Die Blinde



Erstes Kapitel - Madame Pratolungo introducirt sich

Die Begebenheit, welche hier erzählt werden soll, trug sich vor einigen Jahren in einem entfernten Winkel Englands zu.

Die bei dieser Begebenheit mitwirkenden Hauptpersonen sind ein blindes Mädchen, zwei Zwillingsbrüder, ein geschickter Chirurg und eine sonderbare Ausländerin. Diese sonderbare Ausländerin bin ich selbst. Und ich übernehme es aus Gründen, die ich gleich näher angeben werde, selbst, die Geschichte zu erzählen. Zuvor aber will ich den Leser in möglichster Kürze mit meiner Person bekannt machen.

Mein Name ist Pratolungo; ich bin die Wittwe des berühmten südamerikanischen Patrioten Doctor Pratolungo. Von Geburt bin ich Französin. Bevor ich die Gattin des Doctor Pratolungo wurde, hatte ich viele Wechselfälle in meinem Vaterlande durchzumachen. Dieselben endigten damit, daß ich in einem ziemlich gesetzten Alter mir einige Weltkenntniß erworben, mich zu einer tüchtigen Klavierspielerin ausgebildet hatte und ein hübsches kleines Vermögen, welches mir wie meinem guten Papa und meinen jüngern Schwestern unerwarteter Weise von einem Verwandten meiner lieben verstorbenen Mutter hinterlassen worden war, besaß. Zu diesen Eigenschaften gesellte sich noch eine andere, die schätzbarste von allen ins den Augen meines zukünftigen Mannes: eine Durchdringung mit ultraliberalen Principien. Vive la republique!

Die Menschen feiern das Ereigniß ihrer Verheirathung auf verschiedene Weise. Doctor Pratolungo und ich schifften uns nach unserer Verheirathung nach Central Amerika ein und widmeten unsere Flitterwochen in jenen aufrührerischen Gegenden der heiligen Pflicht, Tyrannen zu stürzen.

Die Lebensluft meines edlen Gatten war die Luft der Revolutionen. Seit seiner frühen Jugend hatte er den ruhmwürdigen Beruf eines Patrioten erwählt. Wo immer das Volk im Süden der neuen Welt aufstand und seine Unabhängigkeit erklärte — und in meiner Zeit that jene feurige Bevölkerung das unablässig — weihte der Doctor sich selbst auf dem Altar seines Adoptivvaterlandes. Er war schon fünfzehnmal verbannt und in contumaciam zum Tode verurtheilt worden, als ich ihn in Paris kennen lernte — das Bild heroischer Armuth mit brauner Hautfarbe und einem lahmen Bein. Wie war es möglich, sich in einen solchen Mann nicht zu verlieben? Ich war stolz, als er mir den Antrag machte; gleich ihm mich dem Dienste seines Adovtivvaterlandes zu weihen mich und mein Geld. Denn ach! Alles in dieser Welt kostet Geld, auch der Sturz der Tyrannen und die Rettung der Freiheit. all’mein Geld wurde auf die Unterstützung der heiligen Sache des Volkes verwendet Dictatoren und Flibustier gediehen uns zum Trotz. Noch bevor wir ein Jahr verheirathet waren, mußte der Doctor zum sechszehnten Male fliehen, um der Ausführung eines in sicherer Aussicht stehenden Todesurtheils zu entgehen. Mein Gatte in contumaciam zum Tode verurtheilt! Ich von allen Mitteln entblößt! Das war der Dank der Republik für unsere Aufopferung, so belohnte uns die Republik. Und doch liebe ich die Republik. Und ihr monarchisch gesinnten Menschen, die ihr Euch wohlgenährt und behäbig unter das Joch der Tyrannen beugt, respectirt das!

Dieses Mal suchten wir eine Zufluchtsstätte in England. Die Angelegenheiten Central Amerika’s nahmen ohne uns ihren Fortgang.

Ich dachte daran, Musikunterricht zu geben, aber mein hochberühmter Gatte wollte mich nicht von seiner Seite lassen und ich glaube, wir würden Hungers gestorben sein und zu einem traurigen kleinen Artikel in den englischen Blättern Veranlassung gegeben haben, wenn die Sache nicht anders gekommen wäre.

Mein armer Pratolungo war in Wahrheit gänzlich erschöpft. Er erlag seiner sechszehnten Verbannung und hinterließ mir als Wittwe nichts als seine edlen Gesinnungen. Ich kehrte auf kurze Zeit nach Paris zu meinem guten Vater und meinen Schwestern zurück. Aber es lag nicht in meiner Art, ihnen längere Zeit zur Last zu fallen. Ich kehrte mit Empfehlungen versehen wieder nach London zurück und hatte bei dem Versuch, mir auf ehrenvolle Weise mein Brod zu verdienen, mit unbegreiflichen Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Von all, dem Reichthum um mich her, von all’dem verschwenderischen, insolentem prahlerischen Reichthum kam nichts auf mein Theil. Welches Recht hat irgend ein Mensch, reich zu sein? Beweise es mir doch, wenn Ihr könnt, daß irgend ein Mensch ein Recht darauf hat.

Ich will mich nicht bei der Erzählung meiner Widerwärtigkeiten aufhalten, es wird genügen, wenn ich sage, daß ich eines Morgens außer drei Pfund sieben Schilling und vier Pence in meiner Börse, meinem vortrefflichen Temperament und meinen republikanischen Principien, absolut nichts besaß und keine Aussicht hatte, auch nur einen Schilling zu bekommen, wenn ich ihn nicht selbst verdiente. Was thut eine rechtschaffene Frau, welche entschlossen ist, sich durch ihre Arbeit Selbstständigkeit zu erringen, in einer so traurigen Lage? Sie nimmt drei Pfund sechs Schilling aus ihrer bescheidenen kleinen Baarschaft und annoncirt sich in einer Zeitung. Man annoncirt immer seine besten Seiten. O, arme Menschheit! Meine beste Seite war die musikalische. In den Tagen meiner wechselnden Schicksale vor meiner Verheirathung hatte ich zu einer Zeit einen Antheil an einer Modewaarenhandlung in Lyon gehabt; zu einer anderen Zeit war ich Kammerfrau bei einer großen Dame in Paris gewesen; aber in meiner gegenwärtigen Lage waren diese Seiten aus verschiedenen Gründen nicht so präsentabel wie meine musikalische Seite. Ich war keine große Clavierspielerin — weit entfernt! Aber ich war gut unterrichtet und besaß, was man eine anständige Fertigkeit auf dem Clavier nennt. Kurz, ich stellte mich so günstig wie möglich in meiner Annonce dar. Am nächsten Tage borgte ich mir die Zeitungen, um mir die stolze Freude zu verschaffen, mein Geisteserzeugniß gedruckt zu lesen.

Und was entdeckte ich da? Ich fand, was andere unglückliche auf Zeitungsannoncen angewiesene Leute schon vor mir gefunden haben, gerade über meiner Anzeige befand sich eine andere, in welcher gerade das, was ich anbot, gesucht wurde. Man werfe einen Blick in irgend eine Zeitung und man wird finden, daß einander ganz fremde Menschen genau zu einander passen, indem sie ihre Dienste gegenseitig suchen und anbieten, ohne etwas von einander zu wissen. Ich hatte mich annoncirt als:,,Eine höchst musikalische, mit heiterem Temperament begabte Gesellschafterin für eine Dame.« Und da stand gerade über mir ein mir unbekannter hilfsbedürftiger Nebenmensch, der in gedruckten Lettern seinen Hülferuf ergehen ließ nach: »Einer Gesellschafterin für eine Dame, welche sehr musikalisch und von heiterem Temperamente sein muß. Fähigkeitszeugnisse und ausgezeichnete Empfehlungen sind erforderlich.« Das war ja genau das, als was ich mich annoncirt hattet »Reflectirende wollen sich sofort schriftlich melden.« Wieder genau wie in meiner Anzeige! Pfui über mich! Ich hatte drei Pfund sechs Schilling umsonst ausgegeben. Ich warf die Zeitung wie eine Närrin auf den Boden — hob sie dann wie eine verständige Frau wieder aus und meldete mich schriftlich zu der vacanten Stelle.

Mein Brief brachte mich mit einem Advocaten in Berührung Er hüllte sich in ein geheimnißvolles Dunkels es schien bei ihm zu einer berufsmäßigen Gewohnheit geworden zu sein, niemandem irgend etwas mitzutheilen.

Nur tropfenweise machte mich dieser langweilige Mensch mit den Verhältnissen bekannt. Die Dame war ein junges Mädchen, sie war die Tochter eines Geistlichen, sie lebte in stiller Zurückgezogenheit auf dem Lande, ja sie lebte im Hause selbst noch zurückgezogen in einem besonderen Theil desselben. Ihr Vater hatte sich zum zweiten Male verheirathet. Nachdem er aus seiner ersten Ehe außer der jungen Dame keine andern Kinder gehabt, hatte er, vermuthlich zur Abwechselung, eine große Familie aus zweiter Ehe. Umstände machten es für die junge Dame nothwendig, sich von dem geräuschvollen Treiben eines Hauses voll Kinder so entfernt wie möglich zu halten. In dieser Weise ging er mit seinen Mittheilungen vor, bis er nothgedrungen damit herausrücken mußte: die junge Dame sei — blind!

Jung — einsam — blind! Es überkam mich plötzlich wie eine Inspiration Ich fühlte, ich würde dieses Mädchen lieben.

Die Frage nach meinen musikalischen Leistungen gestaltete sich in diesem traurigen Falle zu einer ernsthaften. Das Einzige, was dem armen jungen Mädchen zur Freude gereichte und ihr dunkles Leben erhellte, war Musik. Ihre Gesellschafterin sollte die Werke der großen Meister, welche die Blinde verehrte, gut vom Blatt spielen können und sie würde sich neben die Spielende setzen und zuhören, um dann mach dem Gehör jedes Musikstück nachzuspielen. Ein Musiker von Fach sollte mich prüfen und erklären, ob ich im Stande sei, Mozart, Beethoven und die andern Meister, welche für das Klavier geschrieben haben, gut vorzutragen. Ich bestand diese Prüfung glücklich. Meine Empfehlungen sprachen für sich selbst. Der Advorat selbst, so gern er es auch wollte, konnte nichts daran auszusetzen finden.

Wir kamen überein, daß ich so bald wie möglich zur Probe auf einen Monat zu der jungen Dame reisen solle. Wenn wir uns beide Convenirten so sollte ich nach Ablauf dieser Zeit unter für mich durchaus befriedigenden Bedingungen bleiben. Das war unser Abkommen.

Am nächsten Tage reiste ich mit der Eisenbahn ab. Meinen Instructionen gemäß sollte ich nach der Stadt Lewes in Sussex reisen, dort nach dem Ponnywagen des Vaters meiner jungen Damen fragen, der auf seiner Karte bezeichnet war: Sr. Ehrwürden Tertius Finch. Der Wagen sollte mich nach dem Pfarrhause in Dimchur bringen, welches Dorf in der südlichen Hügelgegend, drei bis vier Meilen von der Küste lag..

Das war Alles was ich wußte, als ich den Eisenbahnwagen bestieg. Sollte ich nach meinem Abenteurerleben — nach den furchtbaren Aufregungen meiner republikanischen Laufbahn zu Lebzeiten meines Gatten, mich jetzt in einem entfernten englischen Dorfe begraben und ein Leben führen so einförmig wie ein Schaf, das auf einsamem Berge weidet. Ach, nach all’ meinen Erfahrungen sollte ich noch erst lernen, daß die beschränkteste Sphäre menschlicher Existenz weit genug ist, um für die größten menschlichen Leidenschaften Raum zu bieten. Ich hatte das Drama des Lebens inmitten des Wirbelwinds tropischer Revolutionen kennen gelernt. Ich sollte es mit all’ seinen aufregenden Peripetien in der frischen Einsamkeit des Hügellandes von Süd England abermals kennen lernen.



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Zweites Kapitel - Madame Pratolungo macht eine Land Seereise

Ein wohlgenährter Junge mit echt angelsächsischem flache gelbem Haar; eine kleine, schäbige, grüne Chaise und ein rauhhaariges braunes Pony fielen mir an der Station in Lewes sofort in die Augen. Ich fragte den Jungen: »Bist Du der Diener des Ehrwürdigen Herrn Finch?« und der Junge antwortete mir: »Der bin ich.«

Wir fuhren durch die Stadt, eine hügelige Stadt mit todtenstillen reinlichen Häusern. Kein lebendes Wesen war hinter den ängstlich geschlossenen Fenstern zu erblicken. Kein lebendes Wesen ging durch die in finstren Farben gemalten geschlossenen Hausthüren ein oder aus. Da war kein Theater, kein öffentlicher Vergnügungsort, überhaupt kein öffentliches Gebäude außer einem leeren Rathhause, auf dessen sauberen weißen Stufen ein trübseliger Polizei Officiant saß, der seinen Gedanken nachzuhängen schien. In den Läden waren keine Kunden, aber auch niemand hinter dem Ladentisch, der Kunden hätte bedienen können, wenn welche dagewesen wären. Nur ganz vereinzelt gewahrte ich auf der Straße einen Einwohner, der mich anstarrte und ersichtlich nichts weiter zu thun hatte. Ich fragte den Jungen »Ist dies eine reiche Stadt?« Mit strahlendem Gesicht antwortete der Junge: »Das ist sie.« Wenn das wahr ist, so amüsiren sich die infamen Reichen hier nicht!

Nachdem wir diese Stadt, deren Einwohner sich nicht amüsiren, sondern sich in ihren Häusern begraben, Verlassen hatten, kamen wir aus eine schöne sanft ansteigende Landstraße, auf der man nach beiden Seiten hin die Aussicht auf eine weite Ebene hatte.

Der Anblick einer weiten Ebene ermüdet das Auge eines nach landschaftlichen Schönheiten verlangenden Reisenden bald. Ich habe von meinem armen Pratolungo gelernt, so oft ich mich an einem fremden Orte befinde, den politischen Ueberzeugungen meiner Nebenmenschen nachzuforschen. Da ich nun nicht Anderes zu thun hatte, suchte ich den Jungen auszuforschen. Sein politisches Programm ließ sich, soweit ich es zu ermitteln im Stande war, dahin zusammenfassen: »So Viel Fleisch und Bier, wie ich nur irgend lassen kann, und so wenig Arbeit wie möglich. Wogegen ich als Entgelt meinen Hut berühre, so oft ich dem Squire begegne, und mit dem Beruf zufrieden bin, den es Gott gefallen hat mir anzuweisen — dem elenden Beruf, in Finch’s Diensten zu stehen!«

Allmählig hatten wir den höchsten Punkt des Weges erreicht. Zu unserer Rechten senkte sich der Boden — sanft bis zu einem fruchtbaren Thal, in welchem ein Dorf mit einer Kirche lag; jenseits desselben breitete sich ein schändlicherweise privilegirtes, eingehegtes, aus Rasen und Bäumen bestehendes Stück Land aus, welches ein Tyrann von dem Gemeindeland abgetrennt hatte und welches nun ein Park hieß und inmitten desselben ein Palast, in welchem dieser Feind der Menschheit sich mästete und schwelgte. Zu unserer Linken erstreckte sich eine mit großen Grashügeln bedeckte, prächtige nur durch den Himmel begrenzte Ebene bis an den Horizont. Zu meinem Erstaunen stieg der Junge hier ab, nahm das Pony beim Kopf und führte es bedächtig von der Landstraße ab in die hügelige Graswildniß hinein, in welcher nah’ und fern ein Fußsteig nicht einmal zu entdecken war. Die Chaise fing an sich zu heben und zu senken und zu schaukeln wie ein Schiff auf hoher See. Ich mußte mich mit beiden Händen festhalten, um meinen Sitz zu behaupten. Ich dachte zuerst an mein Gepäck und dann an mich selbst.

»Wie lange geht das so fort?« fragte ich.

»Noch drei Meilen«, antwortete der Junge.

Ich bestand darauf, daß das Schiff — ich meine, die Chaise — stillhalte, damit ich aussteigen könne. Wir banden mein Gepäck mit einem Strick fest und machten uns dann wieder aus den Weg, der Junge beim Kopf des Pferdes und ich hinterher.

O, was das für ein prächtiger Spaziergang war! Welche reine Lust über, welch schönes Gras unter meinen Füßen! Die milde Lust des Inlandes hatte sich hier mit dem scharfen Salzgehalt der Seeluft zu einem köstlichen Lufthauche vereinigt. Der kurze, nach würzigen Kräutern duftende Rasen hob und senkte sich elastisch unter meinen Füßen, die weißen Wolken zogen wie Bergriesen in einer erhabenen Procession an dem blauen Himmel über meinem Haupte vorüber. Das in großen Massen zerstreut auf dem Grase wild wachsende stachliche Gebüsch prangte in prachtvoller gelber Blüthe. So ging es fort, Hügel auf und abwärts, bald nach rechts, bald nach links ablenkend. Ich schaute umher; da war kein Haus, keine Straße, da waren keine Fußsteige, keine Einhegungen, keine Hecken, keine Mauern, keine Landmarken irgend welcher Art. — Rund um uns her, wir mochten schauen wohin wir wollten, war nichts zu sehen als die majestätische Hügeleinöde. Da war kein lebendes Wesen zu sehen als die in der Ferne zerstreut aus dem grünen Grase weidenden, wie Flecken erscheinenden Schafe und die Lerche, die hoch über mir in den Lüften ihren Jubelgesang erschallen ließ. Wahrlich eine herrliche Gegend, die man auf einer Morgenspazierfahrt von dem geräuschvollem von Menschen wimmelnden Brighton erreichen konnte; aber ein in dieser Gegend Unbekannter würde seinen Weg wie bei einer Fahrt auf dem Meere nur mit dem Compaß haben finden können. Je weiter wir auf unserer Landreise vordrangen, desto wilder und schöner wurde die einsame Landschaft. Der Junge wählte seinen Weg wie es ihm gut schien — Abgrenzungen gab es hier nicht. — Ich marschirte im Schweiße meines Angesichts hinterher, von dem Gefährt sah ich bisweilen nur den in der Lust schwebenden Rücken der Chaise, während der Junge und das Pony beide meinen Blicken durch die steile Senkung eines Hügels entzogen waren. Bisweilen wieder hatte ich den umgekehrten Anblick; das ganze Innere der hügelan steigenden Chaise enthüllte sich meinen Blicken und über der Chaise erschien das Pony und über dem Pony der Junge und ach — mein Gepäck, das in den schwachen Banden des Strickes, von dem es umschlungen war, schwankte und schaukelte. Wohl zwanzigmal war ich darauf gefaßt, das Gepäck mit sammt dem Wagen, dem Pony und dem Jungen in die Tiefe hinabrollen zu sehen. Aber nein! Nicht der kleinste Unfall sollte mir den Genuß dieses Tages trüben. Wenn auch politisch verächtlich, hatte der Junge doch sein Gutes — er war ein vollkommen zuverlässiger Ponyfuhrmann und Führer durch das südliche Hügelland.

