Die Blinde



Neuntes Kapitel - Eine schwere Zeit für Madame Pratolungo

Hätte ich nicht auf das Unglück, welches jetzt meine Schwestern und mich betroffen hatte, vorbereitet sein müssen? Hätte es mir nicht, wenn ich meine eigene Erfahrung von meinem armen Vater deutlich vor Augen gehalten hätte, klar sein müssen, daß die Gewohnheiten eines Lebens sich schwerlich am Ende dieses Lebens ändern? Wenn ich ordentlich nachgedacht hätte, würde ich gewiß vorausgesehen haben, daß je länger seine Besserung dauerte, desto näher ein Rückfall im Anzuge sein müsse und es nur um so wahrscheinlicher sei, daß er den hoffnungsvollen Erwartungen nicht entsprechen werde, welche ich von seinem Betragen für die Zukunft gehegt hatte. Ich gebe das Alles zu. Aber wo sind die Mustermenschen, die ordentlich nachdenken können, wenn ihr Nachdenken sie zu einem andern Schlusse führen würde, als es ihrem Interesse zusagt? O, meine verehrten Damen und Herren, dem Wesen der meisten Menschen liegt ein gewaltiger Unterbau von Thorheit zu Grunde!

Sobald ich wieder zu mir gekommen war, konnte ich über das, was mir zu thun oblag, nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Meine Pflicht gebot mir, so rasch von Dimchurch abzureisen, daß ich noch den von London nach dem Coutinent abgehenden Schnellzug am Abend um acht Uhr erreichen könnte.

Durfte ich aber Lucilla verlassen? Ohne Zweifel! Selbst ihre Interessen waren, so zärtlich ich sie auch liebte und so ängstlich besorgt ich für sie war, mir doch nicht so heilig, wie die Interessen, welche mich an das Krankenbett meines Vaters riefen.

Ich hatte noch einige Stunden vor mir, bevor ich Lucilla würde verlassen müssen. Alles was ich thun konnte, war, diese Stunden dazu zu verwenden, die denkbar besten Vorkehrungen zu ihrem Schutze in meiner Abwesenheit zu treffen.

Lange konnte unsere Trennung nicht dauern. Bei dem hohen Alter meines Vaters mußte sich der quälende Zweifel, ob er sterben oder am Leben bleiben werde, bald lösen.

Ich ließ sie bitten, auf mein Zimmer zu kommen und zeigte ihr meinen Brief.

Der Inhalt desselben betrübte sie aufrichtig.

Einen Augenblick, während sie mir in wenigen Worten ihre Theilnahme ausdrückte, machte sich der peinliche Zwang in ihrem Benehmen gegen mich nicht bemerklich. Er kam aber alsbald wieder zum Vorschein, als ich ihr meine Absicht, noch an demselben Tage nach Frankreich zu reisen, mittheilte und ihr mein Bedauern darüber ausdrückte, daß unsere Reise nach Ramsgate für jetzt aufgeschoben werden müsse. Sie gab mir nicht nur eine gezwungene Antwort, bei der es mir vorkam, als fasse sie eben im Augenblicke einen Plan, sondern sie verließ mich auch alsbald wieder unter einer ganz gewöhnlichen Entschuldigung. »Sie haben bei dieser traurigen Veranlassung gewiß viel zu denken; ich will Ihnen nicht länger lästig fallen. Wenn Sie meiner bedürfen, so wissen Sie, wo ich zu finden bin.«

Mit diesen Worten ging sie zum Zimmer hinaus. Als sie die Thüre hinter sich geschlossen hatte, überkam mich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verwirrung, wie ich es nie empfunden hatte.

Ich fühlte, daß ich irgend etwas vornehmen müsse, um nicht ganz zusammen zu brechen, und machte mich daran, die wenigen Gegenstände, deren ich zur Reise bedurfte, zusammenzupacken. Ich, die ich gewohnt war, mich bei allen Vorkommnissen meines Lebens rasch zu entschließen, war jetzt nicht einmal klar genug, um die Thatsachen zu sehen, wie sie wirklich waren. Einen Entschluß zu fassen, war ich in jenem Augenblick so fähig, wie Frau Finch’s Baby.

