewöhnlichen Leben in ihren Augen; noch nie hatte er sie so undurchdringlich, kalt und gesehen gesehen wie jetzt. »Endlich ist sie mit sich im Reinen«, dachte er. »Was ich ihr gestern Abend nicht sagen konnte, heute Morgen kann ich es ihr sagen.«

Ein bedeutungsvoller Blick, auf ihre Wittwentoilette leitete die bevorstehenden Bemerkungen ein. »Jetzt, wo Sie Ihre« Sachen haben«, begann er würdevoll, »hielt ich es, wenn Sie erlauben, für passender, Sie legten die Haube da ab und zögen ein anderes Kleid an.«

»Warum?«

»Entsinnen Sie sich noch dessen«, fragte der Doctor, »was Sie mir vor ein paar Tagen gesagt haben? Sie sagten, es wäre ja möglich, daß Mr. Armadale in meinem Sanatorium stürbe.«

»Wenn Sie wollen, sag’ ich’s noch einmal.«

»Etwas Unwahrscheinlicheres«, fuhr der Doctor fort, wie immer taub gegen alle ihm nicht gelegenen Unterbrechungen, »läßt sich schwerlich vorstellen! Indeß solange es möglich ist, muß man es doch im Auge behalten. Sagen wir also, er stirbt, stirbt plötzlich und unerwartet, sodaß eine Todtenschau hier im Hause nothwendig wird. Was haben wir in einem solchen Falle zu thun? Wir müssen die Rollen fort spielen, die wir übernommen haben, Sie als seine Wittwe und ich als der Zeuge Ihrer Trauung, und in diesen Rollen müssen wir uns dem gründlichsten Verhör unterwerfen. Sollte das ganz und gar Unwahrscheinliche geschehen. daß er stirb, gerade wo wir seinen Tod wünschen und brauchen, so ist meine Idee, ja ich kann sagen, mein Entschluß, einzuräumen, daß wir von seiner Errettung aus dem Meere gewußt, und zu bekennen, daß wir Mr. Bashwood angewiesen haben, ihn durch falsche Nachrichten hinsichtlich Miß Milroy’s in die Anstalt hier zu locken. Wenn dann die unvermeidliche Frage nach dem Warum erfolgt, so meine ich, wir behaupten: er habe schon bald nach Ihrer Verheirathung Symptome von Geistesstörung gezeigt; sein Wahn bestehe darin, daß er diese seine Verheirathung mit Ihnen in Abrede stelle und erkläre, er sei mit Miß Milroy verlobt; Sie seien deshalb so erschrocken, als Sie von seinem Entkommen und seiner Rückkehr nach England gehört, daß Sie sich in einem Zustande von Nervenaufregung befanden, welcher meine Behandlung erfordere; auf Ihr Ersuchen und um Sie zu beruhigen, hätte ich ihn als Arzt besucht und ihn still ins Haus gebracht, dadurch daß ich, was in solchem Falle vollkommen zu rechtfertigen, auf seine fixe Idee eingegangen, und ich könne endlich bescheinigen, daß er von einem jener geheimnißvollen Geistesleiden befallen wäre, die, durchaus unheilbar und höchst verhängnißvoll, für die Medicin noch unergründliche Räthsel seien. Das wäre, bei dem nur sehr entfernt möglichen Ereignisse, das wir vorausgesetzt haben, in Ihrem und meinem Interesse unzweifelhaft das einzig richtige Verfahren und eine Toilette, wie Sie sie jetzt tragen, unter den obwaltenden Umständen, ganz und gar nicht am Platze.«

»Soll ich ie sofort ablegen?« fragte sie und stand, ohne auf das ihr so eben Mitgetheilte die mindeste Antwort zu geben, vom Frühstückstische auf.

»Jedenfalls nur heute vor zwei Uhr nachmittags.«

Sie sah ihn mit matten Blicken an, aus denen etwas wie Neugier sprach, und fragte nur: »Warum vor zwei Uhr?«

»Weil heute einer meiner Besuchstage ist, und die Besuchszeit ist von zwei bis vier Uhr.«

»Was gehen mich ihre Besucher an?«

»Einfach dies. Ich dachte es für wichtig, daß vollkommen respectable und vollkommen unparteiische Zeugen Sie in der Rolle einer Kranken in meiner Anstalt sehen.«

»Ihr Beweggrund scheint mir weit hergeholt. Haben Sie dabei weiter kein Motiv?«

»Meine liebe, liebe Dame«, remonstrirte der Dator, »habe ich denn vor Ihnen Geheimnisse? Sie sollten mich doch wohl besser kennen.«

»Ja«, sagte sie mit dem Tone der Verachtung. »Es ist sehr bornirt von mir, daß ich Sie diesmal nicht verstehe. Lassen Sie mir’s hinauf sagen, wenn Sie mich brauchen.« Damit ging sie auf ihr Zimmer.

Zwei Uhr hatte es geschlagen, und eine Viertelstunde darauf fanden sich die Besucher ein. So kurz vorher auch die Einladung gekommen war, so trostlos auch das Sanatorium von außen sich darstellte, so waren trotzdem die weiblichen Mitglieder der Familien, an welche der Doctor seine Aufforderung gerichtet, zahlreich der Aufforderung gefolgt. In dem jämmerlich einförmigen Leben, das ein großer Theil der Mittelklassen in England führt, ist den Frauen Alles und Jedes willkommen, was ihnen eine harmlose Zuflucht gegen die bestehende Tyrannei des Grundsatzes gewährt, daß alle menschliche Glückseligkeit zu Hause anfange und ende. Während die gebieterischen Anforderungen eines Handelsstaates die Vertreter des stärkeren Geschlechts unter den Besuchern des Doctors auf einen hinfälligen alten Mann und auf einen schläfrigen Knaben beschränkte, hatten nicht weniger als sechzehn Weiber, alte und junge, ledige und verheirathete —— die guten Seelen! —— die goldene Gelegenheit ergriffen, einmal aus dem Hause herauszukommen. Einträchtig verbunden in dem Wunsche, der sie samt und sonders erfüllte, erstens sich gegenseitig und sodann das Sanatorium in Augenschein zu nehmen, strömten sie, eine schön geputzte Procession, sich den leisen Anschein gebend, als sei jede undamenhafte Erregung tief unter ihrer Würde, höchst charakteristisch und höchst bedauerlich anzusehen, durch das Eisenthor des Doctors herein.

In der Halle empfing der Besitzer, Miß Gwilt am Arme, seine Besucher. Als wenn solch ein Wesen gar nicht existiert hätte, sahen die neugierigen Augen sämtlicher Weiber der Gesellschaft über den Doctor hinweg und verschlangen die merkwürdige Dame vom Kopf bis zu den Füßen mit ihren gierigen Blicken.

»Meine erste Kranke«, sagte der Doctor und stellte Miß Gwilt vor. »Die Dame hier ist erst gestern Abend angekommen und benutzt die Gelegenheit —— den ganzen Vormittag habe ich dazu leider keine Zeit gehabt —— sich das Sanatorium mit anzusehen. Erlauben Sie mir, Madame«, sprach er weiter, Miß Gwilt loslassend und der ältesten Dame unter den Anwesenden den Arm bietend. »Nervenerschütterung infolge häuslichen Kummers«, flüsterte er vertraulich. »Eine liebe Frau! Trauriger Fall!« Er seufzte leise und führte die alte Dame durch die Halle.

Die Heerde der Besucher folgte. Miß Gwilt begleitete sie schweigend und ging unter ihnen, doch nicht als zu ihnen gehörend, allein als die letzte von allen.

»Wie Sie bemerkt haben werden, meine Damen und Herren«, redete der Doctor an der Treppe, sich rundherum verneigend, sein Publikum an, »sind die Gartenanlagen noch zum Theil unvollendet. Da wir die Haide von Hampstead so nahe haben und Fahren und Reiten zu meinem Systeme gehören, lege ich auf den Garten keinen so großen Werth. Ebenso brauche ich Ihre Aufmerksamkeit für das Erdgeschoß meines Etablissements, in dem wir uns jetzt befinden, nur wenig in Anspruch zu nehmen. Der Wartesaal und das Arbeitszimmer auf dieser Seite hier und die kleine Apotheke, für die ich mir alsbald Ihr Interesse erbitte, sind fertig, das große Gesellschaftszimmer ist indeß noch in der Ausschmückung begriffen. In demselben, natürlich erst wenn die Wände trocken sind, keinen Augenblick früher, werden sich meine Kranken zu heiterer Geselligkeit versammeln. Nichts wird außerdem gespart werden, was, wie diese kleinen Gesellschaften, das Leben verbessern, erheben, schmücken kann. Jeden Abend zum Beispiel soll für die, welche sie lieben, Musik stattfinden.«

Bei dieser Stelle der Ansprache des Doktors machte sich eine kleine Bewegung unter den Besuchern bemerklich. Eine Familienmutter unterbrach ihn. Sie wollte wissen, ob jeden Abend, auch des Sonntags, Musik statthaben sollte, und wenn dies Letztere der Fall, welche Musik dann aufgeführt würde.

»Geistliche Musik, selbstverständlich, Madame«, sagte der Doctor. »Am Sonntagsabend Händel, gewöhnlich auch wohl minder heitere Piecen von Haydn. Doch ich wollte bemerken, daß Musik nicht die einzige Unterhaltung ist, welche ich meinen Nervenkranken biete. Für die, welche lieber lesen, ist für erheiternde Lectüre gesorgt.«

Wieder ließ sich eine Bewegung unter den Anwesenden verspüren. Eine zweite Familienmutter bat um Auskunft, ob erheiternde Lectüre so viel bedeuten solle wie Romane.

»Blos solche Romane, die ich selbst ausgewählt und gelesen habe«, antwortete der Doctor. »Nichts Trauriges, Madame! Gewiß gibt es im wirklichen Leben des Traurigen die Hülle und Fülle, allein gerade deshalb wollen wir ihm nicht auch in Büchern begegnen. Der englische Novellist, der Zugang finden will zu meinem Hause —— kein ausländischer Romanschreiber wird zugelassen —— muß seine Kunst so verstehen, wie sie in unsern Tagen der geistesgesunde Leser versteht. Er muß wissen, daß unser heutiger reinerer Geschmack, unsere heutige höhere Moralität ihn auf zweierlei beschränkt, wenn er für uns ein Buch schreibt. Alles, was wir von ihm fordern, ist, daß er uns dann und wann lachen macht und immer in behagliche Stimmung versetzt.«

Hier zeigte sich eine dritte Bewegung unter den Besuchern, diesmal jedoch einzig und allein infolge des allgemeinen Beifalls, welchen die so eben vernommenen Ansichten fanden. In weiser Vorsicht störte der Doctor den guten Eindruck nicht, den er hervorgebracht hatte, sondern ließ das Thema vom Gesellschaftssaale fallen und führte die Anwesenden die Treppe hinauf. Wie vorhin schritt Miß Gwilt als die letzte von allen schweigend hinterdrein. Eine nach der andern sahen sie die Dame an und wollten mit ihr sprechen, etwas ihnen völlig Unerklärliches aber, was sie auf ihrem Gesichte lasen, hemmte die wohlgemeinten Worte, die sich ihnen auf die Lippen drängen wollten. Der Eindruck überwog, daß der Chef des Sanatoriums ihnen zartfühlend die Wahrheit Verborgen halte —— daß seine erste Patientin wahnsinnig sei.

Mit den passenden Erholungspausen für die alte Dame an seinem Arme, der das Athmen Beschwerde machte, geleitete er die Versammlung direct nach dem obersten Stock des Hauses. Auf dem Corridor machte er inmitten seiner Besucher Halt, wies mit der Hand auf die bezifferten Thüren zu beiden Seiten und forderte das Publikum auf, ganz nach Lust und Belieben eins oder sämtliche der Gemächer in Augenschein zu nehmen.

»Nummer eins bis drei, meine Damen und Herren«, begann der Doctor, »bezeichnen die Schlafzimmer des Wärterpersonals Nummer vier bis acht sind die Zimmer für Patienten aus den ärmeren Klassen, die ich zu Bedingungen aufnehme, welche lediglich meine Kosten decken, nichts weiter. Für solche ärmere Personen unter meinen leidenden Mitmenschen sind persönliche Frömmigkeit und die Empfehlung zweier Geistlichen zur Aufnahme unerläßlich. Das die einzigen Bedingungen, die ich stelle, aber auf ihnen bestehe ich. Bitte, beobachten Sie, daß alle Zimmer ventiliert und sämtliche Bettstellen von Eisen sind, und bemerken Sie gütigst, während wir wieder in das untere Stock hinabsteigen, daß die Thür dort im Nothfall jede Verbindung zwischen der dritten und der zweiten Etage abschließt. Die Zimmer dieser letzteren sind, mit Ausnahme meiner eigenen, ganz für die Aufnahme von weiblichen Kranken bestimmt. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß die größere Empfindlichkeit oder Empfindungsfähigkeit der weiblichen Constitution im Hinblick auf die größere Reinheit und freiere Circulation der Luft die höhere Lage des Schlafzimmers erheischt. Hier befinden sich die Damen unmittelbar unter meiner Behandlung, während mein Assistenzarzt, dessen Ankunft ich in acht Tagen erwarte, für die Herren im unteren Stocke sorgt. Bemerken Sie wieder beim Hinabsteigen in diese untere oder erste Etage eine Thür, welche außer mir und dem Hilfsarzte Jedermann einen Verkehr zwischen diesen beiden Stockwerken des Nachts unmöglich macht. Und nun, wo wir die Herrenstation der Anstalt erreicht und Sie ihre Einrichtung kennen gelernt haben, gestatten Sie mir, Sie in mein System selbst einzuweihen. Ich kann Ihnen gleich ein praktisches Beispiel davon geben, indem ich Ihnen ein unter meiner speciellen Leitung ausgestattetes Zimmer zeige, das ich für die Behandlung der complicirtesten Nervenleiden und Nervenzerrüttungen bestimmt habe, die etwa meiner Obhut anvertraut werden.«

Er öffnete die Thür eines am Ende des Corridors gelegenen, mit Nummer Vier bezifferten Zimmers. »Sehen Sie hinein, meine Damen und Herren«, sagte er, »und wenn Sie etwas bemerken, was Ihnen auffällt, so erwähnen Sie es gefälligst.«

Der Raum war nicht sehr groß, ein breites Fenster aber machte ihn sehr hell. Comfortable möbliert als Schlafzimmer, unterschied er sich sonst von andern Zimmern ähnlicher Art blos in einem Punkte: er hatte keinen Kamin. Auf ihre betreffende Frage wurden die Besucher bedeutet, daß das Zimmer im Winter mittels heißen Wassers geheizt werde, und dann gebeten, wieder auf den Corridor hinauszutreten, um sich unter sachverständiger Belehrung mit der besonderen Einrichtung des Raums bekannt zu machen, die ihnen allein entgehen dürfte.

