Herz und Wissen



Capitel VII.

Die Bibliothek in Fairfield Gardens besaß außer den Büchern noch zwei besondere Reize: sie öffnete sich auf ein Gewächshaus und war mit einem wundervollen, von ihrem Bruder gemalten Portrait Mrs. Gallilee’s geschmückt.

Während Mr. Mool das Erscheinen des schönen Originals erwartete, sah er das Portrait an und ließ dann die Geschichte der Familie Mrs. Gallilee’s an seinem Geiste vorüberziehen, und —— wird man es von einem Rechtsanwalt glauben? —— Mr. Mool erröthete. Mr. Mool hatte einen Fehlgriff in der Wahl seines Berufes gemacht und das Resultat war nun —— ein schüchterner Anwalt.

Um die Vorgänge beim Vorlesen des Testamentes verständlicher zu machen, wollen wir in die Geschichte der Familie zurückgreifen, die ja unter diesen Umständen —— da sie nämlich mit dem Erröthen eines Rechtsanwaltes zusammenhängt —— für den Augenblick eine gewisse Wichtigkeit hat und im Voraus einer günstigen Aufnahme sicher ist —— denn es dreht sich dabei Alles um Geld.

Der alte Robert Graywell begann sein Leben als Sohn eines kleinen Farmers; man hielt ihn allgemein für ziemlich exzentrisch, trotzdem machte er als Kaufmann in der City von London sein Glück und besaß, als er sich vom Geschäfte zurückzog, ein Haus und ein Landgut und dazu ein hübsches Vermögen, das in sicheren Fonds angelegt war.

Seine Frau hatte ihm drei Kinder geschenkt: einen Sohn, Robert, und zwei Töchter, Maria und Susanne. Der Tod der Mutter, die er innig liebte, war der erste ernste Schlag seines Lebens und er zog sich nach demselben als ein mürrischer, gebrochener Mann auf sein Landgut zurück. Liebende Gatten sind nicht nothwendig auch zärtliche Väter, und dem alten Robert boten seine Töchter beim Tode ihrer Mutter keinen Trost, ja, ihre ängstliche Besorgniß wegen der Trauerkleider ekelte ihn so an, daß er ihnen aus dem Wege ging. Mit ihren Aussichten im Leben war kein außergewöhnliches Interesse verknüpft: sie würden sich verheirathen —— und dann würde es mit ihnen aus sein. Was den Sohn anbetraf, so war derselbe längst außerhalb des beschränkten Bereichs der väterlichen Sympathie getreten. Einmal hatte es seine Unbrauchbarkeit für den kaufmännischen Beruf nöthig gemacht, das Geschäft in fremde Hände zu geben, und zweitens stellte es sich heraus, daß der junge Robert, ohne daß ein Erbeinfluß vorlag und trotzdem Alles dagegen gethan wurde, ein geborener Maler war. Einer der größten Künstler jener Zeit sah die ersten Versuche des Knaben und drückte sein Urtheil in den Worten aus: »Schade, daß er mit dem Pinsel nicht sein Brod zu verdienen braucht!«

Beim Tode des alten Roberts sahen sich seine Töchter, um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen, aus ein elendes Legat von zehntausend Pfund für jede angewiesen. Die Besitzung und das Hauptvermögen erbte ihr Bruder —— indeß nicht etwa, weil dem Alten daran lag, eine Familie zu gründen, sondern weil der Junge immer der Liebling der Mutter gewesen war.

Von den drei Kindern verheirathete sich die älteste Schwester, Maria, zuerst, indem sie sich glücklich schätzte, Mr. Vere zu erobern, einen Mann aus alter Familie, der eine hohe Meinung von dem, was er seinem Namen schulde, besaß. Derselbe hatte ein genügendes Einkommen und brauchte nicht mehr, darum wurde die Mitgift seiner Frau dieser selbst zugeschrieben. Als er starb, hinterließ er ihr eine Leibrente von sechshundert Pfund jährlich, was mit den Zinsen ihres eigenen kleinen Vermögens ein jährliches Einkommen von eintausend Pfund machte. Der Rest von Mr. Vere’s Vermögen war seinem einzigen, ihn überlebenden Kinde Ovid zugeschrieben.

Mit einem Einkommen von jährlich eintausend Pfund für sich und zweitausend für ihren Sohn bei dessen Mündigwerden hätte die verwittwete Maria ganz zufrieden sein können —— wenn nicht Susanne so anmaßend gewesen wäre, sich, trotzdem sie an Alter sowohl als an Schönheit hinter ihr rangierte, in dem Wettrennen um einen Gatten den ersten Preis zu holen.