Die Anstrengung des Packens half mir, mich ein wenig zu erholen, brachte mich aber meiner gewohnten Fassung in Gemüth und Geist um nichts näher.

Als ich fertig war, setzte ich mich rathtos nieder; ich fühlte das dringende Bedürfniß, vor meiner Abreise über mein Verhältniß zu Lucilla in’s Klare zu kommen und wußte doch noch immer nicht, wie ich es anfangen sollte. Mit unbeschreiblichem Widerwillen fühlte ich plötzlich Thränen in meinen Augen. Ich hatte gerade noch genug von der Wittwe Pratolungo’s in mir übrig, um mich meiner von ganzem Herzen zu schämen. Frühere Wechselfälle und Gefahren in den Tagen meines republikanischen Lebens mit meinem Gatten, hatten mich zu einer tüchtigen Fußgängerin gemacht und mir eine zigeunerhafte Liebhaberei für das Wandern im Freien, ähnlich der meiner kleinen Jicks eingepflanzt. Ich setzte mir meinen Hut auf und ging hinaus, zu sehen, was körperliche Bewegung für mich zu thun vermöge.

Ich versuchte es mit dem Garten. Nein! Der Garten war mir, ich kann nicht sagen warum, nicht groß genug. Ich hatte noch einige Stunden übrig. Ich versuchte es mit den Hügeln. Als ich mich links wandte und an der Kirche vorüberging, hörte ich durch die offenen Fenster das Bum, Bum der Stimme des Ehrwürdigen Finch, der die Dorfkinder katechisirte. Dem Himmel sei Dank! er konnte mir auf keine Weise in den Weg kommen. So rasch ich konnte, stieg ich die Hügel hinauf. Die frische Luft und die Bewegung klärten meinen Geist. Nachdem ich länger als eine Stande scharf marschirt war, kehrte ich nach dem Pfarrhause zurück und hatte mich wiedergefunden. Vielleicht waren noch einige Reste von Unentschlossenheit in mir, oder übte mein Schmerz eine entnervende Wirkung auf mich, welche mich die Veränderung in meinem Verhältniß zu Lucilla noch peinlicher als bisher empfinden ließ. Ich war jetzt entschlossen, es zu einer offenen Erklärung mit Lucilla zu bringen, bevor ich sie unbeschützt im Pfarrhause ließe; aber auch jetzt noch schreckte ich davor zurück, mich einer directen Abweisung in einem Gespräch mit ihr auszusetzen. Ich nahm ein Blatt aus dem Buch des armen Oscar und schrieb darauf, was ich ihr zu sagen hatte.

Ich klingelte einmal, noch einmal, Niemand erschien. Ich ging nach der Küche; Zillah war nicht da. Ich klopfte an die Thür ihres Schlafzimmers, keine Antwort; ich machte die Thür auf, das Schlafzimmer war leer. Ich war also genöthigt, entweder, so ungeschickt es auch herauskommen würde, Lucilla selbst mein Billet zu geben, oder mich zu entschließen, doch mit ihr zu reden.

Ich konnte es nicht über mich gewinnen, mit ihr zu reden; ich ging daher mit meinem Billet in der Hand nach ihrem Zimmer und klopfte.

Aber auch hier erhielt ich keine Antwort. Ich klopfte noch einmal, wieder keine Antwort. Ich öffnete die Thür; das Zimmer war leer. Auf dem kleinen Tisch am Fuße des Bettes lag ein an mich adressirter Brief. Die Adresse war von Zillahs Hand. Aber in der Ecke stand Lucilla’s in ihrer gewöhnlichen Weise geschriebener Name, zum Zeichen, daß sie den Brief ihrer Amme dictirt habe. Mir fiel ein Stein vom Herzen als ich den Brief in die Hand nahm. Derselbe Gedanke, schloß ich, auf den ich verfallen war, war auch ihr gekommen. Auch sie war von der Verlegenheit einer persönlichen Erklärung zurückgeschreckt; auch sie hatte geschrieben und wich mir aus, bis ihr Brief für sie gesprochen und uns vor meiner Abreise wieder ausgesöhnt habe.