»Zuvörderst, meine Damen und Herren«, sagte der Doctor, »ein Wort, buchstäblich nur ein Wort über Nervenstörung im Allgemeinen. Wie pflegt die Behandlung vor sich zu gehen, wenn, setzen wir den Fall, Seelenleiden Ihre körperliche Gesundheit untergraben hat und Sie sich an Ihren Arzt wenden? Er sieht Sie, hört Sie und verschreibt Ihnen zweierlei, ein Recept auf dem Papiere, das in der Apotheke bereitet wird, und ein anderes mündlich, in dem glücklichen Momente, wo Sie ihm sein Honorar bezahlen; dies letztere besteht in der allgemeinen Empfehlung, sich nicht aufzuregen. Mit diesem vortrefflichen Rathe verläßt Sie der Doctor und ersucht Sie, sich nur aller weiteren Sorge wegen Ihres Leidens zu entschlagen, bis er wiederkommt. Da tritt jetzt mein System ein und hilft Ihnen. Wenn ich sehe, es ist nothwendig, daß Sie sich geistig ruhig verhalten, so packe ich den Stier bei den Hörnern und verrichte das Erforderliche für Sie. Ich versetze Sie in eine Sphäre der Thätigkeit, wo die zehntausend Kleinigkeiten, welche nervöse Leute zu Hause irritieren, ausdrücklich berücksichtigt und aus dem Wege geräumt sind; undurchdringliche moralische Bollwerke sind aufgerichtet zwischen dem Aerger und Ihnen. Finden Sie mir hier in diesem Hause eine Thür, die knarrt, wenn Sie kommen! Finden Sie mir einen dienstbaren Geist in diesem Hause, der mit dem Theegeschirr klappert, wenn er es abräumt! Entdecken Sie mir kläffende Hunde, krähende Hähne, hämmernde Arbeiter, schreiende Kinder hier, und ich mache mich verbindlich, morgenden Tags mein Sanatorium zu schließen! Sind solche Störungen nervösen Personen etwa angenehme Unterhaltungen? Fragen Sie einmal bei ihnen nach! Können Sie dergleichen Störungen zu Hause entgehen? Fragen Sie einmal! Wird nicht ein zehn Minuten langes Hundegebell oder Kindergeheul Alles wieder in Frage stellen, was eine monatelange ärztliche Behandlung dem Nervenleidenden etwa genützt hat? Kein competenter Arzt in England wird dies zu leugnen wagen! Aus diesen einfachen Grundsätzen basiert nun mein System. Meiner Ansicht nach ist die ärztliche Behandlung der Nervenleiden blos ein Unterstützungsmittel für die moralische. Diese moralische Behandlung aber finden Sie hier bei mir; diese moralische Behandlung, wie sie den ganzen Tag hindurch unablässig prakticirt wird, folgt dem Kranken in sein Schlafzimmer des Nachts und beschwichtigt, stärkt und heilt ihn, ohne daß er es selbst gewahr wird. Sie sollen sogleich erfahren wie.« Der Doctor pausierte, um zu verschnaufen, und sah sich zum ersten Male, seit seine Besucher bei ihm waren, nach Miß Gwilt um. Zum ersten Male mischte sie ihrerseits sich unter die Anwesenden und sah ihn wieder an. Nach einem kurzen Hüsteln fuhr der Doctor fort:

»Nehmen Sie an, meine Damen und Herren, mein Kranker sei so eben erst in die Anstalt gekommen. Sein Geist ist nichts als ein Chaos von nervösen Einbildungen und Capricen, die seine Angehörigen und Freunde beim besten Willen unbewußt genährt und gereizt haben. Sie haben sich zum Beispiel des Nachts vor ihm gefürchtet, haben ihn gezwungen, Jemand im selben Zimmer mit ihm schlafen zu lassen, oder ihm verboten, seine Thür zu verschließen, um im Nothfall zu ihm kommen zu können. Den ersten Abend nun sagt er zu mir: « «Hören Sie, ich will Niemand mit in meinem Zimmer haben!« — »Gewiß nicht!« — »Meine Thür muß ich verschließen dürfen!« — »Versteht sich von selbst!« Er geht hinein, verschließt seine Thür und ist besänftigt und beruhigt, weil man ihm seinen Willen gelassen, dem Vertrauen wie dem Schlafe zugänglich. »Alles gut und schön«, werden Sie sagen; »allein gesetzt, es passiert ihm etwas, er hat einen Krampfanfall oder dergleichen in der Nacht, was dann?« Sie werden es sehen. Halloh, mein junger Freund«, rief der Doctor, plötzlich den schläfrigen kleinen Knaben anredend, »wir wollen einmal mit einander spielen. Du sollst der arme kranke Mann sein und ich bin der gute Doctor. Geh da in das Zimmer hinein und mache die Thür zu. Schön, das ist ein braver Junge! Hast Du zugeschlossen? Sehr gut. Glaubst Du, daß ich zu Dir kommen kann, wenn ich will? Ich warte hübsch, bis Du eingeschlafen bist, dann drücke ich auf diesen kleinen weißen Knopf hier, der im Muster der Tapete verschwindet; geräuschlos schiebt sich drinnen der Riegel des Schlosses zurück und ich gehe ins Zimmer, so oft ich eben Lust habe. Ganz so geschieht es mit dem Fenster. Mein capriciöser Kranker will es des Nachts nicht öffnen, wenn es Vielleicht gut für ihn wäre. »Machen Sie es zu, lieber Herr, unter allen Umständen!» sage ich ihm freundlich, und sobald er schläft, ziehe ich an dem in der Ecke der Wand verborgenen Griff, und leise geht das Fenster auf, wie Sie sehen. Nehmen wir jetzt an, der Patient gefällt sich gerade im Gegentheil in der Caprice, das Fenster während der Nacht nicht schließen zu wollen. Lassen Sie ihn nur machen! Wenn er in seinem Bette liegt, ziehe ich an einem andern Griff, dem hier, und geräuschlos und im Nu fällt das Fenster zu. Nichts, was ihn reizt, meine Damen und Herren, absolut nichts, was ihn reizen kann! Doch ich bin noch nicht fertig mit ihm. Trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln kann es geschehen, daß einmal eine epidemische Krankheit ihren Weg in mein Sanatorium findet und die Luftreinigung des Krankenzimmers unerläßlich wird. Nun kann aber der Kranke außer seinem Nervenleiden noch mit andern Uebeln zu kämpfen haben, zum Beispiel mit asthmatischen Beschwerden; in dem einen Falle wird Räucherung im andern eine größere Zuführung von Sauerstoff ihm Erleichterung gewähren. Der typhöse Kranke sagt: »Ich will nicht im Rauche ersticken!«, der Asthmatiker verliert den Athem bei dem entsetzlichen Gedanken, daß eine chemische Explosion im Zimmer losgehen soll. Geräuschlos räuchere ich den erstern und ebenso geräuschlos oxygenisire ich den andern mittels eines einfachen Apparats, welcher außen in der Ecke hier angebracht ist. Ein hölzernes Futteral umhüllt ihn, zu welchem ich allein den Schlüssel habe, und durch eine Röhre communicirt er mit dem inneren Raum des Zimmers. Sehen Sie sich den Apparat an!«

Mit einem Blick auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel des hölzernen Kastens auf und enthüllte nichts Merkwürdigeres als einen großen Steinkrug, in dessen Korkstöpsel ein gläserner Trichter und ein mit der Wand communicirendes Rohr eingefügt waren. Mit einem abermaligen Blicke auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel wieder zu und fragte so sanft wie nur möglich, ob man jetzt sein System verstände.

»Ich könnte Sie noch«, nahm er wieder das Wort, als er seinen Besuch die Treppe hinabführte »mit verschiedenen andern Vorrichtungen der nämlichen Art bekannt machen, allein es wäre doch nur eine Wiederholung des bereits Gesehenen. Ein Nervenleidender, welchem man immer den Willen läßt, ist ein Nervenleidender, der sich niemals ärgert und aufregt, und ein Nervenleidender, welcher sich niemals ärgert und aufregt, ist geheilt. Da haben Sie meine Theorie in nuce! Kommen Sie, meine Damen, und sehen Sie sich die Apotheke an, erst die Apotheke und dann die Küche.«

Von neuem schlüpfte Miß Gwilt hinter die Besucher und wartete hier, das Zimmer, welches der Doctor geöffnet, und den Apparat, den er aufgeschlossen hatte. fest ins Auge fassend. Ohne daß ein Wort zwischen den Beiden gefallen wäre, hatte sie ihn abermals verstanden. So gut, als wenn er es ihr ausdrücklich eingestanden hätte, wußte sie, daß er ihr schlau die erforderliche Versuchung in den Weg führte, vor Zeugen, die, falls etwas Ernstliches passierte, den anscheinend so unschuldigen Vorgang bekunden konnten. Der Apparat, ursprünglich construirt, um den medicinischen Schrullen des Doctors zu dienen, konnte offenbar noch andere Zwecke erfüllen, von welchen sich dieser selbst bis jetzt wahrscheinlich nichts hatte träumen lassen. Und jedenfalls wurde ihr, noch ehe der Tag vorüber, dieser andere Gebrauch im rechten Momente vor dem rechten Zeugen offenbart. »Diesmal wird Armadale sterben«, sagte sie zu sich selbst, als sie langsam die Treppe hinabging. »Durch meine Hand wird ihn der Doctor umbringen.«

In der Apotheke gesellte sie sich wieder zu den Besuchern. Alle Damen bewunderten die Schönheit des alterthümlichen Schrankes, und in natürlicher Folge wollten alle sehen, was darin war. Nachdem er erst einen raschen Blick auf Miß Gwilt geworfen hatte, schüttelte der Doctor gutgelaunt den Kopf. »Es ist nichts darin«, sagte er, »was Sie interessieren kann, nichts als armselige kleine Flaschen mit den in der Medicin gebräuchlichen Giften, die ich unter Schloß und Riegel halte. Kommen Sie lieber in die Küche, meine Damen, und beehren Sie mich unten mit Ihrem Rathe über die Haushaltungsangelegenheiten.« Während die Gesellschaft durch das Vorhaus schritt, warf er abermals einen Blick auf Miß Gwilt, welcher deutlich sagte: »Warten Sie hier!«

Im Verlauf einer weitem Viertelstunde hatte der Doctor seine Ansichten über Küche und Diät entwickelt; die Besucher, gebührend mit Prospecten versehen, verabschiedeten sich von ihm an der Thür. »Wirklich ein geistiger Genuß!« sprachen sie zu einander, als sie, eine schmuck gekleidete Procession, aus dem Gitterthor strömen. »Und was für ein ausgezeichneter Mann!«

Zerstreut vor sich hinsummend, kehrte der Doctor zur Apotheke zurück und vergaß ganz, daß Miß Gwilt in einer Ecke der Halle aus ihn wartete. Nach kurzem Zaudern folgte sie ihm. Der Gehilfe war im Zimmer, im Augenblicke erst von seinem Herrn beschieden, als sie eintrat.

»Doctor«, sagte sie kalt und mechanisch, als wenn sie eine eingelernte Lectüre aussagte, »wie die andern Damen hätte ich sehr gern gesehen, was in Ihrem hübschen Schranke ist. Wollen Sie jetzt, wo die Andern fort sind, mir nicht zeigen, was sich darin befindet?«

Der Doctor lachte in seiner angenehmsten Weise.

»Die alte Geschichte«, sprach er. »Blaubart’s verschlossene Kammer und Weiberneugier! —— Bleiben Sie, Benjamin, bleiben Sie. —— Meine liebe Dame, welches Interesse können Sie denn an einer Arzneiflasche nehmen, weil diese eben zufällig eine Giftflasche ist?«

Zum zweiten Male sagte sie ihre Lectüre auf.

»Es interessiert mich, mir die Flaschen zu besehen«, entgegnete sie, »und dabei zu denken, welche furchtbaren Dinge sie anrichten könnten, wenn sie in mancher Leute Hände kämen.«

Mit einem mitleidigen Lächeln sah der Doctor seinen Gehilfen an.

»Wundersam, Benjamin«, sagte er; »der unwissenschaftliche Geist faßt selbst unsere Arzneien romantisch auf. Meine Verehrte«, wandte er sich wieder an Miß Gwilt, »wenn nur das Gift und das Unheil, welches es stiften könnte, Sie an der Sache interessieren, so brauche ich Ihnen nicht erst meinen Schrank aufzuschließen. Sie brauchen sich nur in den Regalen umzusehen, die rund um das Zimmer laufen. In diesen Flaschen befinden sich alle möglichen medicinischen Flüssigkeiten und Substanzen, die, an sich meist harmlos und nützlich, in Verbindung mit andern Substanzen und andern Flüssigkeiten so gräßliche und tödtliche Gifte werden können wie nur irgend eins, das ich dort unter Schloß und Riegel halte.«

Sie sah ihn. einen Augenblick an und schritt dann auf die andere Seite des Zimmers hinüber.

»Zeigen Sie mir eins!« bat sie.

Noch immer gutgelaunt lächelnd, willfahrte der Doctor seiner Nervenkranken. Er wies auf die Flasche, aus der er gestern im Stillen die Flüssigkeit ausgegossen und die er mit einer die Farbe sorgfältig nachahmenden Mixtur seiner eigenen Fabrikation wieder gefüllt hatte.

»Sehen Sie die Flasche dort?« fragte er, »die dicke, runde, behaglich aussehende Flasche? Auf den Namen der Flüssigkeit darin kommt es nicht an, wir halten uns an die Flasche und unterscheiden Sie, wenn Sie so wollen, von andern durch einen Namen unserer eigenen Erfindung. Wie wäre es, wenn wir sie unsern starken Freund nennten? Vortrefflich. Unser starker Freund ist an sich eine ganz harmlose und nützliche Arznei; Tag für Tag wird er in der ganzen civilisirten Welt Zehntausenden von Patienten verordnet. Er hat noch keine romantische Rolle vor Grichtshöfen gespielt, noch kein athemloses Interesse in Romanen erregt, noch nicht auf der Bühne die Zuschauer in Schrecken gesetzt. Da ist er, ein unschuldiges, harmloses Geschöpf, das Niemand die Nothwendigkeit auflegt, ihn hinter Schloß und Riegel zu legen. Bringen Sie ihn aber mit etwas Anderm in Berührung, machen Sie ihn mit einer gewissen gewöhnlichen mineralischen Substanz bekannt, die aller Welt leicht zugänglich ist, nehmen Sie etwa sechs Dosen von unserm starken Freund und gießen Sie diese in Zwischenräumen von ungefähr fünf Minuten nacheinander auf die Mineralstückchem die ich eben erwähnte. Bei jedem Aufguß werden Mengen kleiner Blasen entstehen; fangen Sie nun das Gas dieser Blasen auf und führen es in ein verschlossenes Zimmer über, wenn dann auch Simson selbst in diesem verschlossenen Zimmer wäre, unser starker Freund wird ihn in einer halben Stunde tödten, wird ihn langsam tödten, ohne daß er etwas sieht, ohne daß er etwas riecht, ohne etwas Anderes zu fühlen als Schläfrigkeit, wird ihn tödten und dem Collegium der Aerzte nichts erzählen, wenn es seine Todtenschau abhält, nichts weiter, als daß er am Schlagfluß oder Lungenlähmung gestorben ist! Was meinen Sie, meine liebe Dame, klingt das nicht geheimnißvoll und romantisch? Interessiert Sie jetzt unser harmloser starker Freund nicht ganz ebenso, als erfreute er sich der nämlichen fürchterlichen Popularität wie Arsenik und Strychnin, die ich dort im Schranke eingeschlossen habe? Denken Sie nicht, daß ich übertreibe! Denken Sie nicht, daß ich eine Geschichte erfinde, um Sie los zu werden, wie die Kinder sagen! Fragen Sie Benjamin da«, sagte der Doctor, an seinen Gehilfen appellierend, während seine Augen Miß Gwilt fixierten. »Fragen Sie Benjamin«, wiederholte er und legte auf die folgenden Worte den stärksten Nachdruck, »fragen Sie, ob sechs Dosen aus jener Flasche, von fünf zu fünf Minuten aufgegossen, unter den Ihnen erörterten Bedingungen nicht die Wirkung hervorbringen würden, die ich Ihnen geschildert habe.«

Der Apotheker, der Miß Gwilt aus der Ferne bescheiden bewunderte, stand erröthend auf, offenbar geschmeichelt von der kleinen Aufmerksamkeit, die ihn mit in das Gespräch gezogen hatte.

»Der Herr Doctor hat ganz Recht, Madame«, redete er unter seiner besten Verbeugung Miß Gwilt an; »das erzeugte Gas würde in einer halben Stunde vollkommen «seine Schuldigkeit thun. Und«, setzte er hinzu, um seinerseits einige chemische Kenntniß an den Tag legen zu können, »das nach Ablauf einer halben Stunde ausgeströmte Volumen des Gases würde, wenn ich mich nicht täusche, Sir, in weniger als fünf Minuten schon Jedem gefährlich werden, der das Zimmer beträte.«

»Ohne Zweifel, Benjamin«, entgegnete der Doctor. »Für jetzt aber, denke ich, haben wir genug der Chemie gehabt«, wandte er sich an Miß Gwilt. »So sehr mir am Herzen liegt, Verehrteste, jeden Ihrer selbst flüchtigen Wünsche zu befriedigen, erlaube ich mir doch ein erfreulicheres Thema vorzuschlagen. Ich dachte, wir verließen die Apotheke, ehe sie Ihrem forschenden Geiste noch andere Fragen eingibt. Nein? Sie wollen ein Experiment sehen? Sie möchten gern sehen, wie die kleinen Blasen erzeugt werden? Gut, gut! Da ist nichts Arges dabei. Wir wollen Mrs. Armadale die Blasen zeigen«, fuhr er im Tone eines Vaters fort, der einem verzogenen Kind den Willen thut. »Sehen Sie, ob Sie ein paar Stücke von dem, was wir brauchen, finden können, Benjamin. »Ich glaube wohl, die Arbeiter, die nachlässigen Burschen, haben etwas der Art im Hause oder im Garten zurückgelassen.

