Blinde Liebe
Neunundfünfzigstes Kapitel
Vimpany täuschte sich, denn ganz unbemerkt kehrte Fanny zurück. Es ließ ihr keine Ruhe; sie musste dem Doktor auf die Schliche kommen.
In Paris am Bahnhof aus dem Omnibus gestiegen, hatte sie zunächst ein nahegelegenes Hotel aufgesucht, in welchem sie ihre Reisetasche abstellte. Dann hatte sie die Zeit mit Spazierengehen verbracht, um sich die Läden und die Straßen anzusehen, wie sie auf Befragen erklärt haben würde; - um sich einen bestimmten Plan auszudenken, wie sie eigentlich hätte erklären müssen. Sie kaufte sich ein neues Kleid, einen neuen Hut und einen sehr dichten Schleier, der sie auf eine gewisse Entfernung hin unkenntlich machte. Einer Entdeckung durch den Doktor zu entgehen, wenn sie mit ihm in der Nähe zusammentraf, das war unmöglich. Aber sie war fest entschlossen, alles zu wagen; sie wollte sich jeder Gefahr aussetzen, um sich nur über Vimpanys Absichten Klarheit zu verschaffen.
Am nächsten Morgen kehrte sie mit dem Omnibus zurück, so dass sie die Villa ungefähr um ein Viertel auf zwölf Uhr wieder erreichen konnte. Sie wählte diese Zeit aus zwei Gründen: erstens, weil das Frühstück um elf Uhr aus dem Restaurant geschickt wurde und die Herren daher sicherlich um diese Zeit in dem Speisezimmer bei dem Frühstückstisch saßen, und zweitens, weil der Doktor jedesmal nach dem Frühstück seinen Kranken besuchte. Sie konnte daher hoffen, ungesehen ins Haus zu kommen, und das war zunächst notwendig. Das Schlafzimmer, welches dem Kranken, seitdem er sich wohler befand, angewiesen war, lag im Erdgeschoß neben dem Speisezimmer; es stand mit dem Garten durch große Flügeltüren und eine Freitreppe in Verbindung.
Fanny ging vorsichtig den Weg vor der Gartentür entlang; ein rascher Blick überzeugte sie, dass niemand zu sehen war; sie öffnete hastig die Tür und schlüpfte hinein. Sie wusste, dass die Fenster des Krankenzimmers von innen geschlossen und die Rouleaux noch herabgelassen waren, da man den Patienten um diese Zeit noch nicht durch einen Besuch zu stören pflegte. Die Fenster des Speisezimmers gingen nach der andern Seite des Hauses heraus. Fanny eilte geräuschlos und vorsichtig auf die Rückseite der Villa und fand, wie sie erwartet hatte, die dort befindliche Tür weit offen stehen. In der Vorhalle hörte sie die Stimmen des Doktors und Lord Harrys und das Geräusch von Messern und Gabeln. Die beiden Herren saßen also wirklich beim Frühstück.
Aber noch eins: was sollte sie Oxbye sagen? Welchen Grund sollte sie für ihre Rückkehr angeben? Wie sollte sie ihn dazu bringen, Stillschweigen über ihre Wiederkehr zu beobachten? Sie wusste, er hielt große Stücke auf sie, und das gab ihr einen Plan an die Hand. Sie wollte ihm sagen, sie sei zurückgekommen aus Anhänglichkeit an ihn, um, ungesehen von dem Doktor, über ihm zu wachen und ihn geleiten zu können, sobald er zur Reise kräftig genug wäre. Er war eine so einfache, reine Seele und würde sicherlich diese kleine, unschuldige Täuschung für wahr halten. Es würde dann ganz leicht für sie sein, in dem Hause zu bleiben, vollständig ungestört und unbemerkt von den beiden anderen Herren.
Sie öffnete die Tür und sah in das Krankenzimmer.
Der Kranke schlief ganz ruhig, aber nicht in seinem Bett. Er lag vielmehr halb angekleidet und mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Mit der Sorglosigkeit eines Wiedergenesenden hatte er sein Lager nach einer schlaflosen Nacht gewechselt und schlief bis tief in den Morgen hinein.
Das Bett stand, wie es meistens in französischen Häusern der Fall zu sein pflegt, in einem Alkoven. Ein schwerer Vorhang fiel davor in Falten über eine Stange herunter, wie das ebenfalls französische Art ist. Ein Teil des Vorhanges lag über dem Kopfende des Bettes.
