Gesetz und Frau



Siebentes Kapitel.

Ariel.

Ich verbrachte eine schlaflose Nacht.

Die mir zugefügte Beleidigung war schon demüthigend genug für mich, aber die damit verbundenen Folgen konnten noch verderblicher werden. In der Verbindung mit Mr. Dexter hatte ich die Verwirklichung meines Lebensplanes gesucht; nun erhob sich ein unübersteigliches Hinderniß zwischen mir und ihm. Obgleich durchaus nicht prüde schreckte ich doch vor dem Gedanken zurück, wiederum einem Manne zu nahen, der mich so gröblich beleidigt.

Ich stand spät auf und mühte mich vergebens ab, an Mr. Playmore zu schreiben.

Gegen Mittag, in Benjamin’s Abwesenheit, kündigte mir die Haushälterin einen neuen seltsamen Besuch an.

»Diesmal ist es eine Frau oder etwas Aenliches,« sagte sie in vertraulichem Tone. »Ein großes, starkes, blödsinnig aussehendes Geschöpf mit einem Männerhut und einem Stock in der Hand. Sie sagt, sie hätte einen Brief für Sie, den sie nur persönlich übergeben dürfte.«

Indem ich das Original dieses Bildes sofort erkannte setzte ich die Haushalterin höchlichst in Erstaunen, als ich ihr den Befehl gab, das Wesen sofort eintreten zu lassen.

Ariel erschien, schweigsam wie immer, aber ich bemerkte eine Veränderung die mich in Erstaunen setzte. Ihre blödsinnigen Augen waren roth und mit Blut unterlaufen, als wenn sie viele Thränen vergossen.

»Ich höre, daß Sie mir etwas bringen,« sagte ich. »Wollen Sie Sich nicht setzen?«

Ohne zu antworten und ohne einen Stuhl zu nehmen, händigte mir Ariel den Brief ein. Ich erkannte Mr. Dexters Handschrift und las Folgendes:

»Versuchen Sie, mit einem Elenden Mit-
»leid zu haben, der den Wahnsinn eines
»Augenblicks bitter bereut Wurm Sie mich
»sehen könnten, würden Sie selber sagen,
»daß meine Strafe hart genug. Ich be-
»schwöre Sie, verlassen Sie mich nicht!
»Ich war außer mir, als ich das Gefühl
»nicht mehr zu bemeistern wußte, das Sie
»in mir erweckt. Ich werde es Sie nie
»wieder blicken lassen; es soll als Geheimniß
»nur mir zu Grabe gehen. Wenn Sie Sich
»jemals wieder herablassen sollten mich zu
»sehen, lassen Sie es in Gegenwart einer
»dritten Person geschehen, die Sie beschützen
»kann. Ich muß mich dem unterziehen, denn ich
»habe es nicht anders verdient Ich will ge-
»duldig warten, bis Ihr Unwille gegen mich
»sich wieder beruhigt hat. Sagen Sie zu Ariel:
»ich vergebe ihm, und er soll mich einst auch
»wiedersehen!« Wenn Sie Ariel ohne Ant-
»wort lassen, schicken Sie mich direct in’s
»Irrenhaus.

Miserrimus Dexter.«

Ich blickte Ariel an.

Sie stand mit gesenkten Augen vor mir und hielt mir ihren Stock hin.

»Nehmen Sie den Stock,« sagte sie.

»Was soll ich damit?« entgegnete ich.

»Sie sind böse auf meinen Herrn. Lassen Sie es mich entgelten. Schlagen Sie mich. Mein Rücken ist breit. Schlagen Sie mich, aber seien Sie ihm nicht mehr böse.«

Damit zwang sie mir den Stock in die Hand und drehte mir den Rücken zu. Mir traten Thränen in die Augen. Ich versuchte vergebens, sie zu beruhigen. Sie bat mich fortwährend, sie zu schlagen und ihrem Herrn nicht mehr böse zu sein.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte ich.

Sie versuchte, sich deutlicher zu machen, fand aber keine Worte. Endlich nahm sie ihre Zuflucht zu Gesten, wie sie ein Wilder vielleicht zur Schau getragen hätte. Sie kroch an den Kamin und starrte mit entsetztem Blick ins Feuer. Dann drückte sie beide Hände vor ihre Stirn und bewegte sich hin und her.

»So sitzt er und weint um Sie den ganzen Tag- die ganze Nacht!« sprach sie dazu mit ihrer rauhen unheimlichen Stimme. Mir fiel unwillkürlich jener Brief ein, den der Arzt über Dexters Gesundheit geschrieben und welcher augenblicklichen Wahnsinn verkündigte wenn seine Erregtheit den Culminationspunkt erreichen sollte.

»Stehen Sie aus« sagte ich. »Ich vergebe Ihrem Herrn.«

Sie wandte sich um, und wie ein Hund auf Händen und Knieen vor mir auf der Erde, blickte sie mich mit fast rührender Dankbarkeit an.

»Sagen Sie es ebenso, wie es im Briefe steht,« flehte sie.

Ich suchte die Stelle in dem Briefe und wiederholte nun wörtlich: »Ich vergebe ihm und er soll mich einst auch wiedersehen.«

Mit einem Satz sprang sie vom Boden empor.

»So war es richtig!« rief sie.