Als wir auf dem Gipfel des ich glaube fünfzigsten Hügels angelangt waren, fing ich an, mich nach Spuren des Dorfes umzusehen.

Hinter mir lagen die langen Hügelwellen mit den Wolkenschatten über der einsamen Ebene, die wir eben verlassen hatten, vor mir erblickte ich in der purpurnen Ferne eine sanfte weiße Linie, welche das Meer ankündigte, unter mir zu meinen Füßen öffnete sich ein Thal, das tiefer war als irgend eines der vorherigen, und als erstes Zeichen der Anwesenheit von Menschen einen abscheulich häßlichen viereckigen Flecken abgeholzten und bepflügten Landes auf der grasbewachsenen geneigten Ebene zeigte. Ich fragte den Jungen,« ob wir uns jetzt dem Dorfe näherten.

Der Junge blinzelte mit den Augen und antwortete »Da sind wir.«

Ein fabelhafter Junge, dieser Diener des Ehrwürdigen Finch. Ich mochte ihn fragen was ich wollte, immer antwortete dieses jugendliche Orakel in drei einsilbigen Worten.

Wir stiegen in das Thal hinunter.

In seiner Tiefe angelangt, entdeckte ich eine zweite Spur menschlicher Thätigkeit. Siehe da, ein erster gebahnter Weg — ein roher tief in den kalkigen Boden gepflügter Weg für Lastwagen! Wir fuhren quer über diesen Weg und bogen dann um die Ecke eines Hügels. Da traten mir neue Spuren menschlicher Wesen entgegen; zwei kleine Jungen tauchten plötzlich aus einer trockenen Grube auf, in der sie offenbar als Wachen postirt waren, um uns zu melden, sobald wir uns nähern würden. Sie stießen ein gellendes Geschrei aus, und setzten sich sofort in Bewegung, um uns auf einigen nur ihnen bekannten Nichtwegen voranzueilen. Wir bogen abermals in eine andere Wendung des Thales ein und überschritten einen Bach. Ich hielt es für meine Pflicht, mich mit den Namen der einzelnen Punkte bekannt zu machen. Ich fragte nach dem Namen des Bachs. Er hieß »der Hühnerschuß.« Und der große Hügel hier zu meiner Rechten? »Der Windhügel!« Fünf Minuten später sahen wir das erste Haus, es war ein kleines, einsam liegendes, aus Mörtel und Kieselsteinen, wie sie auf den Hügeln gefunden werden, erbaut es Häuschen. Ich fragte ob dieses Häuschen auch einen Namen habe?

Gewiß! Es hieß »Browndown.« Nachdem wir uns noch weitere zehn Minuten immer tiefer und tiefer in die geheimnißvollen grünen Windungen des Thales verloren hatten, wurde endlich das Ziel unserer Reise sichtbar. Der Junge wies mit seiner Peitsche vor sich hin und sagte, indem er auch in diesem feierlichen Augenblick nicht mehr als drei einsilbige Worte vernehmen ließ:

»Da sind wir.«

Das war also Dimchurch! schüttelte den Kalkstaub von meinem Kleiderrock. Vergebens sehnte ich mich nach einem noch so kleinen Spiegel, um mich darin sehen zu können. Da stand die Bevölkerung mindestens fünf bis sechs Personen die sich, von den Wachen benachrichtigt, zusammengeschaart hatte — und es lag mir als Frau ob, mich so vortheilhaft wie möglich zu präsentiren. Unser Weg führte uns längs der kleinen Straße hin. Ich lächelte der Bevölkerung zu und die Bevölkerung starrte mich ihrerseits an. An der einen Seite des Weges bemerkte ich drei oder vier Bauernhäuser mit ein wenig Weideland; dann einen Gasthof mit Namen »die gute Hand« und etwas mehr Weideland, und dann einen ganz, ganz kleinen Fleischerladen mit den Eingeweiden eines Hammels auf einer einzigen blauen Pieschüssel am Fenster und keinem andern Fleisch — und damit war das Dorf zu Ende und über diesen Laden hinaus war wieder nichts als grünes Weide und Hügelland zu sehen. An der andern Seite des Weges war eine Strecke weit nichts zu sehen als eine lange aus Steinen und Mörtel aufgeführte Mauer, welche die Nebengebäude eines Pachthofs umschloß. Auf diese Mauer folgte wieder eine kleine Gruppe von Häusern, denen das Siegel der Civilisation in Gestalt eines Postamts aufgedrückt war. Das Postamt befand sich in einem Laden, in welchem alle möglichen Artikel zu haben waren: Stiefeln und Speck, Zwieback und Flanell, Crinolinen und Tractätchen. Noch etwas weiter und es erschien wieder eine steinerne Mauer, ein Garten und ein Privatwohnhaus, welches sich sofort als das Pfarrhaus zu erkennen gab. Noch etwa weiter erhob sich auf einer Anhöhe eine kleine, einsame Kirche mit einem winzigen runden, weißen Thurm, welchen eine aus rothen Ziegelsteinen bestehende Spitze in Gestalt eines Auslöschers krönte. Und dann kam wieder nichts als Hügel und Himmel. Das war Dimchurch!

Was soll ich von den Einwohnern sagen? Ich glaube, ich muß die Wahrheit bekennen. Unter den Bewohnern fiel mir ein einziger wirklicher Gentleman und das war ein Schäferhund auf. Er allein fühlte sich — gedrungen, mir die Honneurs des Orts zu machen. Er hatte einen Schwanzstumpf, mit dem er mich unter großen Schwierigkeiten anwedelte, und ein gutes rechtschaffenes weiß und schwarz geflecktes Gesicht, das er mir zuthunlich in meine Hand steckte. »Willkommen, Madame Pratolungo, in Dimchurch und entschuldigen Sie die Arbeiter mit ihren Weibern, die da stehen und Sie angaffen. Der gute Gott, der uns Alle erschaffen, hat auch sie erschaffen, nur ist es ihm nicht so gut geglückt wie mit Ihnen und mir.« Ich gehöre zu den wenigen Menschen, welche die Sprache der Hunde, wie sie in ihren Gesichtern geschrieben steht, lesen können. Ich habe die Worte des Schäferhundes getreulich berichtet

Wir öffneten die Pforte des Pfarrhauses und traten ein. So war meine Land Seereise glücklich von Statten gegangen.



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Drittes Kapitel - Das arme Fräulein Finch

Das Pfarrhaus glich in einer Beziehung der Erzählung, die ich zu schreiben im Begriff stehe. Es bestand aus zwei Theilen. Der erste Theil, der vordere, welcher aus dem Mörtel und Kiesel der Gegend bestand, hatte kein Interesse für mich; der zweite Theil, der einen rechten Winkel mit der Rückseite des Vordertheils bildete, war augenscheinlich ein altes Gebäude. Es war, wie ich später hörte, seiner Zeit ein Nonnenkloster gewesen. Hier sah man gemüthliche kleine gothische Fenster und dunkle mit Epheu bedeckte Mauern von ehrwürdigem Stein, welche in einer früheren Zeit an einigen Stellen mit zierlichen rothen Backsteinen aus gebessert waren. Ich hatte gehofft, daß ich das Haus von dieser Seite her betreten würde. Aber nein. Der Junge schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, was er mit mir anfangen solle, führte mich aber dann an eine Thür der neueren Seite des Gebäudes und zog die Glocke.

Ein unordentlich aussehendes junges Dienstmädchen öffnete mir die Thür.

Vielleicht war die Pflicht, Fremde zu empfangen, etwas neues für diese Person, oder vielleicht wurde sie durch eine Herde von Kindern in schmutzigen Kleidern, welche auf dem Vorplatze auf uns losstürzten, bei dem Anblick einer Fremden aber dann eben so rasch kreischend wieder in unsichtbare hintere Raume verschwanden, außer Fassung gebracht, — jedenfalls schien auch sie durchaus nicht zu wissen, was sie mit mir anfangen solle. Nachdem sie mein Gesicht eine Zeitlang angestarrt hatte, öffnete sie plötzlich eine am Vorplatz liegende Thür und führte mich in ein kleines Zimmer. Aus diesem mir so gebotenem Asyl stürzten bei meinem Eintritt wieder zwei Kinder in schmutzigen Kleidern kreischend heraus. Ich nannte meinen Namen, sobald ich zu Worte kommen konnte. Das Mädchen schien entsetzt über die Länge des Namens. Ich gab ihr meine Karte; sie nahm sie zwischen ihren schmutzigen Zeigefinger und ihren ebenso schmutzigen Daumen, betrachtete sie, als ob es eine außerordentliche Natur merkwürdigkeit sei, drehte sie um, indem sie mit ihrem Zeigefinger und Daumen verschiedene schwarze Flecke darauf drückte, verzweifelte dann ersichtlich daran, über die Bedeutung der Karte ins Klare zu kommen und ging hinaus. Draußen wurde sie, wie ich aus den an mein Ohr dringenden Tönen schloß, durch einen neuen Sturm der Kinder auf dem Vorplatz zurückgehalten. Ich hörte Flüstern, Kichern und dann und wann einen lauten Stoß gegen die Thür. Vermuthlich auf Antrieb der Kinder, jedenfalls von ihnen geschoben, trat das Mädchen plötzlich wieder in die Thür. »Wollen Sie gefälligst mit mir kommen«, sagte sie. Die Kinderschaar zog sich wieder treppenaufwärts zurück. Eines derselben, das meine Karte in der Hand hielt, schwang diese, auf dem ersten Treppenabsatz stehend, hin und her.

Das Mädchen führte mich über den Vorplatz und öffnete eine an der andern Seite desselben liegende Thür. Unangemeldet trat ich so in ein anderes größeres Zimmer Was fand ich hier?

Endlich war das Glück mir günstig gewesen. Mein guter Stern hatte mich zu der Frau vom Hause geführt. Ich machte meinen besten Knix und fand mich einer großen blonden, languissanten lymphatischen Dame gegenüber, die sich in dem Augenblicke meines Erscheinens offenbar die Zeit damit vertrieben hatte, im Zimmer auf und abzugehen. Wenn es wirklich Wassernixen giebt, so war sie gewiß eine. Aus ihrem farblosen weißen Gesicht lag ein feuchter Schimmer und ihre blaßblauen Augen hatten etwas unaussprechlich Wässeriges. Ihr Haar war ungemacht und ihre Spitzenhaube saß ihr ganz schief auf dem Kopfe. Ihr Oberkörper war in eine lose Jacke von blauen Merino gekleidet; ihr Unterkörper von einem Dimiti-Schlafrock von zweifelhaftem Weiß umhüllt. In der einen Hand hielt sie ein schmutziges, reichlich mit Eselsohren versehenes Buch, dem ich es auf der Stelle ansah, daß es ein Leihbibliotheksroman sei. Mit der andern Hand hielt sie ein auf ihrem Arm ruhendes, in Flanell gewickeltes Baby, das an ihrer Brust sog. So trat mir die Frau des ehrwürdigen Finch zuerst entgegen, und so und nicht anders sollte sie mir auch in der Folge immer wieder erscheinen. Niemals ganz angezogen, niemals ganz trocken, immer mit einem Baby in der einen und einem Roman in der andern Hand.

»O! Madame Pratolungo? Ja. Ich hoffe, daß jemand Fräulein Finch angezeigt hat, daß Sie hier sind. Sie hat ihr eigenes Logis und besorgt alle ihre Angelegenheiten selbst. Haben Sie eine gute Reise gehabt?« Sie sprach diese Worte wie abwesend, als ob ihr Geist mit etwas anderem beschäftigt sei. Mein erster Eindruck war, daß sie eine schwache gutmüthige Frau sei und daß sie früher eine untergeordnete Stellung im Leben eingenommen haben müsse.

»Ich danke Ihnen, Frau Finch«, antwortete ich, »die Reise über Ihre schönen Hügel hat mir das größte Vergnügen gemacht «

»O, gefallen Ihnen die Hügel? Entschuldigen Sie meinen Anzug. Ich bin diesen Morgen eine halbe Stunde zu spät aufgestanden. Und wenn man in diesem Hause einmal eine halbe Stunde verloren hat, kann man sie nie wieder einbringen, mag man es versuchen, wie man will.«

Ich sollte bald dahinter kommen, daß Frau Finch regelmäßig jeden Tag eine Stunde verlor und daß es ihr niemals unter irgend welchen Umständen gelang; diese verlorene halbe Stunde wieder einzuholen.

»Ich begreife, Frau Finch. Die Sorge für eine zahlreiche Familie —«.

»Ja, das ist es gerade!« (eine Lieblingsphrase von Frau Finch). »Zuerst kommt Finch; er steht früh auf und arbeitet im Garten. Dann kommt das Waschen — der Kinder und die schreckliche Wirthschaft in der Küche Und Finch kommt herein, wenn es ihm beliebt, und verlangt sein Frühstück. Und natürlich kann ich das Baby nicht verlassen und eine halbe Stunde geht Einem dabei so leicht verloren, daß ich nicht weiß, wie ich sie wieder einholen soll.« In diesem Augenblick fing das Baby an durch gewisse Anzeichen zu erkennen zu geben, daß es mehr mütterliche Nahrung zu sich genommen habe, als sein kindlicher Magen gut vertragen konnte. Ich hielt den Roman, während Frau Finch ihr Taschentuch erst in ihrer Schlafrockstasche, dann hier und dort überall im Zimmer suchte.

In diesem kritischen Augenblicke wurde an die Thür geklopft. Es erschien eine ältliche Frau, welche einen sehr wohlthuenden Contrast zu den Mitgliedern des Hauses bildete, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte. Sie war sauber gekleidet und begrüßte mich mit der höflichen Ruhe eines civilisirten Wesens.

»Verzeihen Sie, Madame, meine junge Herrin hat erst eben von Ihrer Ankunft gehört. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«

Ich wandte mich wieder an Frau Finch. Sie hatte ihr Tuch gefunden und hatte die Folgen ihrer Befeuchtung beseitigt und ihr Baby wieder in Ordnung gebracht. Ich gab ihr mit ehrerbietiger Miene den Roman wieder.

»Ich danke Ihnen«, sagte Frau Finch .

»Ich finde, daß Romane mein Gemüth beruhigen. Lesen Sie auch Romane? Erinnern Sie mich daran, ich will Ihnen morgen diesen Roman leihen.«

Ich dankte für diese Freundlichkeit und verließ das Zimmer. An der Thitr wandte ich mich noch einmal um, um die Frau vom Hause beim Hinausgehen zu begrüßen. Frau Finch spazierte schon wieder mit dem Baby in der einen, dem Roman in der anderen Hand, in ihrem nachschleppenden Dimiti.Schlafrock im Zimmer auf und ab.

Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten einen kahlen geweißten Vorplatz mit grau gemalten Thüren, die wie ich annahm, zu den Schlafzimmern des Hauses führten. Jede dieser Thüren öffnete sich als wir daran vorbeikamen; aus jeder guckten Kinder hervor, die mich ansahen und ankreischten und dann die Thür wieder zuschlugen. »Wie viele Kinder hat die jetzige Frau Finch?« fragte ich. Die adrette ältliche Frau wurde durch diese Frage veranlaßt still zu stehen und nach zudenken. »Mit dem Baby und zwei Paar Zwillingen und einem etwas schwachsinnigen Siebenmonatskinde sind es im Ganzen vierzehn, Madame.« Als ich das hörte, empfand ich, trotz meiner Ueberzeugung, daß Priester, Könige und Kapitalisten die Feinde der Menschheit sind, ein gewisses Interesse an dem ehrwürdigen Finch. Hatte er nie gewünscht ein Priester der römisch-katholischen Kirche zu sein, dem ein gütiges Verbot das Heirathen unmöglich machte? Während mir diese Frage durch den Kopf ging, nahm meine Begleiterin einen Schlüssel zur Hand und öffnete damit eine schwere eichene Thür am andern Ende des Corridors. »Wir müssen die Thüren verschlossen halten, Madame«, rief sie, »sonst würden die Kinder den ganzen Tag bei uns ein und auslaufen.«

Ich gestehe, daß ich nach dem, was ich bis jetzt von den Kindern gesehen hatte, auf die geöffnete Thür mit einem Gefahr der Dankbarkeit und Achtung blickte Wir bogen um eine Ecke und befanden uns auf dem gewölbten Corridor des älteren Theils des Hauses. Die auf der einen Seite in tiefen Nischen befindlichen Fenster gingen auf den Garten hinaus; jede Nische war mit Topfgewächsen ausgefüllt. Die gegenüberliegende Wand war mit hellen Vorhängen von buntem Kattun heiter decorirt. Die Thüren waren milchweiß mit vergoldeten Rahmungen Der hellgemusterten Matte unter unsern Füßen sah ich ihren südamerikanischen Ursprung sofort an. Der Plafond war von einem zarten Blaßblau mit Borten von Blumengewinden. Nirgends war auf dem ganzen Corridor auch nur das kleinste dunkle Fleckchen zu erblicken. Am unteren Ende des Corridors stand eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt, die sich über die Blumen in der Fensternische beugte. Das war das blinde Mädchen, deren dunkle Tage ich zu erheitern gekommen war. Die Bewohner der zerstreut liegenden Dörfer der Umgegend bekundeten ihr Mitgefühl für das blinde Mädchen, indem sie sie stets »das arme Fräulein Finch« nannten. Ich kann sie mir nur unter ihrem hübschen Vornamen vorstellen Für mich ist sie, so oft meine Erinnerung bei ihr verweilt, »Lucilla«. So will ich sie denn auch hier Lucilla nennen. Als mein Blick zum ersten Mal auf ihr ruhte, war sie damit beschäftigt, die vertrockneten Blätter von ihren Blumen abzulesen. Ihr feines Ohr hatte den ihr fremden Klang meiner Fußtritte schon lange, bevor ich dahin gelangte, wo sie stand, bemerkt. Sie richtete sich auf und kam mir rasch entgegen; auf ihren Wangen zeigte sich eine leichte Röthe, die aber alsbald wieder verschwand. Ich hatte in früheren Jahren einmal die Dresdner Bildergallerie besucht. Je näher Lucilla auf mich zutrat, desto lebhafter wurde ich an die Perle jener Sammlung »die Sixtinische Madonna« erinnert. Die schöne breite Stirn, die eigenthümliche Fülle des Fleisches zwischen Augenbrauen und Augenlidern, die zarten Umrisse des unteren Theils des Gesichts, die feingeschnittenen Lippen, die Farbe der Haut und des Haares, Alles erinnerte in ganz frappanter Weise an die liebliche Gestalt des Dresdener Bildes. Der Theil des Gesichts aber, bei dem die Aehnlichkeit in trauriger Weise aufhörte, waren die Augen. Die göttlich schönen Augen der Raphael’schen Madonna fehlten ihrem lebendigen Ebenbilde. Es war nichts Mißgestaltetes, nichts, wovor man hätte zurückschrecken können, an meiner blinden Lucilla. Die armen trüben, blinden Augen hatten einen matten, starren, ausdruckslosen Blick — das war Alles. Ueber ihnen, unter ihnen, neben ihnen bis an die Ränder ihrer Augenlider war Alles Schönheit, Leben. In ihnen aber — war es todt! Von diesem einzigen Mangel abgesehen, war mir nie, ein reizenderes Geschöpf vorgekommen. Sonst war nichts an ihrer Erscheinung mangelhaft. Sie hatte die angenehme Höhe, die wohlproportionirte Gestalt und die Länge der Gliedmaßen, welche allen Bewegungen eines Weibes ohne Weiteres Grazie verleihen. Ihre Stimme war entzückend klar, heiter, sympathisch. Diese Stimme und ihr Lächeln, das der Schönheit ihres Mundes noch einen besonderen Reiz verlieh, gewannen mein Herz, noch ehe sie mir nahe genug gekommen war, um ihre Hand in die meinige zu legen.