Der Hausapotheker ging aus dem Zimmer.

Sobald er den Rücken gewandt hatte, begann der Doctor mit dem Gebaren eines Mannes, der etwas eilig braucht und nicht gleich weiß, wo er es suchen soll, an verschiedenen Stellen der Apotheke eine Reihe von Kästen auf- und zuzuschließen. »Gott im Himmel!« rief er aus, plötzlich vor dem Kasten stehen bleibend, aus dem er gestern seine Einladungskarten herausgenommen hatte, »was ist das? Ein Schlüssel? So wahr ich lebe, ein zweiter Schlüssel zu meinem Räucherungsapparat oben! Ach Beste, Beste, wie nachlässig ich werde«, sagte der Doctor, sich rasch nach Miß Gwilt umdrehend; »ich habe auch nicht die leiseste Ahnung von der Existenz dieses zweiten Schlüssels gehabt; ich würde ihn nicht vermißt haben, ich versichere Ihnen, ich hätte ihn nicht vermißt, wenn mir ihn Jemand aus dem Kasten genommen hätte!« Ohne den Kasten zu verschließen oder das Schlüsselduplicat an sich zu nehmen, trippelte er geschäftig nach der andern Seite des Zimmers.

Schweigend hatte ihm Miß Gwilt zugehört, schweigend glitt sie an den Kasten, schweigend nahm sie den Schlüssel heraus und versteckte ihn in ihrer Schürzentasche.

Der Apotheker brachte in einer Schüssel die gewünschten Steinbrocken »Ich danke Ihnen, Benjamin«, sagte der Doctor »Gießen Sie gefälligst Wasser darauf, während ich die Flasche herunterhole.«

Wie manchmal in den bestorganisierten Familien böse Zufälligkeiten eintreten, so überkommt oft die Ungeschicklichkeit die vollkommenst geschulten Hände. Als der Doctor die Flasche vom Regale herunternehmen wollte, entglitt ihm die Flasche und zerschellte auf dem Boden in Stücke.

»Ach, meine Finger!« rief der Doctor in komischem Aerger. »Wie kann mir so ein fataler Streich passieren? Doch, doch —— ’s ist nun nicht mehr zu ändern. Haben Sie noch etwas davon, Benjamin?«

»Nicht einen Tropfen, Sir.«

»Nicht einen Tropfen!« wiederholte der Doctor. »Meine beste Dame, wie kann ich mich bei Ihnen unschuldigen? Für heute hat meine Ungeschicklichkeit unser kleines Experiment unmöglich gemacht. Erinnern Sie mich daran, Benjamin, daß wir morgen wieder etwas bestellen und bemühen Sie sich nicht, die Scherben aufzulesen. Einer hölzernen Diele und einem drohenden Wischlappen gegenüber ist unser starker Freund harmlos genug! Es thut mir so leid, so aufrichtig leid, daß ich in Ihnen vergebliche Erwartungen erregt habe.« Mit diesen Beruhigungsworten bot er Miß Gwilt den Arm und führte sie aus der Apotheke hinaus.

»Sind Sie jetzt mit mir fertig?« fragte sie, als sie durch die Halle gingen.

»Ach, Gott, wie Sie das auffassen!« rief der Doctor aus. »Um sechs Uhr speisen wir zu Mittag«, setzte er in vollendeter Höflichkeit hinzu, als sie sich in schweigender Verachtung von ihm abwandte und die Treppe nach ihrem Zimmer hinaufstieg.

Eine Uhr der geräuschlosesten Art, unfähig, reizbare Nerven zu afficiren, hing auf dem ersten Treppenabsatz an der Wand. Im Augenblicke, wo die Weiser auf dreiviertel sechs zeigten, wurde das Schweigen des öden oberen Stockwerks durch das Rauschen von Miß Gwilt’s Kleide unterbrochen. Sie bewegte sich längs des Corridors der ersten Etage, blieb bei dem vor Nummer vier in der Wand angebrachten Apparat stehen, horchte eine Minute und schloß dann den Deckel auf.

Der offene Deckel warf einen Schatten auf das Innere des Behältnisses. Was sie zuerst sah, war nichts Anderes, als was sie schon gesehen hatte: der Krug, die Röhre und der im Korkstöpsel eingefügte Trichter. Sie entfernte den letzteren und bemerkte auf dem dicht daneben befindlichen Fensterstocke einen Stab, an dessen Spitze zum Anzünden des Gases ein Stückchen Wachsstock befestigt war. Diesen Stock nahm sie und ihn durch die vorher von dem Trichter geschlossene Oeffnung in den Krug einführend, bewegte sie ihn in diesem auf und nieder. Ein schwaches Plätschern und der kratzende Ton an harten Körpern, die sie umrührte, drangen an ihr Ohr. Sie zog den Stab wieder heraus und berührte das daran haftende Naß vorsichtig mit der Zunge. Diesmal war die Vorsicht unnöthig gewesen, die Flüssigkeit war Wasser.

Den Trichter wieder an seinem Platz befestigend, gewahrte sie in dem schwach beleuchteten Raume neben dem Kruge einen matt schimmernden Gegenstand. Sie hob ihn heraus und brachte ein Flacon von Rubinglas zum Vorschein. Die Flüssigkeit, mit der es gefüllt war, ließ sich durch das durchscheinende hellere Krystallglas erkennen; an der einen Seite der Flasche zeigten sich sechs dünne Papierstreifen angeheftet, welche den Inhalt in sechs gleiche Theile theilten.

Jetzt war es keinem Zweifel mehr unterworfen, daß der Apparat insgeheim für sie hergerichtet worden war, der Apparat, zu dem sie außer dem Doctor einzig und allein den Schlüssel besaß.

Sie stellte das Flacon wieder hin und verschloß den Kasten. Ein paar Sekunden blieb sie, den Schlüssel in der Hand, noch stehen und sah sich die Vorrichtung an. Mit einem Male kehrte die Farbe auf ihre Wangen und mit ihr ihre natürliche Lebhaftigkeit zurück. Athemlos eilte sie auf ihr Zimmer im zweiten Stocke; mit raschen Händen riß sie den Mantel aus dem Kleiderschranke und nahm den Hut aus der Schachtel. »Ich bin nicht im Gefängniß« brach sie heftig aus. »Noch habe ich den Gebrauch meiner Glieder! Sobald ich erst wieder aus diesem Hause bin, kann ich gehen, wohin ich will!«

Den Mantel um die Schultern, den Hut in der Hand schritt sie nach der Thür. Noch einen Augenblick, und sie wäre draußen auf dem Corridor gewesen. In diesem Moment trat ihr der Gedanke an ihren Gatten wieder vor die Seele, an ihn, den sie ins Gesicht hinein verleugnet hatte. Sofort hemmte sie ihren Lauf und schleuderte Mantel und Hut auf ihr Bett. »Nein«, sagte sie, »der Abgrund zwischen uns ist gegraben, das Schlimmste schon vollbracht!«

Da klopfte es an die Thür. Höflich mahnte sie draußen die Stimme des Doctors, daß es sechs Uhr sei.

Sie öffnete die Thür und hielt ihn auf.

»Um welche Zeit trifft heute der Zug ein?« fragte sie flüsternd.

»Um zehn Uhr«, antwortete der Doctor so unbefangen und laut, daß alle Welt ihn hätte hören können.

»Was für ein Zimmer soll Mr. Armadale eingeräumt werden, wenn er kommt?«

»Welches Zimmer möchten Sie für ihn haben?«

»Nummer vier.«

Bis zuletzt wahrte der Doctor den Schein.

»Sei es denn Nummer vier«, sagte er verbindlich, »vorausgesetzt natürlich, daß Nummer vier zur Zeit unbesetzt ist.«

Der Abend verstrich und die Nacht brach herein.

Einige Minuten vor zehn war Bashwood wieder auf seinem Posten, um abermals den kommenden Zug abzuwarten.

Der dienstthuende Inspector, der ihn von Angesicht kannte und sich nachgerade überzeugt hatte, daß Bashwood’s regelmäßige Anwesenheit auf dem Bahnhofe keine Speculationen auf die Koffer und Geldbeutel der Reisenden involviere, nahm heute Nacht zweierlei wahr. Erstens sah Bashwood, anstatt seine gewöhnliche Heiterkeit zu zeigen, sorgenvoll und niedergeschlagen aus, und sodann wurde derselbe, während er auf den Zug lauerte, seinerseits von einem schmächtigen brünetten Mann mittlerer Größe belauscht, der den Abend vorher sein Gepäck das mit dem Namen Midwinter etikettiert war, im Zollhause zurückgelassen und vor einer Stunde sich eingefunden hatte, um es abzuholen.

Was hatte Midwinter nach dem Bahnhofe geführt und warum wartete auch er auf den Zug? Nachdem er in vergangener Nacht seine einsame Wanderung bis Hendon ausgedehnt, hatte er im Dorfwirthshause Unterkunft gesucht und war aus reiner Erschöpfung erst in jenen späteren Morgenstunden eingeschlafen, die seine Frau wohlweislich zu benutzen verstanden hatte. Als er nachher wieder in der Wohnung derselben erschien, konnte ihm die Hauswirthin blos mittheilen, daß ihre Mietherin bereits vor länger als zwei Stunden Alles abgemacht und sich —— wohin, das konnte sie nicht sagen —— alsbald wieder entfernt habe.

Nach einigen weiteren Erkundigungen mußte sich Midwinter leider überzeugen, daß er vor der Hand die Spur seines Weibes als verloren zu betrachten habe. Düster verließ er das Haus und setzte mechanisch seinen Weg nach den lebhaftem und centralern Theilen der Hauptstadt fort. Jetzt, wo sich ihm der Charakter seiner Frau enthüllt hatte, noch unter der ihm gegebenen Adresse ihrer Mutter nachzufragen, wäre ein vollkommen fruchtloses Beginnen gewesen. Entschlossen, sie trotz alledem aufzuspüren, durchwanderte er die Straßen, aber die Mittel dazu wollten sich nicht finden lassen, bis das Gefühl seiner Erschöpfung sich von neuem geltend machte. In das erste beste Hotel eintretend, an dem er vorüberkam, erinnerte ihn ein zufälliger Streit des Kellners mit einem Gaste wegen eines abhanden gekommenen Koffers an sein eigenes Gepäck, das er auf dem Bahnhofe gelassen, und sofort dachte er auch an die seltsamen Umstände, unter denen er Bashwood auf dem Perron getroffen hatte. Im nächsten Augenblicke leuchtete es ihm ein, wie vergeblich sein Suchen in den Straßen sei; noch ein paar Sekunden, und er beschloß, zu probieren, ob er den Verwalter nicht zufällig wieder auf dem Bahnhofe finden könne, wo der Mann augenscheinlich auf die Ankunft Jemandes lauerte, den er schon mit dem gestrigen, Tage erwartet hatte.

Von der Nachricht von Allan’s Wellentode nichts wissend, bei der gestrigen furchtbaren Unterredung mit seiner Frau unbekannt geblieben mit der Absicht, die sie mit ihrer Wittwentracht verfolgte, hatte Midwinter seinen ersten vagen Verdacht ihrer Untreue jetzt zu der unwandelbaren Ueberzeugung entwickelt, daß sie ihn betrog. Nur eine Auslegung aber vermochte er ihrem unerhörten Benehmen gegen ihn zu geben, nur einen Grund sah er dafür, daß sie den Namen angenommen, unter dem er sie geheirathet hatte. Aus ihrem Verhalten mußte er unvermeidlich folgern, daß sie in eine gemeine Intrigue verwickelt sei und daß sie schlau und gemein sich die Stellung zu sichern gewußt habe, in der, das wußte sie, wie in keiner andern es ihm widerstrebte, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Mit dieser Ueberzeugung lauerte er jetzt auf Bashwood, im festen Glauben, daß dem feilen Diener ihrer Laster das Versteck seiner Frau bekannt sein müsse, und in dem unbestimmten Argwohn, der unbekannte Mann, welcher ihn gekränkt hatte, und der unbekannte Reisende, auf dessen Ankunft Bashwood harrte, möchten eine und dieselbe Person sein.

Der Zug kam spät heute Abend, und als er endlich in den Bahnhof einfuhr, war das Wagengedränge ärger denn je. Midwinter sah sich in die allgemeine Verwirrung auf dem Perron verwickelt und in der Anstrengung, sich aus ihr herauszuwinden, verlor er Bashwood zum ersten Male aus dem Gesichte.

Ein paar Minuten waren verflossen, ehe er den Verwalter wieder ausfindig machen konnte, wie derselbe sich eifrig mit einem Mann in einem zottigen Rocke unterhielt, der ihm den Rücken zukehrte. Alle Vorsicht und Zurückhaltung vergessend, die er vor Ankunft des Zuges sich selbst ausgelegt hatte, ging Midwinter sofort auf sie zu. Bashwood sah das drohende Gesicht des Nahenden und trat schweigend zurück. Der Mann im zottigen Rocke wandte sich um; er sah dahin, wohin der Verwalter seine Blicke richtete, und im vollen Lichte der Gaslaternen entdeckte Midwinter Allan’s Gesicht.

Für den Augenblick standen beide sprachlos da und sahen sich einander an. Allan war der erste, der sich von seinem Erstaunen erholte.

»Gott sei Dank!« sprach er warm. »Ich frage nicht, wie Du hierher kommst, es ist mir genug, daß Du gekommen bist. Ich habe schon jammervolle Nachrichten erhalten; nur Du kannst mich trösten und mir’s tragen helfen!« Bei den letzten Worten versagte ihm die Stimme; er mußte schweigen.

Der Ton, in dem er gesprochen, rüttelte Midwinter so weit auf, daß das alte Interesse für den Freund, —— welches einst das höchste aller seiner Interessen gewesen, wieder in ihm erwachte. Zum ersten Male, seit dieser ihn befallen, beherrschte er seinen eigenen Kummer und fragte, Allan sanft beiseite ziehend, was geschehen sei.

Allan erzählte ihm von dem falschen Gerüchte seines Todes, das sich verbreitet habe und bis zu Miß Milroy’s Ohren gedrungen sei, und wie in beklagenswerther Folge dieses Schlags die Majorstochter in der Nachbarschaft von London habe in ärztliche Behandlung gegeben werden müssen.

Ehe er seinerseits das Wort nahm, sah sich Midwinter mißtrauisch um. Bashwood war ihnen gefolgt und lauschte, was sie nun sprechen würden.

»Hat er hier aus Deine Ankunft gewartet, um Dir’s von Miß Milroy zu erzählen?« fragte Midwinter und blickte von Bashwood zu Allan.

»Ja«, antwortete Allan. »Abend für Abend ist er so gut gewesen, hier zu warten, um mich zu treffen und mir die Nachricht schonend beizubringen.«

Midwinter schwieg. Umsonst suchte er den Schluß, welchen er aus seines Weibes Verhalten gezogen, mit der Entdeckung zu vereinbaren, daß Allan der Mann war, auf dessen Ankunft Bashwood gewartet hatte. Die einzige Aussicht, die sich jetzt ihm darbot, dem Geheimniß näher auf die Spur zu kommen, war, den Verwalter in dem einzigen Punkte zu attackieren, wo sich derselbe dem Angriffe bloßgestellt hatte. Gestern Abend hatte Bashwood unbedingt geleugnet, etwas von Allan’s derzeitigem Thun und Treiben zu wissen oder an dessen Rückkehr nach England ein persönliches Interesse zu haben. Hatte er somit Bashwood auf einer Lüge ertappt, so argwöhnte er auf der Stelle, daß jener jetzt auch Allan belüge. Unverzüglich ergriff er also die Gelegenheit, die hinsichtlich Miß Milroy’s gemachte Angabe näher zu prüfen.