Bald nach der Hochzeit der Aelteren hatte die Jüngere die Eroberung eines schottischen Edelmannes gemacht, der in London und in Schottland ein Palais besaß und dazu eine Rente von vierzigtausend Pfund hatte. Das konnte Maria, wie sie sich ausdrückte, nie überwinden, und seit dem Tage, an welchem Susanne Lady Northlake geworden war, wurde erstere eine ernste Frau, deren ganzes irdisches Interesse sich jetzt auf die Bildung ihres Geistes concentrirte. Sie betrat die erhabene Laufbahn, die sie mit dem Vormarsch der Wissenschaft verband, und war —— ein Beispiel dessen, was eine entschlossene Frau zu leisten vermag —— ein Jahr später mit den fossilen Zoophyten vertraut und hatte das Nervensystem der Biene secirt.

Hatte sie denn in ihrem ehelichen Leben keinen Gegenreiz?

Nur sehr wenig, denn Mr. Vere sympathisierte mit dem wissenschaftlichen Streben seiner Frau nicht. Und fand sie nach dem Tode des Gatten keinen Trost in ihrem Sohne? Wir wollen sie selbst sprechen lassen: »Mein Sohn füllt mein Herz, aber die Schule, die Universität und das Hospital haben mir nacheinander seine Erziehung aus der Hand genommen, und mein Geist muß ebenso gut einen Gegenstand haben, um ihn zu füllen, wie. mein Herz.« Damit nahm sie ihre ausgezeichneten Instrumente auf und wandte sich wieder der Untersuchung des Nervensystems der Biene zu.

Im Laufe der Zeit kreuzte Mr. John Gallilee den Pfad der Wissenschaft. Die verwitwete Mrs. Vere war noch eine schöne Frau, deren »Stil« es ihm angethan hatte; und Mr. Gallilee besaß fünfzigtausend Pfund. Wenn das nun auch nur um ein Geringes mehr war, als ein Jahreseinkommen des Schwagers und Mylady’s, ihrer Schwester, so vermehrte es doch, zu vier Procent angelegt, Mrs. Vere’s Einkommen um weitere zweitausend Pfund jährlich, so daß ihre Einnahme dann jährlich dreitausend Pfund betragen würde —— mit der Zugabe Mr. Gallilee’s selbst. Sie überlegte und akzeptierte, und Susanne hatte nun nicht mehr länger dadurch eine Auszeichnung vor der Schwester, daß sie ihre Kleider in Paris machen ließ, und Mrs. Gallilee war nicht länger mehr der Entwürdigung ausgesetzt, einen Platz in Lady Northlake’s Equipage annehmen zu brauchen.

Was war nun während dieser Zeit aus Robert geworden? Nun —— um es kurz zu sagen, Robert hatte den Seinigen Schande gemacht.

Als der neue Squire von seinem Eigenthum Besitz ergriffen hatte, wurde er eingeladen, zu den Ausgaben für die Hundemeute der Fuchsjagd beizusteuern, die durch Subscription der Grafschaft erhalten wurde, und ihm der Rath gegeben, sich mit den Sportsmen durch Veranstaltung eines Jagdfrühstückes bekannt zu machen. Obgleich er sehr höflich antwortete, ließ sich die Thatsache nicht verbergen, daß er sich weigerte, die Jagd zu unterstützen. Er fand dies noble Vergnügen einfältig und roh und lehnte es aus demselben Grunde ab, Füchse zu hegen. Eins blieb noch über, wodurch er anstoßen konnte, und auch das kam, indem er nämlich wohl den Besuch des Pfarrers erwiderte, es aber unterließ, in der Kirche zu erscheinen. Nun war vorauszusehen, daß seines Bleibens auf dem Gute nicht lange sein würde; und als er seine Skizzen der malerischen Partien der Besitzung vollendet hatte, verschwand er denn auch wieder. Die Besitzung war kein Majorat; der alte Robert, so genau er auch in den geringsten Details und Formalitäten in der Fürsorge für seine Gattin gewesen, so gleichgültig war er in Bezug auf die Zukunft seiner Kinder. »Das Vermögen hat jetzt in meinen Augen keinen Werth mehr«, sagte er zu weiter sehenden Freunden; »meinetwegen können sie Alles durchbringen. Es würde ganz gewiß gut für sie sein, wenn sie sich, wie so viele Bessere, ihr Brod verdienen müßten.« Da Robert mit dem Gute also machen konnte, was er wollte, so verkaufte er es, nur um es los zu werden, und da er keine kostspieligen Neigungen hatte, außer der Gemälde zu kaufen, so war er reicher denn je.