»O, liebes Kind«, sagte ich in meiner ungenirten Weise, »wie freue ich mich, Sie zu sehen.«

Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, so hätte ich mir wegen der brüsten Worte, mit denen ich sie sofort an, ihre Blindheit erinnerte, die Zunge ausreißen mögen. Ich fühlte mich sehr erleichtert, als sie durch nichts zu erkennen gab, daß sie meinen Verstoß so wie ich selbst empfunden habe.

»Darf ich Sie aus meine Art sehen?« fragte sie mit sanfter Stimme, indem sie ihre hübsche weiße Hand empor hielt. »Darf ich ihr Gesicht berühren?«

Ich setzte mich ohne weiteres auf die Fensterbank. Ihre weichen rosigen Fingerspitzen schienen im Nu mein ganzes Gesicht zu betasten. Zu drei verschiedenen Malen ließ sie ihre Hand rasch über mein Gesicht fahren, während sich auf ihrem eigenen Gesichte gleichzeitig die gespannteste Aufmerksamkeit auf das, was sie that, malte.

»Reden Sie wieder!« sagte sie plötzlich, während sie ihre Hand noch vor meinem Gesichte hielt.

Ich fing an etwas zu sagen, aber sie verschloß mir den Mund alsbald mit einem Kuß, indem sie vergnügt ausrief: »Nicht weiter. Ihre Stimme sagt meinen Ohren, was Ihr Gesicht meinen Fingern sagt. Ich weiß, Sie werden mir gefallen. Kommen Sie und sehen Sie sich die Zimmer an, die wir zusammen bewohnen werden.«

Als ich aufstand, schlang sie ihren Arm um meine Taille, zog ihn aber sogleich wieder zurück und machte eine ungeduldige Bewegung mit den Fingern, als ob sie dieselben verletzt habe.

»Haben Sie sich an einer Nadel gestochen?« fragte ich.

»Nein, nein, was für eine Farbe hat das Kleid, das sie tragen?«

»Dunkelviolett.«

»O, das wußte ich; bitte, tragen Sie keine dunklen Farben. Ich habe in meiner Blindheit einen wahren Abscheu gegen Alles, was dunkel ist. Bitte, liebe Madame Pratoluqo, tragen Sie mir zu Gefallen hübsche helle Farben!«

Dabei umschlang sie wieder liebkosend, dieses Mal jedoch — meinen Nacken, wo ihre Hand auf meinem leinenen Kragen ruhen konnte.

»Sie ziehen sich vor Tisch anders an, nicht wahr?« flüsterte sie. »Lassen Sie mich für Sie auspacken und ein Kleid wählen, daß mir gefällt.«

Jetzt konnte ich mir die glänzende Decoration des Corridors erklären!

Wir betraten die Zimmer, ihr Schlafzimmer, mein Schlafzimmer und unser zwischen beiden liegendes Wohnzimmer. Ich war darauf gefaßt, sie so zu finden wie sie wirklich waren, so freundlich, wie Spiegel, Vergoldungem hellfarbige Verzierungen und heitere Ninppes aller Art sie machen konnten. Sie glichen mehr den Zimmern in meiner Heimath als den Zimmern des schmuck und farblosen England. Das einzige, was mich noch in Erstaunen setzte, war der Gedanke, daß all dieser schöne gefällige Einige Schmuck in Lucilla’s Wohnung eigens auf den Wunsch eines jungen Mädchens angeordnet war; das nicht sehen konnte. Spätere Erfahrungen sollten mich lehren, daß die Blinden ein Phantasieleben führen können und ihre Lieblingsideen und Illusionen haben wie wir Anderen auch.

Um mein dunkelviolettes Kleid nach Lucilla’s Wunsch wechseln zu können, mußte ich nothwendig erst meine Koffer haben. Soviel ich wußte, hatte der Junge, der mich hergebracht, mein Gepäck zugleich mit dem Pony nach dem Stall gebracht. Noch bevor Lucilla klingeln konnte, um sich nach dem Verbleib meiner Sachen zu erkundigen, erschien die ältliche Frau, die mich hinaufgeführt, uns aber schweigend verlassen hatte, als wir miteinander auf dem Corridor sprachen, wieder, gefolgt von dem Jungen und einem Stallknecht, welche meine Sachen brachten. Außer meinem Gepäck brachten sie auch noch verschiedene Packete von in der Stadt gekauften Sachen für ihre junge Herrin und eine in weißes Papier gewickelte Flasche mit, welche wie eine Medicinflasche aussah, und welche im Laufe des Tages noch ihre Rolle spielen sollte.

»Das ist meine alte Amme«, sagte Lucilla, indem sie mir ihre Aufwärterin vorstellte. »Zillah versteht sich ein wenig auf Alles, Kochen mit einbegriffen Sie hat darin in einem Londoner Clubhause Unterricht genommen. Sie müssen Zillah um meinetwillen gern haben, Madame Pratolungo. Sind Ihre Koffer offen?«

Indem sie das fragte, legte sie sich vor den Koffern auf die Knie. Kein Mädchen im vollsten Besitz seiner Sehkraft hätte sich mehr damit amüsiren können als es Lucilla that. Dieses Mal jedoch sollte sie die wunderbare Feinheit ihres Tastsinns im Stiche lassen. Von zweien meiner Kleider, welche zufällig ein ganz gleiches Gewebe, aber eine verschiedene Farbe hatten, wählte sie das dunkle als das vermeintlich helle aus. Ich sah daß ich sie tief betrübte, als ich sie auf ihr Versehen aufmerksam machte. Die nächste Vermuthung jedoch, die sie aussprach, gab ihr ihre Zuversicht auf das sichere Gefühl ihrer Fingerspitzen wieder. Sie entdeckte die Streifen in einem Paar heller Strümpfe und wurde dadurch wieder heiter gestimmt.

»Halten Sie sich nicht lange bei Ihrer Toilette auf«, sagte sie, indem sie mich verließ. »Wir essen in einer halben Stunde zu Mittag. Französische Gerichte zu Ehren Ihrer Ankunft. Ich esse gern gut; ich bin was man bei Ihnen gourmande nennt. Und hier sehen Sie die traurigen Folgen.« « Damit legte sie einen Finger an ihr hübsches Kinn. »Ich werde fett; ich bin mit einem Doppelkinn bedroht und das mit zweiundzwanzig Jahren! Abscheulich! Abscheulich!«

Mit diesen Worten verließ sie mich. Und das war der erste Eindruck, den ich von »dem armen Fräulein Finch« empfing.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel - Begegnung mit dem Manne im Zwielicht

Unser kleines angenehmes Diner war schon lange vorüber. Wir hatten geplaudert und zwar, wie es Frauen zu thun pflegen, nur über uns selbst. Der Tag ging seinem Ende entgegen. Die untergehende Sonne ergoß eben ihren letzten rothen Schimmer über unser hübsches Wohnzimmer, als Lucilla, wie wenn ihr plötzlich etwas einfiele, aufsprang und klingelte.

Zilla erschien. »Die Flasche aus der Apotheke«, sagte Lucilla. »Ich hätte schon vor Stunden daran denken sollen.«

»Wollen Sie die Flasche Susannen selbst bringen, liebes Kind?«

Es freute mich zu hören, daß die alte Amme so so familiär mit ihrer jungen Herrin verkehrte. Es war das so durchaus unenglisch. Nieder mit dem teuflischen System der Sonderung der Stände in diesem Lande!

»Jawohl, ich will sie selbst hinbringen.«

»Soll ich mit Ihnen gehen?«

»Nein, nein. Dazu ist gar keine Veranlassung.« Dann wandte sie sich zu mir mit den Worten: »Sie sind wohl nach Ihrem Marsche über die Hügel zu müde, um noch auszugehen?«

Ich hatte zu Mittag gegessen; und etwas geruht, war daher völlig bereit, wieder auszugehen und sagte das.

Lucilla’s Gesicht erheiterte sich. Aus irgend einem besonderen Grunde war ihr ersichtlich daran gelegen gewesen, mich zu überreden, mit ihr auszugehen.

»Es handelt sich nur um einen Besuch bei einer armen gichtischen Frau im Dorfe«, sagte sie. »Ich habe etwas zum Einreiben für sie und kann ihr das nicht gut schicken, sie ist alt und eigensinnig. Wenn ich es ihr selbst bringe, so glaubt sie an die Heilkraft des Mittels, wenn es ihr aber ein Anderer bringt, so wirft sie es unfehlbar bei Seite. Ueber unserem angenehmen langen Geplauder hatte ich die Frau ganz vergessen. Wollen wir uns fertig machen?«

Kaum hatte ich die Thür meines Schlafzimmers hinter mir geschlossen, als an dieselbe geklopft wurde. War es Lucilla? Nein, es war die alte Amme, die mit einer geheimnißvollen Miene, den Finger, wie zu einer vertraulichen Mittheilung, auf den Mund gelegt, auf den Fußspitzen eintrat.

»Verzeihen Sie, Madame,« fing sie flüsternd an: »Mir scheint, Sie sollten wissen, daß meine junge Herrin einen besonderen Zweck dabei hat, daß sie heute Abend mit Ihnen ausgeht. Sie brennt wie wir Alle vor Neugierde. Gestern Abend hat sie mich mit sich genommen, und bediente sich meiner Augen, um damit zu sehen, aber meine Augen haben sie nicht befriedigt. Nun will sie es mit Ihren Augen versuchen.«

»Was erregt denn Fräulein Lucilla’s Neugierde so sehr«, fragte ich.

»Das ist natürlich genug, das arme liebe Kind«, fuhr die Alte fort; indem sie ihren Gedankengang verfolgte, ohne die geringste Notiz von meiner Frage zu nehmen. »Keiner von uns kann etwas über ihn herausbringen Er geht gewöhnlich in der Dämmerung spazieren, Sie können daher ziemlich sicher darauf rechnen, ihn heute Abend zu treffen und selbst beurtheilen, Madame, was mit einem so unschuldigen Geschöpf, wie Fräulein Lucilla, am Besten bei der Sache zu thun ist.«

Diese sonderbare Antwort erweckte nun meine Neugierde auf’s Aeußerste.

»Beste Frau«, sagte ich, »Sie vergessen, daß ich eine Fremde bin. Ich weiß ja nichts von der Sache. Hat dieser geheimnißvolle Mann einen Namen? Wer ist er denn?!«

Kaum hatte ich diese Frage gethan, als wieder an die Thür geklopft wurde Zillah flüsterte mir eifrig zu: »Machen Sie keinen Gebrauch von dem, was ich Ihnen gesagt habe. Sie werden ja selbst sehen. Ich habe nur im Interesse meiner jungen Herrin mit Ihnen gesprochen.« Sie humpelte fort und öffnete die Thür, und da stand Lucilla mit ihrem zierlichen Gartenhute auf dem Kopfe, meiner wartend.

Wir traten durch unsern eigenen Eingang in den Garten und gelangten durch eine Pforte in der Mauer in das Dorf.

Nach der Warnung, die ich von der Amme er erhalten hatte, durfte ich nicht daran denken, irgend welche Fragen an Lucilla zu richten, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, gleich am ersten Tage, wo ich in unsere kleine Familie eingetreten war, Unheil anzurichten. Ich hielt meine Augen weit offen und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ich beginn übrigens gleich bei unserm Fortgehen einen Verstoß, ich bot Lucilla meine Hand, um sie zu führen. Sie brach in lautes Lachen aus.

»Liebe Madame Pratolungo«, ich kenne den Weg besser als Sie. Ich streife hier überall in der Gegend umher, ohne einen andern Führer als den da.« Da bei hielt sie einen zierlichem elfenbeinernen Spazierstock, an welchem eine hellseidene Troddel befestigt war, empor. Mit ihrem Spazierstock in der einen, ihrer Medizinflasche in der andern Hand und ihrem kecken Hütchen auf dem Kopfe, gab sie das reizendste Bild ab, das ich seit lange gesehen hatte. »Sie müssen mich führen, liebes Fräulein!« sagte ich, indem ich ihren Arm ergriff. Wir gingen in das Dorf. Nichts was auch nur die entfernteste Aehnlichkeit mit einer mysteriösen Gestalt gehabt hätte, begegnete uns in der Dämmerung. Die wenigen vereinzelten Arbeiter welche ich bereits gesehen hatte, sah ich wieder, sonst nichts. Lucilla verhielt sich schweigend, argwöhnisch schweigend, wie ich nach dem, was Zillah mir gesagt hatte, annahm. thr Blick war, wie ich mir einbildete, der einer Person, welche mit gespannter Aufmerksamkeit auf etwas horcht. Als wir vor dem Häuschen der gichtkranken Frau angelangt waren, hielt sie an und trat ein, während ich draußen auf sie wartete. Die Einreibung dauerte nicht lange. Lucilla war gleich wieder da und sie ergriff jetzt meinen Arm von selbst. »Mögen Sie noch etwas weiter gehen?« fragte sie. »Es ist so angenehm und kühl um diese Zeit des Abends.«

Was es auch sein mochte, woraus sie es abgesehen hatte, jedenfalls suchte sie dieses Etwas jenseits des Dorfes. In der feierlichen friedlichen Dämmerung verfolgten wir die einsamen Windungen des Thales, durch welche mein Weg mich am Morgen geführt hatte. Als wir dem kleinen einsam gelegenen Häuschen, welches ich bereits als »Browndown« kennen gelernt hatte, gegenüber anlangten, fühlte ich, wie ihre Hand unwillkürlich meinen Arm fester drückte. »Aha«, dachte ich bei mir«, hat Browndown etwas damit zu thun?«

»Sieht die Landschaft heute Abend sehr öde aus?« fragte sie, indem sie ihr Stöckchen in die Luft schwang.

Der wahre Sinn dieser Frage, wie ich sie auffaßte, war: »Sehen Sie irgend jemand, der aus dem Hause kommt?« Indessen kam es mir nicht zu, ihrer Frage einen besonderen Sinn unterzulegen, bevor sie noch den Augenblick für gekommen gehalten hatte, mir ihr Geheimniß anzuvertrauen. Ich antwortete nur: »Mir erscheint die Aussicht sehr schön, liebes Fräulein.«

Sie schwieg wieder und versank in ihre Gedanken. Wir bogen in eine neue Windung des Thales ein und hier endlich kam uns eine menschliche Gestalt, die Gestalt eines einzelnen Mannes von der andern Seite entgegen.

Als wir einander näher kamen, bemerkte ich, daß es ein in ein helles Jagdröckchen gekleideter Herr war, der einen kegelförmigen italienischen Filzhut auf dem Kopfe trug. Als er uns noch ein wenig näher gekommen war, sah ich, daß er jung, und bei noch größerer Annäherung, daß er schön, wenn auch von etwas weibischer Schönheit war. Alsbald vernahm Lucilla seine Fußtritte, erröthete und preßte wieder unwillkürlich ihre Hand auf meinen Arm. Hier war also endlich der geheimnißvolle Gegenstand, von welchem Zillah mit mir gesprochen hatte! Ich habe, ich nehme keinen Anstand, es auszusprechen, ein gutes Auge für Mannesschönheit. Ich sah ihn an, als er an uns vorüberging. Nun kann ich feierlich versichern, daß ich keine häßliche Frau bin. Gleichwohl sich ich, als sich unsere Augen begegneten, wie sich das Gesicht des fremden Herrn plötzlich zu einem Ausdruck verzog, der mir deutlich sagte, daß ich einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nicht ohne Schwierigkeit, denn meine Begleiterin hielt meinen Arm fest und schien geneigt, still zu stehen, beschleunigte ich meine Schritte, so daß ich rasch an ihm vorüber kam wobei ich, glaube ich, nicht verfehlte, ihm durch meinen Gesichtsausdruck zu erkennen zu geben, daß ich die Veränderung seines Gesichtsausdrucks bei meinem Anblick als eine Impertinenz betrachtete. Dem sei übrigens wie ihm wolle, nach einer kurzen Weile hörte ich seine Schritte hinter uns; der Mann war umgekehrt und war uns gefolgt. Er trat an Lucilla’s andere Seite und zog den Hut.