»Wie sind Sie zu dieser traurigen Kunde gekommen?« forschte er, sich plötzlich an Bashwood wendend.

»Natürlich durch den Major«, erwiderte Allan, bevor der Verwalter antworten konnte.

»Wer ist der Arzt, der Miß Milroy behandelt?« fuhr Midwinter fort an Bashwood das Wort zu richten.

Wiederum gab der Verwalter keine Antwort, wiederum antwortete Allan für ihn.

»Es ist ein Mann mit fremdem Namen«, sagte Allan; »er hat ein Sanatorium bei Hampstead. Wie sagten Sie daß der Ort heiße, Mr. Bashwood?«

»Fairweather-Vale, Sir«, entgegnete der Verwalter, nothgedrungen, doch ersichtlich unwillig seinem Herrn Rede stehend.

Bei der Adresse des Sanatoriums fiel Midwinter unverzüglich ein, daß er gestern Abend seine Frau in einer von den Fairweather Villen ausgespürt hatte. Jetzt dämmerte ihm durch das Dunkel ein schwaches Licht auf. Der Instinct, der mit der Noth kommt, ehe noch der langsamere Proceß des Denkens sich vollziehen kann, führte ihn mit einem Schlage zu dem Schlusse, daß Bashwood, der gestern sicher unter dem Einflusse seiner, Midwinter’s, Frau gehandelt hatte, auch jetzt wieder das Werkzeug derselben sein dürfte. Mit der sich immer mehr in ihm befestigenden Ueberzeugung, daß Bashwood’s Angabe eine Lüge und seine Frau dabei betheiligt sei, beharrte er darauf, dieser Angabe näher auf den Grund zu kommen.

»Ist der Major in Norfolk«, fragte er, »oder ist er bei seiner Tochter in London?«

»Ja Norfolk«, sagte Bashwood, mehr Allan’s forschendem Blicke als Midwinter’s Frage antwortend. Dann sah er dem letzteren zum ersten Male ins Gesicht und setzte hastig hinzu: »Ich protestiere gegen ein Kreuzverhör, Sir. Ich weiß, was ich Mr. Armadale gesagt habe, mehr aber nicht.«

Die Worte und der Ton, in dem sie gesprochen wurden, waren gleich verschieden von Bashwood’s gewöhnlicher Sprache und gewöhnlichem Tone. In seinem Gesichte lag eine düstere Niedergeschlagenheit, in seinen Augen, als sie Midwinter ansah ein heimliches Mißtrauen und Mißvergnügen, wie es dieser noch nie an ihm bemerkt hatte. Ehe er aus die seltsame Rede Bashwoods antworten konnte, fiel Allan ein.

»Halte mich nicht für ungeduldig«, sagte er, »aber es wird spät und es ist ein weiter Weg nach Hampstead. Ich fürchte, das Sanatorium wird sonst schon geschlossen sein.«

Midwinter erschrak. »Du willst doch nicht heute Abend noch das Sanatorium aufsuchen?« rief er aus.

Allan nahm die Hand seines Freundes und drückte sie derb. »Hättest Du sie so lieb wie ich«, flüsterte er, »dann würdest Du nicht ruhen, könntest nicht schlafen, bis Du den Doctor gesehen und das Gute oder Schlimme gehört hättest, was er Dir mitzutheilen hat. Armes, liebes Herz! Wer weiß, wenn sie mich am Leben und gesund sieht ——« Die Thränen traten ihm in die Augen und schweigend wandte er den Kopf ab.

Midwinter sah den Verwalter an. »Bleiben Sie zurück!« herrschte er. »Ich habe mit Mr. Armadale zu sprechen.« Bashwood zog sich aus Hör-« doch nicht aus Gesichtsweite zurück, und Midwinter legte liebevoll seine Hand dem Freunde auf die Schultern.

»Allan«, begann er, »ich habe Gründe ——« Er hielt inne. Konnte er die Gründe angeben, bevor er sie selbst bestätigt gefunden hatte, dazu in der gegenwärtigen Stunde und unter diesen Umständen? Unmöglich! »Ich habe Gründe«, fing er wieder an, »Dir zu rathen, nicht zu bereitwillig zu glauben, was Bashwood sagt. Sage ihm das nicht, aber betrachte es als Warnung.«

Verwundert sah Allan seinen Freund an. »Du bist’s gewesen, der Mr. Bashwood immer gern hatte!« rief er aus. »Du hast ihm getraut, als er zuerst ins Herrenhaus kam!«

»Vielleicht habe ich damit nicht recht gethan, Allan, und vielleicht hast Du Recht gehabt. Willst Du nicht wenigstens warten, bis wir an Major Milroy telegraphieren und seine Antwort erhalten können? Willst Du nicht mindestens die Nacht vergehen lassen?«

»Ich werde wahnsinnig werden, wenn ich die Nacht über warte«, sagte Allan. »Du hast mich noch ängstlicher gemacht, als ich schon war. Wenn ich mit Bashwood nicht darüber sprechen soll, so muß und will ich nach dem Sanatorium gehen und vom Doctor selbst in Erfahrung bringen, ob sie dort ist oder nicht.«

Midwinter sah, daß er umsonst sprach. In Allan’s Interesse blieb ihm jetzt blos ein Weg übrig. »Willst Du mich mit Dir gehen lassen?« fragte er.

Allan’s Gesicht leuchtete auf. »Du lieber, guter Mensch!« rief er aus. »Gerade darum wollte ich Dich eben bitten.«

Midwinter winkte dem Verwalter. »Mr. Armadale geht nach dem Sanatorium«, sagte er, »und ich denke ihn zu begleiten. Holen Sie eine Droschke und kommen Sie mit uns.«

Dem Verwalter, dem streng eingeprägt war, wenn Allan käme, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und der in seinem eigenen Interesse Midwinter’s unerwartetes Erscheinen erklären mußte, blieb keine Wahl übrig, als zu gehorchen. In mürrischer Unterwerfung that er denn, was ihm befohlen war. Die Schlüssel zu Allan’s Gepäck wurden dem fremden Kurier übergeben, den er mitgebracht hatte, und dem Manne geboten, im Eisenbahnhotel die weiteren Befehle seines Herrn abzuwarten, und so fuhren Midwinter und Allan, Bashwood auf dem Bocke neben dem Kutscher, aus dem Bahnhofe.

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Zwischen elf und zwölf Uhr in dieser Nacht hörte Miß Gwilt, welche allein am Corridorfenster ihrer Etage stand, das Rollen nahender Räder. Es wurde lauter und lauter und am eisernen Gitter hörte es auf. Sie sah, wie eine Droschke hier hielt.

Gegen Abend war der Himmel umwölkt gewesen, jetzt bellte er sich auf und der Mond kam zum Vorschein. Um besser zu sehen und zu hören, machte sie das Fenster auf und sah Allan aus dem Wagen steigen und dann mit einer darin sitzenden Person sprechen. Ehe sie diese selbst noch wahrnehmen konnte, sagte ihr die aus dem Cab heraus antwortende Stimme, daß Allan’s Begleiter ihr Mann sei.

Dieselbe Betäubung, die sie gestern bei ihrem Wiedersehen befallen hatte, befiel sie auch jetzt. Bleich und still, hager und alt stand sie am Fenster, wie sie dagestanden hatte, als sie sich ihm in ihrer Witwenkleidung gegenüber befand.

Mr. Bashwood, der sich rasch die Treppe hinaufgestohlen hatte, um ihr seinen Rapport abzustatten, sah sofort, als er sie erblickte, daß dieser Rapport unnöthig sei. »Es ist nicht meine Schuld«, war Alles, was er sagte, als sie langsam den Kopf wandte und ihn ansah. »Sie haben sich getroffen und es war unmöglich, sie wieder zu trennen.«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und ersuchte ihn, still zu sein. »Warten Sie ein wenig«, sagte sie; »ich weiß bereits Alles.«

Darauf schritt sie langsam dem entferntesten Ende des Corridors zu, kehrte um und kam langsam mit finsterer Stirn und gesenktem Haupte wieder zu ihm; all ihre Anmuth und Schönheit war bis auf die ihr angeborene Grazie in ihren Bewegungen von ihr gewichen.

»Wollen Sie mit mir sprechen?« fragte sie. Ihr Geist schweifte weit von ihm weg und ihre Augen starrten ins Leere.

Wie noch nie« in ihrer Gegenwart raffte er seinen Muth zusammen.

»Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung«, schrie er mit fürchterlicher Heftigkeit. »Sehen Sie mich nicht so an, jetzt, wo ich’s entdeckt habe!«

»Was haben Sie entdeckt?« fragte sie mit der Miene momentanen Erstaunens, das indeß wieder verschwand, ehe er so viel Luft finden konnte, um ihr zu antworten.

»Mr. Armadale ist nicht der Mann, der Sie mir entrissen hat«, entgegnete er. »Mr. Midwinter ist es. Gestern habe ich’s bereits auf Ihrem Gesichte gelesen und jetzt lese ich’s wieder. Warum haben Sie »Armadale« unterzeichnet, als Sie mir schrieben? Warum nennen Sie sich noch immer Mrs. Armadale?«

In langen Zwischenpausen brachte er diese Worte heraus, und die Anstrengung, Her machte, ihrem Einflusse auf ihn zu widerstehen, war zugleich entsetzlich und kläglich anzusehen.

Sie sah ihn mit sanftem Blicken an. »Hätte ich Sie doch bemitleidet, als wir uns kennen lernten, wie ich Sie jetzt bemitleide!« sagte sie freundlich.

Verzweifelt mühte er sich ab, ihr zu sagen, was er auf der Fahrt vom Bahnhofe hierher ihr zu sagen sich vorgenommen hatte, Worte, welche dunkel andeuten sollten, daß er ihre Vergangenheit kenne, Worte, ihr anzukündigen, daß, was sie auch thun, auf welche Schandthaten sie sinnen möchte, sie doch zweimal überlegen solle, ehe sie ihn wieder hintergehe und verlasse. So hatte er sich gelobt mit ihr zu sprechen. Im Geiste hatte er sich schon Ausdrücke gewählt, hatte bereits die Sätze geformt und geordnet, nichts fehlte mehr, als durch das Sprechen selbst das Ganze zu krönen, und selbst jetzt, nach Allem, was er schon gesagt und gewagt hatte, ging dies über sein Vermögen! Trostlos stand er da und sah sie an, sodaß er ihr Mitleiden erregte, trostlos weinte er die stummen weibischen Thränen, die den Augen alter Männer entfallen.

Freundlich, doch ohne das leiseste Zeichen von Aufregung ergriff sie seine Hand.

»Auf mein Begehren haben Sie schon gewartet«, sagte sie mild. »Warten Sie bis morgen und Sie werden Alles wissen. Wenn Sie sonst nichts glauben, was ich Ihnen gesagt habe, dem, was ich Ihnen jetzt sage, können Sie glauben. Heute Nacht geht es zu Ende.«

Da ließ sich er Schritt des Doctors auf der Treppe hören. Mit in unsäglicher Erwartung klopfendem Herzen zog sich Bashwood zurück. »Heute Nacht gehts zu Ende!« sprach er zu sich selbst, während er sich nach der entgegengesetzten Seite des Corridors bewegte.

»Lassen Sie sich nicht stören, Sir«, sagte der Doctor verbindlich, als er eintrat. »Ich habe mit Mrs. Armadale nichts zu sprechen, was nicht Sie oder Jedermann sonst hören könnte.«

Ohne zu antworten, setzte Bashwood seinen Weg an das entfernteste Ende des Corridors fort, indem er bei sich immer wiederholte: »Heute Nacht geht’s zu Ende!« Der Doctor gesellte sich zu Miß Gwilt.

»Ohne Zweifel haben Sie gehört«, begann er in seinem sanftesten Tone, »daß Mr. Armadale angekommen ist. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, meine theure Dame, daß nicht der geringste Grund vorhanden ist, daß Sie sich nervös aufregen. Ich habe ihn auf das beste beschwichtigt und er ist so ruhig und traitable, wie sich es seine besten Freunde nur wünschen können. Ich habe ihm mitgetheilt, daß heute Abend ihm keine Zusammenkunft mit der jungen Dame gestattet werden könne, daß er aber darauf rechnen dürfe, sie morgen früh bei Zeiten, sobald sie aufgestanden sei, zu sehen, natürlich unter den erforderlichen Vorsicht Maßregeln. Da kein Gasthof in der Nähe und die günstige Stunde ganz plötzlich eintreten kann, verstand es sich unter den obwalte eigenthümlichen Umständen von selbst, daß ich ihm die Gastfreundschaft des Sanatoriums anbot. Mit der allergrößten Dankbarkeit hat er sie angenommen und mir zugleich höchst gentlemännisch und rührend für die Mühe gedankt, die ich mir gegeben, ihn zu beruhigen. Ganz erfreulich, ganz zufriedenstellend bis hierher! Doch gab es dabei noch einen kleinen Haken —— jetzt ist er glücklich beseitigt —— den ich zu erwähnen für nothwendig erachtet, ehe wir uns sämtlich zur Ruhe begeben.«

Nachdem er sich in diesen Worten und so, daß Bashwood sie hören konnte, für die bereits früher an gekündigte Aussage im Falle von Allan’s plötzlichem Tode im Sanatorium den Weg gebahnt hatte, war er im Begriffe, weiter zu sprechen, als von unten heraus der Ton wie von einer Thür, die man zu öffnen versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Unverzüglich ging er die Treppe hinab und schloß die Verbindungsthür zwischen dem ersten und dem zweiten Stock auf, die er beim Herausgehen selbst zugeschlossen hatte. Allein die Person, die sich an der Thür versucht hatte, wenn dies wirklich der Fall gewesen, war zu schnell für ihn. Er sah den Corridor hinab und über die Treppe in das Vorhaus, entdeckte indeß nichts. So kehrte er, nachdem er die Verbindungsthür zum zweiten Male verschlossen hatte, zu Miß Gwilt zurück.

»Verzeihen Sie mir«, nahm er wieder das Wort; »es war mir, als hörte ich unten etwas. Hinsichtlich des kleinen Hakens, von dem ich so eben hatte sprechen wollen, muß ich Ihnen mittheilen, daß Mr. Armadale einen Freund mi gebracht hat, der den wunderlichen Namen Midwinter führt. Kennen Sie den Herrn?« fragte er mit einer argwöhnischen Besorgniß in seinen Blicken, welche die studierte Gleichgültigkeit in seinem Tone eigenthümlich Lügen strafte.

»Ich kenne ihn als einen alten Freund Mr. Armadale’s«,« sagte sie. »Bleibt er ——« Die Stimme versagte ihr und ihre Augen senkten sich vor den forschenden Blicken des Doktors. Sie beherrschte aber die momentane Schwäche und vollendete ihre Frage. »Bleibt er auch die Nacht hier?«

»Mr. Midwinter ist ein Mann von rauhen Manieren und mißtrauischem Temperament«, entgegnete der Doctor, sie unverwandt ansehend. »Sobald als Mr. Armadale meine Einladung angenommen hatte, bestand er seinerseits brüsk genug darauf, ebenfalls hier zu bleiben.«

Er hielt inne, um den Eindruck wahrzunehmen, den seine Worte auf sie machten. Da sie vorsichtig vermieden hatte, den angenommenen Namen ihres Mannes ihm zu nennen, so tappte natürlich der Doctor völlig im finsteren und sein Verdacht war nothwendig der allervagsten Art. Er hatte gehört, wie ihr die Stimme versagte, gesehen, wie sie die Farbe wechselte, er argwöhnte, daß sie hinsichtlich Midwinter’s eine gewisse Reserve beobachte, weiter nichts.

