Die Blinde



Viertes Kapitel - Schluß von Lucilla’s Tagebuch.

4. September (Fortsetzung). — Sobald wir im Wohnzimmer waren, setzte mich Grosse auf einen am Fenster stehenden Stuhl. Er beugte sich über mich hin und betrachtete meine Augen in der Nähe, trat dann etwas zurück und sah mich aus einiger Entfernung an, zog darauf seine Vergrößerungslinse aus der Tasche und betrachtete meine Augen lange durch dieselbe, fühlte mir dann den Puls und ließ mein Handgelenk mit einer unwilligen Geberde wieder los, stellte sich endlich an’s Fenster und blickte in finsterem Schweigen hinaus, ohne von irgend Jemand im Zimmer die mindeste Notiz zu nehmen.

Meine Tante war die erste, die es wagte, das unheimliche Schweigen zu brechen. »Herr Grosse« sagte sie im scharfen Ton, »haben Sie mir heute nichts von Ihrer Patientin zu sagen? Finden Sie Lucilla —«

Plötzlich wandte er sich um und unterbrach meine Tante ohne alle Umstände, indem er vor sich hin brummte: »Ich finde, daß sie Rückschritte gemacht hat, Rückschritte, Rilckschritte«, und bei jedem Worte erhob er die Stimme mehr und mehr. »Als ich sie hierher schickte, habe ich zu Ihnen gesagt, halten Sie sie in Einer gleichmäßig behaglichen Stimmung«, das haben Sie nicht gethan. Ihr steckt etwas im Kopf, was sie ganz aus dem Häuschen gebracht hat. Was ist das? Wer ist das?«

Er ließ seine zornigen Blicke rück- und vorwärts zwischen Oscar und meiner Tante hin- und herschweifen,« wandte sich dann zu mir, legte seine schweren Hände auf meine Schultern, sah mit einem komischen Ausdruck ergrimmten Mitleids aufs mich herab und sagte: »Mein armes Kind ist melancholisch, mein armes Kind ist krankt Wo ist unsere liebe gute Pratolungo? Was haben Sie von ihr gesagt, als ich zuletzt sah? Sie sagten mir, sie sei fortgereist, um ihren Papa zu besuchen. Schicken Sie ihr ein Teilegsrum und sagen Sie ihr, ich brauche meine Pratolungo hier.«

Bei der wiederholten Nennung von Mad. Pratolungo’s Namen erhob sich meine Tante in ihrer ganzen Majestät.

»Habe ich Ihre Aeußerung dahin zu verstehen, Herr Grosse«, fragte die alte Dame, »daß Sie mit Ihrer auffallenden Art, sich auszudrücken, einen Tadel über mein Benehmen gegen meine Nichte aussprechen wollen?«

»Was Sie zu verstehen haben, Madame, ist, daß Ihr Fräulein Nichte in dieser schönen Seeluft vor Aufregung sich verzehrt. Ich habe sie hierhergeschickt, damit sie sich ein rosiges Gesicht und festes Fleisch anschaffen solle. Und wie finde ich sie? Sie hat sich nichts von alledem angeschafft. Ihr Gesicht ist blaß und ihr Fleisch ist weich. Das kann bei dieser schönen Luft aber nur einen Grund haben. Sie verzehrt sich vor Aufregung, ich weiß nicht über was. Glauben Sie aber, das dieses Sich verzehren gut für ihre Augen ist? Zum Teufel, es ist das Allerschlimmste, was ihren Augen begegnen kann. Wenn Sie es nicht besser machen können, so bringen Sie sie lieber wieder fort. Sie verschwenden nur Ihr Geld hier.«

Jetzt wandte sich meine Tante an mich in ihrer vornehmsten Weise.

»Du wirft begreifen, Lucilla, daß ich unmöglich von einer solchen Sprache eine andere Notiz nehmen kann, als indem ich das Zimmer verlasse. Wenn Du Herrn Grosse zur Besinnung bringen kannst, theile ihm mit, daß ich bereit bin, seine Erklärungen und Entschuldigungen schriftlich entgegen zu nehmen.«

Bei diesen mit der schärfsten Betonung ausgesprochenen stolzen Worten richtete sich meine Tante wo möglich noch höher auf und rauschte dann majästätisch zum Zimmer hinaus.

Grosse nahm von dem beleidigten Stolz meiner Tante keine Notiz, er steckte nur seine Hände in die Taschen und blickte wieder zum Fenster hinaus. Sobald meine Tante zum Zimmer hinausgegangen war, verließ Oscar die Ecke, in die er sich, als wir das Zimmer betraten, nicht eben mit besonders guter Grazie gesetzt hatte.

»Bin ich hier nöthig? fragte er.

Grosse war im Begriff, die Frage noch unliebenswürdiger zu beantworten als sie gestellt war, als ich ihn durch einen Blick zurück hielt. »Ich muß Sie sprechen«, flüsterte ich ihm in’s Ohr. Er winkte mir zu, wandte sich dann rasch nach Oscar um und fragte ihn:

»Wohnen Sie hier im Hause?

»Ich wohne im Hotel drüben an der Ecke.«

»Gehen Sie nach Ihrem Hotel und erwarten Sie mich dort.«

Zu meiner großen Ueberraschung ließ Oscar sich dieses peremtorische Geheiß ruhig gefallen. Er verabschiedete sich schweigend von mir und verließ das Zimmer. Grosse rückte einen Stuhl nahe an den meinigen heran und setzte sich in zutraulich väterlicher Weise zu mir.

»Nun, mein liebes Kind, erzählen Sie mir einmal, worüber haben Sie sich abgehärmt, seit ich zuletzt hier war. Seien Sie, bitte, ganz offen gegen Papa Grosse. Kommen Sie, fangen Sie an, fangen Sie an!