In dieser angenehmen Erwartung öffnete ich den Brief. Man urtheile, was ich empfinden mußte, als ich sah, was er wirklich enthielt.

»Liebe Madame Pratolungo, — Sie werden mir beistimmen, daß es nach Herrn Grosse’s Erklärung in Betreff der Wiederherstellung meiner Augen sehr wichtig für mich ist, meine Reise nach Ramsgate nicht zu verschieben. Da Sie durch Umstände, die ich aufrichtig bedaure, mich an die See zu begleiten verhindert sind, habe ich beschlossen, nach London zu meiner Taute, Fräulein Batchford, zu gehen und dieselbe zu bitten, mich statt Ihrer zu begleiten. Ich habe so viele Beweise ihrer aufrichtigen Zuneigung zu mir, daß ich fest überzeugt sein kann, sie werde Ihnen gern die Obhut über mich abnehmen. Da ich keine Zeit verlieren darf, so reise ich ab, ohne Ihre Rückkehr von Ihrem Spaziergang abzuwarten. Sie wissen zu genau, wie wichtig unter Umständen ein förmliches Lebewohl sein kann, als daß ich befürchten müßte, Sie würden es mir übel nehmen, daß ich mich auf diese Weise von Ihnen verabschiede. Mit den besten Wünschen für die Wiederherstellung Ihres Herrn Vaters, verbleibe ich

Ihre treu ergebene Lucilla.

P.s. Sie brauchen sich keine Sorge meinetwegen zu machen. Zillah bringt mich nach London und sobald ich im Hause meiner Tante angelangt bin, werde ich mich mit Herrn Grosse in Verbindung setzen.«

Hätte nicht ein Satz in dem Brief gestanden, so würde ich sicherlich dieses grausame Schreiben mit dem sofortigen Aufgeben meiner Stellung als Lucilla’s Gesellschafterin beantwortet haben.

Dieser Satz war der, in welchem Lucilla mir die Entschuldigung, die ich für Oscar’s Abwesenheit vorgebracht hatte, so höhnisch zurückgab. Die sarkastische Anspielung meiner genauen Bekanntschaft mit einem Vorfall, der es unmöglich gemacht habe, sich mit einem förmlichen Lebewohl aufzuhalten, beseitigte meinen letzten leisen Zweifel daran, daß Nugent hier sein verrätherisches Spiel getrieben habe. Ich hegte jetzt nicht mehr nur den Argwohn, sondern die feste Ueberzeugung, daß er sich unter dem Namen seines Bruders mit ihr in Verbindung gesetzt und daß er es auf eine mir unerklärliche Weise verstanden habe, so auf Lucilla’s Gemüth zu wirken, das innewohnende Mißtrauem welches ihre Blindheit ihrem Wesen eingepflanzt hatte, so aufzuregen, daß es ihm gelungen war, ihr für den Augenblick alles Vertrauen zu mir zu rauben.

Auch mit dieser Ueberzeugung hatte ich noch mitleidige und großmüthige Empfindungen für Lucilla. Weit entfernt, meine arme, betrogene schwesterliche Freundin wegen ihrer grausamen Abreise und ihres noch grausameren Briefes zu tadeln, maß ich Nugent die ganze Schuld bei. So sehr ich auch durch meine eigenen Sorgen in Anspruch genommen war, so mußte ich doch an die Gefahr, in der sich Lucilla befand und an das Unrecht denken, das Oscar widerfahren war. Mein früherer Entschluß, die beiden wieder mit einander zu vereinigen, stand noch unerschütterlich fest und was ich Nugent schuldig war, war mir auch in diesem Augenblicke so gegenwärtig, daß ich meine Schuld voll abzutragen beschloß.

