Blinde Liebe
Zweiundsiebenzigstes Kapitel
Es war alles vorüber. Iris hatte ihr ganzes Geld hergegeben. Sie lebte in einer kleinen Wohnung, welche Fanny Mere, die sie als ihre Cousine ausgab, für sie gemietet hatte. Sie blieb den ganzen Tag über zu Haus, denn sie fürchtete sich, von jemand beim Ausgehen erkannt zu werden. Sie fürchtete ferner, dass ihr Gatte wegen Betrugs verhaftet worden, und sie fürchtete, dass man auf der Straße ihr etwas Derartiges nachrufen könnte. Daher schrak sie auch zusammen und wurde ganz bleich, als sie eines Tages Schritte auf der Treppe hörte; denn sie dachte immer daran, dass auch sie von den Gerichten gesucht werden könnte.
Der Mann, der eintrat, war Hugh Mountjoy.
»Durch Fanny habe ich Sie endlich aufgefunden«, sagte er. »Das Mädchen wusste, dass sie ohne Rückhalt mir Ihr Geheimnis anvertrauen könnte. Aber warum bleiben Sie immer noch in Verborgenheit?«
»Sie können nicht alles wissen, Hugh«, entgegnete Iris, »sonst würden Sie mich das nicht fragen.«
»Ich weiß alles, und doch frage ich Sie wieder: warum verbergen Sie sich?«
»Weil - o Hugh, schonen Sie mich!«
»Ich weiß alles, und das ist auch der Grund, weswegen ich nicht anders handeln konnte, als dass ich Sie aufsuchte, da ich mit Ihnen reden muss. Verlassen Sie diese elende Wohnung, treten Sie frei vor die Menschen, nehmen Sie Ihren eigenen Namen wieder an. Es liegt nicht der geringste Grund vor, warum Sie das nicht tun sollen. Sie waren nicht in Passy anwesend, als das Verbrechen begangen wurde. Sie sind erst nach der Beerdigung hingekommen. Was haben Sie also mit dem ganzen Verbrechen gemein, Iris?«
»Wissen Sie etwas von dem Geld?« »Gewiss. Sie schickten alles, was Sie zusammenbringen konnten, zurück; es waren fünftausend Pfund. Das allein bewies schon Ihre Unschuld.« »Hugh, Sie wissen, dass ich schuldig bin.« »Die Welt wird glauben, dass Sie unschuldig sind; jedenfalls können Sie sich ohne die geringste Furcht in der Öffentlichkeit zeigen. Sagen Sie mir, was haben Sie für Pläne?«
»Ich habe gar keinen Plan. Ich habe nur den Wunsch, mich irgendwo vor der Welt zu verbergen.« »Gut, wir werden darüber sogleich sprechen. Vorerst habe ich aber einige Neuigkeiten für Sie.« »Neuigkeiten? Was für welche denn?« »Natürlich gute Neuigkeiten. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, was Sie überraschen wird.«
»Gute Nachrichten? Was kann es denn für mich noch für gute Nachrichten geben?«
»Ihr Gatte hat das ganze Geld zurückgeschickt.« »Zurückgeschickt? An die Versicherungsgesellschaft?« »Alles ist wiedererstattet worden. Er schrieb dazu zwei Briefe, einen an die Rechtsanwälte und den andern an die Versicherungsgesellschaft. Jetzt kann ja überhaupt nicht mehr über die Angelegenheit gesprochen werden, da die Gesellschaft das Geld wieder erhalten hat. Die Rechtsanwälte haben mich aber versichert, dass nichts mehr zu fürchten ist. Alles ist vorüber.«
Iris seufzte tief auf.
»Dann ist er in Sicherheit?« fragte sie.
»Sie denken natürlich zuerst an ihn!« sagte Hugh eifersüchtig. »Ja, er ist in Sicherheit, und ich hoffe, er ist ganz außer Landes gegangen, um niemals wieder hieher zurückzukehren. Das Wichtigste dabei ist jetzt, dass Sie in Zukunft sicher vor ihm sind. Und was den Doktor anbetrifft, - aber ich kann nicht mit der gewöhnlichen Ruhe von diesem Menschen sprechen - überlassen wir ihn dem Verhängnis, das stets eines solchen Menschen wartet. Er wird sich hoffentlich nirgends, wohin er sich auch begeben mag, sicher fühlen.«
»Ich bin also sicher«, sagte Iris, »nicht nur vor meinem Gatten, sondern auch vor jenem andern. Sie glauben, dass ich sowohl wie mein Gatte in der Beziehung nichts zu fürchten haben. O, diese Furcht hat mich niemals, nicht für einen einzigen Augenblick verlassen. Sie sagen mir, dass ich öffentliche Schande nicht zu fürchten habe, und dass ich wieder frei atmen könne, wo ich doch eigentlich vor Scham in die Erde sinken müsste!«
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Iris, wir wissen, was Sie getan haben, wir wissen auch, warum Sie es getan haben. Was sollen wir noch weiter darüber reden? Die Sache ist vorüber und somit abgetan. Wir wollen nie wieder darauf zurückkommen. Die Frage ist jetzt: Was wollen Sie zunächst tun? Wo wollen Sie leben?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe Fanny zu mir genommen, und Mrs. Vimpany trägt auch das lebhafteste Verlangen, zu mir zu kommen. Ich bin reich, ja, bin in der Tat reich, seitdem ich zwei so treue Begleiterinnen und einen Freund habe.«
»In dieser Beziehung, Iris, werden Sie immer reich sein. Jetzt hören Sie aber aufmerksam zu. Ich besitze eine Villa auf dem Lande. Sie liegt weit entfernt von London in den schottischen Marschen, ganz abgelegen von der großen Heerstraße, selbst für Reisende zu entlegen. Es ist ein sehr einsamer Ort, aber ein hübsches Haus mit einem großen Garten dahinter und davor die sandige Meeresküste und das unendliche Meer. Dort kann man vollständig abgeschlossen und einsam leben. Ich biete Ihnen dieses Haus als Wohnung an. Schlagen Sie ein, und wohnen Sie dort, so lange es Ihnen gefällt.«
»Nein, nein, ich darf ein solches Anerbieten nicht annehmen«, sagte sie.
»Sie dürfen, Iris, Sie müssen es annehmen. Ich bitte Sie darum als um einen Beweis Ihrer Freundschaft und als nichts weiter. Ich fürchte nur, Sie werden der Einsamkeit bald überdrüssig werden.«
»Nein, nein, das wird niemals geschehen! Einsamkeit ist ja alles, was ich wünsche.«
»Es gibt dort überhaupt keine Gesellschaft.«
»Gesellschaft, Gesellschaft für mich? Was soll ich mit der Gesellschaft?«
»Ich komme auch für einige Zeit in die Nachbarschaft, um dort zu fischen. Werden Sie mir dann erlauben, dass ich Sie aufsuche?«
»Wer hätte sonst das Recht dazu?«
»Dann nehmen Sie also mein Anerbieten an?«
»Mein Gefühl sagt mir, dass ich es annehmen muss. Ja, Hugh, ja, mit dem aufrichtigsten und herzlichsten Dank nehme ich Ihre Güte an.«
Am nächsten Tag fuhr sie mit dem Nachtzug nach Schottland. Mit ihr zugleich reisten Mrs. Vimpany und Fanny Mere.
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