Ich glaube, er hatte seine schlechte Laune an meiner Tante und Oscar ausgelassen. Er sagte jene Worte in einem mehr als freundlichen in einem fast zärtlichen Ton. Seine wildblickenden Augen schienen hinter ihren Brillengläsern einen sanften Ausdruck anzunehmen. Er ergriff meine Hand und streichelte sie, um mich zu ermuthigen.

Manches, was in diesem Tagebuche steht, konnte ich ihm natürlich nicht anvertrauen. Mit diesen nothwendigen Ausnahmen und ohne auf die peinliche Angelegenheit meines veränderten Verhältnisses zu Madame Pratolungo näher einzugehen, bekannte ich ihm ganz offen, wie traurig ich meine Empfindungen Oscar gegenüber verändert finde und wie viel weniger glücklich ich mich in Folge dessen mit ihm fühle. »Ich bin nicht krank, wie sie glauben«, erklärte ich ihm. »Ich bin nur unzufrieden mir mir selbst und ein wenig kleinmüthig, wenn ich an die Zukunft denke.« Nachdem ich mich so offen gegen ihn ausgesprochen hatte, hielt ich den Augenblick für gekommen, die Frage zu stellen, die ich an ihn zu richten beschlossen hatte, sobald ich ihn wiedersehen würde.

»Die Wiederherstellung meiner Sehkraft«, sagte ich, »hat ein neues Wesen aus mir gemacht. Habe ich denn nun aber durch den Gewinn des Gesichtssinn den Gefühlssinn, den ich während meiner Blindheit hatte, ganz verloren? Ich möchte wissen, ob ich diesen Sinn wieder erlangen werde, wenn ich mich erst an die Neuheit meiner Lage gewöhnt haben werde. Ich möchte wissen, ob ich mich jemals wieder Oscar’s Gesellschaft erfreuen werde, wie ich mich ihrer in früheren Tagen zu erfreuen pflegte, bevor Sie mich geheilt hatten, in jenen glücklichen Tagen, Papa Grosse, wo ich ein Gegenstand des Mitleids war, und wo alle Leute mich das »arme Fräulein Finch« nannten?«

Ich hatte noch mehr zu sagen, aber bei diesen Worten that mir Grosse, sicher unabsichtlich, plötzlich Einhalt. Zu meinem größten Erstaunen ließ er meine Hand los und wandte sich plötzlich ab, wie wenn es ihm peinlich wäre, daß ich ihn ansähe. Er ließ seinen schweren Kopf auf die Brust sinken, erhob seine großen behaarten Hände, schüttelte sie traurig und ließ sie auf seine Knie fallen. Dieses sonderbare Benehmen und das noch sonderbarere Schweigen, von welchem dasselbe begleitet war, machten mich so unbehaglich, daß ich in ihn drang, sich zu erklären.

»Was haben Sie?« fragte ich. »Warum antworten Sie mir nicht?«

Er raffte sich plötzlich auf und schlang seinen Arm so sanft um mich, wie man es bei einem zu andern Zeiten so rauhen Mann kaum hätte möglich halten sollen.

»Es ist nichts, mein liebes Kind sagte er, »ich bin nur ein wenig verstimmt. In Eurem englischen Klima bekommen auch Fremde bisweilen Euren englischen Spleen und an diesem Spleen leide ich jetzt, ich will ihn mir aber vergehen lassen und dann munter und vergnügt wieder zu Ihnen zurückkommen.«

Nach dieser sonderbaren Erklärung stand er auf und versuchte es, mir eine Art von Antwort, eine sehr sonderbare Antwort auf meine Frage zu geben: »Was das Andere betrifft, jawohl Sie haben den Nagel aus den Kopf getroffen. Es ists wie Sie sagen, Ihr Gesichtssinn, der an die Stelle Ihres Gefühlssinns getreten ist. Wenn sich Ihr Gesichts- und Gefühlssinn erst an einander gewöhnt haben werden, so wird Ihr Gesichtssinn seinen Platz behaupten und Ihr Gefühlssinn wird wieder seinen früheren Platz einnehmen; der eine wird dem anderen das Gleichgewicht halten, Sie werden wieder fühlen, wie Sie es früher es gethan haben und Sie werden sehen, wie Sie es früher nicht gethan haben, beides zu gleicher Zeit und beides in schönerem Einklang als früher. Da haben Sie meine Ansicht. Jetzt lassen Sie mich mir meinen Spleen vergheen. Ich schwöre Ihnen, als ein anderer Mensch wiederzukommen, bis dahin leben Sie wohl, mein liebes Kind.«

Nachdem er das Alles in leidenschaftlicher Hast herausgepoltert hatte, wie wenn er so rasch wie möglich fort wolle, küßte er mich auf die Stirn, griff nach seinem schäbigen Hut und eilte zum Zimmer hinaus

Was hatte das zu bedeuten?

Hält er mich noch immer für ernsthaft krank? Ich bin zu angegriffen, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was mein lieber alter Doktor gemeint hat. Es ist ein Uhr Morgens und ich habe noch Alles das niedergeschrieben, was sich im Laufe des Tages zutrug. Meine Augen fangen an, mir weh zu thun und, sonderbar genug, ich habe die letzten zwei oder drei Zeilen, die ich geschrieben habe, kaum sehen können. Sie sehen aus, als wenn die Tinte ganz blaß geworden wäre. Wenn Grosse wüßte, was ich jetzt thue! Die letzten Worte, die er zu mir sagte, bevor er wieder zu seinen Patienten nach London abreiste, waren:

»Sie dürfen nicht mehr lesen und nicht mehr schreiben, bevor ich wiederkomme.«

Das ist leicht gesagt. Ich habe mich so an mein Tagebuch gewöhnt, daß ich gar nicht mehr ohne dasselbe fertig werden kann. Aber doch muß ich jetzt aufhören und zwar aus dem allertriftigsten Grunde. Obgleich ich drei brennende Kerzen vor mir auf dem Tisch habe, kann ich doch nicht mehr genug sehen, um zu schreiben. Zu Bett! zu Bett!«

(Anmerk: Ich habe mich absichtlich jeder Unterbrechung von Lucilla’s Bericht bis zu dieser Stelle enthalten. Hier, wo die Schreiberin inne hält, muß ich gewisser Dinge Erwähnung thun, von welchen sie selbst zur Zeit nichts wußte.