»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er. »Sie haben mich eben angesehen.«

Bei dem ersten Wort, das er sprach, fühlte ich, wie Lucilla zusammenfuhr. Ihre auf meinem Arme liegende Hand fing in Folge einer mir unbegreiflichen Aufregung zu zittern an. In der zwiefachen Bestürzung über Lucilla’s Erregung und der so unerwartet gegen mich erhobenen Beschuldigung, einen Mann dadurch, daß ich ihn angesehen hatte, beleidigt zu haben, erlitt ich den merkwürdigsten Verlust, der einer Frau begegnen kann, den Verlust der Sprache .

Er ließ mir keine Zeit, wieder zu mir zu kommen. Er fuhr ohne weiteres mit dem, was er zu sagenhatte, fort, indem er im Ton eines vollkommen wohl erzogenen Mannes, ohne irgend etwas Unheimliches im Blick oder etwas Sonderbares in seinem Benehmen zu zeigen, sprach:

»Entschuldigen Sie, wenn ich es wage, eine sehr sonderbare Frage an Sie zu richten:

»Waren Sie zu fällig am 3. vorigen Monats in Exeter?«

Ich hätte weniger oder mehr als eine Frau sein müssen, wenn ich jetzt nicht den Gebrauch meiner Zunge wiedergefunden hätte.«

»Ich bin in meinem Leben nicht in Exeter gewesen«, antwortete ich. »Darf ich Sie nun meinerseits fragen, warum Sie diese Frage an mich richten?«

Anstatt mir zu antworten, sah er Lucilla an.

»Verzeihen Sie mir abermals. Vielleicht daß diese junge Dame —?«

Er stand offenbar im Begriff zu fragen, ob Lucilla in Exeter gewesen sei, als er plötzlich inne hielt. In dem aufregenden Interesse, mit welchem der ganze Vorgang sie erfüllte, hatte sie ihm ihr volles Gesicht zugekehrt. Ihre Augen hatten noch Ausdruck genug, um ihre eigene traurige Geschichte in ihrer stummen Sprache zu erzählen. Als der Fremde das Schicksal dieser Augen in ihnen las, nahm sein Blick, der noch eben etwas scharf Forschendes gehabt hatte, einen, tief betrübten Ausdruck an. Er zog wieder den Hut und verneigte sich gegen mich in der ehrerbietigsten Weise.

»Ich habe«, sagte er sehr ernst, »Ihre und der jungen Dame Verzeihung zu erbitten. Bitte, verzeihen Sie mir. Mein sonderbar es Benehmen findet seine Entschuldigung in etwas, was ich mir selbst nicht zu erklären weiß. Ich fühlte mich unglücklich, als Sie mich ansahen. Ich kann nicht sagen warum. Guten Abend.«

Wie Jemand, der verwirrt und verschämt ist, wandte er sich rasch ab und ging seines Weges. Ich kann nur wiederholen, daß in seinem Benehmen nichts Sonderbares oder Beunruhigendes lag. Man kann den Mann, wie er sich uns präsentirte, gerechter Weise und ohne Uebertreibung nur als einen vollkommenen Gentleman im Vollbesitz seines Verstandes bezeichnen. Ich sah Lucilla an. Sie stand, ihr blindes Antlitz gen Himmel gerichtet, selbstverloren, wie ein verzückter Mensch.

»Wer ist der Mann?« fragte ich.

Meine Frage schien sie plötzlich aus« ihrem Himmel zu reißen und wieder auf die Erde zu bringen. »O«, sagte sie tn vorwurfsvollem Tone, »wir klang seine Stimme noch im Ohr und nun ist sie verklungen.

Wer ist Er?« fügte sie nach einer kurzen Pause meine Frage wiederholend hinzu. »Das weiß niemand. Er zählen Sie mir doch, wie er aussieht. Ist er schön? Er muß schön sein, mit einer solchen Stimme!«

»Haben Sie seine Stimme heute zum ersten Male gehört?« fragte ich.

»Ja, er ging gestern, als ich mit Zillah spazieren ging, an uns vorüber.,Aber er sprach nicht. Wie sieht er aus? Bitte, erzählen Sie mir doch wie er aussieht!«

In ihrem Tone lag etwas leidenschaftlich Ungeduldiges, das mich warnte, sie nicht zu reizen. Es fing an dunkel zu werden. Es schien mir gerathen vorzuschlagem nach Hause zurückzukehren. Sie erklärte sich bereit, Alles zu thun, was ich wünsche, wenn ich ihr nur den unbekannten Mann beschreiben wolle. Auf dem ganzen Rückwege hatte ich fortwährend so viele Fragen zu beantworten, daß mir zu Muthe ward, als sei ich ein bei einer gerichtlichen Verhandlung von den Advocaten in ein geschicktes Kreuzverhör genommener Zeuge. Lucilla schien durch das Ergebniß des Verhörs einstweilen befriedigt zu sein. »Ach!« rief sie aus, indem sie das Geheimniß verrieth, das ihre alte Amme mir anvertraut hatte, »Sie verstehen Ihre Augen zu gebrauchen. Zillah konnte mir nichts sagen.«

Als wir wieder zu Hause waren, nahm ihre Neugierde eine andere Richtung »Exeter«, sagte sie nachdenklich »Er erwähnte Exeter. Mir geht es gerade wie Ihnen, ich war nie in meinem Leben dort. Lassen Sie uns doch einmal sehen, was wir aus Büchern über Exeter erfahren können?« Sie sandte Zillah nach dem Vorderhause ab, um sich von ihrem Vater ein geographisches Wörterbuch zu erbitten Ich folgte der Alten auf den Vorplatz und beruhigte sie, indem ich ihr zuflüsterte: »Ich habe Ihr Geheimniß bewahrt; der Mann begegnete uns in der Dämmerung, wie sie es herausgesehen hatten. Ich habe mit ihm gesprochen und bin jetzt eben so neugierig, wie Sie. — Holen Sie, bitte, das Buch.«

Lucilla hatte mich, die Wahrheit zu gestehen, mit ihrer Hoffnung angesteckt, das geographische Worterbuch könne uns vielleicht behilflich sein, die merkwürdige Frage des Fremden in Betreff des 3ten vorigen Monats und seine sonderbare Behauptung, daß ich ihn durch meine auf ihn gerichteten Blicke betrübt habe, zu erklären. Zwischen der Amme, die sich außer Athem gelaufen hatte und Lucilla, die vor gespannter Aufmerksamkeit nicht zu athmen wagte, sitzend, schlug ich in dem Wörterbuche den Buchstaben auf und las laut das Folgende vor:

Exeter. Stadt und Seehafen in Devonshire. Ehemals der Sitz der westfächlischen Könige. Hat einen bedeutenden Handel, sowohl im In- wie im Auslande. Einwohnerzahl 33738. Die Assisen für Devonshire finden im Frühjahr und Sommer statt.«

»Und was kommt dann weiter?« fragte Lucilla erwartungsvoll.

Ich schloß das Buch und antwortete wie der Junge, der mich hergefahren hatte, mit drei einsilbigen Worten: »Sonst nichts mehr!«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel - Der Mann bei Kerzenlicht

Es war dunkel geworden, daß ich kaum noch lesen konnte. Zillah zündete die Kerzen an und zog die Fenstervorhänge zu. Tiefes Schweigen, welches einer gründlichen Enttäuschung zu folgen pflegt, herrschte im Zimmer.

»Wer mag er nur sein?« wiederholte Lucilla nun wohl zum hundertsten Male. »Und wieso kann Ihr Blick ihn betrübt haben? Sinnen Sie doch nach, Madame Pratolungo!«

Der letzte Satz in dem Artikel,,Exeter« präoccupirte mich ein wenig wegen des darin enthaltenen Wortes »Assisen«. Als Lucilla ihre Aufforderung, meine Devinitionsgabe anzustrengen, an mich richtete, hatte ich wieder eine andere Inspiration. Ich rieth auf der Stelle, der Fremde sei ein interessanter Verbrechen der entflohen sei, um der Verurtheilung durch die Assisen zu entgehen.

Die würdige alte Zillah sprang auf, überzeugt, daß ich mit meiner Annahme den Nagel aus den Kopf getroffen habe. »Gott steh’ uns bei!« rief die Alte. »Ich habe die Gartenthiir nicht zugeriegelt!«

Sie rannte zum Zimmer hinaus, um uns, ehe es zu spät wäre, vor Raub und Mord zu schützen. Ich sah Lucilla an. Sie saß in ihrem Stuhle zurück gelehnt, mit einem verächtlichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. »Madame Pratolungo«, sagte sie, »eben haben Sie zum ersten Male, seit Sie hier sind etwas Thörichtes gesprochen.«

»Nicht so rasch, wenn ich bitten darf, liebes Fräulein«, erwiderte ich. »Sie haben erklärt, daß nichts über diesen Mann bekannt sei. Nun, damit meinen Sie, nichts, was Sie befriedigt. Er ist doch vermuthlich nicht vom Himmel gefallen? Der Zeitpunkt, in welchem er hierher gekommen ist, muß doch bekannt sein. Und ebenso, ob er allein oder in Gesellschaft hergekommen ist. Ferner, wie und wo er eine Wohnung im Dorfe gefunden hat. Bevor ich zugeben kann, daß ich mit meiner Vermuthung auf ganz falscher Fährte bin, muß ich hören, was die Leute in Dimchurch bis jetzt über diesen Mann in Erfahrung gebracht haben. Wie lange ist er schon hier?«

Lucilla schien sich anfänglich wenig für die rein praktische Auffassung der Frage, wie ich sie eben entwickelt hatte, zu interessiren.

»Er ist jetzt seit einer Woche hier«, warf sie nach lässig hin.

»Kam er, wie ich, über die Hügel her?«

»Ja.«

»Natürlich mit einem Führer?«

Bei dieser Frage richtete sich Lucilla plötzlich in ihrem Stuhle auf. »Mit seinem Bruder« antwortete sie. »Mit seinem Zwillingsbruder, Madame Pratolungo.

Jetzt richtete auch ich mich in meinem Stuhle auf .

Das Auftreten feines Zwillingsbruders in der Geschichte war schon an und für sich eine Verwickelung. Da waren also zwei entwichene Verbrecher statt eines!

»Wie fanden sie den Weg hierher? war meine nächste Frage.

»Das weiß niemand.«

»Wohin gingen sie zunächst, als sie herkamen?«

»In die »Gute Hand«, das kleine Wirthshaus im Dorfe. Der Wirth erzählte Zillah, die beiden Herren sähen sich merkwürdig ähnlich. Es sei unmöglich, sie von einander zu unterscheiden, die Aehnlichkeit sei selbst für Zwillinge erstaunlich. Sie kamen früh Morgens an, als die Schenkstube noch leer war und hatten eine lange vertrauliche Unterhaltung mit einander. Als diese vorüber war, klingelten sie dem Wirth und fragten ihn, ob er ein Schlafzimmer im Hause übrig habe. Sie werden selbst gesehen haben, daß die »Gute Hand« nur eine Bierschenke ist. Der Wirth hatte ein Zimmer übrig, ein elendes Stübchen, das kein Schlafzimmer für einen Gentleman war. Einer der Brüder miethete gleichwohl das Zimmer.«

»Und was wurde aus dem anderen Bruder?«

»Der ging noch an demselben Tage sehr ungern fort. Sie nahmen den zärtlichsten Abschied von einander. Der Bruder, welcher heute Abend mit uns gesprochen hat, bestand auf der Abreise des Anderen, sonft würde ihn dieser nicht verlassen haben. Sie vergossen beide Thränen —«.

»Sie haben noch etwas Schlimmeres gethan«, sagte die alte Zillah, die in diesem Augenblicke wieder ins Zimmer trat. »Ich habe unten alle Thüren und Fenster festgeschlossen. Er kann jetzt nicht hinein, liebes Kind, wenn er es auch versucht..

»Wieso haben sie denn noch etwas Schlimmeres gethan?« fragte ich.

»Sie haben sich geküßt«, sagte Zillah mit dem Ausdruck des tiefsten Widerwillens.

»Vielleicht sind es Fremde?« schlug ich vor. »Haben sie ihre Namen genannt?«

»Der Wirth fragte den Zurückbleibenden nach seinem Namen«, erwiderte Lucilla. »Er nannte sich »Dubourg«.

Diese Antwort bestärkte mich in meiner Vermuthung »Dubourg« ist in Frankreich ein so gewöhnlicher Name wie »Jones« oder »Thompson« in England. Gerade so ein Name, wie ihn ein Mann, der nicht gekannt sein will, sich bei uns beilegen würde. Sollte dieser Verbrecher ein Landsmann von mir sein? Nein, er hatte durchaus nicht mit fremdem Aceent, sondern das reinste Englisch gesprochen; darüber konnte kein Zweifel obwalten. Und doch hatte er sich einen französischen Namen gegeben. Sollte er sich damit absichtlich einer Insulte gegen meine Nation schuldig gemacht haben? Ja, nicht damit zufrieden, sich mit unzähligen Verbrechen befleckt zu haben, hatte er dem Register seiner Scheußlichkeiten noch eine Insulte gegen meine Nation hinzugefügt?

»Nun?« nahm ich wieder auf. »Wir haben diesen unentdeckten Spitzbuben allein im Wirthshaus gelassen, ist er noch dort?«

»Wo denken Sie hin!« rief die alte Amme. »Er hat sich hier in der Gegend häuslich niedergelassen; er hat Browndown gemiethet!«

Ich wandte mich gegen Lucilla. »Browndown gehört doch jemandem«, sagte ich, indem ich es wagte, wieder eine Vermuthung auszusprechen. »Halt es denn jemand vermiethet, ohne sich nach dem Miether zu erkundigen?«

»Browndown gehört einem Herrn in Brighton«, antwortete Lucilla. »Und der Herr wurde wegen Auskunft über den Miether an ein wohlbekanntes Haus in London, eine der großen kaufmännischen Firmen in der City verwiesen. Daran knüpft sich der unerklärlichste Punkt des ganzen Geheimnisses. Der Chef des Londoner Hauses erklärte: »Ich kenne Herrn Dubourg seit meiner Kindheit. Er hat seine Gründe, zu wünschen, in der größten Zurückgezogenheit zu leben. Ich stehe dafür, daß er ein ehrenwerther Mann ist, dem Sie ruhig Ihr Haus vermiethen können. Mehr darf ich Ihnen nicht mittheilen.« Mein Vater kennt den Eigenthümer von Browndown und dieser hat ihm die erhaltene Auskunft wörtlich so mitgetheilt. Ist das nicht eigenthümlich? Am nächsten Tage wurde ihm das Haus auf sechs Monate vermiethet. Es ist elend meublirt. Herr Dubourg hat sich verschiedene Sachen von Brighton kommen lassen. Außer dem Mobiliar ist heute noch eine Kiste aus London in dem Hause angekommen die so fest vernagelt war, daß nach dem Zimmermann geschickt werden mußte, um sie zu öffnen. Der Zimmermann berichtete, daß die Kiste mit dünnen goldenen und silbernen Platten angefüllt sei und daß sich dabei noch ein Kasten mit eigenthümlichen Werkzeugen befände, deren Gebrauch dem Zimmermann völlig unbekannt sei. Herr Dubourg verschloß diese Dinge in ein an der Rückseite des Hauses gelegenes Zimmer und steckte den Schlüssel in die Tasche; Er schien vergnügt; er pfiff ein Lied und sagte: »Nun wird die Sache gehen!« Das wissen wir von der Wirthin in der »Guten Hand«. Sie kocht ihm das Essen und ihre Tochter hält ihm das Haus in Ordnung. Sie gehen Morgens zu ihm und kehren Abends wieder nach ihrem Hause zurück. Er hat weiter keine Bedienung bei sich. Nachts ist er ganz allein. Ist das nicht interessant? Ein Geheimmniß mitten im alltäglichen Leben, es intriguirt Jedermann.«

»Sie müssen hier sonderbare Leute sein, mein liebes Kind,« erwiderte ich, »in einem so einfachen Fall, wie diesem, etwas Geheimnißvolles zu finden«

»Einfach?« erwiderte Lucilla außer sich vor Erstaunen.

»Unzweifelhaft führt Alles, die Gold: und Silber Platten die eigenthümlichen Werkzeuge, das zurückge zogene Leben und das Nachhauseschicken der Dienstboten am Abend, zu demselben Scshlnß Meine Vermuthung zist richtig; der Mann ist ein entlaufen er Verbrecher kund sein Verbrechen besteht in Falschmünzerei. Man ist ihm in Exeter auf die Spur gekommen er hat sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen gewußt und er will hier wieder von Frischem anfangen. Sie können ja thun, was Ihnen gefällt. Wenn ich einmal kleine Münze brauchen sollte, so würde ich mich hüten sie mir hier in der Gegend zu verschaffen«

Lucilla lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück Es war klar, daß sie mich in Betreff f des Herrn Dubourg für ebenso böswillig, wie unversserlich auf falscher Fährte wähnte.