Fanny erkannte sofort die Möglichkeit, diesen Vorhang als Versteck zu benützen. Es befand sich zwischen dem Bett und der Mauer ein Zwischenraum von ungefähr einem Fuß. Dorthin, an das Kopfende des Bettes, stellte sich Fanny, wo der Vorhang sie vollständig verbarg. Nichts war unwahrscheinlicher, als dass der Doktor hinter das Bett in diesen Winkel sehen würde. Dann bohrte sie mit ihrer Schere ein Loch in den Vorhang, groß genug, um einen vollständigen Durchblick zu gestatten, ohne dass der dahinter Stehende die geringste Gefahr lief, selbst gesehen zu werden, und nun wartete sie der Dinge, die da kommen sollten.
So stand sie wohl eine halbe Stunde lang, während welcher der Schlafende ruhig dalag und die Stimmen der beiden Herren aus dem Speisezimmer herüber bald leiser, bald lauter schallten. Jetzt war gerade ein kurzes Stillschweigen eingetreten. »Sie zünden sich ihre Zigarren an,« sagte Fanny zu sich, »dann werden sie ihren Kaffee trinken und in wenigen Minuten hier sein.«
Als Lord Harry und Mr. Vimpany ein paar Minuten später wirklich in das Krankenzimmer traten, rauchten sie noch ihre Zigarren. Lord Harrys Gesicht war leicht gerötet, vielleicht von dem Wein, den er beim Frühstück getrunken hatte - vielleicht auch infolge des Glases Cognac nach dem Kaffee.
Der Doktor warf sich in einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und betrachtete gedankenvoll seinen Patienten. Lord Harry stand ihm gegenüber.
»Jeden Tag geht es mit dem Dänen besser,« sagte er.
»Ja,« antwortete der Doktor, »bis jetzt ist er allerdings jeden Tag wohler geworden.«
»Jeden Tag wird sein Gesicht dicker, und er wird mir dadurch immer unähnlicher.«
»Das ist wahr,« entgegnete der Doktor.
»Ja, was zum Teufel sollen wir nun tun?«
»Noch etwas warten,« antwortete der Doktor gelassen.
Das Mädchen wagte in seinem Versteck kaum zu atmen.
»Was?« fragte Lord Harry. »Sie glauben trotz allem, dass der Mann -«
»Warten wir nur noch ein wenig,« wiederholte der Doktor ruhig.
Lord Harry schüttelte bedenklich den Kopf.
»Hören Sie mich!« sagte der Doktor. »Wer von uns beiden hat Medizin studiert, Sie oder ich?«
»Sie natürlich.«
»Nun gut. Dann sage ich Ihnen als Arzt, dass der Schein trügt. Dieser Mann hier sieht weit besser aus als vor etlichen Wochen; er denkt, dass er wieder gesund werden wird; er fühlt sich kräftiger. Sie selbst haben bemerkt, dass er in seinem Gesicht dicker geworden ist. Seine Pflegerin, Fanny Mere, ging weg mit der Überzeugung, dass es ihm viel besser gehe und dass er binnen kurzem das Haus werde verlassen können.«
»Nun?«
»Nun, Mylord, erlauben Sie mir, Ihnen etwas anzuvertrauen. Ärzte pflegen meistens ihre Kenntnisse in solchen Fällen für sich zu behalten. Wir kennen und entdecken allerlei Symptome, die für Sie unsichtbar sind, und durch diese Symptome - durch diese Symptome gerade,« wiederholte er langsam und sah dabei Lord Harry scharf an, »weiß ich, dass dieser Mann - nicht mehr Oxbye, mein Patient, sondern ein anderer - sich in einem höchst gefährlichen Zustand befindet.«
»Und wann - wann -«
Lord Harry war furchtbar bleich. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er konnte den Satz nicht vollenden. Das, wozu er seine Einwilligung gegeben hatte, war schrecklich nahe, und es sah hässlicher aus, als er erwartet hatte.
»O - wann?« wiederholte der Doktor unbekümmert. »Vielleicht heute, vielleicht in einer Woche. So genau lässt sich das nicht vorausbestimmen.«
Lord Harry atmete tief auf.