Der Leser hat gesehen, wie ihr treuer Instinkt, daran arbeitete, dem geliebten Kinde den grausamen Betrug zu enthüllen, der an ihr verübt wird und wie er vergebens arbeitet. Ein Gefühl, das sie nicht niederzukämpfen vermag, läßt, sie vor dem Manne zurückscheuen, der sie verleiten möchte, mit ihr fortzugehen, obgleich er ihr als ihr vermeintlicher Verlobter entgegentritt. Eine innere Stimme zeigte ihr die schwachen Stellen an den von Nugent gegen mich erhabenen Anklagen den Mangel genügender Motive für das Benehmen, dessen er mich beschuldigt und die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit meines Complottirens und Intriguirens ohne jeden Vortheil für mich, nur zu dem Zwecke, sie dahin zu bringen, den Mann zu heirathen, den sie nicht liebte. Sie fühlt diese Schwankungen und Schwierigkeiten, was denselben aber wirklich zu Grunde liegt, das zu errathen ist ihr unmöglich.

Unzweifelhaft hat der Leser bisher eine klare Vorstellung von ihrer sonderbaren und rührenden Lage erhalten. Kann ich aber sicher darauf rechnen, daß der Leser ganz begreift, wie sehr sie von der Angst der Enttäuschung und der Ungewißheit leidet, welche sich vereinigt haben, sie in dieser kritischen Periode ihres Lebens zu peinigen?

Ich bezweifle es und zwar aus dem triftigen Grunde, daß der Leser sich nur aus ihrem Tagebuche hat unterrichten können, aus welchem deutlich hervorgeht, daß sie selbst es nicht ganz begreift. Wie die Dinge stehen, scheint mir der Augenblick gekommen, selbst die Bühne wieder zu betreten, dem Leser klar zu machen, was ihr Arzt wirklich von ihrem Zustande dachte, indem ich erzähle, was zwischen Grosse und Nugent vorging, als der Erstere im Hotel erschien.

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich jetzt, wo ich dieses schreibe, im Besitz von Mittheilungen bin, welche mir die betreffenden Personen selbst später gemacht haben. In Einzelheiten weichen die Berichte wohl von einander ab. Die Resultate stimmen aber völlig mit einander überein.

Nugent’s Anwesenheit in Ramsgate war für Grosse natürlich eine Ueberraschung.

Bei seiner Kenntniß von dem früheren Zustande der Dinge in Dimchurch konnte er jedoch nicht einen Augenblick zweifelhaft darüber sein, in welcher Eigenschaft Nugent sich Lucilla präsentirt habe und es konnte ihm, nach dem, was er gesehen und was sie selbst ihm mitgetheilt hatte, nicht einen Augenblick entgehen, daß der Betrug unter den obwaltenden Umständen den denkbar schlechtesten Einfluß auf ihren Gemüthszustand übe. Er war nicht der Mann, einer solchen Erkenntniß gegenüber vor der Erfüllung seiner ihm klar vorgezeichneten Pflicht zurückzuschrecken. Als er das Zimmer im Hotel betrat, in welchem Nugent ihn erwartete, gab er den Zweck seines Besuchs ohne weiteres bündig durch die Worte zu erkennen: »Sie müssen auf der Stelle fort von hier.« Nugent bot ihm ganz ruhig einen Stuhl an und fragte ihn, was er damit sagen wolle.

Grosse dankte für den Stuhls erfüllte aber die Bitte um eine Erklärung in Ausdrücken, die von beiden Theilen verschieden berichtet werden. Aus einer Combination beider Angaben ergiebt sich für mich, daß Grosse sich etwa folgendermaßen ausgesprochen haben muß:

»In meiner Eigenschaft als Arzt, Herr Nugent, mische ich mich nie in die häuslichen Angelegenheiten meiner Patienten, die mich nichts angehen. In dem Fall von Fräulein Finch habe ich mit ihren Familienangelegenheiten nichts zu thun. Meines Amtes aber ist es, Alles was in meiner Macht steht für die Wiederherstellung der Sehkraft der jungen Dame zu thun. Wenn ich ihren Zustand gebessert finde, so frage ich nicht weiter wie und warum. Gleichviel was für Täuschungen Sie sich gegen sie erlauben mögen, ich kümmere mich darum nicht, noch mehr, ich mache mir dieselben zu Nutze, so lange dieselben einen wohlthuenden Einfluß auf ihre physische und geistige Verfassung üben. In dem Augenblick aber, wo ich finde, daß Ihr Betrug, Ihr Auftreten als Ihr Bruder, welches früher beruhigend und tröstend auf sie wirkte, aus ihre körperliche Gesundheit und ihren Seelenfrieden einen störenden Einfluß übt, stelle ich mich Ihnen in meiner Eigenschaft als ihr Arzt entgegen und thue Ihnen aus ärztlichen Gründen Einhalt. Sie rufen bei meiner Patientin einen Conflict von Gefühlen hervor, welcher bei ihrem nervösen Temperament nicht ohne schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit andauern kann. Und eine schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit ist gleichbedeutend mit einer schweren Beeinträchtigung ihrer Sehkraft. Das will ich nicht dulden, ich erkläre Ihnen kurz, packen Sie ein und gehen Sie fort, alles Andere geht mich nichts an. Nach dem, was Sie selbst gesehen haben, überlasse ich es Ihnen, ob Sie Fräulein Finch Ihren Bruder wieder zuführen wollen oder nicht. Ich sage nur, gehen Sie! Brauchen Sie irgend einen beliebigen Vorwand, aber gehen Sie, bevor Sie größeres Unheil angerichtet haben. Sie schütteln den Kopf. Heißt das, daß Sie sich weigern? Ich lasse Ihnen einen Tag Bedenkzeit, um sich zu entschließen. Ich habe Patienten in London, zu denen ich zurück muß. Aber übermorgen komme ich wieder her. Wenn ich Sie dann noch hier finde, so werde ich Fräulein Finch sagen, daß Sie so wenig Oscar Dubourg sind, wie ich es bin. In ihrem gegenwärtigen Zustande sehe ich eine geringere Gefahr darin, ihr selbst diese erschütternde Enthüllung zu machen, als sie der langsamen Seelenqual zu überlassen, welche Sie ihr durch Ihre fortgesetzte Anwesenheit bereiten. Das ist mein letztes Wort. In einer Stunde reife ich nach London zurück. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Nugent. Wenn Sie klug sind, so folgen Sie mir an die Eisenbahnstation.«