»Ein Falschmünzer, den der Chef eines der ersten Handlungshäuser in London für seinen ehrenwerthen Mann erklärt«, rief sie aus. »Wir Engländer sind gelegentlich sehr excentrisch, aber unsere nationale Verrücktheit hat doch ihre Grenzen, Madame Pratolungo, und Sie haben mit Ihrer Annahme diese Grenzen bereits überschritten. Wollen wir ein wenig musiciren?«

Sie sagte das in einem etwas empfindlichen Tone. Herr Dubourg war der Held ihres Romans Jeder von mir gemachte Versuch, ihn in ihrer Achtung herab zusetzen war ihr empfindlich. Gleichwohl beharrte ich bei meiner ungünstigen Meinung von ihm. Bei unserer Meinungsverschiedenheit handelte es sich, wie ich es ihr hätte sagen können, um die Frage, ob der Londoner Kaufmann Glauben verdiene oder nicht. Nach ihrer Ansicht bot sein Reichthum eine genügende Gewähr für seine Redlichkeit. Nach meiner gut socialistischen Ansicht sprach gerade dieser Umstand entschieden gegen ihn. Kapitalist und Falschmünzer, beide sind jeder in seiner Art Räuber. Ob der Kapitalist den Falschmünzer oder der Falschmünzer den Kapitalisten empfiehlt, gilt mir ganz gleich. In beiden Fällen sind, wie es in einem englischen Stück vortrefflich heißt, die Ehrlichen das weiche behagliche Kissen, auf welchem diese Spitzbuben sich ausruhen und mästen. Ich stand im Begriff, Lucilla diese meine weitere und liberalere Auffassung des Gegenstandes mitzutheilen. Aber ach! Es war nur zu klar, daß das arme Kind von den beschränkten Vorurtheilen der Gesellschaft, in welcher sie lebte, angesteckt war. Wie sollte ich mich am ersten Tage unseres Beisammenseins der Gefahr einer Veruneinignng aussetzen? Nein, das durfte nicht geschehen! Ich gab dem allerliebsten hübschen, blinden Mädchen einen Kuß; wir gingen zusammen nach dem Klavier und ich verschob den Versuch, aus Lucilla eine gute Socialistin zu machen, auf eine passendere Gelegenheit. Wir hätten das Klavier ebenso gut uneröffnet lassen können. Es wollte mit der Musik durch aus nicht gehen. Ich spielte so gut ich konnte, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin. Sie hörte mir mit dem besten Willen, Vergnügen daran zu finden, zu; sie dankte mir zu wiederholten Malen; sie versuchte es, auf meine Bitte selbst zu spielen und wählte die ihr vertrauten Compositionen, welche sie auswendig wußte. Vergebens! Der abscheuliche Dubourg, der ihr ganzes Interesse in Anspruch genommen hatte, war nicht zu verdrängen. Sie versuchte und versuchte, aber es wollte nicht gehen. Seine Stimme klang ihr noch in den Ohren und das war die einzige Musik, für welche sie diesen Abend Sinn hatte. Ich setzte mich wieder ans Klavier und fing noch einmal an zu spielen. Plötzlich schlug sie mir die Hände von den Tasten und sagte flüsternd: »Ist Zillah hier?« Ich sagte ihr, daß Zillah das Zimmer verlassen habe. Da legte sie ihr reizendes Köpfchen auf meine Schulter, seufzte krampfhaft und brach in die Worte aus: »Ich kann nicht anders, ich muß fortwährend an ihn denken. Zum ersten Male in meinem Leben fühle ich mich unglücklich! nein — glücklich! O, was müssen Sie von mir denken! Ich weiß nicht, was ich rede. Warum ermuthigten Sie ihn, mit uns zu sprechen? Ohne Sie hätte ich vielleicht nie seine Stimme gehört.« Sie richtete sich mit einem kleinen Schauer wieder auf und beruhigte sich. Mit der einen Hand fuhr sie über die Tasten hin und spielte leise. »Seine reizende Stimme«, flüsterte sie träumerisch, während sie spielte, »o, seine reizende Stimme!« Dann hielt sie wieder inne und sagte, indem sie ihre Hand von den Tasten herab sinken ließ und meine Hand erfaßte, halb zu sich selbst, halb zu mir: »Ist das Liebe?«

Meine Pflicht als respectable Frau war mir klar vorgezeichnet; ich mußte ihr eine Lüge sagen. »Es ist nichts weiter, liebes Kind«, sagte ich, »als zu große Aufregung und zu große Ermüdung. Morgen sollen Sie wieder mein junges Fräulein sein, heute Abend müssen Sie nur mein Kind sein. Kommen Sie, lassen Sie mich Sie zu Bett bringen«

Sie fügte sich mit einem müden Seufzer. O, wie lieblich sie aussah, das unschuldige bekümmerte Wesen, als sie in ihrer reizenden Nachttoilette vor ihrem Bette kniete und ihr Nachtgebet sprach. Ich bekenne es offen, ebenso rasch im Lieben wie im Hassen zu sein. Als ich ihr gute Nacht gesagt und sie verlassen hatte, fühlte ich, daß ich sie nicht zärtlicher hätte lieben können, wenn sie mein eigenes Kind gewesen wäre. Jeder meiner Leser ist, wenn er nicht ein äußerst zurückhaltendes Wesen hat, wohl einmal Leuten von meiner Art begegnet, die ihm bei einer Fahrt auf der Eisenbahn oder als Nachbarn an der table d’hôte sofort die vertraulichsten Mittheilungen über alle ihre Privatangelegenheiten gemacht haben. Ich glaube, ich werde es bis an mein Ende nicht aufgeben, bei einer vorüber gehenden Begegnung mit Fremden alsbald Freundschaft mit ihnen zu schließen. Der niederträchtige Dubourg! Wenn ich an jenem Abende nach Browndown hätte gelangen können, hätte ich gern an ihm gethan, was eine mexikanische Magd, die ich in der centralamerikanischen Periode hatte, mit ihrem betrunkenen Manne that, der eine Art von Hausirer war und mit Peitschen und Stöcken handelte. Eines Abends nähte sie ihn als er, seinen Rausch verschlafend, auf dem Bette lag, fest in sein Betttuch ein, holte dann seinen ganzen Waarenvorrath aus der Ecke des Zimmers hervor und schlug denselben auf ihm kurz und klein, bis er von Kopf bis zu Fuß zu einer gallertartigen Masse zusammengeprütgelt war. Da mir dieses Hilfsmittel nicht zu Gebote stand, setzte ich mich in meinem Schlafzimmer hin und überlegte, was ich, wenn die Angelegenheit mit Dubourg sich noch weiter fortspinnen sollte, zunächst zu thun haben würde.

Ich habe bereits erwähnt, daß Lucilla und ich den ganzen Nachmittag recht nach Frauenart damit zugebracht hatten, über uns selbst zu plaudern. Zum; besseren Verständniß des Gedankenganges, den ich bei meinen Erzählungen verfolgte, will ich hier der Hauptsache nach das erzählen, was mir Lucilla über ihre eigenthümliche Stellung in dem Hause ihres Vaters mitgetheilt hatte.



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Sechstes Kapitel - Ein Käfig voll von Finch’s...

Es giebt nach meinen Erfahrungen große Familien von zweierlei Art. Familien, deren Glieder alle einander bewundern, und solche, deren Glieder sich unter einander verabscheuen. Ich für meinen Theil ziehe die zweite Art vor. Ihre Zänkereien sind ihre Sache und sie haben einen Vorzug, den die erstere Art nicht besitzt, den nämlich, daß sie bisweilen im Stande sind, die guten Eigenschaften von Personen zu erkennen, welche nicht das Glück haben, ihre Blutsverwandten zu sein. Die Familien, deren Glieder sich alle unter einander bewundern, sind mit einer unerträglichen Selbstgefälligkeit behaftet. Wenn man mit solchen Leuten zufällig von Shakespeare als einem Typus höchster geistiger Begabung spricht, kann man sicher sein, daß ein weibliches Mitglied der Familie Einem zu verstehen geben wird, man würde ein viel schlagenderes Beispiel angeführt haben, wenn man sie auf ihren »lieben Papa« verwiesen hätte. Geht man aber mit einem männlichen Mitgliede dieser Familie spazieren und sagt von einer vor übergehenden Dame: »Welch’ ein reizendes Geschöpf!« so kann man sich darauf verlassen, daß der Mann über unsere Einfalt lächelt und verwundert fragt: ob man nie seine Schwester in Balltoilette gesehen habe? Das sind die Familien, deren Glieder, wenn sie getrennt sind, täglich mit einander correspondiren. Sie lesen uns Auszüge aus ihren Briefen vor und sagen: »Wo ist der Schriftsteller, der so zu schreiben versteht?« Sie reden in unserer Gegenwart von ihren Privatangelegenheiten und scheinen zu meinen, daß wir uns dafür interessiren müßten; sie amüsiren sich über Tisch über ihre eigenen Witze und können nicht begreifen, daß wir uns nicht auch amüsiren. In häuslichen Kreisen dieser Art sitzen die Schwestern gewöhnlich auf dem Schoße ihrer Brüder und erkundigen sich die Männer so ungenirt nach den körperlichen Beschwerden ihrer Frauen, als wenn sie mit ihnen allein wären. Wenn wir einmal in einem fortgeschritteneren Stadium der Civilisation angelangt sein werden, wird der Staat dafür sorgen, daß diese unerträglichen Menschen in Käfige gesperrt und daß an die Straßenecken Anschlagszettel geklebt werden, auf welchen zu lesen stehen wird: »Man hüte sich vor Numero Zwölf: da wohnt eine Familie die sich im Zustande gegenseitiger Bewunderung befindet.«

Aus Lucilla’s Mittheilungen ersah ich, daß die Finchs zu der zweiten oben erwähnten Art großer Familien gehören. Kaum ein einziges Mitglied dieser Familie stand mit dem andern auch nur auf einem Sprechfuß. Und einige von ihnen waren Jahrelang von einander getrennt gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal die Post für die Beförderung eines noch so knappen Ausdrucks ihrer Gefühle gegen einander in Anspruch genommen zu haben. Die erste Frau des ehrwürdigen Finch war ein Fräulein Batchford gewesen; die Mitglieder ihrer Familie, welche zur Zeit ihrer Verheirathung nur aus einem Bruder und aus einer Schwester bestanden, waren mit dieser Partie sehr unzufrieden; der Rang eines Finch — ich lache über diese erbärmlichen Rangunterschiede —, wurde in diesem Falle dem Range eines Batchford nicht ebenbürtig befunden. Nichtsdestoweniger heirathete Fräulein Batchford den Ehrwürdigen Finch; ihr Bruder und ihre Schwester lehnten es ab, der Trauung beizuwohnen. Das war der erste Zank. Lurilla wurde geboren; der ältere Bruder des Ehrwürdigen Finch, der mit keinem anderen Mitgliede der Familie sprach, trat mit dem christlichen Vorschläge hervor, sich über der Wiege des neugebornen Kindes die Hände zu reichen. Der Vorschlag wurde von den großherzigen Batchfords angenommen. Erste Versöhnung. Die Zeit verging; der Ehrwürdige Finch, der damals ein kärglich besoldeter Pfarrgehilfe an einer Kirche in der Nähe einer großen Fabrikstadt war, fühlte einen Mangel, nämlich den Mangel an Geld, und nahm sich eine Freiheit, nämlich die Freiheit, von seinem Schwager Geld zu borgen. Herr Batchford, der ein reicher Mann war, betrachtete diese Eröffnung, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, in dem Lichte einer Insulte. Fräulein Batchford trat auf die Seite ihres Bruders. Das war der zweite Zank. Wieder verging die Zeit. Die erste Frau Finch starb. Der ältere Bruder des ehrwürdigen Finch, der noch immer mit den übrigen Mitgliedern der Familie auf dem schlechtesten Fuße stand, machte einen zweiten christlichen Vorschlag, nämlich sich über dem Grabe der verstorbenen Frau die Hände zu reichen. Auch dieser Vorschlag wurde von den trauernden Bartchfords angenommen. Und eine zweite Versöhnung erfolgte. Wieder verging die Zeit. Der Ehrwürdige Finch, der nun Wittwer war und eine Tochter hatte, machte die Bekanntschaft eines Bewohners der großen Stadt, in deren Nähe er ale Pfarrgehilfe fungirte, welcher gleichfalls Wittwer war und eine Tochter hatte. Dieser Wittwer war seinem social-politisch-religiösen Stande nach ein radicaler baptistischer Schuster. Der Ehrwürdige Finch, der noch immer an Geldmangel litt, setzte sich über das Alles weg und heirathete die Tochter mit einer Mitgift von dreitausend Pfund. Dieses Verfahren entfremdete ihm für immer nicht nur die Batchfords, sondern auch den friedenstiftenden älteren Bruder. Dieser vortreffliche Christ stand von nun an mit seinem Bruder wie mit der übrigen Familie auf gespanntem Fuße. Die Folge davon war die vollständige Isolirung des Ehrwürdigen Finch. Die zweite Frau Finch gab regelmäßig jedes Jahr Gelegenheit sich die Hände zu reichen, nicht nur über einer Wiege, sondern bisweilen über zwei Wiegen. Aber diese so verdienstliche Fruchtbarkeit blieb doch fruchtlos! Dieselbe führte zu nichts als einer Art von Compromiß; Lucilla, aus welche bei der raschen Zunahme der zweiten Familie des Rectors wenig mehr geachtet wurde, erhielt Erlaubniß, ihre mütterliche Tante und ihren mütterlichen Onkel jedes Jahr zu bestimmten Zeiten zu besuchen. Das arme Kind, welches allem Anscheine nach bei seiner Geburt im vollen Besitze seiner Sehkraft gewesen, war noch vor vollendetem ersten Lebensjahre unheilbar erblindet. In allen an deren Beziehungen war sie ihrer Mutter auffallend ähnlich. Der ledige Onkel Batchford und seine alte ledige Schwester faßten beide die zärtlichste Zuneigung zu dem Kinde. »Unsere Nichte Lucilla«, sagten sie, »hat unsere innigsten Hoffnungen erfüllt, sie ist eine Batchford, keine Finch!« LucillaIs Vater aber, der um diese Zeit zum Pfarrer von Dimchurch befördert war, sagte nur: »Laßt sie nur reden. Wartet nur ein wenig und die Sache wird uns Geld bringen.« Und Geld brauchte er allerdings sehr; bei der Fruchtbarkeit von Frau Finch, welche Jahr für Jahr die Zahl ihrer Wiegen um eine vermehrte, bis der im Jahrgehalt stehende Hausarzt selbst der Sache überdrüssig wurde und eines Tages äußerte: »Es ist nicht wahr, daß Alles ein Ende hat; die Vervielfältigungsfähigkeit von Frau Finch hat kein Ende.«

Lucilla wuchs heran und hatte das zwanzigste Jahr erreicht, bevor sich die Hoffnungen ihres Vaters verwirklichten und Geld zum Vorschein kam. Onkel Batchford starb unverheirathet und hinterließ sein Vermögen seiner ledigen Schwester und seiner Nichte zu gleichen Theilen. Die Zinsen, deren Lucilla nach Eintritt ihrer Volljährigkeit sich zu erfreuen haben sollte, betrugen jährlich fünfzehnhundert Pfund. Diese Erbschaft war jedoch an zwei in dem Testament sehr ausführlich entwickelte Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen liefen darauf hinaus: Erstens es dem ehrwürdigen Finch vollkommen unmöglich zu machen, unter irgend welchen Umständen einen Heller des Lueilla hinterlassenen Vermögens von ihr zu erben und zweitens, Lucilla, so lange sie unverheirathet bleibe, während eines Zeitraums von drei Monaten in jedem Jahr aus dem Hause ihres Vaters zu entfernen und unter die Obhut ihrer ledigen Tante zu stellen.

Das Testament sprach sich über den Zweck dieser letzten Bedingung in der unumwundensten Weise aus: »Ich sterbe wie ich gelebt habe«, hieß es in dieser letztwilligen Verfügung Onkel Batchford’s, »als ein Anhänger der Hochkirche und ein Tory. Mein Vermächtniß an meine Nichte soll nur unter folgenden Bedingungen gültig sein, nämlich: daß sie während eines bestimmten, periodisch wiederkehrenden Zeitraums den religiös dissentirenden und politisch radicalen Einflüssen im Hause ihres Vaters entzogen und unter die Obhut einer englischen Dame gestellt werde, welche mit den Vortheilen der Geburt und Erziehung den Besitz reiner und ehrenwerther Principien verbindet « u.s.w. u.s.w.

Man kann sich vorstellen, was der Ehrwürdige Finch empfand, als er an der Seite seiner Tochter nebst den andern Leidtragenden der Verlesung des Testaments beiwohnte und dies mit anhören mußte. Er erhob sich als echter Engländer und hielt eine Anrede an die Versammlung. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »ich gebe zu, daß ich in der Politik liberalen Grundsätzen huldige und daß die Familie meiner Frau zu den Dissenters gehört. Als ein Beispiel für die in Folge dieser Richtungen in meinem Hause herrschenden Grundsätze erlaube ich mir Ihnen zu erklären, daß meine Tochter dieses Vermächtniß mit meiner vollen Genehmigung acceptirt, und daß ich Herrn Batchford vergebe.« Mit diesen Worten gab er seiner Tochter den Arm und verließ mit ihr das Zimmer. Er hatte, wohlgemerkt, genug gehört, um gewiß zu sein, daß Lucilla, solange sie unverheirathet sei, mit ihrem Einkommen thun könne, was sie wolle. Noch bevor sie nach Dimchurch zurückgekehrt waren, hatten der Ehrwürdige Finch mit seiner Tochter ein Arrangement dahin getroffen, daß sie eine voll kommen unabhängige Stellung in dem Pfarrhause erhalten, dagegen ihrem Vater jährlich die Summe von 500 Pfund als ihren Beitrag zur Wirthschaft tragen solle. Bei dieser Mittheilung empfand ich das tiefste Bedauern darüber, daß Finch mit seinen liberalen Principien nicht den Dritten im Bunde mit meinem armen Pratolungo und mir in Central-Amerika gebildet habe. Wenn wir uns seines Raths hätten erfreuen können, würden wir die heilige Sache der Freiheit gerettet haben, ohne einen Heller dafür aus zugeben.

Der bis dahin unbewohnte alte Theil des Pfarrhauses wurde, natürlich auf Lucilla’s Kosten, in Ordnung gebracht und möblirt. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstage waren die Reparaturen vollendet und wurde die erste Rate des mit Lucilla ausbedungenen Hausstandsgeldes bezahlt und die Tochter als eine unabhängige Einwohnerin in dem Hause ihres Vaters installirt. Um den Leser in den Stand zu setzen, die Schlauheit des von Finch getroffenen Arrangements ganz würdigen zu können, sei hier noch bemerkt, daß Lucilla, als sie heranwuchs, ein: steigende Abneigung gegen den Aufenthalt im väterlichen Hause gezeigt hatte. In ihrer Blindheit war ihr das ewige lärmende Getümmel der Kinder lästig; zwischen ihr und ihrer Stiefmutter bestand nicht die geringste Sympathie und mit ihrem Verhältniß zu ihrem Vater stand es nicht viel anders. Sie empfand Mitleid mit seiner Armuth und behandelte ihn mit der Nachsicht und der Achtung, auf die er als ihr Vater Anspruch hatte. Was aber wahre Liebe und Verehrung betrifft — nun darüber will ich lieber schweigen. Ihre glücklichsten Tage waren die mit ihrem Onkel und ihre Tante verlebten; ihre Besuche bei den Batchfords hatten sich mit jedem Jahre weiter ausgedehnt. Wenn ihr Vater es nicht bei seinem Appell an die Sympathien der Tochter geschickt so einzurichten verstanden hätte, ihr das fernere Verbleiben im väterlichen Hause unter völliger Wahrung ihrer Unabhängigkeit als möglich vorzustellen, würde sie nach erreichter Volljährigkeit entweder ganz zu ihrer Tante gezogen sein oder sich selbständig etablirt haben. So aber hatte sich der Pfarrer unter für beide Theile acceptablen Bedingungen seine 500 Pfund jährlich gesichert und, was noch mehr war, er hatte seine Tochter beständig unter Augen; denn, wohlgemerkt, es gab eine schreckliche, ihm in der Zukunft drohende Möglichkeit, die nämlich, einer Verheirathung Lueilla’s.