Was konnte ich aber, bei der Wendung, welche die Dinge genommen hatten und bei der Kürze der Zeit,·die mir noch übrig blieb, jetzt thun? Wie konnte ich, wenn Fräulein Batchford, wie ich es als wahrscheinlich annehmen mußte, ihre Nichte nach Ramsgate begleitete, Nugent daran verhindern, sich in meiner Abwesenheit mit Lucilla während ihres Aufenthaltes an der See in Verbindung zu setzen? Um darüber mit mir ins Reine zu kommen, mußte ich zuvor in Erfahrung bringen, ob Fräulein Batchford als ein Mitglied der Familie in Betreff des traurigen Verhältnisses, in welchem Oscar und Lucilla jetzt standen, ins Vertrauen gezogen werden solle.

Die einzige Person, die ich in dieser Schwierigkeit zu Rathe ziehen konnte, war der Pfarrer. In meiner Abwesenheit ruhte ersichtlich die ganze Verantwortlichkeit auf dem Ehrwürdigen Finch als Haupt der Familie. Ich ging sofort nach der anderen Seite des Hauses. Wenn Herr Finch von seiner Katechisirung noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war, so mußte ich mich im Dorfe nach ihm erkundigen und ihn in den Hütten seiner Gemeindemitglieder aufsuchen. Der Klang seiner gewaltigen Stimme überhob mich alsbald jedes Zweifels in dieser Beziehung. Das Bum-Bum, das ich zuletzt aus der Kirche hatte ertönen hören, schallte mir jetzt wieder aus dem Studierzimmer entgegen.

Als ich das Zimmer betrat, fand ich Herrn Finch stehend und in höchster Aufregung, Frau Finch und ihr Baby, welche sich, wie gewöhnlich in eine Ecke verschanzt hatten, haranguirend. Mein Erscheinen auf der Scene gab dem Strom seiner Beredtsamkeit augenblicklich eine andere Richtung, indem sich derselbe sofort über meine arme Person ergoß. Der Leser wird sich aus dem Anfang dieser Erzählung erinnern, daß der Pfarrer und Lucilla’s Tante seit undenklichen Zeiten auf dem schlechtesten Fuße gestanden hatten und dadurch auf den folgenden Austritt genügend vorbereitet sein.

»Da sind Sie ja! Eben wollte ich nach Ihnen schicken«, rief mir der Papst von Dimchurch entgegen. »Regen Sie meine Frau nicht auf. Sprechen Sie nicht Mit ihr! Sie sollen gleich hören, warum. Reden Sie nur mit mir. Seien Sie ruhig, Madame Pratolungo. Sie wissen nicht, was vorgefallen ist; ich will es Ihnen sagen.« .

Ich wagte es, ihn zu unterbrechen und ihm zu sagen, daß ich durch Lucilla’s Brief von der plötzlichen Abreise seiner Tochter nach dem Hause ihrer Tante unterrichtet sei. Herr Finch machte eine ungeduldig abwehrende Handbewegung, als wolle er damit ausdrücken, daß meine Antwort zu unwichtig sei, um auch nur die geringste Notiz davon zu nehmen.