Von hier an gehen die Berichte aus einander. Nugent behauptet, daß er Grosse bis an das Haus von Fräulein Batchford zurückbegleitet, die Sache unterwegs mit ihm erörtert und ihn erst vor der Hausthüre verlassen habe. Grosse’s Bericht dagegen enthält davon nichts. Indessen kommt auf diese Abweichung hier nichts an. Beide stimmen in Betreff des Resultates ihrer Zusammenkunft überein. Als Grosse mit dem Zug nach London abfuhr, war Nugent nicht auf der Station. Die nächste Aufzeichnung des Tagebuches ergiebt, daß er wenigstens noch diesen ganzen Tag und die folgende Nacht in Ramsgate blieb. Der Leser weiß jetzt aus meinem Bericht über das Verfahren des Arztes, wie ernst er den Fall seiner Patientin ansah und wie gewissenhaft er seine Pflicht als Ehrenmann erfüllte. Nach diesen unerläßlichen Mittheilungen ziehe ich mich wieder zurück und überlasse es Lucilla, den nächsten Ring in der Kette der Ereignisse zu melden. P.)

»Den 5. September. Sechs Uhr Morgens Ich habe nur wenige Stunden eines unruhigen, fortwährend durch schreckliche Träume gestörten Schlafes genossen — unablässig schreckten mich nervöse Zuckungen, die meinen ganzen Körper aufs Tiefste zu erschüttern schienen. Ich kann es nicht länger ertragen. Die Sonne geht auf. Ich bin aufgestanden und hier sitze ich an meinem Schreibtisch und versuche es, den noch unvollständigen Bericht der gestrigen Ereignisse in meinem Tagebuch zu ergänzen.

Ich habe eben zum Fenster hinausgesehen — und da hat mich etwas merkwürdig frappirt. Ich habe hier noch nicht einen so dicken Nebel gesehen wie diesen Morgen. Von der See ist fast nichts zu sehen. Alles ist so trübe und dunkel. Selbst die Gegenstände hier in meinem Zimmer sehe ich nicht entfernt so deutlich wie gewöhnlich. Offenbar dringt der Nebel durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Er drängt sich zwischen mir und mein Papier und zwingt mich, mich dicht über die Blätter hinzubeugen, um zu sehen, was ich schreibe. Wenn die Sonne erst höher am Himmel steht, werden, die Gegenstände schon wieder klarer werden. Inzwischen muß ich es so gut machen wie ich kann.

Grosse kam nach seinem Spaziergang wieder; war aber in seinem Wesen noch ganz ebenso geheimnißvoll wie vorher. Er befahl mir ganz peremtorisch, meine Augen nicht zu sehr anzustrengen, und verbot mir, wie ich bereits erwähnt habe, alles Lesen und Schreiben. Als ich ihn aber nach seinen Gründen fragte, wußte er mir zum ersten Male, seit ich ihn kenne, keine Gründe anzugeben. Ich mache mir deshalb auch kein Gewissen daraus, ihm nicht zu gehorchen. Aber doch macht es mich, offen gestanden, etwas unbehaglich, wenn ich an sein gestriges sonderbares Benehmen denke. Er sah mich mit einem höchst sonderbaren Blick an, wie wenn er etwas in meinem Gesichte finde, was er früher noch nie gesehen habe. Zweimal verabschiedete er sich von mir und zweimal kam er wieder, und schwankte, ob er nicht lieber in Ramsgate bleiben und seine Patienten in London für sich selber sorgen lassen wolle. Seiner merkwürdigen Unentschlossenheit machte schließlich ein von London an ihn abgeschicktes Telegramm ein Ende, vermuthlich die dringende Aufforderung eines seiner Patienten, zurückzukommen. In schlechtester Laune ging er eiligst davon und sagte mir nur noch, daß ich ihn am sechsten dieses Monats wieder erwarten solle.

Als dann später Oscar kam, harrte meiner noch eine Ueberraschung.