»Haben Sie ihm gewillfahrt?« fragte sie »An Ihrer Stelle hätte ich ihm die Thür gewiesen.«

Die unerschütterliche Gelassenheit ihres Tons sagte dem Doctor, daß heute Abend ihre Selbstbeherrschung nicht wieder zu afficiren war.

»Hätte ich nur meine eigenen Empfindungen zu berücksichtigen gehabt«, erwiderte er, »so berge ich Ihnen nicht, daß ich, wie Sie sich ausdrücken, Mr. Midwinter die Thür gewiesen haben würde. Als ich mich aber deshalb an Mr. Armadale wandte, sah ich, daß dieser vor einer Trennung von seinem Freunde die größte Angst hatte. Unter diesen Umständen blieb nichts Anderes übrig, als ihm wieder zu willfahren. Sich ihm zu widersetzen, ganz abgesehen von meinem natürlichen Widerwillen gegen Skandal und Unruhe in meinem Hause, wie sie mir ein Temperament wie das seines Freundes in Aussicht stellte«, setzte er hinzu, diesmal der Wahrheit nahe kommend, »an eine solche Verantwortlichkeit durfte keinen Augenblick gedacht werden. Demnach bleibt denn Mr. Midwinter heute Nacht im Hause und nimmt —— er besteht darauf, sollte ich vielmehr sagen —— nimmt das Zimmer neben dem Mr. Armadale’s ein. Rathen Sie mir, meine verehrte Dame«, schloß der Doctor so laut und nachdrücklich, als er konnte, »welche Zimmer sollen wir ihnen im ersten Stock anweisen?«

»Bringen Sie Mr. Armadale nach Nummer vier.«

»Und seinen Freund neben ihn nach Nummer drei?« fragte der Doctor. »Gut, ganz gut! Das sind vielleicht die behaglichsten Zimmer. Auf der Stelle will ich die nöthigen Anordnungen treffen. Eilen Sie nicht fort, Mr. Bashwood«, rief er munter aus, als er an die Treppe gekommen war. »Ich habe den Schlüssel meines Gehilfen unten auf dem Fensterstock liegen lassen, und Miß Gwilt kann Sie jederzeit hinauslassen. Bleiben Sie nicht so lange auf, Mrs. Armadale! Ihr Nervensystem verlangt viel Schlaf. Gott schütze Sie, gute Nacht!«

Noch immer in Gedanken versunken, in unaussprechlicher Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, schritt Bashwood aus seiner Ecke auf sie zu.

»Soll ich gehen?« fragte er.

»Nein, Sie sollen bleiben. Ich habe Ihnen gesagt, daß, wenn Sie warteten, Sie morgen Alles erfahren sollten. Warten Sie hier.«

Er zögerte und sah sich um. »Der Doctor«, stammelte er, »ich dachte, der Doctor hätte gesagt ——«

Der Doctor wird sich in nichts mischen, was ich diese Nacht hier im Hause thue. Ich sage Ihnen, bleiben Sie da. Im oberen Stock gibt’s freie Zimmer genug. Nehmen Sie eins davon.«

Abermals kam das Zittern über Bashwood, als er sie ansah.

»Darf ich fragen ——«, begann er.

»Nichts dürfen Sie fragen.«

»Wollen Sie nicht so gut sein, mir zu sagen ——«

»Nichts will ich Ihnen sagen, bevor die Nacht vorüber und der Morgen gekommen ist.«

Seine Neugier überwand seine Furcht. Er ließ sich nicht abschrecken.

»Ist’s etwas Furchtbares, so furchtbar, daß Sie mir’s nicht sagen können?«

Sie verlor die Geduld und stampfte mit dem Fuße. »Gehen Sie!« sagte sie, rasch den Schlüssel vom Fensterstocke nehmend. »Sie thun ganz ruht, wenn Sie mir mißtrauen, ganz recht, wenn Sie mir im Dunkeln nicht weiter folgen. Gehen Sie, ehe das Haus geschlossen wird; ich kann ohne Sie auskommen.« Den Schlüssel in der einen, den Leuchter in der andern Hand schritt sie der Treppe zu.

Schweigend folgte ihr Bashwood Niemand, der ihre Vergangenheit kannte, konnte es entgehen, daß sie zum Aeußersten getrieben war und mit Bewußtsein am Rande eines Verbrechens stand. Im ersten Schrecken über diese Entdeckung machte er sich von der Gewalt los, die sie über ihn besaß, er dachte und handelte wie ein Mann, der wieder einen eigenen Willen hatte.

Sie steckte den Schlüssel in die Thür und wandte sich, von dem Lichte der Kerze voll beschienen, zu ihm um. »Vergessen Sie mich und vergeben Sie mir«, sagte sie. »Wir sehen uns nicht wieder.« Sie öffnete die Thür und gab ihm die Hand. Ihrem Blicke, ihren Worten hatte er widerstanden, der magnetische Zauber ihrer Berührung aber besiegte ihn schließlich. »Ich kann Sie nicht verlassen«, sagte er, verzweiflungsvoll die Hand drückend, die sie ihm bot; »was muß ich thun?«

»Kommen und sehen Sie«, antwortete sie, ohne ihm nur einen Augenblick zur Ueberlegung zu lassen.

Mit fester Hand führte sie ihn über den Corridor der ersten Etage vor das Zimmer Nummer vier. »Merken Sie sich das Zimmer da«, flüsterte sie. Nach einem raschen Blicke auf die Treppe, um sich zu vergewissern, daß auch Niemand dort sei, ging sie wieder an das entgegengesetzte Ende des Corridors. Hier, dem Fenster gegenüber, durch welches der Gang sein Licht erhielt, befand sich ein kleines Zimmer mit einem Gitter oben in der Thür, das zum Schlafzimmer für den erwarteten Assistenzarzt des Doctors bestimmt war. Bei der Lage des Zimmers konnte man durch das Gitter die Schlafräume zu beiden Seiten des Corridors übersehen, sodaß der Hilfsarzt im Stande war, alle etwaigen Unregelmäßigkeiten seitens der seiner Obhut Untergebenen Kranken wahrzunehmen, ohne selbst bemerkt zu werden. Miß Gwilt machte die Thür auf und führte ihn in dies leere Zimmer.

»Warten Sie hier«, sagte sie, »während ich die Treppe hinaufgehe, und schließen Sie sich ein, wenn Sie das wollen. Sie selbst werden zwar drinnen im Dunkeln sein, aber draußen auf dem Corridor brennt das Gas. Fassen Sie an dem Gitter Posto und vergewissern Sie sich, daß Mr. Armadale in das Zimmer geht, welches ich Ihnen so eben bezeichnet habe, und es nachher nicht wieder verläßt. Wenn Sie das Zimmer, ehe ich wiederkomme, nur eine Sekunde aus den Augen verlieren, so werden Sie es Zeit Ihres Lebens zu bereuen haben. Thun Sie aber, wie ich Ihnen sage, so sollen Sie mich morgen wiedersehen und selbst Ihren Lohn fordern dürfen. Rasch mit Ihrer Antwort! Ja oder Nein?«

In Worten konnte er nicht erwidern. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie entzückt. Darauf ging sie. Von seinem Platze vom Gitter aus sah er sie über den Corridor nach der Treppe schlüpfen, durch deren Thür sie verschwand. Dann war Alles still.

Bald ließen sich indeß weibliche Stimmen hören. Es waren die zweier Dienstmädchen, die erschienen, die Betten in Nummer drei und vier zu überziehen. Die Mädchen waren außerordentlich guter Laune und lachten und plauderten durch die offenen Thüren der Zimmer hindurch lustig mit einander. Endlich kämen die Kunden des Herrn, meinten sie; wenn es so fortginge, würde das Haus bald ein freundliches Ansehen bekommen.

Nach einer Weile waren die Betten zurecht gemacht und die Mädchen eilten nach dem Erdgeschosse zurück, wo die Schlafräume des Dienstpersonals lagen. Dann war wieder Alles still.

Jetzt hörte man die Stimme des Doctors. Er erschien am Eingange des Corridors und zeigte Allan und Midwinter den Weg nach ihren Zimmern. Alle zusammen traten in Nummer vier ein. Wenige Minuten darauf kam der Doktor allein wieder heraus, wartete, bis Midwinter ihm folgte, und wies mit einer förmlichen Verneigung aus Nummer drei. Ohne ein Wort zu sagen, ging Midwinter in sein Zimmer und schloß sich darin ein. Der Doctor schritt der Treppenthür zu, schloß sie auf, wartete horchend auf dem Corridor und pfiff leise vor sich hin.

Vorsichtig gedämpfte Stimmen drangen aus der Halle herauf. Der Anstaltsapotheker und die erste Wärterin erschienen ihrerseits, um sich nach ihren im obersten Stockwerke des Hauses befindlichen Schlafzimmern zu begeben. Der Mann verbeugte sich stumm, als er an dem Doctor vorbeiging, stumm knixte die Wärterin und folgte ihm. Mit einer höflichen Handbewegung erwiderte der Doctor die ihm gebotenen Grüße, und wiederum allein, blieb er abermals horchend stehen, pfiff von neuem leise vor sich hin, schritt darauf nach der Thür von Nummer vier und öffnete den in der Ecke an der Wand angebrachten Räucherungsapparat. Als er in diesen hineinsah, hörte sein Pfeifen auf. Er nahm ein langes Flacon von Rubinglas heraus, prüfte es am Gaslichte, stellte es wieder an den alten Platz und machte den Kasten zu. Sobald dies geschehen, schlich er auf den Zehen zu der offenen Treppenthür, schritt hindurch und schloß sie wie gewöhnlich von innen.

Bashwood hatte ihn beim Apparat gesehen, hatte bemerkt, in welcher Weise er seinen Rückzug durch die Treppenthür bewerkstelligte —— von neuem klopfte ihm das Herz vor unsäglicher Spannung. Die Angst preßte ihm kalten Schweiß aus die Stirn und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Schlüssel, der innen in der Thür seines Zimmers stak. In arger Furcht vor dem, was da kommen möchte, drehte er ihn herum und wartete zitternd.

Langsam dehnten sich ihm die Minuten —— und nichts passierte. Das Todesschweigen war ihm fürchterlich, die Einsamkeit des öden Corridors dünkte ihm voll Verrath und Verbrechen. Er begann zu zählen, um seinen Geist abzulenken von seiner Situation, um sich die immer steigende Angst vom Halse zu halten. Langsam folgten sich die Zahlen, die er flüsterte, von eins bis hundert, und immer geschah nichts. Schon hatte er das zweite Hundert begonnen, schon war er bis zwanzig gekommen, als, ohne daß vorher nur ein Laut Kunde gegeben hätte, daß er sich in seinem Zimmer bewegte, Midwinter plötzlich aus dem Corridor erschien.

Er blieb einen Augenblick stehen und horchte, dann ging er an die Treppe und sah in die Halle hinab. Dann probierte er, zum zweiten Male heute Abend, das Schloß an der Treppenthür, und zum zweiten Male fand er es verschlossen. Er überlegte eine Minute, probierte darauf zunächst die Schlafzimmerthüren zur Rechten, alsdann die zur Linken, blickte in ein Zimmer nach dem andern und sah, daß sie leer waren, und kam endlich an die Thür des Gemaches, in welchem Bashwood sich versteckt hielt. Auch hier leistete das Schloß ihm Widerstand. Er lauschte und sah zum Gitter empor. Kein Laut regte, kein Licht zeigte sich drinnen. »Soll ich die Thür einschlagen«, sagte er zu sich selbst, »und mir Gewißheit verschaffen? Nein, es würde dem Doctor einen Anhalt an die Hand geben, mich aus dem Hause zu weisen.« Er entfernte sich und schritt dem Fenster bei der Treppe, ganz am Ende des Corridors, zu. Hier zog der Räucherungsapparat seine Aufmerksamkeit aus sich. Nachdem er umsonst versucht hatte, den Kasten zu öffnen, schien sein Argwohn zu erwachen. Er durchsuchte alle Thüren des Corridors und bemerkte, daß sich neben keiner andern eine ähnliche Vorrichtung befand. Von neuem ging er ans Fenster und betrachtete sich den Apparat von neuem, um sich endlich mit einer Gebärde abzuwenden, welche deutlich erkennen ließ, daß er das Räthsel dieser Vorrichtung vergeblich zu lösen suchte.

Dergestalt überall scheiternd, machte er doch noch keine Anstalt, sich wieder in sein Schlafzimmer zu verfügen. Die Augen auf Allan’s Zimmer heftend, blieb er nachdenklich am Fenster stehen. Hätte Bashwood, der ihn durch das Gitter verstohlen belauschte, ebenso gut Midwinter in die Seele blicken können, wie er dessen Körper sah, wohl möchte alsdann ihm das Herz noch stärker geklopft haben, wie es ihm vor kaum mehr erträglicher Spannung schon jetzt klopfte.

Worüber sann Midwinter, als er in tiefer Nacht einsam dastand in dem fremden Hause?

Er sann, wie er allmälig die Zusammenhanglosen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, auf einen Punkt beziehen könne. Von Anfang an überzeugt, daß irgend eine verborgene Gefahr Allan im Sanatorium drohe, dehnte er seinen Verdacht, freilich vag und unbestimmt, zunächst auf die ganze Lokalität aus, auf seine Frau, von der er fest glaubte, daß sie sich jetzt unter einem Dache mit ihm befinde; auf den Doctor, welcher so offenbar wie Bashwood selbst in ihr Vertrauen gezogen war; jetzt verengerte er die Grenzen seines Argwohns, er concentrirte diesen nunmehr beharrlich auf Allan’s Zimmer. Umsonst hatte er seinen Verstand angestrengt, die Kränkung, die ihm gestern selbst zugefügt worden war, mit seinem Argwohne bezüglich eines gegen Allan gerichteten Complots in Verbindung zu bringen; jetzt gab er dies Beginnen als fruchtlos auf, und wirr und schwirr im Kopfe von vielem Sinnen und Grübeln, nahm er seine Zuflucht zu den Thatsachen, die ihm seit seiner Ankunft im Sanatorium entgegengetreten waren. Alles, was er unten wahrgenommen hatte, wies darauf hin, daß durch ihren Aufenthalt im Sanatorium ein geheimer Plan gefördert werden sollte; nach Allem, was er oben wahrnahm, stand der Schlupfwinkel, wo die Gefahr lauerte, mit Allan’s Zimmer in Zusammenhang. Zu dieser Folgerung gelangen und den Entschluß fassen, das Complott, welcher es auch sei, dadurch zu vereiteln, daß er selbst Allan’s Stelle einnahm, war bei Midwinter das Werk einer Minute. Der wirklichen Gefahr gegenüber machte sich die große Natur des Mannes instinctiv von der Schwäche frei, mit welcher sie in glücklichem und bessern Zeiten behaftet gewesen war. Der einzige Zweifel, der ihn noch quälte, als er am Fenster stand und sann, war der, ob er auch Allan zu einem Zimmertausche werde bewegen können, ohne eine Erklärung geben zu müssen, die Allan die Wahrheit ahnen lassen könnte.

In dem Augenblicke jedoch, in dem seine Blicke noch auf das Zimmer geheftet blieben, war der Zweifel gelöst, er fand den unbedeutenden, doch hinreichenden Grund, welchen er suchte. Bashwood sah, wie er schnell nach der Thür ging, und hörte ihn leise anklopfen und flüstern: »Allan, bist Du schon zu Bette?«

»Nein«, antwortete es drinnen; »komm herein.«

Eben schien Midwinter im Begriffe zu stehen, die Thür aufzumachen, als er plötzlich inne hielt, wie wenn ihm plötzlich etwas einfiele. »Warte einen Augenblick, sagte er durch die Thür und schritt dann stracks auf das letzte Zimmer zu. »Ist da drinnen Jemand, der uns belauert«, rief er laut, »so soll er uns durch das da belauern!« Er nahm sein Taschentuch heraus und stopfte es zwischen die Drahtstäbe des Gitters, sodaß die Oeffnung vollkommen geschlossen war. So hatte er den drinnen lauernden Spion —— wenn wirklich einer drin war —— gezwungen, entweder sich durch Wegnehmen des Tuchs zu verrathen oder für Alles, was zunächst geschehen konnte, blind zu bleiben, und nun erst trat er bei Allan ein.