Das war zu der Zeit, wo ich im Pfarrhause eintraf, die eigenthümliche Stellung Lucilla’s. Man wird es daher jetzt begreiflich finden, wie völlig rathlos ich war, als ich mir am Abende des Tages meiner Ankunft das Vorgefallene durch den Kopf gehen ließ und mich fragte, was mir in der Angelegenheit des geheimnißvollen Fremden demnächst zu thun obliege. Ich hatte Lueilla alleinstehend gefunden, in ihrer Blindheit hilflos, abhängig von Andern und in dieser traurigen Lage ohne eine Mutter oder eine Schwester oder selbst eine Freundin, an deren Busen sie vertrauensvoll ruhen, auf deren Rath und Beistand sie sich hätte verlassen können. Der erste Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte, war ein günstiger gewesen, ich hatte sofort ihre Zuneigung gewonnen, wie sie die meinige. Ich hatte sie, ohne zu ahnen was in ihr vorging, auf einem Abendspaziergange begleitet. Ich hatte ganz zufällig einen Fremden vermocht, das imaginäre Interesse, das sie bereits an ihm nahm, dadurch zu verstärken, daß ich ihn veranlaßte, zum ersten Male in ihrer Gegenwart laut zu reden.

In einem Augenblicke nervöser Aufregung und in reiner Verzweiflung jemanden Anderes zu finden, dem sie sich anvertrauen konnte, hatte das arme, thörichte, einsame, blinde Mädchen mir ihr Herz geöffnet. Was sollte ich thun? Wenn es ein gewöhnlicher Fall gewesen wäre, würde die ganze Angelegenheit einfach lächerlich gewesen sein. Aber Lucilla’s Fall’war kein gewöhnlicher. Das Gemüth der Blinden ist durch ihr grausames Schicksal nothwendig nach innen gekehrt. Sie leben ein von dem unsrigen gesondertes, ach wie hoffnungslos gesondertes Leben, in ihrer eigenen dunkeln Welt, von welcher wir nichts wissen. Welchen Trost konnte die äußere Welt Lucilla gewähren? Keinen! Es war eine Folge ihrer traurigen Freiheit, daß sie unablässig ungestört bei dem idealen Geschöpf ihrer eigenen Phantasie verweilen konnte. Innerhalb der engen Grenzen des einzigen Eindrucks, weichen sie von diesem Manne durch die Schönheit seiner Stimme in sich hatte aufnehmen können, konnte ihre Phantasie in dem undurchdringlichen Dunkel ihres Daseins schrankenlos arbeiten. Welch’ ein Bild! Mich schaudert, indem ich es entwerfe. O, ich weiß sehr wolle wie leicht es ist, der Sache eine ganz andere Seite abzugewinnen und über die Thorheit eines Mädchens zu lachen, welches zuerst seine Einbildungskraft mit dem Bilde eines ihr ganz Fremden erhitzt und sich dann, sobald sie ihn sprechen hört, in seine Stimme verliebt! Wenn man aber hinzu nimmt, daß dieses Mädchen blind ist, daß sie auf die Welt ihrer Einbildungskraft angewiesen ist und das sie zu Hause niemanden hat, der einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben könnte, wird man auch dann in einem solchen Zustande nichts der Theilnahme Würdiges finden? Was mich betrifft, so fand ich, obgleich ich einer leichtherzigen Nation angehöre, die Alles wegzulachen gewohnt ist, an jenem Abend, als ich mich bei meiner Nachttoilette im Spiegel sah, mich entsetzlich ernst und alt aussehend. Ich sah mein Bett an. Pah! wozu sollte ich zu Bett gehen? Lucilla war ihre eigene Herrin; es stand ihr voll kommen frei, demnächst allein nach Browndown zu gehen und sich in die Gewalt eines möglicher Weise ehrlosen und ränkesüchtigen Menschen zu geben. Wer war ich? Nur ihre Gesellschafterin. Ich hatte kein Recht einzuschreiten, und doch würde man mich, wenn irgend etwas vorfallen sollte, tadeln. Es ist leicht, zu sagen, »man hätte etwas thun sollen.« Wen konnte ich um Rath fragen? Die würdige alte Amme war nur eine Dienerin. Konnte ich mich an die lymphatische Dame mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand wenden? Alberner Gedanke! An ihre Stiefmutter durfte ich nicht denken. Und ihr Vater? Nach dein, was ich bis jetzt von ihm gehört, konnte ich keine günstige Meinung von der Fähigkeit des Ehrwürdigen Finch haben, in einer Angelegenheit dieser Art erfolgreich einzuschreiten. Gleichviel, er war doch ihr Vater, und ich konnte es immerhin einmal mit ihm versuchen. Als ich Zillah’s Fußtritte draußen auf dem Corridor vernahm, ging ich zu ihr hinaus.

Im Laufe einer kleinen Unterhaltung gedachte ich beiläufig des Herrn vom Hause Wie kam es, daß ich ihn noch nicht gesehen hatte? Das hatte den sehr triftigen Grund, daß er zum Besuch eines Freundes nach Brighton gegangen war. Es war Dinstag und er wurde am »Predigttage«, das heißt am Sonnabend derselben Woche zurück erwartet. Ich kehrte etwas aufgeregt in mein Zimmer zurück. In diesem Zustande pflegt mein Geist mit wunderbarer Freiheit zu arbeiten. Ich hatte wieder eine Inspiration. Herr Dubourg hatte sich heute Abend die Freiheit genommen, mit mir zu sprechen: Gut. Ich beschloß, am nächsten Tage allein nach Browndown zu gehen und mir die Freiheit zu nehmen, mit Herrn Dubourg zu sprechen. War mir dieser Entschluß nur durch mein Interesse für Lucilla eingegeben, oder hatte meine Neugierde die ganze Zeit über unter der Oberfläche gearbeitet und, mir selbst unbewußt, meine Erwägungen beeinflußt? Ich ging zu Bett, ohne mich das zu fragen. Ich rathe meinen Lesern, sich auch zur Ruhe zu begeben.



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Siebentes Kapitel - Der Mann bei Tageslicht

Als ich an jenem Abende mein Licht aus löschte, beging ich ein Versehen; ich verließ mich darauf, daß, ich am nächsten Morgen zeitig aufwachen würde. Ich hätte Zillah bitten sollen, mich zu wecken.

Es vergingen Stunden, bevor ich die Augen schließen konnte und mein Schlaf war, als er endlich kam, äußerst unruhig bis Tagesanbruch. Da erst schlief ich fest ein. Als ich wieder aufwachte und nach meiner Uhr sah, fand ich zu meinem Schrecken, daß es bereits zehn Uhr sei.

Ich sprang aus dem Bette und klingelte der alten Amme. Ich fragte sie, ob Lucilla zu Hause sei.

Nein, lautete die Antwort, sie sei ein wenig spazieren gegangen

»Allein?«

»Ja, allein«

»Wohin ist sie gegangen?«

»Ja der Richtung des Thales von Browndown zu.«

Ich zog sofort meine Schlüsse.

Dank meiner Trägheit, welche mich die kostbaren Morgenstunden im Bette hatte verschlafen lassen, war Lucilla mir zuvorgekommen. Das einzige, was mir zu thun übrig blieb, war, ihr so rasch wie möglich zu folgen. Eine halbe Stunde später machte ich allein einen kleinen Spaziergang, und nahm ebenfalls meinen Weg in der Richtung des Thales von Browndown zu.

Ländliche Stille herrschte rund um das kleine einsame Haus. Ich ging an demselben vorüber und bog in die nächste Windung des Thales ein. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Ich kehrte um und ging wieder nach Browndowm um zu recognosciren. Ich stieg die Anhöhe hinan, auf welcher das Häuschen lag, und näherte mich demselben von der Rückseite her. Alle Fenster standen offen; ich horchte. Denke niemand, daß ich dabei irgend welche Scrupel empfand. Nur eine Thörin hätte bei einer solchen Gelegenheit etwas derart empfinden können. Ich horchte mit beiden Ohren, durch ein Fenster an der Seite vernahm ich den Klang von Stimmen. Ich trat geräuschlos auf dem Rasen näher und hörte Dubourgs Stimme. Eine Frauen stimme antwortete ihm. Aha, ich hatte sie also ertappt.

»Wunderbart« hörte ich ihn sagen. »Ich glaube, Sie haben Augen in Ihren Fingerspitzen. Nehmen Sie jetzt einmal dies in die Hand und versuchen Sie ob Sie mir sagen können, was es ist.«

»Eine kleine Vase«, antwortete sie in so ruhigem Tone, als ob sie ihn seit Jahren gekannt hätte. »Warten Sie, lassen Sie mich fühlen, was für Metalles ist. Silber? Nein, Gold .Haben Sie diese Vase wirklich auch selbst gemacht wie den Kasten.«

»Ja Eine sonderbare Liebhaberei, nicht wahr getriebene Arbeiten in Gold und Silber zu machen. Vor Jahren traf ich in Italien einen Mann, der mich diese Kunst lehrte. Es machte mir damals Vergnügen und macht mir noch heute Vergnügen. Als ich im vorigen Frühjahr in der Reconvalescenz von einer Krankheit war, verfertigte ich diese Vase aus dem Metall und versah sie mit den darauf befindlichen Ornamenten.

»Da ist mir also wieder ein Geheimniß enthüllt«, rief sie aus. »Jetzt weiß ich, wozu Sie sich jene Gold — und Silberplatten aus London haben kommen lassen. Wissen Sie auch, in welchem Ruf Sie hier stehen? Es giebt hier Leute, die Sie im Verdacht haben, ein Falschmünzer zu sein!«

Beide brachen wie muntere Kinder in ein lautes Lachen aus. Ich muß bekennen, ich wünschte auch im Zimmer zu sein. Aber nein, ich hatte meine Pflicht als respectable Frau zu erfüllen. Meine Pflicht war mich noch etwas näher an das Fenster heranzuschleichen und zu sehen, ob irgend welche Vertraulichkeiten zwischen diesen beiden jungen munteren Leuten gewechselt würden. Die eine Hälfte des offenen Fensters war durch eine Jalousie geschützt. Ich stellte mich hinter die Jalousie und guckte hinein. O Pflicht, peinliche, aber nothwendige Pflicht! Dubourg saß, den Rücken gegen das Fenster gekehrt, Lucilla stand ihm gegenüber und kehrte mir ihr Gesicht zu. Ihre Wangen glühten vor Vergnügen; in ihrer Hand hielt sie die hübsche kleine goldene Vase. Ihre gewandten kleinen Finger fuhren rasch über die selbe hin, gerade wie sie am Abend vorher über mein Gesicht gefahren waren.

»Soll ich Ihnen das Muster aus Ihrer Vase beschreiben?« fuhr sie fort.

»Können Sie das wirklich?«

»Urtheilen Sie selbst. Das Muster besteht aus Blättern, auf denen in gewissen Zwischenräumen Vögel sitzen. Warten Sie, mich dünkt ich habe solche Blätter schon einmal an der Mauer des alten Theils des Pfarrhauses gefühlt. Epheu?«

Erstaunlich; es sollen wirklich Epheublätter sein.«

»Aber die Vögel«, nahm sie wieder auf, »ich werde mich nicht beruhigen, bis ich Ihnen auch gesagt habe, was es für Vögel sind. Habe ich nicht ganz ähnliche Vögel von Silber, nur viel größer, weil sie als Behälter für Pfeffer, Senf, Zucker und so weiter dienen? Eulen!« rief sie triumphirend aus, »kleine Eulen, die in Nestern aus Epheublättern sitzen. Was für ein reizendes Muster! Ich habe nie von etwas Aehnlichem gehört.«

»Behalten Sie die Vase« sagte er. »Sie würden mich dadurch ebenso sehr ehren wie erfreuen, behalten Sie die Vase.«

Sie stand auf und schüttelte den Kopf, ohne ihm jedoch die Vase zurückzugeben.

»Ich würde sie annehmen können, wenn Sie nicht ein Fremder wären«, sagte sie. »Warum theilen Sie uns nicht mit, wer Sie sind und was Sie für Gründe haben, ganz allein in diesem einsamen Häuschen zu wohnen?«

Er stand vor ihr mit gesenktem Kopf und seufzte schwer.

»Ich weiß, ich müßte mich erklären antwortete er, »ich darf mich nicht wundern, wenn die Leute Verdacht gegen mich schöpfen«, er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann sehr ernst fort: »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Nein, Ihnen nicht!«

»Warum nicht?«

»Fragen Sie mich nicht!«

Sie fühlte mit ihrem elfenbeinernen Stock nach dem Tisch und setzte mit sichtlichem Widerstreben die Vase auf denselben nieder. »Guten Morgen, Herr Dubourg«, sagte sie.

Schweigend öffnete er ihr die Thür des Zimmers.

An die Seitenmauer des Hauses gelehnt, sah ich sie unter dem bedeckten Eingange des Hauses erscheinen und den kleinen ummauerten Platz vor dem Hause überschreiten. Als sie auf den jenseits desselben liegen den Rasen trat, wandte sie sich um und redete ihn noch einmal an.

»Wenn Sie mir Ihr Geheimniß nicht mittheilen wollen«, sagte sie, »würden Sie es jemand Anderen würden Sie es einer Freundin von mir anvertrauen?«

»Welcher Freundin?« fragte er.

»Der Dame, welcher Sie gestern Abend mit mir begegneten.«

Er zauderte einen Augenblick und sagte dann: »Ich fürchte, ich habe die Dame beleidigt.«

»Das wäre ja nur ein Grund mehr für Sie sich — zu erklären«; erwiderte sie. »Wenn Ihre Auskunft nur, meine Freundin befriedigt, so könnte ich Sie bitten, « uns zu besuchen, könnte sogar die Vase von Ihnen annehmen.« Mit diesem sehr deutlichen Wink ging sie nun, nachdem sie ihm die Hand gereicht hatte, wirklich fort. Ihre bei dieser Gelegenheit bewiesene vollkommene Selbstbeherrschung, ihre ebenso kühne wie naive, bequeme Vertraulichkeit im Verkehr mit diesem Fremden setzte mich in das höchste Erstaunen. »Ich werde Ihnen noch diesen Morgen meine Freundin schicken«, sagte sie in gebietenden Tone, indem sie mit ihrem Spazierstock auf den Rasen schlug. »Ich bestehe darauf, daß Sie ihr die volle Wahrheit mittheilen.« Dabei gab sie ihm ein Zeichen, daß er sie nicht weiter begleiten möge, und trat ihren Rückweg nach dem Dorfe an. War es nicht in der That erstaunlich? Statt daß ihre Blindheit sie, wie man hätte erwarten sollen, in Gegenwart eines ihr unbekannten Mannes befangen gemacht hätte, schien dieselbe gerade die entgegengesetzte Wirkung zu haben. Ihre Blindheit machte sie furchtlos. Er blieb auf der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte, stehen und beobachtete sie, bis sie seinen Blicken ganz entrückt war. Sein Benehmen gegen sie in und außerhalb des Hauses war, wie ich anerkennen muß, ebenso bescheiden wie rücksichtsvoll gewesen. Schüchtern war bei ihrer Unterhaltung nur er gewesen. Ich trug ein kurzes Kleid, welches kein Geräusch auf dem Grase verursachte. Ich ging längs der Umfassungsmauer hin und trat, ohne daß er mich hätte gewahr werden können, von rückwärts an ihn heran. »Das reizende Geschöpf«, sagte er zu sich selbst, indem er sie noch mit den Blicken verfolgte. In dem Augenblick, wo er diese Worte aussprach, berührte ich mit meinem Sonnenschirm seine Schulter.

»Herr Dubourg«, sagte ich, »ich komme, um Ihre Mittheilung der Wahrheit entgegenzunehmen.«

Er fuhr heftig zusammen und stand mir in sprach losem Entsetzen gegenüber, indem er wiederholt die Farbe wechselte wie ein junges Mädchen. Wer die Frauen kennt, wird es begreiflich finden, daß dieses Benehmen, weit entfernt, mich milder gegen ihn zu stimmen, mich nur ermuthigte, ihn zu überrumpeln.

»Halten Sie es für ein ehrenhaftes Benehmen, mein Herr«, fuhr ich fort, »in Ihrer gegenwärtigen Stellung an diesem Orte eine junge Dame, die Ihnen vollkommen fremd ist, eine junge Dame, deren Leiden ihr ein Recht auf noch größere Rücksicht und Achtung als die ihrem Geschlechte im Allgemeinen schuldige giebt, in Ihr Haus zu locken?«

Seine wechselnde Farbe ging in ein zorniges Roth über.

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich«, antwortete er. »Es ist eine schmähliche Verleumdung, zu behaupten, daß ich es an Achtung gegen die junge Dame habe fehlen lassen. Ich empfinde die aufrichtigste Bewunderung und das tiefste Mitleiden für sie. Die Umstände rechtfertigen, was ich gethan habe; ich hätte nicht anders handeln können. Ich verweise Sie an die junge Dame selbst.« Seine Stimme wurde lauter und lauter; er fühlte sich aufs Tiefste durch mich gekränkt. Brauche ich noch ausdrücklich zu sagen, daß ich bei der Aussicht, nahezu von ihm überrumpelt zu werden, ohne zu erröthen, meine Taktik veränderte und es mit ein wenig Höflichkeit versuchte?