»Wenn der Mann sich in einem solch besorgniserregenden Zustand befindet,« sagte er, »ist es dann sicher oder klug von uns, wenn wir in dem Hause allein, ohne einen Dienstboten und eine Wärterin, sind?«
»Ich bin nicht von gestern, das kann ich Sie versichern, Mylord,« sagte der Doktor in seiner scherzhaften Weise. »Die Wärterin ist schon gefunden. Sie wird heute kommen, und das Leben meines Patienten ist nach menschlicher Voraussicht,« - Lord Harry schauderte zusammen - »bis zu ihrer Ankunft vollständig sicher.«
»Gut, aber sie ist eine Fremde. Sie muss doch wissen, wen sie pflegt.«
»Gewiss. Es wird ihr gesagt - das heißt, ich habe es ihr schon gesagt - dass sie Lord Harry Norland, einen jungen irischen Edelmann, pflegen soll. Sie ist eine Fremde. Das ist die wertvollste Eigenschaft, die sie besitzt. Sie ist eine vollkommen Fremde. Und was Sie betrifft, Mylord, wer Sie sind? - Alles, was Sie wollen. Ein englischer Edelmann, der mir Gesellschaft leistet bei Lord Harrys trauriger Krankheit. Was kann es Natürlicheres geben? Der englische Doktor ist bei seinem Patienten, und der englische Freund ist bei dem Doktor. Wenn der Versicherungsbeamte Nachforschungen anstellt, - und er wird es höchstwahrscheinlich tun - dann wird die Pflegerin unschätzbar sein, des Zeugnisses wegen, das sie geben wird.«
Er stand auf, zog geräuschlos die Rouleaux in die Höhe und öffnete die Fenster. Weder die frische Luft noch das Licht weckten den Kranken auf.
Vimpany sah nach seiner Uhr.
»Es ist Zeit, dass er die Medizin nimmt,« sagte er; »wecken Sie ihn auf, während ich sie zubereite.«
»Wollen Sie ihn nicht lieber ausschlafen lassen?« fragte Lord Harry, wieder bleich werdend.
»Wecken Sie ihn nur auf, schütteln Sie ihn tüchtig an der Schulter. Tun Sie, was ich Ihnen sage,« entgegnete der Doktor grob. »Er wird schon wieder einschlafen. Eine von den feineren Eigenschaften meiner Medizin ist, dass sie den Kranken Schlaf verschafft; es ist eine höchst beruhigende Medizin. Sie verursacht Schlaf, tiefen Schlaf. Wecken Sie ihn also nur auf.«
Er trat an den Wandschrank, in welchem die Arzneiflaschen aufbewahrt waren. Lord Harry machte mit einiger Mühe den Kranken munter, der sich schwer und matt erhob und fragte, warum man ihn störe.
»Es ist Zeit zum Einnehmen, lieber Freund,« sagte der Doktor. »Sie sollen dann nicht weiter gestört werden, das verspreche ich Ihnen.«
Die geöffnete Tür des Wandschrankes verhinderte die Lauscherin, zu sehen, was der Doktor tat. Aber er brauchte diesmal mehr Zeit zum Füllen des Glases als gewöhnlich. Lord Harry schien das zu bemerken, denn er verließ den Dänen und schaute dem Doktor über die Schulter.
»Was machen Sie?« fragte er in flüsterndem Ton.
»Sie tun besser, nicht zu fragen, Mylord,« antwortete der Doktor. »Was verstehen Sie denn von den Geheimnissen der Arzneikunde!«
»Warum soll ich nicht fragen?«
Vimpany drehte sich um und lehnte die Tür des Wandschrankes an. In seiner Hand hielt er ein bis zum Rande gefülltes Glas.
»Wenn Sie das Glas genau betrachten,« sagte er, »dann werden Sie verstehen, warum.«
Lord Harry warf einen prüfenden Blick auf das Glas und seinen Inhalt. Dann taumelte er zurück, fiel in einen Stuhl und sagte nichts mehr.
»Nun, mein lieber Freund,« sagte der Doktor, »trinken Sie, und es wird Ihnen besser werden, immer besser, immer besser. So, das war brav.« Er sah ihn sonderbar an. »Nun, wie schmeckt die Medizin heute?«
Oxbye schüttelte seinen Kopf wie ein Mann, der etwas Widerliches genossen hat.
»Das schmeckt mir ganz und gar nicht,« sagte er. »Das schmeckt nicht wie die andere Medizin, die ich bisher genommen habe.«
»Natürlich nicht,« entgegnete der Doktor, »denn ich habe sie anders zubereitet; ich habe sie stärker gemacht.«
Der Däne schüttelte wieder seinen Kopf.
»Sie verursacht mir Schmerz in der Kehle,« sagte er, »sie sticht, sie brennt.«
»Geduld, nur Geduld! Es wird sofort vorübergehen, und Sie werden sich dann wieder niederlegen und leicht einschlafen.«
Oxbye sank auf das Sofa zurück; seine Augen schlossen sich. Dann öffnete er sie wieder und sah sich in sonderbarer Weise um wie ein Mann, der eine neue Erfahrung gemacht hat. Dann schüttelte er seinen Kopf, schloss seine Augen wieder und öffnete sie nicht mehr. Er war eingeschlafen.