»So will ich es meinem Herrn wiedersagen.«

Ich bot ihr zu essen und zu trinken an, aber es war, als wenn ich zu einem der Stühle gesprochen hätte. Sie nahm ihren Stock vom Boden auf und ließ einen wilden Frendenschrei ertönen.

»Nun hat sie es richtig gesagt!« rief sie mit ihrer heiseren Stimme. »Das wird meines armen Herrn Kopf kühlen! Hurrah!«

Dann stürzte sie wie ein wildes, aus dem Käfig gelassenes Thier hinaus.

Als ich wieder allein war, dachte ich über eine Frage nach, die schon klügere Köpfe beschäftigt hatte, als der meine es war. Konnte ein Mann, welcher so hoffnungslos elend war, Jemand eine so rührende Ergebenheit einflößen, wie Dexter sie diesem Wesen eingehaucht, welches ihn am vergangenen Abend so liebevoll auf seinen Armen fortgetragen? Wer kann das entscheiden? Der größte Schurke auf Erden findet immer noch einen Freund — in einem Weibe — oder in einem Hunde.

Ich setzte mich wieder an das Pult und machte einen erneuerten Versuch, an Mr. Playmore zu schreiben. Indem ich mir alle Einzelheiten meiner Begegnung mit Miserrimus Dexter zurückrief, weilte mein Gedächtnis mit besonderem Interesse auf dem seltsamen Gefühlsausdruck, welchen das Geständniß seiner Liebe zu der verstorbenen Mrs. Macallan zur Folge hatte. Die entsetzliche Scene im Krankenzimmer wollte nicht aus meiner Erinnerung weichen, namentlich da ich in jüngster Zeit das Sterbezimmer selbst in Augenschein genommen. Ich kannte die ganze Lokalität, als wenn ich sie selber bewohnt.

Als mein Träumen bei dem Corridor weilte, hielt ich plötzlich inne, und meine Gedanken schlugen eine andere Richtung ein.

«Welche neue Ideen-Verbindung als die mit der Person Dexters konnte ich beim Anblick des Corridors bekommen? War etwas, das ich bei meiner Anwesenheit in Gleninch gesehen? Nein. War es etwas, das ich gelesen? Ich nahm den gedruckten Prozeß wieder zur Hand. Ich schlug die Zeugen-Aussage der Wärterin auf und kam bei Durchlesung derselben zu folgenden Zeilen:

»Vor Schlafengehen ging ich die Treppe
»hinunter, um die Ueberreste der verstor-
»benen Lady für den Sarg vorzubereiten.
»Das Zimmer, in welchem sie lag, war
»verschlossen; ebenso waren es die Thüren
»welche nach Mrs. Macallans Zimmer und
»die, welche nach dem Corridor führen.
»Die Schlüssel waren von Mr. Gale fort-
»genommen worden Zwei Diener standen
»vor dem Schlafzimmer, um Wache zu
»halten, sie sollten Morgens 4 Uhr abge-
»löst werden, das war Alles, was sie mir
»zu sagen hatten.«

Dergestalt war meine verlorene Ideenverbindung mit dem Corridor. Dieses Umstandes hatte ich mich erinnern sollen, als Dexter mir von seinem Besuche bei der Leiche erzählte. Wie war er in das Schlafzimmer gekommen, obgleich die Thüren zu demselben verschlossen waren und die Schlüssel in Mr. Gales Tasche steckten? Nur von einer der verschlossenen Thüren hatte Mr. Gale nicht den Schlüssel, und dies war die Verbindungsthür zwischen der Bibliothek und dein Schlafgemach. Von dieser Thür fehlte der Schlüssel. War er gestohlen worden? Und war Dexter der Dieb? Er konnte auch an den Dienern vorüber gegangen sein, im Fall sie eingeschlafen waren. Aber auf welchem anderen Wege konnte er in das Schlafgemach gelangen, als durch die verschlossene Thür zur Bibliothek. Er mußte also den Schlüssel gehabt haben. Und er mußte ihn schon Wochen vor Mrs. Macallans Tode in Verborgenheit gehalten haben. Als am 7. des Monats die Wärterin zum ersten Mal nach Gleninch kam, hatte sie, ebenfalls den Schlüssel bereits vermißt, wie sie später in ihrer Zeugenaussage darthat.

Zu welchem Schluß führten diese Betrachtungen und Entdeckungen? Sollte Miserrimus Dexter in einem Augenblick nicht zu beherrschender Aufregung mir den Schlüssel des Geheimnisses in die Hand gegeben haben, welcher auf diese Weise identisch wurde mit dem fehlenden Schlüssel der Verbindungsthür? Ich kehrte zum dritten Mal an mein Pult zurück. Der Einzige, welcher vielleicht eine Antwort auf diese Frage finden konnte, war Mr. Playmore. Ich schrieb ihm einen ausführlichen Bericht über alles Geschehene, ich bat ihn um Verzeihung wegen der undankbaren Aufnahme seines mir so gütig ertheilten Rathes und gab ihm das heilige Versprechen, nichts zu unternehmen, ohne vorher seine Ansicht gehört zu haben.

Da es ein schöner Tag war, und ich mich nach frischer Luft sehnte, beschloß ich, den Brief selbst ans die Post zu tragen.

Als ich zu der Villa zurückkehrte, theilte die Haushälterin mir mit, daß meine Schwiegermutter gekommen sei und mich erwarte.


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