, »Ja! ja! ja! Ich weiß, Sie sind oberflächlich von den Thatsachen unterrichtet. Aber Sie sind weit entfernt, zu wissen, was die plötzliche Entfernung meiner Tochter aus meinem Hause wirklich bedeutet. Aengstigen Sie sich nicht, Madame Pratolungo, und regen Sie meine Frau nicht auf. Wie geht es Dir, liebes Kind? Was macht das Kind? Gut? Dank der allmächtigen Vorsehung, geht es Euch Beiden gut. — Nun hören Sie mich an, Madame Pratolnugo. Die Flucht meiner Tochter, ich sage absichtlich Flucht, denn es ist nichts Geringeres — die Flucht meiner Tochter aus meinem Hause — ich flehe Sie an, seien Sie ruhig — bedeutet einen zweiten Schlag, den die Familie meiner ersten Frau mir versetzt. Mir versetzt«, wiederholte Herr Finch, indem er sich bei der Erinnerung an seine alte Feindschaft mit den Batchfords ereiferte — »den mir Fräulein Batchford, Lucilla’s Tante, in der Person meiner zweiten Frau und meines unschuldigen Kindes versetzt — Bist Du auch wirklich wohl, liebes Kind? Ist das Kind auch wirklich wohl? Dem Himmel sei Dank, ja! — Concentriren Sie Ihre Aufmerksamkeit, Madame Pratolungo, Sie sind zerstreut. Von Fräulein Batchford angestiftet, hat meine Tochter mein Haus verlassen. Die Reise nach Ramsgate ist eine reine Ausflucht. Und wie hat sie mein Haus verlassen? Nicht nur, ohne mir vorher Lebewohl zu sagen — ich bin ja Niemand! — sondern ohne die geringste Rücksicht auf die Lage meiner Frau zu nehmen. In ihren Reisekleidern trat meine Tochter übereilig, oder mich des drastischen Ausdrucks meiner Frau zu bedienen, »stürzte sie« in die Kinderstube, wo meine Frau eben damit beschäftigt war, dem Säugling mütterliche Nahrung zu verabreichen. Unter Umständen, welche das Herz eines Banditen oder Wilden gerührt haben würden, kündigte meine unnatürliche Tochter — erinnere mich, Frau, daß ich heute Abend Shakespeare’s König Lear vorlese — ohne Vorbereitung an, daß Sie durch heimische Umstände sie nicht nach Ramsgate bgleiten könnten. Ich bin betrübt, davon zu hören, Madame Pratolungo. Geben Sie der Vorsehung die Schuld. Durchhalten, Mrs. Finch; durchhalten, nachdem sie meine Frau heute morgen mit dieser erschütternden Nachricht erschreckt hatte, erklärte meine Tochter als nächstes, dass sie vorhatte, das Dach ihres Vaters zu verlassen, ohne darauf zu warten, ihrem Vater Lebwohl zu sagen. Das Erreichen eines Zuges, werden Sie sehen, war (kein Zweifel auf Betreiben Miss Batchfords) von höherer Wichtigkeit als die elterliche Umarmung oder der väterliche Segen. Nachdem sie eine Nachricht der Entschuldigung für mich hinterlassen hatte, stieß mein herzloses Kind (Ich gebrauche Mrs. Finch bildliche Sprache ein weiteres Mal - Du hast sehr, sehr mächtige Ausdrücke, Mrs. Finch) - stieß mein herzloses Kind heraus aus der Kinderstube, um den Zug zu kriegen; nachdem sie, soweit sie wusste oder sie darum besorgt war, es geschafft hatte, meiner Frau einen Schock zu versetzen, der die Quelle des mütterlichen Unterhalts an ihrem Grund versauert haben könnte. Das ist ein Schicksalsschlag, Madame Pratolungo! Wie kann ich wissen, dass nicht in diesem Moment eine saure Störung durchgeführt wurde, anstatt einer gesunden Annäherung zwischen Mutter und Kinde? Ich werde Ihnen einen alkalischen Schluck vorbereiten, Mrs. Finch, der nach den Mahlzeiten genommen werden muss. Nicht sprechen; nicht bewegen! Lass mich deinen Puls fühlen. Ich halte Miss Batchford für all das verantwortlich, Madame Pratolungo, für was auch immer passiert - meine Tochter ist ein bloßes Werkzeug in den Händen der Familie meiner ersten Frau. Lass mich deinen Puls fühlen, Mrs. Finch. Mir gefällt dein Puls nicht. Eine liegende Stellung und ein weiteres warmes Bad - unter der Vorsehung, Madame Pratolungo - mag den Schlag abwehren. Könnten Sie freundlicherweise die Tür öffnen und Mrs. Finchs Taschentuch holen? Lassen Sie den Roman stehen - das Taschentuch.«

Ich ergriff die erste Gelegenheit, wieder zu sprechen, als Mr. Finch seine Frau (mit seinem Arm um ihre Hüfte) zur Tür führte - indem ich die Frage, die ich stellen wollte, in dieser vorsichtigen Art stellte:

»Schlagen Sie vor, Sir, entweder mit Ihrer Tochter oder mit Miss Batchford zu sprechen, während Lucilla vom Pfarrhaus entfernt ist? Meine Absicht, diese Frage zu wagen -«

Bevor ich meine Absicht darlegen konnte, drehte sich Herr Finch herum (wobei er auch Mrs. Finch mit sich drehte) und beäugte mich von Kopf bis Fuß mit einem Blick von entrüstetem Erstaunen.