»Wenn ich ungerecht gegen Sie gewesen bin, mein Herr«, erwiderte ich, »so bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich mich befriedigt erklären werde, wenn ich von Ihnen selbst erfahre, welches die Umstände sind, deren Sie eben Erwähnung thaten.«

Diese Worte besänftigten seine verletzte Würde. Sein Benehmen wurde wieder sanfter. »Die Wahrheit ist«, sagte er, »daß ich meine Bekanntschaft mit der jungen Dame einem bissigen kleinen Hunde verdanke, welcher den Leuten im Wirthshause gehört. Der Hund war der Person, welche mir hier aufwartet, gefolgt und erschreckte die Dame, als sie vorüberging und er auf sie losfuhr und sie anbellte. Nachdem ich den Hund weggejagt hatte, bat ich sie einzutreten und sich niederzusestzen, bis sie sich erholt haben würde. Bin ich dafür zu tadeln? Ich leugne nicht, daß ich das lebhafteste Interesse für die junge Dame empfand und daß ich mein Bestes that, sie zu unterhalten, so lange sie mich mit ihrer Gegenwart in meinem Hause beehrte. Darf ich fragen, ob ich Sie jetzt befriedigt habe?«

So gern ich bei meiner ungünstigen Meinung von ihm beharren wollte, sah ich mich doch jetzt genöthigt, mir selbst einzugestehen, daß diese Meinung falsch war. Seine Erklärung war sowohl ihren Ausdrücken, wie seinem Ton und Benehmen nach die eines Gentleman. Und überdies war er, obgleich ein wenig zu weibisch, nach meinem Geschmack doch ein so schöner Mann! Sein natürlich gelocktes Haar war von einem schönen hellen Kastanienbraun. Seine Augen waren von dem hellsten Braun, das ich jemals gesehen habe und hatten einen eigenthümlich gewinnenden bescheidenen Ausdruck. Sein Teint war so milchweiß und fleckenlos, daß man denselben bei einem Manne geradezu auffallend nennen mußte, es war der Teint einer Frau oder wenigstens eines Knaben. Er sah in der That mehr wie ein Knabe, denn wie ein Mann aus; sein glattes Gesicht war gänzlich bartlos. Wenn er mich gefragt hätte, würde ich ihn, der in der That drei Jahre älter als Lucilla war, für jünger als sie gehalten haben.

»Wir sind auf eine etwas sonderbare Weise mit einander bekannt geworden, mein Herr«, sagte ich, »Sie haben gestern Abend gegen mich eine eigenthütmliche Sprache geführt und ich habe mich heute gegen Sie einer übereilten Sprache schuldig gemacht. Nehmen Sie meine Entschuldigung an und lassen Sie uns versuchen, ob wir nicht schließlich einander Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Ich habe Ihnen, ehe wir uns trennen, noch etwas mehr zu sagen. Finden Sie es höchst auffallend von einer Frau, wenn ich Ihnen vorschlage, jetzt auch mir einen Stuhl in Ihrem Hause anzubieten?«

Er lachte in der freundlichstem besten Laune und ging mir in’s Haus voran. Wir betraten das Zimmer, in welchem er Lucilla empfangen hatte und setzten uns auf die beiden am Fenster stehenden Stühle, auf welchen sie gesessen hatten, mit dem Unterschiede, daß ich mich des Sitzes zu bemächtigen wußte, den er vorher eingenommen hatte, so daß er sein Gesicht dem Lichte zukehren mußte.

»Herr Dubourg«, fing ich an, »Sie werden bereits errathen haben, daß ich mit angehört habe, was Fräulein Finch Ihnen beim Abschiede sagte?«

Er verneigte sich schweigend zum Zeichen, daß dem so sei und fing an in nervöser Aufregung mit der Vase zu spielen, welche Lucilla auf dem Tische hatte stehen lassen.

»Was beabsichtigen Sie zu thun?« fuhr ich fort, »Sie haben von dem Interesse gesprochen, welches Sie an meiner jungen Freundin nehmen. Wenn dieses Interesse aufrichtig ist, so wird Sie dasselbe dahin führen, die junge Dame durch Erfüllung ihrer Bitte günstig für Sie zu stimmen. Sagen Sie mir, bitte, offen: Wollen Sie uns besuchen als ein Gentleman, welcher zwei Damen überzeugt hat, daß sie ihn als Freund und Nachbar empfangen können? Oder wollen Sie die Güte haben, den Pfarrer von Dimchurch zu avertiren, daß seine Tochter in Gefahr ist, einem Menschen von zweifelhaftem Charakter zu gestatten, ihr seine Bekanntschaft aufzudrängen?« Er stellte die Vase wieder auf den Tisch und wurde todtenblaß.

»Wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe«, sagte er, »wenn Sie durchgemacht hätten, was ich habe erdulden müssen«, seine Stimme versagte ihm, seine sanften braunen Augen wurden feucht, sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er sprach nicht weiter.

Wie alle Frauen mag ich Männer gern männlich sehen. Nach meiner Ansicht lag etwas Schwächliches und Weibisches in der Art, wie dieser Dubourg meinen Vorschlag aufnahm. Es erweckte nicht nur kein Mitleid bei mir, sondern war in Gefahr, ein Gefühl der Verachtung in mir hervorzurufen.

»Ich habe auch gelitten«, antwortete ich. »Ich habe auch Schweres erdulden müssen. Aber der Unterschied zwischen uns ist der, daß mein Muth nicht er schöpft ist. An Ihrer Stelle würde ich, wenn ich mir bewußt wäre, ein ehrenwerther Mann zu sein, auch nicht einen Augenblick einen Schatten von Verdacht auf mir ruhen lassen. Es möchte kosten, was es wolle, ich würde mich rechtfertigen. Ich würde mich schämen, zu weinen, ich würde reden.«

Das fruchtete. Er sprang auf.

»Haben Hunderte von grausamen Augen Sie angestarrt?« brach er leidenschaftlich aus. »Hat man auf Sie, wo Sie sich blicken ließen, erbarmungslos mit den Fingern gezeigt? Hat man Sie an den Schandpfahl der Zeitungen gestellt? Hat Ihre Photographie an allen Schaufenstern geprangt und der Welt Ihre Schande verkündet?« Er sank auf einen Stuhl und rang die Hände in wilder Verzweiflung »O, die Welt!« rief er aus, »die schreckliche Welt! Ich kann ihr nicht entgehen, ich kann mich selbst hier nicht verbergen. Auch Sie müssen mich wie alle Uebrigen an gestarrt haben.« Er weinte, indem er mich zornig an blickte. »Ich sah es sofort, als Sie gestern Abend an mir vorübergingen.«

»Ich habe Sie nie früher gesehen«, antwortete ich. »Was Ihre Portraits betrifft, so sind mir dieselben völlig unbekannt. Ich war, bevor ich hierher kam, viel zu unglücklich und von Sorgen gequält, als daß mich hätte ergötzen können, in die Schaufenster zu blicken. Sie sind mir bis auf Ihren Namen völlig unbekannt. Wenn Sie sich selbst achten, so sagen Sie mir, wer Sie sind. Heraus mit der Wahrheit, mein Herr! Sie wissen so gut wie ich, daß Sie schon zu weit gegangen sind, um wieder inne zu halten.«

Ich ergriff seine Hand. Sein leidenschaftlicher Ausbruch hatte mich in die höchste Aufregung versetzt; ich wußte kaum mehr was ich sagte oder that. In diesem kritischen Augenblick regten wir einander zu wahnsinniger Leidenschaftlichkeit auf. Seine Hand schloß sich krampfhaft bei der Berührung mit der meinigen.

Seine Augen blickten wild in die meinigen.

»Lesen Sie Zeitungen?« fragte er.

»Ja.«

»Haben Sie darin . . .?«

»Ich habe den Namen »Dubourg« nicht gelesen.«

»Ich heiße auch nicht »Dubourg«.«

»Wie denn?«

Jetzt beugte er sich über mich und flüsterte mir seinen Namen in’s Ohr. Jetzt war es an mir, entsetzt aufzuspringen. »Guter Gott!« rief ich aus »Sie sind der Mann, der vorigen Monat unter der Anklage des Mordes vor den Assisen stand und der ganz nahe daran war, auf das Zeugniß einer Uhr hin gehängt zu werden!«



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Achtes Kapitel - Die meineidige Uhr

Wir sahen uns schweigend an. Beide mußten wir uns eine Weile sammeln. Ich will diese Pause benutzen, um hier zwei Fragen zu beantworten, welche sich dem Leser aufgedrängt haben werden. Wie kam Dubourg dazu, unter der Anklage des Mordes vor den Assisen zu stehen und welcher Zusammenhang bestand zwischen dieser ernsten Angelegenheit und dem falschen Zeugniß einer Uhr?

Die Antwort auf diese beiden Fragen wird sich in der Erzählung finden, welche ich die »meineidige Uhr« nenne .

In der kurzen Erzählung dieses Zwischenfalls, welchen ich einem in meinem Besitz befindlichen officiellen Berichte entnehme, werde ich unsern neuen Bekannten in Browndown bei seinem angenommenen Namen nennen, den ich ihm auch ferner beilegen werde. Erstens war es der Mädchenname seiner Mutter, den er ein Recht zu führen hatte, wenn es ihm so beliebte. Zweitens geht unser häusliches Drama in Dimchurch bis auf die Jahre 1858 und 1859 zurück und wirkliche Namen haben jetzt, wo Alles vorüber ist, für niemand ein Interesse mehr. Mit »Dubourg« haben wir angefangen, mit »Dubourg« wollen wir bis zum Schluß fortfahren.

Vor einigen Jahren wurde in der Nähe einer gewissen Stadt im Westen Englands an einem Sonnabend ein Mann auf einem Felde ermordet gefunden. Der Name des Feldes war Pardon Feld.

Der Mann war ein kleiner Zimmermann und Bauunternehmer in der Stadt gewesen, der eines sehr zweifelhaften Rufes genoß. An dem fraglichen Abende ging ein entfernter Verwandter desselben, der von einem Herrn in der Nachbarschaft zur Einnahme von Pachtgeldern verwendet wurde, zufällig über einen Zauntritt, der von dem Felde auf eine Landstraße führte, und sah einen Herrn das Feld über eben diesen Tritt etwas eilig verlassen. Er erkannte in dem Herrn den ihm nur von Ansehen bekannten Herrn Dubourg.

Die beiden gingen einander an der Landstraße in entgegengesetzter Richtung vorüber. Etwas später, wie es heißt eine halbe Stunde, hatte der Renteneinnehmer Veranlassung, auf derselben Landstraße wieder zurück zu gehen. Als er wieder bei dem Zauntritt anlangte, hörte er lautes Rufen und betrat Feld, um zu sehen, was es gebe. Er fand, daß mehrere Personen von dem andern Ende des Feldes zu einem Knaben hinliefen, der an einer entfernten Stelle des Feldes hinter einer Viehhürde stand, und ein entsetzliches Geschrei ausstieß. Zu den Füßen des Knaben lag, das Gesicht gegen die Erde gekehrt, der Leichnam eines Mannes mit schrecklich eingeschlagenem Kopf. Unter ihm lag seine Uhr, an der Kette aus der Uhrtasche heraus hängend. Die Uhr war, offenbar in Folge der Erschütterung des Falles, mit welchem der Besitzer auf sie niedergestürzt war, um halb neun Uhr stehen geblieben Der Körper war noch warm. Außer der Uhr fanden sich noch andere Werthsachen bei der Leiche. Der Renteneinnehmer erkannte in dem Todten sofort den obenerwähnten Zimmermann und Bauunternehmer. Bei der Vornntersuchnng wurde das Stillestehen der Uhr um halb neun Uhr als ein sicheres Indicium dafür betrachtet, daß der Schlag, welcher den Mann getödtet hatte, um jene Zeit geführt sei.

Die nächste Frage war, ob jemand um halb neun Uhr in der Nähe des Leichnams gesehen worden sei. Der Renteneinnehmer erklärte, daß er gerade um jene Zeit Herrn Dubourg das Feld eilig verlassen gesehen habe. Gefragt, ob er in jenem Augenblick auf seine Uhr gesehen habe, gestand er, daß er das nicht gethan habe; aber gewisse vorangegangene Umstände, welche sich nach seiner Angabe seinem Gedächtnisse eingeprägt hatten, setzten ihn in den Stand, auch ohne auf seine Uhr gesehen zu haben, der Wahrheit seiner Behauptung sicher zu sein. Man drang in ihn in Betreff dieses wichtigen Punktes, aber er beharrte bei seiner Erklärung: um halb neun Uhr habe er Herrn Dubourg das Feld eiligst verlassen gesehen! Um halb neun Uhr war die Uhr des Ermordeten stehen geblieben.

Die nächste Frage war, ob noch irgend eine andere Person um jene Zeit auf dem Felde oder in der Nähe gesehen worden sei.

Es war kein Zeuge zu finden, der irgend jemand anderen in der Nähe des fraglichen Ortes gesehen hatte. Die Waffe, mit welcher der Schlag geführt worden war, hatte man nicht gefunden. Es fragte sich dann, da offenbar Raub nicht das Motiv des Verbrechens gewesen war, ob man von irgend jemand wisse, daß er einen Groll gegen den Ermordeten gehegt habe. Es war kein Geheimniß, daß derselbe mit Männern und Weibern von zweifelhaftem Ruf verkehrt habe; aber gegen keine dieser Personen lag ein specieller Verdacht vor.

Bei dieser Sachlage blieb nichts anderes übrig, als Herrn Dubourg, welcher inner- und außerhalb der Stadt als ein junger Mann von unabhängigem Vermögen wohlbekannt war und sich vortrefflichen Rufes erfreuete, zu ersuchen, einige Auskunft über sich zu ertheilen.

Er gab sofort zu, daß er über das Feld gegangen sei. Aber im Widerspruch mit der Behauptung des Renteneinnehmers erklärte er, daß er einen Augenblick, bevor er den Zauntritt überstiegen nach seiner Uhr gesehen habe und es nach derselben genau ein Viertel nach acht Uhr gewesen sei. Fünf Minuten später, also zehn Minuten bevor nach dem Zeugniß der Uhr des Todten der Mord begangen worden, habe er eine Dame, welche in der Nähe des fraglichen Feldes wohne, besucht und sei bei derselben geblieben, bis es nach seiner Uhr, nach welcher er beim Verlassen des Hauses der Dame wieder gesehen habe, ein Viertel vor neun Uhr gewesen sei.

Er behauptete also sein Alibi. Die Freunde des Herrn Dubourg waren von seiner Unschuld vollkommen überzeugt. Um auch dem Gericht diese Ueberzeugung beizubringen, erschien es unerläßlich, die Dame als Zeugin zu vernehmen. Inzwischen wurde Herrn Dubourg eine andere rein formelle Frage vorgelegt; die nämlich, ob er irgend etwas über den Ermordeten wisse. Mit einem gewissen Anschein von Bestürzung gestand Herr Dubourg, daß er sich von einem Freunde habe überreden lassen, den Mann mit einer gewissen Arbeit zu beschäftigen. Durch fernere Fragen wurde er zur Angabe der folgenden Thatsachen veranlaßt:

Daß die betreffende Arbeit sehr schlecht gemacht gewesen sei, daß der Mann einen exorbitanten Preis für dieselbe gefordert habe, daß derselbe sich, als Dubourg ihm wegen dieser Ueberforderung Vorstellungen gemacht, grob und impertinent benommen habe, daß ein Wortwechsel zwischen ihnen entstanden sei, daß Dubourg den Mann am Rockkragen gepackt und zum Hause hinausgeworfen habe, daß er den Mann im Zorn einen infamen Schuft gescholten und ihm gedroht habe, ihn so zu prügeln, daß er kaum mit dem Leben davon kommen solle, (oder wie er sich im ähnlichen Sinne ausgedrückt haben möge) falls er sich je wieder in der Nähe seines Hauses blicken lassen sollte; daß er seit jenem Streit, welcher sechs Wochen vor der Ermordung stattgefunden, nie wieder den Mann weder gesprochen, noch mit Augen gesehen habe.

Nach der damaligen Lage der Sache wurden diese, Umstände als für Herrn Dubourg ungünstige betrachtet; aber er konnte sich auf sein »Alibi« und auf seinen guten Namen berufen, und niemand zweifelte an einem für Dubourg günstigen Ausgang. Die Dame erschien als Zeugin. Als sie mit Herrn Dubourg confrontirt und genöthigt wurde; sich über die Zeitfrage zu er klären, widersprach sie ihm, auf das Zeugniß der Kaminpendüle gestützt auf das Entschiedenste. Ihre Aussage lief wesentlich auf Folgendes hinaus: sie habe, als Herr Dubourg zu ihr in’s Zimmer getreten sei, auf ihre Pendüle geblickt und gedacht, es sei etwas spät für einen Besuch. Die erst Tags zuvor von dem Uhrmacher regulirte Pendüle habe fünfundzwanzig Minuten vor neun Uhr gezeigt. Ein angestellter Versuch ergab, daß es gerade fünf Minuten erforderte um raschen Schritts von dem Zauntritt nach dem Hause der Dame zu gehen. So wurde denn also die Angabe des Renteneinnehmers, der selbst ein respectabler Zeuge war, in der Aussage dieser Zeugin von angesehener Stellung und vorzüglichem Ruf unterstützt. Die Pendüle ging, wie sich bei einer demnächst vorgenommenen Untersuchung ergab, richtig. Die Aussage des Uhrmachers ergab, daß er den Uhrschlüssel im Verwahrsam habe und daß er, seit er die Uhr am Tage vor dem Besuche des Herrn Dubourg aufgezogen und gestellt, noch nichts wieder mit derselben vorgenommen habe. Nachdem so die Richtigkeit der Uhr festgestellt worden, schien sich daraus der unabweisliche Schluß zu ergeben daß Herr Dubourg überführt sei, zu der Zeit wo der Mord begangen worden, auf dem Felde gewesen zu sein; ferner, seiner eigenen Aussage gemäß mit dem Ermordeten nicht lange vor seinem Tode einen Streit gehabt zu haben, der mit einer thatsächlichen Mißhandlung und mit einer Drohung von seiner Seite geendet hatte, und endlich den Versuch gemacht zu haben, durch eine falsche Zeitangabe ein Alibi nachzuweisen. Es blieb nichts übrig, als ihn unter der Anklage der Ermordung des Bauunternehmers auf dem »Pardon-Felde« vor die Assisen zu verweisen. Die Proreßverhandlungen füllten zwei Tage aus. In der Zwischenzeit waren keine neuen Thatssachen an den Tag gekommen. Die Zeugenaussagen lauteten ebenso wie bei der Voruntersuchung, wurden aber jetzt sorgfältiger gesichtet. Herr Dubourg hatte den doppelten Vortheil für sich, sich den Beistand des ersten Advocaten im Gerichtsbezirk sichern zu können und die lebhafteste Sympathie bei den Geschworenen zu erwecken, welche das regste Interesse an seiner Lage nahmen und eifrigst nach Beweisen für seine Unschuld aussahen. Am Ende des ersten Tages hatten die Zengenaussagen so entschieden zu seinen Ungunsten gelautet daß sein eigener Vertheidiger an dem Ausgange verzweifelte.