Wie Grosse war auch Oscar wie umgewandelt und benahm sich auch ganz sonderbar. Zuerst war er so kalt und schweigsam, daß ich glaubte, er sei beleidigt; dann aber verfiel er plötzlich in das entgegengesetzte Extrem, sprach so viel und so laut und wurde so ausgelassen heiter, daß meine Tante mich leise fragte, ob ich nicht, wie sie, glaube, daß er zu viel getrunken habe. Schließlich sang er zu meiner Begleitung am Clavier und brach dann plötzlich ab. Ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung ging er plötzlich in die andere Ecke des Zimmers. Als ich einige Augenblicke später dahin folgte, sah er mich mit einem Blick an, der mich unbeschreiblich unglücklich machte, einem Blick, wie wenn er geweint hätte. Spät am Abend schlief meine Tante über ihrem Buch ein, so daß wir nun in einem kleinen Nebenzimmer miteinander sprechen konnten. Ich war es, die die Gelegenheit ergriff, nicht er. Er war so unbegreiflich wenig bereit, mit mir in’s Nebenzimmer zu gehen, daß ich etwas sehr unweibliches thun, ich meine, seinen Arm ergreifen, ihn selbst hineinführen und ihn flüsternd bitten mußte, mir zu sagen, was er habe.

»Nichts als mein altes Leiden«, antwortete er.

Ich nöthigte ihn, sich aus ein altmodisches Kanapee, auf welchem gerade zwei Personen Platz hatten, zu mir zu setzen.

»Was verstehst Du unter Deinem alten Leidens? fragte ich.

»O, Du weißt ja!«

»Ich weiß nichts«

»Du würdest es wissen, wenn Du mich wirklich liebtest.«

»Oscar, Du solltest Dich schämen, das zu sagen, Dich schämen, an meiner Liebe zu zweifeln.«

»Wirklich? So lange ich hier bin, zweier ich, ob Du mich liebst. Es fängt nachgerade an, bei mir ein altes Leiden zu werden. Nimm keine Notiz davon, ich leide bisweilen noch ein wenig.«

Er war so grausam und so ungerecht, daß ich aufstand, um fortzugehen, ohne ein Wort weiter zu sagen. Aber ach, er sah so verlassen und so ergeben aus, wie er mit gesenktem Kopf und die Hände nachlässig über die Kniee gekreuzt dasaß, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, hart gegen ihn zu sein. Hatte ich Unrecht? ich weiß es nicht. Ich verstehe mich nicht darauf, Männer zu behandeln, und habe jetzt keine Madame Pratolungo, um mich in dieser Kunst zu unterweisen, Recht oder Unrecht, das Ende war, daß ich mich wieder zu ihm setzte.

»Du müßtest mich um Verzeihung dafür bitten«, sagte ich, »daß Du so von mir denkst und so von mir sprichst, wie Du es thust.«

»Ich bitte Dich um Verzeihung«, antwortete er demüthig. »Es thut mir leid, wenn ich Dich gekränkt habe.«

Wie konnte ich da widerstehen? Ich legte meine Hand aus seine Schulter und versuchte es, ihn zu bewegen, den Kopf zu erheben und mich anzusehen.

»Willst Du in Zukunft immer an mich glauben? Versprich mir das.«

»Ich kann nur versprechen, es zu versuchen, Lucilla; mehr kann ich wie die Dinge jetzt liegen, nicht versprechen.«

»Wie die Dinge jetzt liegen? Du sprichst ja heute Abend in Räthseln; erkläre Dich näher.«

»Ich habe mich schon heute Morgen auf dem Hafendamm erklärt.«

Das war hart, nachdem er mir Bedenkzeit bis zum Ende der Woche gegeben, mir seinen Vorschlag zu überlegen. Ich zog meine Hand von seiner Schulter herab. Er, der so lange ich blind war, nie etwas gethan hatte, was mich unangenehm berühren oder mich betrüben konnte, hatte mich jetzt in wenigen Minuten zum zweiten Mal unangenehm berührt und betrübt.

»Willst Du mich zwingen?« fragte ich, »nachdem Du mir heute Morgen Bedenkzeit gegeben hast?«

Jetzt stand er seinerseits auf, matt und mechanisch, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er thut.

,Dich zwingen?« wiederholte er. »Habe ich das gesagt? Ich weiß selbst nicht, was ich sage und was ich thue. Du hast Recht und ich habe Unrecht. Ich bin ein elender Mensch, Lucilla; ich bin Deiner gänzlich unwürdig. Es wäre besser für Dich, Du sähest mich nie wieder.« Er hielt inne, ergriff meine beiden Hände und sah mich mit einem tieftraurigen Blick an. Dann ließ er plötzlich meine Hände los, sagte: »Gute Nacht, liebes Kind!« und schickte sich an, fortzugehen.

Ich hielt ihn zurück. »Willst Du schon fort?« fragte ich. »Es ist noch nicht spät.«

»Es ist besser für mich, wenn ich gehe.«

»Warum denn das?

»Ich bin in einer trüben Stimmung, es ist besser für mich, wenn ich allein bin.

»Sage das nicht, das klingt wie ein Vorwurf gegen mich.«

»Im Gegentheil; es ist nur meine Schuld. Gute Nacht.«

Ich wollte ihm nicht Gute Nacht sagen; ich wollte ihn nicht fortlassen. Die bloße Thatsache, daß er fortgehen wollte, enthielt einen Vorwurf für mich. Das hatte er noch nie gethan. Ich bat ihn, sich wieder zu setzen.

Er schüttelte den Kopf.

»Bleibe noch zehn Minuten.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Bleibe fünf Minuten.«

Statt mir zu antworten, nahm er sanft eine lange Locke meines Haars in die Hand, die mir auf den Hals herabhing. Ich hatte mir diesen Abend zufällig meiner Tante zu Gefallen von ihrer Kammerjungfer mein Haar altmodisch frisiren lassen.

»Wenn ich noch fünf Minuten länger bleibe«, sagte er, »so muß ich Dich um etwas bitten.«

»Um was denn?«

»Du hast so schönes Haar, Lucilla«

»Du willst doch nicht etwa eine Locke von meinem Haar haben?«

»Warum denn nicht?«

»Ich habe Dir ja schon vor Jahren ein solches Andenken gegeben, hast Du das vergessen?«

(Anmerk. Das Andenken hatte natürlich der wahre Oscar bekommen und befand sich damals wie noch jetzt in seinem Besitz. Man beachte, wie rasch der falsche Oscar, sobald er zur Besinnung kommt, das begreift und wie geschickt er seine Entschuldigung daran gründet. P.)