Der Doktor stand ihm zu Häupten und beobachtete ihn genau. Lord Harry saß in seinem Stuhl; er neigte sich nach vorn und beobachtete auch den Kranken; aber sein Gesicht war schrecklich bleich, und seine Hände zitterten.
Als sie den Schlafenden so anstarrten, fiel sein Kopf ein wenig zur Seite; sein Gesicht wurde dadurch dem Zimmer mehr zugekehrt. Dann trat etwas Sonderbares, etwas Erschreckendes ein. Sein Mund begann sich langsam zu öffnen.
»Hat er - hat er - hat er eine Ohnmacht bekommen?« flüsterte Lord Harry.
»Nein, er ist eingeschlafen. Haben Sie noch niemals einen Menschen mit weitgeöffnetem Mund schlafen sehen?«
Dann waren sie einen Augenblick still. Der Doktor unterbrach zuerst das Schweigen.
»Wir haben heute morgen ausgezeichnetes Licht,« sagte er ruhig. »Ich will einmal den Versuch mit einer Photographie machen. Halt, lassen Sie mich ihm zuerst noch das Tuch so umbinden, dass der Mund geschlossen ist; so - so.«
Der Kranke wurde durch diese Hantierung nicht im mindesten gestört, obgleich der Doktor durchaus nicht zart zu Werke ging. Ein gesunder Schläfer wäre gewiss davon aufgewacht.
»Nun wollen wir einmal sehen, ob er aussieht wie ein nach dem Tode Photographierter.«
Vimpany ging in das nächste Zimmer und kehrte mit dem photographischen Apparat zurück. In wenigen Minuten hatte er ein Bild aufgenommen und hielt das Negativ gegen seinen Ärmel, um es sichtbar zu machen.
»Wir wollen abwarten, wie es aussieht,« sagte er, »wenn es kopiert ist. Vorerst glaube ich kaum, dass es gut genug sein wird, um als ein Bild von Ihnen gelten zu können, das an die Versicherungsgesellschaft geschickt werden muss. Niemand, der Sie kennt, würde, fürchte ich, dies für ein nach dem Tode aufgenommenes Bild Lord Harrys halten. Nun, wir wollen sehen; vielleicht sind wir morgen in der Lage, eine bessere Photographie zu bekommen - nicht wahr?«
Lord Harry folgte seinen Bewegungen und beobachtete ihn genau, sagte aber nichts. Sein Gesicht blieb bleich, und seine Finger zitterten immer noch. Es konnte jetzt weder an Vimpanys verbrecherischer Absicht noch an dem Verbrechen selbst länger gezweifelt werden. Er wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu sprechen.
Da tönte der Schall der Haustürglocke. Lord Harry fuhr mit einem Schreckensrufe von seinem Stuhl auf.
»Das ist die Pflegerin,« sagte der Doktor ruhig, »die neue Pflegerin, die Fremde.«
Er löste das Tuch, mit dem er Oxbyes Kinnlade hinaufgebunden, sah sich im Zimmer um, als ob er sich überzeugen wollte, ob alles an seiner richtigen Stelle stehe, und ging dann hinaus, um die Frau hereinzulassen.
Lord Harry sprang auf und fuhr mit der Hand über das Gesicht des Kranken.
»Ist es möglich?« flüsterte er. »Kann der Mann vergiftet sein? Ist er schon tot - schon, und vor meinen Augen umgebracht?«
Er legte seine Finger auf den Puls des Kranken, aber der Klang der Schritte und der Stimme des Doktors schreckten ihn zurück. Vimpany trat mit der neuen Pflegerin in das Zimmer. Sie war eine ältliche, bescheiden aussehende Frau. Lord Harry blieb an der Seite des Sofas stehen in der Hoffnung, der Däne würde wieder aufwachen.
»So,« sagte Vimpany freundlich, »hier ist Ihr Patient, Pflegerin; er ist jetzt eingeschlafen. Lassen Sie ihn nur ruhig ausschlafen, er hat seine Medizin schon genommen und wird für eine Zeit lang nichts weiter bedürfen. Wenn Sie etwas wünschen, so lassen Sie es mich wissen; wir werden in dem nächsten Zimmer sein oder im Garten, irgendwo in der Nähe des Hauses. Kommen Sie, lieber Freund!«
Er zog Lord Harry sanft bei dem Arm weg, und beide verließen das Zimmer.