»Ist es möglich, dass sie diesen doppelten Schiffsbruch sehen können« sagte Mr. Finch, und meinte damit seine Frau und sein Kind, »und annehmen, dass ich selbst Kontakt aufnehmen oder Kontakt jeglicher Art gutheißen würde mit den Personen, die dafür verantwrotlich sind? Meine Güte! Kannst Du Madame Pratolungos außergewöhnliche Frage erklären? Muss ich das so verstehen (oder verstehst du das so), dass Madame Pratolungo mich beleidigen will?«

Es war nutzlos, mich zu erklären. Es war nutzlos für Mrs. Finch (die einige nutzlose Anstrengungen machte, ein oder zwei Worte dazu in ihrem eigenen Interesse zu sagen), ihren Ehemann zu besänftigen. All das, was die arme kränkliche Dame tun konnte, war mich darum zu bitten, ihr aus dem Ausland zu schreiben. »Es tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten haben; und ich wäre froh, von Ihnen zu hören.« Mrs. Finch hatte kaum Zeit diese freundlichen Worte auszusprechen, bevor der Pfarrer mit einer donnernden Stimme von mir verlangte, mir das »doppelte Schiffswrack« und es zu respektieren, wenn ich keinen Respekt vor ihm hatte - und damit ging er, seine Frau und sein Baby aus dem Zimmer.

Nachdem ich die Absicht, die mich in das Studierzimmer gebracht hatte, erreicht hatte, machte ich keinen Versuch ihn aufzuhalten. Das wenige Gefühl, das der Mann in seinen besten Zeiten besaß, war vollständig aufgebracht durch den Schlag, welchen Lucillas abrupte Abreise auf seine Wichtigkeit seiner Meinung nach gehabt hatte. Dass es in einer Aussöhung zwischen ihm und seiner Tochter vor der Fälligkeit der nächsten Zeichnung der Haushaltsausgaben kommen würde, war ein Angelegenheit von absoluter Sicherheit. Aber bis diese Zeit kam, fühlte ich, dass es gleichsam sicher war, dass er seine verletzte Würde damit verteidigen würde, irgendeinen Kontakt persönlich oder schriftlich mit Ramsgate aufzunehmen. Während der kurzen Zeit meiner Abwesenheit von England würde Miss Batchford als unkenntlich von der gefährlichen Stellung ihrer Nichte zwischen den Zwillingsbrüdern zurückgelassen werden, so wie auch Lucilla selbst. Dies zu wissen, war die Information, wegen der ich hergekommen war. Nichts war mehr nötig, um mein Gehirn wieder einmal zum Arbeiten zu bringen und darauf zu reagieren.

Wie sollte ich darauf reagieren?

In diesem Augenblick sah ich nur einen Weg. Für den Fall, daß Grosse vor meiner Rückkehr Lucilla für völlig wiederhergestellt erklären sollte, konnte ich nichts Besseres thun, als Fräulein Batchford in die Lage versetzen, an meiner Stelle die Wahrheit zu verkünden. Ich mußte aber die Gefahr einer vorzeitigen Enthüllung verhüten, mit andern Worten, ich mußte Vorkehrungen treffen, daß die alte Dame das Geheimniß nicht eher erführe, als die Zeit gekommen wäre, wo dasselbe ohne Gefahr würde offenbart werden können.

Diese anscheinend so verwickelte Schwierigkeit war leicht zu heben, wenn ich vor meiner Abreise statt eines Briefes zwei Briefe schrieb.