Das Nächste, was seine Schwestern, Lady Northlake und Mrs. Gallilee von ihm hörten, war, daß er freiwillig in’s Exil nach Italien gegangen sei, sich ein prächtiges Atelier baue, eine Serie von Gemälden zu schaffen beabsichtige und zum ersten Male in seinem Leben sich wahrhaft glücklich fühle.

Dann verging wieder einige Zeit, ehe seine Schwestern etwas weiteres von ihm hörten. Nicht zufrieden damit, daß er damals das Schicklichkeitsgefühl seiner Nachbarn in England beleidigt hatte, mußte er sich jetzt auch noch in der Dichtung seiner Familie herabwürdigen, indem er ein »Modell« heirathete. In dem Briefe, in welchem er ihnen dies mittheilte, erklärte er der Wahrheit gemäß, daß der Ruf des Mädchens über jeden Vorwurf erhaben sei. Sie saß den Künstlern nur für den Kopf, wie jede Dame dem Künstler sitzt, von dem sie sich malen läßt. Ihre Eltern erwarben sich durch Beackerung ihres Stückchen Landes einen dürftigen Unterhalt; aber es waren ehrliche Leute. Und was machte sich Bruder Robert aus Rang und Stand! Sein Großvater war ja selbst Farmer gewesen.

Lady Northlake und Mrs. Gallilee waren es sich selbst schuldig, wegen der Schwägerin eine Consultation zu halten, unt die Frage zu entscheiden, ob es in ihrem gesellschaftlichen Interesse wünschenswerth sei, Robert von nun an fallen zu lassen.

Susanne neigte, wie ihr gutherziger Gatte es ihr vorher gerathen hatte, auf die Seite der Milde. Robert’s Brief unterrichtete sie, daß er in Italien zu bleiben und zu sterben gedenke; und wenn er bei diesem Entschlusse blieb, so war ja seine Heirath immerhin ein erträgliches Mißgeschick für die Verwandten in London. »Ich dächte, wir schrieben an ihn«, schloß Susanne, »und sagen ihm, daß wir allerdings überrascht seien, aber nicht daran zweifelten, daß er am besten urtheilen und handeln würde; daß wir Mrs. Robert unsere Glückwünsche darbrächten und ihm die aufrichtigsten Wünsche für sein Glück sendeten.«

Lady Northlake fand zu ihrem Erstaunen Mrs. Gallilee bereit, die Sache von diesem milden Gesichtspunkte aus zu betrachten, ohne ein Wort des Einwandes dagegen zu erheben. Mrs. Gallilee hatte allerdings ihre Gründe dazu, die aber einer Dame, deren Gatte über ein Einkommen von jährlich vierzigtausend Pfund verfügte, besser verschwiegen blieben —— Robert hatte ihre Schulden für sie bezahlt.

Eine Einnahme von dreitausend Pfund repräsentiert selbst heutzutage ein ganz hübsches Auskommen —— vorausgesetzt, daß man der Gesellschaft nichts »schuldig« ist. Für Mrs. Gallilee repräsentierte es aber nur ein glänzendes Elend. Sie gerieth wieder in Schulden und rechnete in Zukunft auf den Geldbeutel ihres Bruders. Ein reizender Brief an Robert schloß daher: »Schicke mir auf jeden Fall eine Photographie Deiner liebenswürdigen Frau!« Als das arme »Modell« einige Jahre darauf mit Hinterlassung eines Töchterchens starb, lag Mrs. Gallilee ihren Bruder an, nach England zurückzukehren. »Komm, theuerster Robert«, schrieb sie, »um Trost und ein Heim unter dem Dache Deiner Maria zu finden.«

Aber Robert blieb in Italien und wurde dort begraben. Bis zu seinem Tode hatte er dreimal die Schulden seiner älteren Schwester bezahlt, und diese hoffte als Dank für seine freigebige Hilfe sich bei jedem Male mit einem größeren Legate in seinem Testamente bedacht zu sehen, für den Fall, daß sie ihn überleben sollte.

Mr. Mool wußte nun als Sachwalter der Familie, welche Summe Mrs. Gallilee von ihrem Bruder gezogen hatte, und wußte auch, daß diese so geleisteten Vorschüsse als Äquivalent eines etwaigen Legates angesehen worden waren, auf welches sie sonst als Schwester einen gewissen Anspruch gehabt haben möchte. Es wäre also seine Pflicht gewesen, sie darauf vorzubereiten, als sie ihn im Allgemeinen über das Testament befragt hatte; aber er hatte nichts davon gesagt. Und weshalb? Weil er sich —— kurz und bündig ausgedrückt —— vor ihr fürchtete. Jetzt schämte er sich vor sich selbst und machte sich Vorwürfe darüber, und daher kam das auf dem Gesichte eines Rechtsanwalts so befremdende Erröthen.


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