»Er erröthete tief und senkte die Augen zu Boden. Ich sah deutlich, daß er sich schämte, und mußte schließen, daß er das Andenken wirklich vergessen habe. Eine Locke von seinem Haar befand sich in jenem Augenblick in einem Medaillon, daß ich um den Hals trug. Ich hatte, glaube ich, mehr Grund an ihm zu zweifeln, als er an mir. Ich fühlte mich so gekränkt, daß ich bei Seite trat und für ihn Platz machte, fortzugehen.«

»Du willst fortgehen«, sagte ich, »ich will Dich nicht länger aufhalten.«

Jetzt war die Reihe an ihm, mich zu bitten.

»Und wenn mir nun Dein Andenken geraubt wäre?« sagte er.

»Wie, wenn Jemand, den ich lieber nicht nennen möchte, es mir so genommen hätte?«

Ich verstand ihn auf der Stelle.

Sein unglücklicher Bruder hatte es ihm weggenommen. Mein Arbeitskorb stand dicht neben mir. Ich schnitt mir eine Haarlocke ab und band die beiden Enden derselben mit einem Stückchen blauen Bandes zusammen.

»Wollen wir wieder gute Freunde sein, Oscar?« war Alles, was ich sagte, als ich ihm die Haarlocke in die Hand druckte.

Wie von Wahnsinn ergriffen schlang er seine Arme um mich, drückte mich so heftig an sich, daß er mir wehe that, und küßte mich so leidenschaftlich, daß er mich erschreckte. Noch ehe ich wieder so weit zu Athem gekommen war, um mit ihm reden zu können, hatte er mich losgelassen und war in so jäher Eile davongegangen, daß er im Hinausgehen einen kleinen Tisch, auf welchem Bücher lagen, umstieß und meine Tante aufweckte.

Die alte Dame rief nach mir mit ihrer gewaltigsten Donnerstimme und präsentirte sich mir in der allersauersten Laune. Grosse war nach London abgereist, ohne sich im Mindesten bei ihr zu entschuldigen und Oscar hatte ihren Tisch mit Büchern umgeworfen. Die durch diese beiden groben Insulten erweckte Entrüstung verlangte laut ein Opfer und ersah, da im Augenblick niemand Anderes in der Nähe war, mich zu demselben. Meine Tante fand zum ersten Mal, daß sie zu viel unternommen habe, als sie sich die alleinige Obhut ihrer Nichte in Ramsgate aufgebürdet.

»Ich kann unmöglich die ganze Verantwortlichkeit tragen«, sagte sie, »es ist in meinem Alter zu viel für mich. Ich werde Deinem Vater schreiben, Lucilla. Du weißt, ich habe ihn immer gehaßt und werde ihn immer hassen. Seine politischen und religiösen Ansichten sind bei einem Geistlichen geradezu verabscheuungswürdig. Aber er ist doch einmal Dein Vater und es ist nach dem, was der grobe Deutsche über Deine Gesundheit gesagt hat, meine Pflicht, ihm anzubieten, Dich wieder zu ihm zu bringen oder wenigstens seine ausdrückliche Genehmigung dazu einzuholen, daß Du noch länger unter meiner Obhut hierbleibst. Beides würde mich, wie Du siehst, meiner Verantwortlichkeit entheben. Meiner Stellung vergebe ich dadurch nichts. Meine Stellung ist mir ganz klar. Ich würde die Einladung Deines Vaters zu Deiner Hochzeit in aller Form angenommen haben, wenn die Hochzeit stattgefunden hätte. Daraus ergiebt es sich als selbstverständlich, daß ich Deinem Vater in aller Form berichten kann, wie der ärztliche Ausspruch über Deinen Gesundheitszustand lautet. Wie brutal derselbe auch geäußert worden sein mag, es war doch immer ein ärztlicher Ausspruch, den ich verpflichtet bin, Deinem Vater mitzutheilen.«

Da ich nur zu gut wußte, wie lebhaft mein Vater die Abneigung meiner Tante gegen ihn erwiderte, bot ich Alles auf, den Entschluß meiner Tante zu bekämpfen, ohne die Sache noch schlimmer zu machen, daß ich ihr meine wahren Motive mittheilte. Nicht ohne Schwierigkeit gelang es mir endlich, sie zu bewegen, mit dem beabsichtigten Bericht über mich noch ein paar Tage zu warten und wir schieden von einander, nachdem der Anfall von schlechter Laune bei meiner Tante wie gewöhnlich rasch vorüber gegangen war, wieder als gute Freunde.

Diese kleine Episode in der Geschichte des Abends lenkte meine Gedanken im Augenblick von Oscar’s sonderbarem Benehmen ab. Aber von dem Augenblick an, wo ich hier in meinem Zimmer allein war, habe ich bis jetzt fast unaufhörlich daran denken müssen und davon geträumt, so schreckliche Träume, daß meine Feder sich sträubt, sie niederzuschreiben. Wenn wir uns heute wiedersehen, wie wird er aussehen? was wird er sagen?

Er hatte gestern Recht. Ich bin wirklich kalt gegen ihn; mit meinen Gefühlen für ihn ist eine Veränderung vorgegangen, die ich selbst nicht verstehe. Mein Gewissen klagt mich jetzt, wo ich allein bin, an, und doch ist es, Gott weiß es, nicht meine Schuld. Wie beklage ich Oscar, wie beklage ich mich selbst.