Den ersten Brief adressirte ich an Lucilla. Ohne ihres Benehmens gegen mich irgend welche Erwähnung zu thun, legte ich ihr mit aller erforderlichen Deliecatesse, aber unter Angabe aller Einzelheiten ihre Stellung zwischen Oscar und Nugent dar und verwies sie für die Beweise der Wahrheit meiner Behauptungen auf ihre Verwandten im Pfarrhause. »Ich überlasse es Ihnen ganz fügte ich hinzu, »ob Sie mir antworten wollen oder nicht. Prüfen Sie die Wahrheit meiner Mittheilung und wenn Sie sich wundern sollten, daß dieselbe so spät kommt, so wenden Sie sich an Herrn Grosse, den die ganze Verantwortlichkeit dafür trifft.« Damit endete ich, entschlossen, wie ich war, meine Rechtfertigung nach dem Unrecht, das mir Lucilla angethan hatte, den Thatsachen zu überlassen. Ich gestehe, ihr Benehmen hatte mich, wenn ich auch Nugent die ganze Schuld beimaß, doch zu tief gekränkt, als daß ich es der Mühe werth hätte halten sollen, ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen.

Nachdem ich diesen Brief versiegelt hatte, schrieb ich an Lucilla’s Tante.

Es war keine leichte Sache für mich, mich an Fräulein Batchford zu wenden. Die Verachtung, welche sie für Herrn Finch’s politische und religiöse Ansichten hegt, wurde mehr als aufgewogen durch ihre entschiedene Ueberzeugung gegen meine republikanischen Ansichten. Ich habe schon früher erzählt, wie ein politischer Disput zwischen der torystischen alten Dame und mir in einen Zank zwischen uns ausartete, in Folge dessen mir seit jener Zeit die Thür der alten Dame verschlossen war. Trotzdem wagte ich es, ihr zu schreiben, weil ich wußte, daß Fräulein Batchford, abgesehen von ihren leidenschaftlichen Vorurtheilen, eine vornehme Dame im besten Sinne des Wortes, daß sie ihrer Nichte zärtlich ergeben und ebenso bereit sei, mir, abgesehen von meinen leidenschaftlichen Vorurtheilen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wie ich bereit war, gerecht gegen sie zu sein. Ich schrieb in einem Ton wahrer echter Hochachtung, appellirte an ihre Nachsicht, um mich zu einem gleichen Verfahren zu ermuthigen, und bat sie, Lucilla meinen Brief an dem Tage zu geben, wo Grosse jede weitere ärztliche Behandlung für überflüssig erklären würde. Bis dahin bat ich Fräulein Batchford im Interesse ihrer Nichte, meinen Brief als eine streng vertrauliche Mittheilung zu betrachten, indem ich hinzufügte, daß die Gründe, welche mich zu dieser Bitte veranlaßten, sich in meinem Briefe an Lucilla finden würden, welchen ich Fräulein Batchford zn lesen ermächtigte, sobald die Zeit, ihn zu öffnen, gekommen sein werde.

Auf diese Weise hatte ich, wie ich sicher glaubte, die einzige mögliche Maßregel ergriffen, um Nugent Dubourg zu verhindern, in meiner Abwesenheit ernstes Unheil einzurichten.

Was ihm auch seine unbezähmbare Leidenschaft für Lucilla zu unternehmen verleiten mochte, keinesfalls konnte er irgend einen entscheidenden Schritt thun, ehe Grosse Lucilla für völlig wiederhergestellt erklärt haben würde. An dem Tage, wo Grosse diese Erklärung abgäbe, würde sie meinen Brief erhalten und aus demselben die abscheuliche Täuschung, die man gegen sie geübt hatte, erfahren.

.

Der Gedanke an einen Versuch, Nugent aufzufinden, kam mir gar nicht in den Sinn. Wo er sich auch aufhalten mochte, in England oder im Auslande, es würde vergeblich gewesen sein, noch einmal an seine Ehre zu appelliren. Ich würde mich nur selbst herabgesetzt haben, wenn ich nochmals mit ihm gesprochen und ihm vertraut hätte. Das Einzige, was geschehen konnte, war, ihn, sobald es möglich war, vor Lucilla bloßzustellen.