»Du weißt, was für elende Nerven ich habe«, begann er, »und wie jämmerlich ich selbst in meinen besten Tagen schlafe. Heute kann ich wieder einmal nicht schlafen; das Fenster in meinem Zimmer rasselt bei jedem Windstöße. Ich wünschte, es wäre so fest wie Deines hier.«

»Mein lieber Junge«, rief Allan, »ich mache mir aus einem klappernden Fenster nichts. Laß uns mit den Zimmern tauschen! Unsinn! Warum entschuldigst Du Dich gegen mich? Weiß ich nicht, wie leicht so erregbare Nerven wie Deine von Kleinigkeiten afficirt werden? Nun der Doctor mich hinsichtlich der armen lieben Neelie beruhigt hat, beginne ich die Strapazen der Reise zu spüren, und ich stehe dafür, daß ich, sei es, wo es wolle, bis in den hellen Tag hinein schlafen werde.« Er nahm seine Reisetasche. »Wir müssen uns beeilen«, setzte er hinzu, indem er auf seine Kerze wies. »Man hat mir nicht viel Licht zum Zubettgehen gegeben.«

»Sei ganz still, Allan«, sagte Midwinter, ihm die Thür öffnend. »Wir dürfen in so später Stunde das Haus nicht stören.«

»Ja, ja«, entgegnete Allan flüsternd »Gute Nacht! Hoffentlich schläfst Du nun so gut, wie ich schlafen werde.«

Midwinter begleitete ihn nach Nummer drei und bemerkte, daß seine eigene Kerze, die er darin hatte stehen lassen, nicht größer war als die Allan’s. »Gute Nacht«, sagte er und trat wieder auf den Corridor heraus.

Von neuem ging er auf das Gitter zu und horchte von neuem. Das Taschentuch war noch genau so darin, wie er es hineingestopft hatte, und noch immer kein Laut drinnen zu vernehmen. In tiefen Gedanken schritt er über den Corridor seinem neuen Zimmer zu. Gab es kein anderes Mittel als das, welches er versucht hatte? Keins. Jedwede offene Vertheidigung oder Schutzmaßregel wäre da, wo die Art der Gefahr und die Seite, woher sie kam, gleich unbekannt blieben, an und für sich nutzlos gewesen, und mehr als nutzlos, weil sie die Leute im Hause aufmerksam gemacht und veranlaßt hätte, auf ihrer Hut zu sein. Das Einzige was Midwinter zum Schutze seines Freundes thun konnte, dem er seinen auf keine bestimmte Thatsache gegründeten Verdacht nicht mittheilen durfte und dessen Vertrauen auf den äußerlich so bieder sich darstellenden Doctor er nicht erschüttern mochte, blieb die Vertauschung der Zimmer und die einzig zu befolgende Politik die Politik des Zuwartens. »Auf eins kann ich bauen«, sagte er zu sich selbst, als er zum letzten Male den Corridor überblickte; »ich kann darauf bauen, daß ich wach bleibe.

Nach einem Blicke auf die gegenüber tickende Wanduhr begab er sich nach Nummer vier. Man hörte das Geräusch der sich schließenden Thür und des vorgeschobenen Riegels, dann lag von neuem das ganze Haus in Grabesschweigen.

Nach und nach überwand das Grausen vor der Stille und Finsternis in Bashwood die Furcht, das Taschentuch zu berühren. Vorsichtig zog er einen Zipfel desselben heraus, wartete, sah sich um und faßte sich endlich das Herz, das ganze Taschentuch durch die Drahtstäbe des Gitters zu sich hereinzuziehen. Er steckte es in die Tasche, dachte aber sogleich an die Folgen, die es haben könne, wenn man es bei ihm fände, und warf es in einen Winkel des Zimmers. Er zitterte dabei, sah furchtsam nach seiner Uhr und stellte sich wieder ans Gitter, um auf Miß Gwilt zu warten.

Es war dreiviertel auf eins; der Mond stand jetzt der Hauptfronte des Sanatoriums gerade gegenüber. Von Zeit zu Zeit fiel sein Licht hell auf das Corridorfenster, wenn die Zwischenräume in den jagenden Wolken es durchließen. Der Wind hatte sich erhoben und sang leise seinen trübseligen Gesang, wenn er über die öde Umgebung des Hauses strich.

Als der Zeiger der Uhr aus ein Viertel zwei wies, trat Miß Gwilt leise in den Corridon »Kommen Sie heraus«, flüsterte sie durch das Gitter, »und folgen Sie mir. Sie ging an die Treppe zurück, die sie eben herabgekommen war, stieß die Thür sanft auf und führte Bashwood, der inzwischen sein Zimmer verlassen hatte, nach dem Treppenabsatz vor der zweiten Gage. Hier fragte sie ihn, was sie unten zu fragen nicht gewagt hatte.

»Ist Mr. Armadale in Nummer vier untergebracht worden?«

Ohne zu sprechen, nickte er mit dem Kopfe.

»Antworten Sie mir in Worten. Hat Mr. Armadale seitdem das Zimmer verlassen?«

»Nein«, entgegnete er.

»Haben Sie, seit ich von Ihnen ging, auch das Zimmer niemals aus den Augen gelassen?«

»Niemals«, lautete seine Antwort.

Etwas Eigenthümliches in seinem Wesen, etwas Ungewohntes im Tone seiner Stimme zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie nahm ihren Leuchter von einem nahestehenden Tische, auf den sie denselben gestellt hatte, und ließ den Schein des Lichts auf sein Gesicht fallen. Seine Augen stierten, die Zähne klapperten ihm, Alles verrieth die Angst, in der er sich befand, nichts aber sagte ihr, daß diese Angst von dem Bewußtsein seiner Schuld, von dem Bewußtsein herrührte, daß er sie zum ersten Male in seinem Leben betrogen hatte. Hätte sie ihm nicht so unumwunden gedroht, hätte sie minder rückhaltslos von dem Zusammensein gesprochen, das ihn am nächsten Morgen belohnen sollte, dann hätte er vielleicht die Wahrheit gestanden. So hatten seine schlimmsten Befürchtungen und seine liebsten Hoffnungen das gleiche Interesse, ihr jene verhängnißvolle Lüge zu sagen, die er ihr auch jetzt wiederholte, als sie ihre Frage zum zweiten Male an ihn richtete.

Sie sah ihn an, den Mann, von dem sie am allerwenigsten erwartete, daß er sie betrügen würde, den Mann, den sie selbst betrogen hatte.

»Sie scheinen mir überreizt«, sprach sie gelassen. »Die Nacht ist über Ihre Kräfte gegangen. Gehen Sie hinauf und ruhen Sie aus. Sie werden die Thür von einem der Zimmer offen finden; das nehmen Sie. Gute Nacht!«

Damit reichte sie ihm die Hand und wollte gehen. Verzweiflungsvoll hielt er sie zurück. Die Angst vor dem, was geschehen möchte, wenn sie allein gelassen würde, zwang ihm die-Worte auf die Lippen, zu denen ihm zu einer andern Zeit der Muth gefehlt haben würde.

»Thun Sie’s nicht«, flehte er flüsternd, »ach, thun Sie’s nicht, gehen Sie heute Nacht nicht hinunter!«

Sie ließ seine Hand los und bedeutete ihn, die Kerze zu nehmen. »Morgen sollen Sie mich sprechen«, sagte sie. »Heute kein Wort mehr!«

Wie immer beherrschte ihn ihr starker Wille auch im letzten Augenblicke. Er nahm die Kerze, wartete aber und folgte ihr mit gierigen Blicken, während sie die Treppe hinabstieg. Die Kälte der Decembernacht schien durch alle Wärme des Hauses ihren Weg bis zu ihr gefunden zu haben. Sie hatte einen langen dicken schwarzen Shwal umgethan und ihn fest um ihre Brust gezogen. Der Flechtenkranz zu dem sie ihr Haar zu ordnen pflegte, schien ihrem Kopfe zu schwer geworden zu sein; sie hatte ihn aufgelöst und über ihre Schultern fallen lassen. Der alte Mann betrachtete ihr wallendes Haar, wie es roth auf dem schwarzen Shawle lag, betrachtete ihre schlanke Hand mit den langen feinen Fingern, betrachtete die verführerische Grazie jeder ihrer Bewegungen, die sie ihm weiter und weiter entführten. »Die Nacht wird rasch vergehen«, dachte er, als sie ihm aus den Blicken entschwand; »ich werde von ihr träumen, bis der Morgen kommt.«

Sie verschloß die Treppenthür und horchte, nichts rührte sich; dann ging sie langsam den Corridor hinab bis zum Fenster. An den Fensterstock gelehnt, sah sie in die Nacht hinaus. Der Mond war eben hinter Wolken verborgen, nichts in der Finsternis draußen zu erkennen als die zerstreuten Gaslichter in der Vorstadt. Sie wandte sich wieder vom Fenster ab und sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten nach eins.

Zum letzten Male zwang sich ihr der Gedanke auf, der ihr gekommen war, als sie wußte, daß ihr Gatte im Hause war; zum letzten Male sagte ihr die innere Stimme: »Ueberlege, ob es keinen andern Weg gibt!«

Sie sann, bis der Minutenzeiger auf halb wies. »Nein!« sagte sie, noch immer an ihren Gatten denkend. »Nein, es gibt nur den Weg, es bis zu Ende zu vollbringen. Er wird ungethan lassen, um deswillen er hierher gekommen; er wird die Worte ungesprochen lassen, die zu sagen er erschienen ist, sobald er erfährt, daß seine Schritte einen öffentlichen Skandal hervorrufen und seine Worte mich dem Schafott überantworten werden!« Ein höheres Roth erglühte auf ihrem Gesicht und sie lächelte mit einer entsetzlichen Ironie, als sie jetzt nach der Thür des Zimmers blickte. »In einer halben Stunde«, sagte sie, »werde ich Deine Witwe sein!«

Sie schloß den Kasten des Apparats auf und nahm das rothe Flacon in die Hand. Nach einem Blicke auf die Uhr, um zu sehen, welche Zeit es sei, tröpfelte sie in den gläsernen Trichter die erste der sechs Portionen, wie sie die Papierstreifen für sie abgemessen hatten.

Als sie das Flacon wieder hinstellte, legte sie das Ohr an die Mündung des Trichters. Kein Laut ließ sich vernehmen, schweigend wie der Tod selbst vollbrachte der tödtliche Proceß sein Werk. Als sie sich empor richtete und aufsah, schien der Mond hell zum Fenster herein und das Aechzen des Windes war verstummt.

Ach die Zeit, die lange Zeit! Wäre es doch wenigstens mit dieser ersten Dosis abgethan gewesen!

Sie ging hinab in das Vorhaus, sie wanderte auf und nieder und horchte an der offenen Thür, die in die Küche hinabführte. Dann kam sie wieder heraus und stieg wieder hinunter. Die Zeit schien still zu stehen, das Warten war zum Wahnsinnig werden.

Die Zwischenzeit verstrich. Als sie das Flacon zum zweiten Male nahm und die zweite Dosis in den Trichter goß, jagten die Wolken über den Mond und verdunkelten das Nachtbild draußen vor dem Fenster.

Die Unruhe, die sie treppauf und treppab und hin und her in der Halle getrieben hatte, wich so plötzlich von ihr, wie sie erschienen war. Am Fensterstocke lehnend und, ohne sich irgend eines Gedankens bewußt zu werden, in die schwarze Nacht hinaus starrend, wartete sie die zweite Zwischenpause ab. Aus einer entfernten Gegend der Vorstadt trug der Wind das langgezogene Geheul eines ins Ohr. Mit dumpfer Aufmerksamkeit folgte sie dem Tone, bis er allmälig erstarb, und lauschte mit noch dumpferer Erwartung, bis er sich wieder erhob. Wie Blei lagen ihre Arme auf dem Fensterstock, ohne die Kälte zu empfinden, drückte sie ihre Stirn an die Scheiben. Erst als der Mond wieder hell aus dem Gewölke hervortrat, kam ihr das Bewußtsein der Situation wieder. Schnell drehte sie sich um und sah nach der Uhr. Sieben Minuten waren seit dem Auströpfeln der zweiten Dosis verflossen.

Als sie die Flasche ergriff und den Trichter zum dritten Male füllte, ward sie sich des Moments wieder voll bewußt. Fieberhitze entzündete ihr Blut und stieg ihr glühend in die Wangen. Schnell und leise, die Arme unter dem Shawl gekreuzt und mit dem Auge Sekunde um Sekunde die Uhr verfolgend, schritt sie den Corridor auf und nieder.

Drei von den nächsten fünf Minuten waren vorüber und wieder brachte fie das Warten fast von Sinnen. Der Corridor wurde der unüberwindlichen Unruhe ihrer Glieder zu eng. Sie ging abermals in die Halle hinab und rannte darin im Kreise umher wie ein wildes Thier im Käfig. Beim dritten Umgang fühlte sie, daß etwas leise ihr Kleid berührte. Die Hauskatze war durch die offene Küchenthür hereingekommem eine große, dreifarbige, gesellige Katze, die behaglich schnurrte, und folgte ihr als Begleiterin. Sie nahm das Thier auf den Arm, das seinen weichen Kopf an ihrem Kinne rieb, als sie sich zu ihm niederbog. »Armadale haßt die Katzen«, flüsterte sie dem Thiere ins Ohr; »komm und sieh ihn sterben!« Im nächsten Augenblick erschrak sie vor ihrer eigenen fürchterlichen Phantasie. Zusammenschaudernd ließ sie die Katze fallen und jagte sie mit drohender Hand hinaus. Eine Minute blieb sie stehen, dann stürmte sie Hals über Kopf die Treppe hinauf. Der Gedanke an ihren Mann hatte sich ihr wieder gewaltsam aufgedrängt, er drohte ihr mit einer Gefahr, die ihr zuvor noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Wie, wenn er nicht schliefe? Wie, wenn er plötzlich herauskäme und sie mit dem Flacon in der Hand fände?

Sie schlich an die Thür von Nummer drei und horchte. Das langsame regelmäßige Athmen eines Schlafenden ließ sich vernehmen. Erleichtert und beruhigt wartete sie einen Augenblick, that einen Schritt auf Nummer vier zu und blieb dann wieder stehen. An dieser Thür brauchte sie nicht zu horchen. So gewiß wie der Tod nachher, kam in der vergifteten Luft zuerst der Schlaf, hatte ihr der Doctor gesagt. Sie warf einen Seitenblick auf die Uhr; es war Zeit zur vierten Dosis.

Ihre Hände zitterten heftig, als sie den Trichter zum vierten Male füllte. Die Angst vor ihrem Manne machte ihr wieder das Herz klopfen. Wie, wenn ihn ein Geräusch aufstörte, ehe die sechste Dosis ausgegossen war? Wie, wenn er, wie sie es so oft an ihm gesehen hatte, plötzlich auch ohne Geräusch erwachte?

Ihre Augen irrten im Corridor umher. Das Zimmer, wo sich Bashwood versteckt gehalten hatte, bot sich ihr jetzt selbst als Schlupfwinkel. »Ich könnte da hineingehen!« dachte sie. »Hat er den Schlüssel stecken lassen?« Sie machte die Thür auf und sah das auf den Boden geworfene Taschentuch. War es Bashwood’s Tuch, das er zufällig hatte liegen lassen? Sie musterte die Zipfel; im zweiten fand sie den Namen ihres Gatten!

Im ersten Momente wollte sie die Treppe hinauf, um Bashwood zu wecken und auf Erklärung zu dringen. Im nächsten Augenblicke dachte sie an das rothe Flacon und an die Gefahr, den Corridor zu verlassen. Sie wandte sich um und sah nach Nummer drei. Nach dem Taschentuche zu schließen, war ihr Mann ohne allen Zweifel außerhalb des Zimmers gewesen und Bashwood hatte ihr nichts davon gesagt. War er jetzt in seinem Zimmer? Im Sturme ihrer Aufregung vergaß sie, als ihr diese Frage durch den Kopf schwirrte, die Entdeckung, die sie selbst kaum vor einer Minute gemacht hatte. Von neuem horchte sie an der Thür, von neuem hörte sie das regelmäßige Athmen des Schlafenden. Das erste Mal hatte das Zeugniß ihrer Ohren hingereicht, sie zu besänftigen; diesmal, bei ihrem zehnfach gesteigerten Argwohn und ihrem Schrecken, wollte sie auch das Zeugniß ihrer Augen haben.