Noch nie, so lange wir hier vereint sind, habe ich mich so nach ihm gesehnt, wie in diesem Augenblick. Er kommt bisweilen zum ersten Frühstück; wird er es heute thun?

O, wie mich meine Augen schmerzen, und wie der Nebel nicht aus dem Zimmer weichen will. Wle wäre es, wenn ich das Fenster schlösse und mich noch eine Weile wieder in’s Bett legte?

Neun Uhr Morgens. Vor einer halben Stunde, kam die Jungfer in’s Zimmer und weckte mich. Sie wollte wie gewöhnlich das Fenster öffnen. Ich hielt sie zurück.

»Ist der Nebel fort?« fragte ich.

Das Mädchen sah mich erstaunt an. »Was für ein Nebel, Fräulein?«

»Haben Sie ihn nicht gesehen?«

»Nein, Fräulein.«

»Wann sind Sie denn aufgestanden?«

»Um sieben Uhr, Fräulein.« .

Um sieben Uhr schrieb ich noch an meinen Tagebuch und der Nebel lag noch auf allen Gegenständen im Zimmer. Personen niedrigen Standes achten meistens merkwürdig wenig auf die sie umgebende Natur. In den Tagen meiner Blindheit konnte ich von Dienstboten und Arbeitern nie eine befriedigende Auskunft über die Aussichten um Dimchurch erhalten. Sie schienen für nichts, was außerhalb ihrer Küche oder ihres sonstigen Arbeitsfeldes lag, ein Auge zu haben. Ich stand auf, führte das Mädchen selbe an’s Fenster und öffnete dasselbe.

»Da sehen Sie«, sagte ich. »Der Nebel ist nicht ganz so dick mehr wie vor einigen Stunden. Aber er liegt doch immer noch deutlich da.«

Das Mädchen blickte ganz erstaunt hin und her zwischen mir und der Aussicht vor uns.

»Nebel?« wiederholte sie. »Bitte um Vergebung, Fräulein, aber so viel ich sehen kann, ist es ein schöner klarer Morgen.

»Klar?« wiederholte ich meinerseits.

»Ja, Fräulein.«

»Wollen Sie damit sagen, die Aussicht auf die See sei klar?«

»Die See ist schön blau, Fräulein und die Aussicht ganz frei; man kann ja die Schiffe sehen.«

»Wo sind Deine Schiffe?

Sie deutete zum Fenster hinaus auf einen bestimmten Fleck.

»Da sind zwei, Fräulein. Ein großes Schiff mit drei Marien und dicht dahinter ein kleines Schiff mit einem Mast.«

Ich sah ihrem Finger nach und strengte meine Augen an. Alles was ich an der von dem Mädchen als den Platz der Schiffe bezeichneten Stelle entdecken konnte, war ein trüber grauer Nebel, mit etwas wie einem kleinen blauen Fleck darauf.

Zum ersten Mal fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Trübung, die ich dem Nebel zugeschrieben, wohl in Wahrheit in meinen Augen liegen möge. Im ersten Augenblick war ich ein wenig erschrocken. Ich trat vom Fenster zurück und erklärte dem Mädchen meinen Irrthum so gut ich konnte. Ich schickte sie dann, sobald ich konnte, fort, wusch meine Augen mit einem von Grosse verordneten Augenwasser und versuchte es wieder, an meinem Tagebuch weiter zu arbeiten. Zu meinem Trost geht es jetzt besser als vorhin. Aber doch will ich mir diese Erfahrung zur Warnung dienen lassen, Grosse’s Vorschriften etwas strenger zu beobachten, als ich es bisher gethan habe.Sollte er an meinen Augen etwas bemerkt haben, was er mir zu sagen Anstand genommen hätte? Unsinn! Grosse ist nicht der Mann, sich vor einem offenen Ausspruch zu scheuen. Ich habe meine Augen nur ein wenig zu sehr angestrengt, das ist das Ganze. Ich will mein Tagebuch schließen und zum Frühstück hinuntergehen.

Zehn Uhr Vormittags. Ich muß mein Tagebuch noch einen Augenblick wieder öffnen.

Es hat sich etwas ereignet, was ich nothwendig in diese Erzählung der Geschichte meines Lebens eintragen muß. Ich bin so verdrießlich und so aufgebracht. Die Jungfer, diese dumme Schwatzliese, hat meiner Tante erzählt, was heute morgen zwischen ihr und mir an meinem Fenster Vorgegangen ist. Meine Tante hat das sofort beunruhigt und sie bestand darauf, nicht nur an Grosse, sondern auch an meinen Vater zu schreiben. Bei seiner gereizten Stimmung gegen meine Tante wird mein Vater ihren Brief entweder unbeantwortet lassen oder sie durch eine unartige Antwort beleidigen. In beiden Fällen werde ich der leidende Theil sein; meine Tante wird sich für die Beleidigung meines Vaters, den sie nicht erreichen kann, an mir rächen. Nervös und verstimmt, wie ich es bereits bin, macht mich die Aussicht, mich in einen neuen Familienstreit verwickelt zu sehen, ganz elend. Wenn ich daran denke, ergreift mich die Lust, meiner Tante undankbarer Weise zu entlaufen.

Noch immer keine Spur und keine Nachrichten von Oscar.

Mittags zwölf Uhr. — Es bedurfte nur noch einer Prüfung, um mein Leben hier ganz unerträglich zu machen, und diese Prüfung ist jetzt gekommen.

Eben übergab mir ein Bote aus dem Hotel einen Brief von Oscar. Er theilt mir darin mit, daß er beschlossen habe, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen. Der nächste Zug geht in vierzehn Minuten ab. Guter Gott! Was soll ich thun!