Fanny Mere begann hinter dem Vorhang darüber nachzusinnen, wie sie wohl ungesehen entkommen könnte.
Die Pflegerin, allein gelassen, sah sich jetzt ihren Patienten an, welcher mit dem Gesicht ihr zugekehrt lag; seine Augen waren geschlossen, und sein Mund stand weit offen. »Ein sonderbarer Schlaf,« murmelte sie; »aber der Doktor muss es, wie ich denke, ja wissen; er soll ausschlafen!«
»In der Tat ein sonderbarer Schlaf!« dachte die Lauscherin. Sie fühlte sich in diesem Momente versucht, hervorzutreten und zu bekennen, was sie gesehen hatte; aber der Gedanke an Lord Harrys Mittäterschaft hielt sie zurück. Mit welchem Gesicht konnte sie zu ihrer Herrin zurückkehren und ihr sagen, dass sie es in der Hand habe, ihren Gatten des Mordes zu beschuldigen! Sie entschloss sich daher, zu warten.
Die Wärterin legte ihren Hut und ihren Mantel ab und sah sich im Zimmer um. Sie trat an das Bett und prüfte das Bettzeug und das Kissen, wie es eine gute französische Hausfrau tut. Ob sie wohl den Vorhang zurückschlagen würde? Wenn sie das täte, was sollte dann geschehen? Dann würde es notwendig sein, die neue Pflegerin in das Vertrauen zu ziehen, denn sonst... Fanny dachte das Ende dieses Satzes nicht aus; es hieß: Wenn Vimpany herausbekommen würde, wo sie gewesen war, was sie gesehen und gehört hatte, dann würden statt eines Menschen zwei in einen tiefen Schlummer fallen.
Die Pflegerin ging aber wieder von dem Bett weg und trat, durch die halb geöffnete Tür angezogen, an den Wandschrank. Da standen die Medizinflaschen; sie nahm eine nach der andern heraus und betrachtete sie mit berufsmäßiger Neugierde; sie entkorkte jede und roch daran; dann stellte sie die Flaschen wieder an ihren früheren Platz zurück. Darauf ging sie an die offen stehende Glastür und trat hinaus auf die in den Garten führende Steintreppe. Sie sah sich rings um und atmete mit vollen Zügen die weiche, von dem Duft der zahlreichen Blumen erfüllte Luft ein. Nach einer Weile kehrte sie in das Zimmer zurück, und es hatte den Anschein, als ob sie noch einmal das Bett untersuchen wollte. Sie wurde indes durch ein kleines Bücherbrett davon abgelenkt und begann ein Buch nach dem andern herunterzunehmen und durchzublättern wie eine halbgebildete Person, in der Hoffnung, etwas recht Unterhaltendes zu finden.
Und sie fand auch ein Buch mit Bildern. Sie setzte sich in den Armstuhl nieder neben dem Sofa und sah sich langsam ein Blatt nach dem andern an. Wie lange sollte das dauern?
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Die Pflegerin legte das Buch gähnend weg, lehnte sich in den Sessel zurück, gähnte noch einmal, faltete die Hände und schloss die Augen. Sie stand im Begriff, einzuschlafen. Wenn sie nur wirklich auch einschlafen wollte, damit das Mädchen hinter dem Vorhang ungesehen entschlüpfen könnte!
Aber zuweilen wird der Schlaf, gerade wenn man am meisten dazu geneigt ist, durch ein Ungefähr verscheucht. In diesem Fall geschah es dadurch, dass sich die Pflegerin, bevor sie einschlief, daran erinnerte, dass sie einen kranken Mann zu pflegen hatte. Sie richtete sich daher noch einmal auf, ehe sie sich ganz der süßen Ruhe hingab, und sah den Schlafenden genau an.
Wie von einer plötzlichen Eingebung geleitet, sprang sie auf und beugte sich über den Mann. »Atmet er noch?« fragte sie. Sie beugte sich tiefer. »Schlägt sein Puls noch?«
Sie ergriff sein Handgelenk.
»Doktor,« schrie sie laut auf und rannte in den Garten, »Doktor, kommen Sie, kommen Sie schnell, er ist tot!«
Fanny Mere trat rasch aus ihrem Versteck hervor und eilte durch die an der Rückseite des Hauses gelegene Tür, durch den Garten und auf die Straße hinaus.
Sie war entkommen, sie hatte das Verbrechen begehen sehen. Jetzt wusste sie endlich, was man beabsichtigt hatte, und warum sie fortgeschickt worden war. Nur den Zweck des Verbrechens konnte sie nicht erraten.
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