Ich hatte eben meine Briefe vollendet und den einen in den andern eingeschlossen, als der gute Herr Gootheridge, mit dem ich vorher die nöthige Verabredung getroffen hatte, mich abrief, um mich in seinem leichten Wägelchen nach Brighton abzuholen. Die Chaise, die er zu vermiethen pflegte, war bereits zu derselben Reise von Lucilla und ihrer Amme in Anspruch genommen und war noch nicht wieder von Brighton zurückgekommen.

Ich erreichte den Zug noch rechtzeitig und kam in London so früh an, daß ich noch Zeit übrig behielt. Entschlossen, mich selbst zu überzeugen, daß mein Brief an seine richtige Adresse gelangte, fuhr ich vor dem Hause von Fräulein Batchford vor und sah, wie der Kutscher meinen Brief dem Diener übergab.

Es war ein bitterer Augenblick, als ich aus Furcht, Lucilla möchte am Fenster sein und mich sehen, meinen Schleier über’s Gesicht zog. Außer dem Diener, der die Thür öffnete, war Niemand sichtbar. Wenn ich in dem Augenblick Tinte, Feder und Papier zu meiner Disposition gehabt hätte, so würde ich, glaube ich, doch noch schließlich an Lucilla geschrieben haben. Wie die Dinge standen, konnte ich nichts thun, als ihr das Unrecht, welches sie mir angethan hatte, vergeben. Ich vergab ihr vom Grund meines Herzens und sehnte mich nach der gesegneten Stunde, die uns wieder vereinigen würde.

Inzwischen konnte ich jetzt, nachdem ich Alles, was in meiner Macht stand, gethan hatte, sie zu schützen und ihr zu helfen, alle meine Gedanken, soweit sie nicht von meinem armen mißleiteten Vater in Anspruch genommen waren, Oscar zuwenden.

Genöthigt, nach dem Continent abzureisen, beschloß ich, wiewohl die Chancen äußerst ungünstig fürs mich standen, Alles, was ich in meiner peinlichen Lage vermochte, aufzubieten, um den Ort, wohin sich Oscar geflüchtet hatte, zu entdecken. Die traurigen Stunden banger Erwartung am Krankenlager meines Vaters würden mir leichter vergehen, wenn ich überzeugt sein könnte, daß die Nachsuchungen nach dem Verlorenen auf meinen Antrieb ihren Fortgang nähmen und wenn ich mir von Tag zu Tag würde sagen können. daß, wenn nicht mehr, doch die Möglichkeit für mich vorhanden sei, ihn wiederzusehen.

Das Bureau des Advocaten den ich während meines früheren Besuchs in London zu Rathe gezogen hatte, lag auf meinem Wege nach dem Bahnhof. Ich fuhr vor und war glücklich genug, ihn noch zu treffen.

Von Oscar hatte er noch nichts gehört. Der Advocat erwies sich mir jedoch nützlich durch einen Empfehlungsbrief, den er mir an einen Mann in Marseille gab, dessen Geschäft darin bestand, schwierige vertrauliche Nachforschungen anzustellen und der Agenten in allen großen Städten Europa’s hatte. Die Spur eines Mannes von Oscar’s traurig auffallendem Aeußeren mußte natürlich leicht zu verfolgen sein, wenn nur die richtige Maschinerie zu diesem Zweck ins Werk gesetzt werden konnte. Meine Ersparnisse würden hinreichen, diesen Zweck zu erreichen und ich war entschlossen sie, soweit sie reichten, nach der Ankunft an meinem Bestimmungsorte zu diesem Zwecke zu verwenden.

Die See war bei der Ueberfahrt über den Canal an jenem Abend sehr unruhig. Ich blieb auf dem Deck und ließ mir lieber jede Unbequemlichkeit gefallen um nur nicht in die Atmosphäre der Cajüte hinabsteigen zu müssen. Als ich den Blick auf die See richtete, erschienen mir die dunklen Wassermassen wie ein trauriges aber treues Bild meiner dunklen Aussichten in die Zukunft. Auf den angebahnten Weg, den wir dahinfuhren schienen die matten Strahlen eines trüben umwölkten Mondes, wie die schwachen Strahlen der Hoffnung, die mein Gemüth matt beleuchteten, wenn ich an die Zukunft dachte.


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