Meine Augen brennen. — Ich weiß, es schadet ihnen, wenn ich weine. Aber wie kann ich umhin, zu weinen? Wenn ich Oscar fortgehen lasse, so ist es zwischen uns vorbei, das sagt mir sein Brief deutlich genug.« Warum bin ich so kalt gegen ihn gewesen? Es wäre nicht zu viel, wenn ich ihm meine ängstlichen Rücksichten zum Opfer brächte, um das wieder gut zu machen. Und doch schreckt etwas in mir beharrlich davor zurück. Was soll ich thun? Was soll ich thun?

Ich muß die Feder hinlegen und versuchen, ob ich denken kann. Meine Augen versagen mir völlig ihren Dienst. Ich kann nicht mehr schreiben.«

(Anmerk. Ich will hier eine Abschrift des Briefes hersetzen, von welchem Lucilla spricht.

Nugent selbst behauptet, er habe denselben in einem Augenblick der Reue geschrieben, um ihr eine Gelegenheit zu geben, das Wort zu brechen, durch welches sie sich unschuldiger weise gegen ihn verpflichtet glaubte. Er erklärt, er habe, als er den Brief schrieb, aufrichtig geglaubt, sie werde sich durch denselben beleidigt fühlen. Eine andere Erklärung des Briefes ist die, daß Nugent, als er sich genöthigt sah, Ramsgate zu verlassen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von Grosse bei dessen Rückkehr am nächsten Tage als Betrüger bloßgestellt zu werden, die Gelegenheit ergriff und seine Abwesenheit als Mittel benutzte, um Lucilla zu bewegen, ihn nach London zu begleiten. Man frage mich nicht, welche von diesen beiden Auffassungen ich mir zu eigen mache. Aus Gründen, die der Leser verstehen wird, wenn er meine Erzählung zu Ende gelesen haben wird, möchte ich meine Ansicht hier lieber noch nicht aussprechen.

Man lese den Brief und entscheide selbst:

»Meine theuerste Lucilla. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen, der unmittelbar, nachdem Du diesen Brief erhalten haben wirft, abgeht. Der gestrige Abend hat mich überzeugt, daß meine Gegenwart hier Dich, nach dem, was ich Dir aus dem Hafendamme gesagt habe, unglücklich macht. Irgend ein geheimer Einfluß, der zu mächtig ist, als daß Du ihm widerstehen könntest, hat mir Dein Herz abwendig gemacht. Wenn die Zeit gekommen sein wird, wo Du Dich zu entscheiden haben wirst, ob Du unter den von mir proponirten Bedingungen mein Weib werden willst, so wirst Du, das sehe ich nur zu deutlich voraus, »Nein« sagen. Laß mich Dir die Sache weniger schwer machen, mein geliebtes Kind, indem ich es Dir überlasse, das entscheidende Wort zu schreiben, anstatt es gegen mich auszusprechen. Wenn Du Deine Freiheit wieder zu erhalten wünschest, so will ich Dich, es koste mich, was es wolle, von Deinem Worte entbinden. Ich liebe Dich zu innig, um Dich deshalb zu tadeln. Meine Adresse in London steht auf der Rückseite. Lebe wohl!

Oscar.«

Die auf der nächsten Seite stehende Adresse ist die eines Hotels.

In dem Tagebuch folgen auf die letzten eben mitgetheilten Zeilen noch einige weitere. Aber bis auf einige vereinzelte Worte ist es unmöglich, die Schrift zu entziffern. Die nachtheilige Wirkung auf ihre Augen, welche ihr unvorsichtiger Gebrauch derselben, ihr krampfhaftes Weinen, ihre unruhigen Nächte und die fortwährende durch Aufregung und Ungewißheit hervorgerufene Spannung geübt haben, hat offenbar die schlimmste jener unausgesprochenen Befürchtungen, welche Grosse bei ihrem Anblick hegte, gerechtfertigt. Die Handschrift, in welcher ihre letzten Zeilen geschrieben, ist positiv schlechter, als ihr schlechtestes Schreiben in den Tagen ihrer Blindheit.

Indessen ist der Entschluß, den sie nach Empfang, des vorstehenden Briefes faßte, hinreichend ersichtlich aus einem Billet von Nugent’s Hand, welches ein Gepäckträger der Eisenbahn in Fräulein Batchsord’s Wohnung abgab. Spätere Ereignisse machen es nothwendig, dem Leser auch dieses Billet mitzutheilen. Es lautet wie folgt:

»Gnädige Frau! Ich schreibe Ihnen auf Lucilla’s Wunsch, um Sie zu bitten, sich nicht zu ängstigen, Wenn Sie finden, daß Ihre Nichte Ramsgate verlassen hat. Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird. Die Gründe, welche sie zu diesem Schritt veranlaßt haben und welche sie nöthigen, ihren neuen Aufenthaltsort für jetzt geheim zu halten, werden wir Ihnen und ihrem Vater am Tage unserer Hochzeit offen mittheilen. Inzwischen bittet Lucilla Sie, ihre plötzliche Abreise zu entschuldigen und diesen Brief an ihren Vater zu befördern. Sie beide werden sich hoffentlich erinnern, daß sie mündig ist und daß sie nur ihre Heirath mit einem Manne beschleunigt, mit dem sie mit Genehmigung ihrer Familie schon lange verlobt ist.

Ihr ganz ergebener

Oscar Dubourg«

Dieser Brief wurde Fräulein Batchford beim zweiten Frühstück fast in demselben Augenblick übergeben, wo die Magd ihrer Herrin gemeldet hat, daß das Fräulein nirgends zu finden sei und daß ihr Reisesack aus ihrem Zimmer verschwunden sei. Der Zug nach London war bereits um diese Zeit fort. Fräulein Batchford, die kein Recht hatte, einzuschreiten, beschloß nach einer Berathung mit einem Freunde sofort nach Dimchurch zu reisen und die Sache in Herrn Finch’s Hände zu legen.


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