»Alle Thüren in diesem Hause lassen sich geräuschlos öffnen«, sagte sie zu sich selbst; »ich brauche nicht zu besorgen, daß er aufwacht.« Leise und ganz allmälig machte sie die unverschlossene Thür auf und sah hinein, sobald diese weit genug aufstand. In dem wenigen Lichte, das ins Zimmer fiel, nur der Kopf des Schläfers auf dem Kissen sichtbar. Hob sich dieser ganz so dunkel vom weißen Pfühle ab wie der Kopf ihres Gatten, wenn er im Bett lag? Ging der Athem so leise wie der ihres Mannes, wenn er schlief?

Sie machte die Thür weiter auf und sah bei hellerem Lichte hinein.

Da lag der Mann, nach dessen Leben sie zum dritten Male getrachtet hatte, und schlief sanft und ruhig in dem Zimmer, das ihrem Gatten überwiesen worden war, und in der Luft, die Niemand ein Leid zufügen konnte!

Der Schluß, den sie hieraus unvermeidlich ziehen mußte, übermannte sie sofort. Die Hände krampfhaft emporhebend, taumelte sie in den Corridor zurück. Die Thür von Allan’s Zimmer fiel ins Schloß, doch nicht laut genug, um ihn aufzuwecken. Sie wandte sich um, als sie das Geräusch hörte; wie betäubt stand sie da und starrte danach hin. Dann, noch ehe ihre Vernunft sich wieder sammelte, trieb sie ihr Instinct zum Handeln. In zwei Schritten war sie an der Thür von Nummer vier.

Die Thür war verschlossen.

Wild und schwer fiel sie mit beiden Händen über die Wand her, um nach dem Knopfe zu suchen, auf den sie den Doctor hatte drücken sehen, als er seinen Besuchern das Zimmer zeigte. Zweimal entging er ihr, beim dritten Male halfen die Augen den Händen, sie fand den Knopf und drückte darauf. Der Regel drinnen sprang zurück, und die Thür fügte sich ihr.

Ohne einen Augenblick zu zaudern, ging sie in das Zimmer. Obgleich die Thür auf war, obgleich seit dem vierten Aufguß eine so kurze Zeit verflossen war, daß sich kaum erst die halbe Menge des erforderlichen Gases entwickelt hatte, so schlug ihr doch die vergiftete Lust entgegen wie der Griff einer Hand um ihre Kehle, wie ein eiserner Ring um ihren Kopf. Sie fand Midwinter am Fuß des Bettes aus dem Teppich liegen, den Kopf und den einen Arm der Thüre zu, als wäre er beim ersten Gefühl von Betäubung aufgestanden und über dem Versuch, das Zimmer zu verlassen, umgesunken. Mit jener verzweiflungsvollen Kraftanstrengung, deren Frauen in Fällen der Noth fähig sind, hob sie ihn auf und zog ihn auf den Corridor hinaus. Das Hirn wirbelte ihr, als sie ihn niederlegte und auf ihren Knieen nach dem Zimmer zurückkroch, um die giftige Luft vom Gange abzusperren. Nachdem sie die Thür geschlossen hatte, wartete sie, ohne daß sie sich getraute ihn anzusehen, bis sie wieder ihre Kraft so weit gesammelt hatte, um sich zu erheben und ans Fenster über der Treppe zu gelangen. Sobald sie dies ausgerissen hatte, sobald die frische Luft des frühen Wintermorgens hereinwehte, wagte sie sich zu ihm zurück und richtete seinen Kopf empor, zum ersten Male ihm voll ins Gesicht blickend.

War es der Tod, der dies fahle Grau über seine Stirn und seine Wangen breitete und die düstere Bleifarbe ihm auf Augenlider und Lippen goß?

Sie lockerte seine Cravatte und knöpfte seine Weste auf, um Hals und Brust besser zugänglich zu machen. Ihre Hand auf seinem Herzen, mit ihrer Brust seinen Kopf unterstützend, sodaß er gerade auf das offene Fenster gerichtet war, wartete sie auf das, was geschehen würde. Eine Weile verstrich, eine Zeit von wenigen Minuten und doch lang genug, ihr ganzes Eheleben mit ihm ihr ins Gedächtniß zurückzurufen, lang genug, um den Entschluß zu zeitigen, der jetzt in ihrer Seele aufstieg, als das einzige Ergebniß, welches aus jenem Rückblick entstehen konnte. Wie ihre Augen auf ihm ruhten, prägte sich allmälig eine wunderbare Ruhe in ihren Zügen aus. Sie sah aus, als ob sie eben sowohl auf seines Wiederherstellung als auf die Gewißheit seines Todes gefaßt sei.

Kein Schrei, keine Thräne war ihr noch entschlüpft, kein Schrei, keine Thräne entrang sich ihr, als sie nach einer kleinen Weile das erste matte Schlagen seines Herzens und den ersten schwachen Athemzug an seinen Lippen hörte. Stumm beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Als sie wieder aufblickte, war die grimme Verzweiflung aus ihrem Antlitz gewichen. Etwas Strahlendes glänzte in ihren Augen, das ihr ganzes Gesicht wie mit einem inneren Lichte übergoß und sie wieder weiblich und lieblich machte.

Sie legte ihn nieder, nahm ihren Shawl ab und faltete daraus ein Kissen für seinen Kopf zusammen. »Es hätte schwer werden können, Herz«, sagte sie, als sie fühlte, wie der Athem in seiner Brust lauter und lauter wurde. »Du hast’s nun leicht gemacht.«

Sie stand auf, und den Blick wendend, bemerkte sie das Flacon da, wo sie es seit der vierten Dosis gelassen hatte. »Ach«, dachte sie ruhig, »ich hatte meinen besten Freund vergessen, ich hatte vergessen, daß noch mehr aufzugießen ist.«

Mit fester Hand, mit gelassenem, aufmerksamen Gesicht füllte sie den Trichter zum fünften Male. »Noch fünf Minuten«, sagte sie, als sie nach einem Blick auf die Uhr das Fläschchen wieder beiseite stellte.

Sie versank in Gedanken, Gedanken, welche die ernste und milde Fassung in ihren Zügen nur erhöhten. »Soll ich ihm ein Abschiedswort schreiben?« fragte sie sich selbst. »Soll ich ihm die Wahrheit sagen, ehe ich auf ewig von ihm gehe?«

Ihr kleiner goldener Bleistifthalter hing mit andern Spielereien an ihrer Uhrkette. Nachdem sie eine Sekunde lang sich umgesehen hatte, kniete sie vor ihrem Gatten nieder steckte ihre Hand in die Brusttasche seines Rocks.

Seine Brieftasche war darin; einige Papiere fielen heraus, als sie das Schlößchen derselben aufdrückte. Eins war der Brief, den Mr. Brock von seinem Sterbebette aus ihm geschrieben hatte. Sie schlug die beiden Blätter um, auf denen der Pfarrer geschrieben hatte, was nunmehr in Erfüllung gegangen war, und fand auf dem letzten Blatte noch eine freie Seite. Auf diese Seite schrieb sie, neben ihrem Gatten knieend, ihre Abschiedszeilen:

»Ich bin schlechter, als Du, selbst wenn Du das Schlechteste von mir glaubst, denken kannst. Du hast Armadale gerettet, dadurch daß Du heute Nacht das Zimmer mit ihm getauscht, und hast ihn vor mir gerettet! Jetzt kannst Du Dir denken, wessen Wittwe ich vorstellen wollte, wenn Du nicht sein Leben beschützt hättest, und wirst nun wissen, welches elende Geschöpf Du heirathetest, als Du das Weib nahmst, das jetzt diese Zeilen schreibt. Und doch hatte ich unschuldige Momente, und dann liebte ich Dich heiß. Vergiß mich, mein süßes Herz, in der Liebe zu einem bessern Weibe, als ich es bin! Vielleicht hätte ich dies bessere Weib selbst werden können, hätte ich nicht ein so jammervolles Leben gelebt, ehe wir uns kennen lernten. Jetzt kommt darauf nicht viel an. Das Einzige, was ich thun kann, das viele Böse, was ich gegen Dich verübt habe, wieder gut zu machen, ist, daß ich mein Leben hingebe. Jetzt, wo ich weiß, daß Du leben bleiben wirst, wird mir das Sterben nicht schwer. Selbst meine Verruchtheit hat ein Verdienst —— sie ist gescheitert mit ihren Anschlägen. Ich bin ja niemals ein glückliches Weib gewesen!«

Sie faltete den Brief wieder und gab ihm die Blätter in die Hand, um so seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sobald er wieder zu sich käme. Als sie sachte seine Finger um das Papier schloß und aussah, war die letzte Minute der letzten Zwischenzeit gekommen und starrte ihr von der Uhr herab entgegen.

Sie, neigte sich über ihn und gab ihm den Abschiedskuß.

»Lebe, mein Engel, lebe!« murmelte sie zärtlich, während ihre Lippen leise die seinen streiften. »Das ganze Leben liegt noch vor Dir, ein glückliches Leben und ein ehrenvolles Leben, wenn Du von mir frei bist.«

Mit einem legten zögernden sanften Kusse strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Es ist kein Verdienst, daß ich Dich geliebt habe«, sagte sie. »Du bist ja einer von den Männern, welche alle Weiber lieb haben.« Sie seufzte und ging von ihm; es war ihre letzte Schwäche gewesen. Dann nickte sie der Wanduhr zu, als wäre dies ein lebendiges Wesen gewesen, das mit ihr sprach, und füllte den Trichter zum letzten Male und bis auf den letzten Tropfen, der sich im Flacon befand.

»O Gott, vergib mir!« sagte sie. »O Christus, bezeuge, daß ich gelitten habe!«

Noch einen Augenblick blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen, zögerte, um den letzten Blick in diese Welt zu thun, und dieser letzte Blick galt ihm.

»Fahre wohl!« sprach sie sanft.

Die Thür des Zimmers öffnete sich und schloß sich hinter ihr. Eine Minute tiefen Schweigens dann plötzlich ein dumpfes Geräusch, wie das Geräusch eines fallenden Körpers.

Dann wiederum tiefes Schweigen.

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Stetig ihrem vorgeschriebenen Laufe folgend, durchliefen die Zeiger der Uhr Minute um Minute. Es war die zehnte Minute, nachdem sich die Thür geöffnet und wieder geschlossen hatte, als Midwinter auf seinem Kissen sich regte und im Bemühen, sich aufzurichten, den Brief in seiner Hand bemerkte.

Im selben Augenblicke wurde ein Schlüssel in der Treppenthür umgedreht. Erwartungsvoll erschien der Doctor und sah erwartungsvoll nach dem verhängnißvollen Zimmer —— da entdeckte er das Flacon auf dem Fensterstock und den am Boden hingestreckten Mann, der sich eben zu erbeben suchte.«



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Mr. Pedgift sen. (Thorpe-Ambrose) an
Mr. Pedgift jun.(Paris).

»High-Street, den 20. December.

Mein lieber Augustus!

Gestern habe ich Deinen Brief empfangen. Du scheinst Deine Jugend, wie Du’s nennst, nach Herzenslust zu genießen. Gut! Genieße Deine Ferienzeit. Als ich in Deinem Alter war, habe ich auch meine Jugend aufs beste genossen und, merkwürdig! ich habe es noch nicht vergessen.

Du fragst mich nach Neuigkeiten und bittest besonders um nähere Auskunft über die mysteriöse Geschichte im Sanatorium.

Die Neugier, mein lieber Sohn, ist eine Eigenschaft, die, namentlich in unserm Berufe, manchmal zu großen Resultaten führt; ob sie indes in diesem Falle viel ergibt, möchte ich bezweifeln. Alles, was ich über das Sanatoriumgeheimniß weiß, das weiß ich von Mr. Armadale, und in mehr als einem wichtigen Punkte tappt er völlig im Dunkeln. Wie sie in das Haus gelockt worden sind, habe ich Dir schon erzählt, ebenso, wie sie die Nacht dort zugebracht haben. Hierzu kann ich jetzt fügen, daß Mr. Midwinter bestimmt etwas passierte, was ihn seines Bewußtseins beraubte, und daß der Doctor, der in die Sache verwickelt zu sein scheint, sich aufs hohe Pferd setzt und in seinem Sanatorium nicht behelligt sein will. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß das elende Weib, wie es nun auch zu seinem Tode gekommen, todt gefunden worden ist, daß eine Leichenschau die Sache näher untersucht, daß es sich herausgestellt, daß sie als Kranke im Hause aufgenommen worden, und daß das medicinische Gutachten sich dahin ausgesprochen hat, sie sei infolge eines Schlagflusses gestorben. Meine Ansicht aber ist, daß Mr. Midwinter seine besonderen Gründe haben mag, mit dem Zeugniß, das er wohl hätte geben können, nicht vor die Oeffentlichkeit zu treten. Ebenso habe ich Grund zu argwohnen, daß Mr. Armadale aus Rücksicht für ihn mit seinen Aussagen zurückgehalten hat, und daß das Verdict bei der Leichenschau, ohne daß ich darum Jemand einen Vorwurf machen will, wie so viele andere bei ähnlichen Anlässen, einer ganz oberflächlichen Untersuchung der Sache entsprungen ist.

Nach meiner festen Ueberzeugung ist der Schlüssel des ganzen Räthsels darin zu suchen, daß das elende Geschöpf versuchte, als Mr. Armadale’s Wittwe zu figuriren, sobald sie die Kunde von seinem vermeintlichen Tode in den Zeitungen las. Warum aber und durch welche unbegreifliche Finten sie Mr. Midwinter bewogen hat, sie, wie der Trauschein darthut, unter Mr. Armadale’s Namen zu heirathen, vermag sich Mr. Armadale selbst nicht zu erklären. Aus dem einfachen Grunde, weil die Leichenschau sich nur auf die aus ihren Tod bezüglichen Umstände beschränkte, kam dieser Punkt bei der Untersuchung nicht zur Sprache. Auf die Bitte seines Freundes hat Mr. Armadale alsbald Miß Blanchard seinen Besuch gemacht und durch sie den alten Darch bitten lassen, über den Anspruch, der wegen des Wittweneinkommens bei ihm erhoben worden ist, unverbrüchliches Schweigen zu beobachten. Da der Anspruch niemals anerkannt worden ist, so hat sich selbst unser steifnackiger Herr College unverzüglich herbeigelassen, dem Anliegen zu willfahren. Demgemäß wurde die Angabe des Doctors, daß seine Kranke die Wittwe eines Gentleman Namens Armadale sei, unangefochten gelassen und so die Sache vertuscht. Sie ist auf dem großen Kirchhofe beerdigt worden, der sich in der Nähe ihrer Todesstätte befindet. Niemand als Mr. Midwinter und Mr. Armadale, der durchaus mitgehen wollte, hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und auf ihrem Grabstein steht nichts weiter eingeschrieben als die Anfangsbuchstaben eines Taufnamens und das Datum ihres Todes. So ruht sie endlich nach allem Bösen, was sie gethan, und so haben die beiden Männer, denen sie Uebles zugefügt, ihr vergeben.

Du fragst ferner, ob Grund zu der Annahme vorhanden sei, daß der Doctor aus der Geschichte wirklich mit so reinen Händen hervorgeht, wie sie aussehen? Mein lieber Augustus, ich glaube, der Doctor ist schon in mehr schlimme Händel verwickelt gewesen, als wir je werden ausfindig machen können, und hat von dem Stillschweigen, das sich Mr. Midwinter und Mr. Armadale selbst auferlegt, seinen Nutzen zu ziehen gewußt, wie Schurken immer aus dem Mißgeschick und der Noth ehrlicher Leute ihren Nutzen zu ziehen wissen. Es steht fest, daß er wider die falsche Angabe hinsichtlich Miß Milroy’s nichts einzuwenden fand, und nach meiner Old-Bailey-Praxis ist das hinreichend für mich. Evidenz gegen ihn ist nicht das Jota da, und was eine Vergeltung anlangt, so kann ich nur von Herzen wünschen, daß sie in dem langen Laufe, den sie zusammen machen werden, schließlich die schlauere von beiden sein möge. Für jetzt ist dazu nicht viel Aussicht vorhanden. Wie ich höre, beabsichtigen die Freunde und Bewunderer des Doctors ihm ein Zeugniß zu überreichen, worin ihre Theilnahme bei dem traurigen Begebniß, das auf die Eröffnung seines Sanatoriums einen so tiefen Schatten geworfen, und ihr ungemindertes Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und seine ärztliche Befähigung ausgedrückt werden sollen.

Wir leben, Augustus, in einer Zeit, welche das Gedeihen jedweder Schurkerei, die so vorsichtig ist, den nöthigen guten Schein zu wahren, außerordentlich begünstigt. In unserm aufgeklärten neunzehnten Jahrhundert betrachte ich den Doctor als einen Mann der in die Höhe kommen wird.

Um jetzt auf angenehmere Gegenstände als das Sanatorium zu kommen, will ich Dir mittheilen, daß Miß Neelie so frisch und gesund ist wie früher und nach meiner bescheidenen Meinung hübscher aussieht als je. Sie befindet sich unter der Obhut einer verwandten Dame in London, und Mr. Armadale überzeugt sie, falls sie es etwa vergessen wollte, Tag für Tag von dem Factum seines Daseins. Im Frühling soll ihre Hochzeit stattfinden, wenn nicht vielleicht Mrs. Milroy’s Tod die Festlichkeit aufschiebt; die Aerzte sind nämlich der Ansicht, daß die arme Dame endlich ihrer Auflösung entgegengeht. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, wie sie sagen. Sie ist übrigens im höchsten Grade verwandelt, ruhig und sanft und mit ihrem Manne und ihrer Tochter äußerst zärtlich und liebevoll; nach dem Urtheile der Aerzte ist aber eben diese Wandelung ein Anzeichen ihres nahen Todes. Dem Major kann man dies schwer beibringen; er sieht nur, daß sie wieder ihrem bessern Selbst gleicht, wieder so wird wie damals, als er sie geheirathet, und stundenlang sitzt er an ihrem Bette und erzählt ihr von seiner wunderbaren Uhr.

Mr. Midwinter, von dem Du wohl zunächst etwas erfahren willst, geht rasch seiner Genesung entgegen. Nachdem er anfangs den Aerzten, nach deren Meinung er an einer bedenklichen Nervenerschütterung litt, über deren Ursachen der Kranke das hartnäckigste Schweigen beobachtete, ernstliche Besorgnisse eingeflößt hatte, erholt er sich jetzt, wie nur, um abermals den Ausspruch der Doctoren zu citiren, Menschen von seinem reizbaren Temperamente sich erholen können. Er und Mr. Armadale haben zusammen eine stille Wohnung bezogen; ich habe ihn besucht, als ich das letzte Mal in London war. Sein Gesicht zeigte noch die Spuren von Gram und Leiden, die an einem so jungen Manne traurig anzusehen waren, allein er sprach von sich selbst und seiner Zukunft mit einem Muthe und einer frohen Zuversicht, um die ihn Männer, doppelt so alt wie er, nach dem, was er, wie ich vermuthe, zu leiden gehabt hat, beneiden dürften. Verstehe ich mich nur etwas auf Menschen, so ist er kein gewöhnlicher Mensch, und wir werden noch Ungewöhnliches von ihm hören.

Du wirst Dich wundern, wie ich nach London gekommen bin. Ich bin mit einem Retourbillet (vom Sonnabend bis zum Montag) hinaufgefahren, um in der streitigen Sache mit unsern Agenten zu conferiren. Es war ein harter Streit, doch, merkwürdig genug, fiel mir gerade, als ich gehen wollte, der richtige Gesichtspunkt ein; ich nahm wieder in meinem Stuhle Platz und brachte die Frage in wenigen Minuten zur Entscheidung. Natürlich logierte ich in unserm Hotel in Covent-Garden. William, der Kellner, erkundigte sich nach Dir mit der Herzlichkeit eines Vaters, —— und Mathilde, das Stubenmädchen, erzählte mir, daß Du sie bei Deiner letzten Anwesenheit in London fast beredet hättest, sich einen hohlen Zahn herausnehmen zu lassen. Ich hatte den zweiten Sohn unseres Agenten (den jungen Menschen, dem Du den Scherznamen Mustapha geegeben, als er einen solchen Heidenlärm wegen der türkischen Papiere erhob) am Sonntage zu Tische geladen. Abends passierte ein kleiner Vorfall, der, als im Zusammenhange stehend mit einer gewissen alten Dame, welche nicht zu Hause war, als Ihr, Du und Mr. Armadale, früher einmal ihre Wohnung in Pimlico aufsuchtet, vielleicht bemerkenswerth ist.

Wie alle Ihr jungen Leute von heute wurde Mustapha nach Tische unruhig. »Lassen Sie uns eine öffentliche Belustigung besuchen, Mr. Pedgift«, sagte er. »Oeffentliche Belustigung? Wie, am Sonntagabend?« erwiderte ich. »Ganz recht, Sir«, sagte er. »Gewiß, das Schauspiel auf der Bühne verbietet man Sonntags, aber das Schauspiel auf der Kanzel hindert man nicht. Kommen Sie und lassen Sie uns unsern neuesten Sonntagsdarsteller sehen.« Da er keinen Wein mehr trinken wollte, so blieb mir nichts übrig, als mit ihm zu gehen.

Wir begaben uns direct nach einer Straße des Westend und fanden sie mit Equipagen verbarrikadiert. Wäre es nicht eben Sonntag gewesen, so hätte ich gedacht, wir gingen in die Oper. »Was habe ich Ihnen gesagt?« spricht Mustapha, während er mich an eine offene Thür zieht, an welcher unter einem mächtigen Gassterne ein Zettel der Vorstellung angeheftet ist. Ich hatte gerade Zeit wahrzunehmen, daß wir uns zu einer der Sonntagsabendpredigten über den Prunk und die Eitelkeiten der Welt begaben, die ein »Sünder, der ihnen einst gedient hat«, abhält, als Mustapha mich an den Ellenbogen stieß und flüstert: »Eine halbe Krone ist der fashionable Preis.« Als ich mich umsah fand ich mich zwischen zwei gesetzten alten Herren mit Tellern in den Händen, die mit dem fashionablen Preis bereits außerordentlich gefüllt waren. Mustapha bevorzugte den einen, ich den andern Teller. Dann gingen wir durch zwei Thüren in einen langen Saal, der gedrängt voll Menschen war, und dort auf der Tribüne stand als Redner der Versammlung nicht ein Mann, sondern eine Frau, und die Frau war Mrs. Oldershaw! In Deinem ganzen Leben hast Du keine größere Beredtsamkeit gehört. Sie war, solange wir auch zuhörten, niemals um ein Wort oder einen Satz verlegen, und was den Inhalt ihrer Rede angeht, so kann ich sie als eine Erzählung von Mrs. Oldershaw’s Praxis unter gefallenen Weibern darstellen, die mit frommen und reuevollen Flosken verschwenderisch verziert war. Du wirst fragen, wer denn das Publikum ausmachte? Vor allen Dingen Weiber, Augustus, und so wahr ich selig zu werden hoffe, sämtliche alte Vetteln der fashionablen Welt, die Mrs. Oldershaw zu ihrer Zeit gefirnißt und emailliert hatte. Jetzt saßen sie keck auf den ersten Plätzen mit ihren rothgeschminkten Backen und befanden sich in einem Zustande andächtigen Amusements, der wunderbar anzusehen war! Ich wartete das Ende der Rede nicht ab und dachte bei mir, als ich hinausging, an das, was Shakespeare irgendwo sagt: »Herr mein Gott, was für Narren sind wir Sterbliche!«

Habe ich Dir noch etwas zu erzählen? Nur noch eins, soweit ich mich besinnen kann.

Der unselige alte Bashwood hat die Besorgnisse wahr gemacht, die ich, wie Du weißt, seinetwegen hegte, als er von London hierher zurückgebracht wurde. Es ist nicht der geringste Zweifel mehr, daß er wirklich das ganze bischen Verstand verloren hat, das er einst besaß. Er ist vollkommen unschädlich und vollkommen glücklich und würde uns gar keine Noth machen, wenn wir ihn nur abhalten könnten, in seinem neuen Anzug schmunzelnd und lächelnd umherzugehen und alle Welt zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit dem schönsten Weibe in England einzuladen. Natürlich endet die Geschichte damit, daß ihn die Gassenjungen zu ihrer Zielscheibe wählen und daß er tagtäglich Schmutzbedeckt nach Hause kommt. Sowie seine Kleider wieder gereinigt sind, fällt er in seinen Lieblingswahn zurück und stolziert vor der Kirchenthür in der Rolle eines Bräutigams einher, der auf Miß Gwilt wartet. Wir müssen sehen, daß wir den armen Burschen für die kurze Zeit, welche er noch zu leben hat, irgendwo unterbringen. Wer hätte gedacht, daß ein Mann in seinen Jahren sich noch verlieben und daß das Unheil, welches die Schönheit jenes Weibes angestiftet hat, aus unsern alten Schreiber einen so traurigen Einfluß ausüben könnte!

Für jetzt aber Adieu, mein lieber Sohn. Wenn Du in Paris eine besonders hübsche Tabaksdose siehst, so denke, daß Dein Vater, obschon er Ehrengaben perhorrescirt, gegen ein Geschenk von seinem Sohne nichts einzuwenden hat.

Dein Dich liebender
A. Pedgift sen.

Nachschrift.Höchst wahrscheinlich ist der Streit, dessen, wie Du erwähnst, die französischen Zeitungen gedenken, jener verhängnißvolle Streit unter fremden Matrosen auf einer der Liparischen Inseln, bei dem ihr Kapitän ums Leben kam, wirklich ein Streit zwischen jenen Bösewichten gewesen, welche Mr. Armadale beraubten und seine Yacht in den Grund bohrten. Zum Glück für die menschliche Gesellschaft können diese Kerle nicht immer den äußern Schein wahren und in ihrem Falle erreichte die Vergeltung gelegentlich einmal die Schurken.«



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Achtes Kapitel.

Der Frühling war bis zum Ende des April vorgeschritten. Es war am Abend vor Allan’s Hochzeitstage. Midwinter und Allan hatten im Herrenhaus bis spät in die Nacht hinein zusammengesessen und geplaudert, sodaß es längst zwölf geschlagen hatte und der Hochzeitstag bereits einige Stunden alt war.

Zum größten Theil hatte sich ihr Gespräch um die Absichten und Projecte des Bräutigams gedreht. Erst als beide aufstanden, um sich zur Ruhe zu begeben, drang Allan darauf, daß nun auch Midwinter von sich und seinen Plänen spreche. »Von meiner Zukunft haben wir nun genug und übergenug geredet«, begann er in seiner kurzen geraden Weise. »Sprechen wir nun einmal von Deiner, Midwinter. Ich weiß, Du hast mir versprochen, daß Deine literarischen Bestrebungen uns nicht trennen sollen, und daß, wenn Du etwa zur See gehst, Du bei Deiner Rückkunft nicht vergißt, daß mein Haus Deine Heimat ist. Da wir aber heute zum letzten Male in unserer alten Weise bei einander sind, so möchte ich, das gestehe ich, gern wissen ——« Die Stimme versagte ihm und seine blauen Augen wurden feucht. Er ließ den Satz unbeendet.

Midwinter ergriff seine Hand und half ihm ein, wie er in frühem Zeiten ihm so oft die fehlenden Worte eingeholfen hatte.

»Du möchtest gern wissen, Allan«, sagte er, »daß ich kein krankes Herz zu Deinem Hochzeitstage mitbringe? Wenn Du mich etwas in die Vergangenheit zurückgreifen lassen willst, so denke ich Dich zufrieden stellen zu können.«

Sie setzten sich wieder. Allan sah, daß Midwinter bewegt war. »Warum Dich schmerzlich aufregen?« sagte er herzlich; »Warum die Vergangenheit heraufbeschwören?«

»Aus zwei Gründen, Allan. Längst hätte ich Dir für das Stillschweigen danken sollen, welches Du um meinetwillen in einer Sache beobachtet hast, die Dir sehr seltsam erschienen sein muß. Du weißt, wie der Name im Kirchenbuch lautet, unter dem meine Verheirathung eingetragen steht, und dennoch hast Du, um mich nicht in Verlegenheit zu setzen, vermieden, davon zu sprechen. Ehe Du in Dein neues Leben trittst, laß uns darüber zu einer ersten und letzten Verständigung kommen. Ich bitte ich, aus reiner Güte gegen mich die Versicherung zu genehmigen, wie seltsam Dir die Sache auch erscheinen mag, daß mich dabei kein Vorwurf trifft, und ich ersuche Dich zu glauben, daß die Gründe, welche ich habe, die Geschichte unaufgeklärt zu lassen, Gründe sind, welche Mr. Brock selbst, wenn er noch lebte, billigen würde.«

Dergestalt bewahrte er das Geheimniß der beiden Namen und tastete das Andenken an Allan’s Mutter, das jenem heilig war, nicht an.

»Noch ein Wort«, fuhr er fort, »ein Wort, das uns aus der Gegenwart in die Zukunft entführen wird. Es steht geschrieben und wahr geschrieben, daß aus dem Bösen Gutes kommen kann. Aus dem Schrecken und dem Elend jener Nacht, die Du kennst, ist die Beseitigung eines Zweifels erwachsen, welcher durch grundlose Angst Deinet- und meinetwegen dereinst mein Leben zu einem jammervollen machte. Jetzt werden keine Schatten, die mein Aberglaube heraufbeschwört, wieder zwischen uns treten. Aufrichtig darf ich Dir versichern, daß ich jetzt mehr willens bin wie damals, als wir uns zusammen auf der Insel Man befanden, die Sache, wenn ich mich so ausdrücken soll, vom rationellen Gesichtspunkte aus zu betrachten. Obwohl ich weiß, wie in unser aller Leben manchmal die Umstände gar wunderbar zusammentreffen, so lasse ich doch kein zufälliges Zusammentreffen des einen oder andern Umstandes als eine Erfüllung der Gesichte Deines Traums gelten. Früher glaubte ich, daß Dein Traum Dir gesandt wäre, um Dein Mißtrauen gegen den freundlosen Menschen zu erwecken, den Du als Bruder an Dein Herz gezogen hattest; jetzt weiß ich, daß er Dir als rechtzeitiger Wink kam, ihn noch fester an Dich zu ketten. Ist dies im Stande, Dir die Genugthuung zu verschaffen, daß auch ich hoffnungsvoll in einem neuen Leben entgegengehe; und daß, solange wir leben, Deine Liebe und die meinige nie wieder von einander lassen werden?«

Sie schüttelten sich stumm die Hände. Allan fand zuerst wieder Worte, wenige Worte herzlicher Betheuerung, die besten, die er dem Freunde sagen konnte.

»Alles, was ich von der Vergangenheit wissen wollte«, sprach er, »habe ich nun gehört, und weiß, was ich hauptsächlich hinsichtlich der Zukunft zu erfahren wünschte. Alle Welt sagt, Midwinter, daß eine große Laufbahn vor Dir liegt, und ich glaube, daß alle Welt Recht hat. Wer weiß, was für große Dinge geschehen mögen, ehe wir beide viele Jahre älter sind!«

»Wer braucht es zu wissen?« erwiderte Midwinter gelassen. »Mag geschehen, was da will, Gott ist allgütig, Gott ist allweise So, mein theurer Freund, schrieb er einst an mich. In diesem Glauben kann ich ohne Murren auf die Jahre zurückblicken, die dahin sind, und ohne Zweifel den Jahren entgegensehen, welche kommen werden.«

Er erhob sich und schritt dem Fenster zu. Ueber ihrem Gespräche war die Nacht vergangen. Das erste Licht des neuen Tages grüßte ihn und ruhte zärtlich auf seinem Antlitz.



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