Als der Gefangene am zweiten Tage seinen Platz auf der Anklagebank einnahm, gab es unter den Zuhörern im Gerichtssaal nur eine Ueberzeugung. Jedermann sagte: »Die Pendule wird ihn an den Galgen bringen.« Es war beinahe zwei Uhr Nachmittags und die Verhandlungen sollten gerade auf eine Stunde vertagt werden, als man sah, wie der Anwalt des Angeklagten dem für ihn plaidirenden Advocaten ein Papier einhändigte. Dieser erhob sich unter Anzeichen, der Aufregung, welche die Neugierde der Anwesenden erregten. Er verlangte die sofortige Vernehmung einer neuen Zeugin, deren Aussage zu Gunsten des Angeklagten zu wichtig sei, als daß die Vernehmung auch nur einen Augenblick verschoben werden dürfe. Nach einer kurzen Unterredung zwischen dem Richter und den Advocaten beider Parteien entschied sich der Gerichtshof für die Fortsetzung der Sitzung. Die Zeugin erschien; es war ein junges Mädchen von zartem Aussehen. An jenem Abend, als der Angeklagte der Dame seinen Besuch gemacht hatte, stand sie bei der Dame als Hausmädchen im Dienst. Am nächsten Tage hatte sie einen ihr schon vorher von ihrer Herrin zugestandenen achttägigen Urlaub angetreten und hatte denselben, zu einem Besuch ihrer in dem Westen von Cornwall wohnenden Eltern benutzt. Dort sei sie krank geworden und habe sich bisher noch nicht hinreichend wieder erholt um zu ihrem Dienst zurückzukehren. Nach diesem Vorbericht über ihre Person machte das Hausmädchen die folgenden merkwürdigen Angaben in Betreff der Pendüle ihrer Herrin. An dem Morgen des Tages, an welchem Herr Dubourg seinen Besuch gemacht habe, habe sie das Kaminsims gereinigt. Sie habe mit dem Staubtuch die Stelle des Simses, auf welcher die Pendüle stand, gerieben, habe dabei zufällig an dem Pendel gerührt und denselben zum Stillstehen gebracht. Bei einer früheren Gelegenheit wo ihr dasselbe begegnet habe sie dafür heftige Vorwürfe erhalten. Aus Furcht daß eine Wiederholung ihrer Unvorsichtigkeit an einem Tage, nachdem die Pendüle von einem Uhrmacher regulirt worden sei, vielleicht die Zurücknahme des Urlaubs zur Folge haben könne, habe sie beschlossen, die Sache womöglich selbst wieder in Ordnung zu bringen. Nachdem sie die Pendüle von unten, her angestoßen, auf diese Weise aber den Pendel nicht wieder zum Gehen habe bringen können, habe sie versucht, die Pendüle aufzuheben und sie zu schütteln. Es war eine marmorne Pendüle, auf welcher eine Bronzefigur stand und sie war so schwer, daß das Mädchen genöthigt war, etwas zu suchen, was ihr als Hebel dienen könne Ein solcher Gegenstand war im Augenblick nicht leicht zu finden. Als es ihr endlich gelungen war, einen dazu passenden Gegenstand, aufzutreiben, machte sie es möglich, die Pendüle einige Zoll hoch zu heben und dann wieder hinzustellen und sie so wieder zum Gehen zu bringen. Demnächst mußte sie natürlich die Zeiger verschieben. Auch dabei stieß sie auf ein Hinderniß Der Glasdeckel über dem Zifferblatt wollte sich nicht öffnen lassen. Nachdem sie vergebens nach einem Instrumente gesucht das ihr dazu verhelfen könne, habe sie von dem Diener, ohne ihm zu sagen, wozu sie denselben brauchen wolle, einen kleinen Grabstichel erhalten, damit habe sie den Glasdeckel nachdem sie unversehens den metallenen Rand desselben geschrammt geöffnet und habe die Zeiger nach ungefährem, Ermessen gestellt. Sie war in jenem Augenblick in der Furcht daß ihre Herrin sie auffinden mochte, etwas aufgeregt gewesen. Später am Tage habe sie dann gefunden, daß sie den während ihres Versuchs, die Uhr wieder in Ordnung zu bringen, verflossenen Zeitraum überschätzt habe. Sie hatte die Zeiger gerade eine Viertelstunde zu weit vorgeschoben. Eine sichere Gelegenheit die Uhr wieder im Geheimen richtig zu stellen, habe sich erst unmittelbar vor dem Schlafengehen gefunden. Da erst habe sie die Zeiger wieder zurück schieben können Zu der Zeit, wo Herr Dubourg ihre Herrin besucht habe, sei die Uhr, wie sie positiv auf ihren Eid erklärte, eine Viertelstunde zu früh gegangen.

Die Uhr habe nach der Aussage ihrer Herrin fünfundzwanzig Minuten vor neun gezeigt, während es in der That, wie Herr Dubourg behauptet habe, zwanzig Minuten nach acht Uhr gewesen sei.

Befragt, warum sie diese merkwürdige Aussage nicht schon früher vor dem Untersuchungsrichter zu Protocoll gegeben habe, erklärte sie, daß in dem entfernten Cornishen Dorfe, nach welchem sie am nächsten Tage gegangen und wo sie dann durch ihre Krankheit zurückgehalten sei, niemand weder von der Untersuchung, noch von dem Proceß etwas gehört habe. Sie würde auch jetzt noch nicht hier erschienen sein, um über die so wichtigen Umstände ihre eben beschworene Aussage zu machen, wenn nicht der Zwillingsbruder des Angeklagten sie Tags zuvor aufgefunden und nachdem sie ihm aus seine Fragen mitgetheilt hatte, was sie eben in Betreff der Pendüle ausgesagt habe, darauf bestanden hätte, daß sie diesen Morgen die Reise hierher mit ihm mache. Diese Aussage entschied in der That den Proceß. Als das Mädchen mit seiner Aussage zu Ende war, machte die dichtgedrängte Menge ihren Gefühlen durch laute Ausbrüche des Beifalls Luft. Das Mädchen wurde natürlich in ein scharfes Kreuzverhör genommen. Man erkundigte sich nach ihrem Ruf; man suchte und fand eine Bestätigung in der Aussage in Betreff des Grabstichels und der Schrammen auf dem Rahmen des Glasdeckels. Der Proceß endigte damit, daß die Geschworenen am zweiten Tage zu später Stunde den Angeklagtem ohne ihre Loge zu verlassen, für »nichtschuldig« erklärten. Es war nicht zu Viel gesagt, daß sein Bruder ihm das Leben gerettet hatte. Sein Bruder allein hatte von Anfang bis zu Ende hartnäckig, dem Zeugniß der Pendüle mißtraut. Er hatte alle Menschen mit unaufhörlichen Fragen gequält, hatte nach Beginn des Processes die Abwesenheit des Hausmädchens entdeckt und war aus der Stelle abgereist, das Mädchen aufzusuchen und zu befragen, ohne einen bestimmten Anhalt, einfach entschlossen, in der unermüdlichen Stellung der einen Frage nicht nachzulassen, mit welcher er alle Menschen verfolgte: »Die Pendüle wird meinen Bruder an den Galgen bringen, können Sie mir etwas über die Pendüle mittheilten.«

Vier Monate später klärte sich das Geheimniß des Verbrechens auf. Einer der schlechtberufenen Genossen des Ermordeten bekannte sich auf seinem Sterbebette zu der That. Die Umstände der That boten nichts Interessantes oder Bemerkenswerthes dar. Der Zufall, welcher einen Unschuldigen in Gefahr gebracht, hatte den Schuldigen straflos ausgehen lassen. Ein elendes Weibsbild, ein durch Eifersucht hervorgerufener Streit und der Mangel an Zeugen der That, das waren die sehr gewöhnlichen Umstände, die zu der Tragödie im »Pardon Felde« geführt hatten.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel - Der Held des Processes

»Sie haben es mir abgepreßt. Jetzt wo ich Ihnen Ihren Willen gethan habe, lassen Sie mich mit meinen Gefühlen allein und gehen Sie!« Das waren die ersten Worte, mit denen mich der Held des Criminalprocesses anredete, sobald er wieder im Stande war zu sprechen. Er ging mit einem eigenthümlich trotzig resignirten Ausdruck nach der andern Seite des Zimmers und blickte von dort auf auf mich, wie ein Mensch, der mit einer ansteckenden Krankheit behaftet ist und einen gesunden Nebenmenschen vor der Gefahr der Berührung mit sich bewahren möchte.

»Warum soll ich gehen?« fragte ich .

»Sie sind ein kühnes Weib«, sagte er, »daß Sie den Muth haben, in demselben Zimmer mit einem Menschen zu bleiben, auf welchen die Leute als auf einen Mörder mit Fingern gedeutet haben und welcher unter der Anklage eines todteswürdigen Verbrechens vor Gericht gestanden hat.«

Derselbe krankhafte Gemüthszustand, welcher ihn nach Dimchurch geführt und ihn veranlaßt hatte, mich am vorhergehenden Abende in der von mir erzählten Weise anzureden, brachte ihn jetzt, wie mir schien, gegen mich als gegen eine Person auf, welche sich seines leidenschaftlichen Temperaments als eines Mittels, bedient habe, ihm die Wahrheit abzuzwingen. Was sollte ich mit einem Menschen in dieser Gemüthsverfassung anfangen? Ich entschloß mich zu einem Verfahren, das man sprichwörtlich »den Stier bei den Hörnern packen« nennt.

»Ich sehe nur einen Mann hier«; antwortete ich »einen Mann, der von der Anklage eines Verbrechens, das er zu begehen unfähig war, ehrenvoll freigesprochen worden ist, einen Mann, der Anspruch auf mein Interesse und meine Sympathie hat. Reichen Sie mir die Hand, Herr Dubourg.« Ich sprach in einem guten, herzlichen Tone und bekräftigte meine Worte durch einen guten, herzlichen Händedruck Der arme, schwache, vereinsamte, verfolgte junge Mensch ließ seinen Kopf wie ein Kind auf meine Schulter sinken und brach in Thränen aus.

»Verachten Sie mich nicht«, sagte er, sobald er wieder Worte finden konnte. »Es kann einen Menschen wohl zu Boden werfen, wenn er auf der Anklagebank gesessen hat und wenn Hunderte von hartherzigen Menschen ihn, ohne daß er es verdient hätte, mit Entsetzen angestarrt haben. Ueberdies fühle ich mich sehr einsam, Madame, seit mich mein Bruder verlassen hat.«

Wir setzten uns wieder neben einander nieder. Sein Wesen bot die sonderbarste Mischung von Extremen, die mir jemals vorgekommen waren. Wenn man ihn zu einem der leidenschaftlichen Ausbrüche brachte, zu denen er so leicht aufflammte, so erschien er wie ein Tiger, wenn er sich aber dann wieder zu seiner gewöhnlichen milden Temperatur abgekühlt hatte, er schien er wie ein wahres Lamm.

»Eines ist mir auffallend, Herr Dubourg«, fuhr ich fort, »ich begreife nicht recht —«.

»Nennen Sie mich nicht Herr Dubourg«, unter brach er mich. »Sie erinnern mich damit an die Schande, die mich genöthigt hat, diesen Namen anzunehmen. Nennen Sie mich bei meinem Vornamen. Es ist ein fremder Name Ihrem Accente nach müssen Sie eine Fremde sein und werden mich daher um meines fremden Namens willen nur um so lieber haben. Ich bin nach einem Bruder meiner Mutter auf den Namen Oscar getauft; meine Mutter war aus Jersey. Nennen Sie mich Oscar. Was also begreifen Sie nicht?«

»Ich begreife nicht«; nahm ich wieder auf, »daß Ihr Bruder Sie in Ihrer gegenwärtigen Lage hier ganz allein läßt.«

Bei diesen Worten wäre er beinahe wieder in Wuth gerathen.

»Kein Wort gegen meinen Bruder«, rief er zornig aus. »Mein Bruder ist das edelste Wesen, das Gott je geschaffen hat. Das werden Sie selbst zugeben müssen. Sie wissen ja, was er für mich gethan hat. Ich würde ohne diesen Engel unfehlbar gehängt worden sein.«

Ich gab zu, daß sein Bruder ein Engel sei und dieses Zugeständniß beschwichtigte ihn sofort.

»Die Leute sagen, man könne uns nicht von einander unterscheiden«, fuhr er fort, indem er seinen Stuhl freundschaftlich dicht an meinen heranrückte. »Ach,« die Leute sind so oberflächlich. Dem Aeußern nach sind wir allerdings ganz gleich. Sie haben gehört, daß wir Zwillinge sind. Aber damit hat auch zu meinem Unglück die Aehnlichkeit ein Ende. Nugent, mein Bruder erhielt diesen Namen nach meinem Vater, Nugent ist ein Held, Nugent ist ein Genie. Ich wäre gestorben, wenn er sich nicht nach dem Criminalproreß meiner angenommen hätte. Ich hatte Niemanden als ihn. Wir sind Waisen und haben keine weiteren Geschwister. Nugent empfand die mir angethane Schmach noch bitterer als ich, aber er wußte sich zu beherrschen. Freilich traf ihn der Schimpf auch noch empfindlicher als mich; ich will Ihnen sagen warum. Nugent war auf dem besten Wege, unsern Familiennamen, den Namen, welchen wir jetzt aufzugeben genöthigt sind, zu einem weltberühmten zu machen. Er ist Maler, Landschaftsmaler, haben Sie nie von ihm gehört? Nun da werden Sie bald von ihm hören. Was glauben Sie wohin er gegangen ist? Zu den Wilden in Amerika, um dort Studien zu neuen Bildern zu machen. Er wird der Gründer einer neuen Schule der Landschaftsmalerei, in einer so großartigen Auffassung, wir sie nie erstrebt worden ist, werden. Der liebe Junge! Wissen Sie, was er zu mir sagte, als er hier von mir Abschied nahm? Edle Worte, wahrhaft edle Worte:l »Oscar, ich werde unseren angenommenen Namen berühmt machen. Du sollst in ehrenvoller Weise bekannt, Du sollst berühmt werden als der Bruder von Nugent Dubourg.« Denken Sie, ich hätte mich einer solchen Carrière hindernd in den Weg stellen können? Konnte ich einen solchen Mann, der mir so viel geopfert hatte, dazu verurtheilen, hier zu vegetiren, nur um mir Gesellschaft zu leisten? Was liegt daran, ob ich mich einsam fühle oder nicht. Wer bin ich? O, wenn Sie gesehen hätten, wie er das entsetzliche Allbekanntsein, welches uns nach dem Proceß verfolgte, ertrug! Ueberall hielten ihn die Leute für mich, starrten ihn an und deuteten mit den Fingern auf ihn. Keine Klage entfuhr ihm, er lachte darüber. »So viel gebe ich auf die öffentliche Meinung«, sagte er, mit den Fingern schnalzend. Das ist doch Geistesstärke, nicht wahr? Er reiste von Stadt zu Stadt, aber überall fanden sich die Photographien, die Zeitungen, überall war die ganze nichtswürdige Geschichte — »ein Roman aus dem wirklichen Leben« nannten sie es — Jedermann schon vor Nugent’s Eintreffen bekannt. Er verlor nie den Muth. »Wir werden schon noch einen Ort finden«, pflegte er heiter zu sagen, »Du brauchst Dich gar nicht darum zu bekümmerm Oscar, ich sorge für Dich. Ich verspreche Dir, ich schaffe Dir einen Zufluchtsort, gerade wie Du ihn brauchst.« Er zog überall Erkundigungen ein und machte endlich diesen einsamen Ort, welchen Sie bewohnen, ausfindig. Ich fand die Gegend hübsch, als wir zusammen über die Hügel gingen — für ihn war sie längst nicht großartig genug. Wir verirrten uns. Ich fing an, mich zu ängstigen, aber er machte sich gar nichts daraus. »Ich bin ja bei Dir«, sagte er, »und mich verläßt mein Glück nicht. Paß’ auf wir werden nächstens über ein Dorf stolpern!« Sie werden es kaum glauben, wenn ich Ihnen sage, dass wir zehn Minuten später, genau wie er es vorher ge sagt hatte über diesen Ort stolperten. Als ich ihn endlich vermocht hatte, mich zu verlassen, ging er doch nicht von mir, ohne mich guten Leuten empfohlen zu haben. Er empfahl mich dem Wirth des Gasthauses hier. Er sagte zu ihm: »Mein Bruder hat eine zarte Gesundheit, mein Bruder wünscht zurückgezogen zu leben; ich werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich um meinen Bruder bekümmern.« War das nicht gütig? Der Wirth schien ganz gerührt davon zu sein. Nugent weinte, als er von mir Abschied nahm. O, was gäbe ich darum, wenn ich sein Herz und seinen Geist hätte. Aber es ist doch auch schon etwas, sein Gesicht zu haben, nicht wahr? Das sage ich mir oft, wenn ich mich im Spiegel sehe. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen so viel vorplaudere, aber wenn ich einmal von Nugent zu reden anfange, weiß ich nie ein Ende zu finden.«

Ein Zug in dem sonst unergründlichen Wesen dieses jungen Menschen war also deutlich ausgesprochen; er betete seinen Zwillingsbruder an.

.

Es würde auch mir klar gewesen sein, daß Herr Nugent Dubourg es verdiene, angebetet zu werden, wenn ich mich damit hätte aussöhnen können, daß er seinen Bruder an einem Orte wie Dimchurch sich selbst überlassen hatte. Ich mußte mich des großen Dienstes erinnern, welchen er seinem Bruder bei dem Criminalproceß geleistet hatte, um es über mich zu gewinnen, ihm die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mein Urtheil über ihn bis zu einer persönlichen Bekanntschaft zu suspendiren.

Nachdem ich diesen Art der Großmuth vollbracht hatte, nahm ich die erste sich darbietende Gelegenheit wahr, um die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu leiten. Ich kenne nichts Langweiligeres, als die Mittheilung über die Tugenden einer abwesenden und uns unbekannten Person. »Ist es wahr« fragte ich, »daß Sie Browndown auf sechs Monate gemiethet haben? Wollen Sie sich wirklich in Dimchurch niederlassen?«

»Ja«, antwortete er, »wenn Sie mein Geheimniß bewahren wollen. Die Leute hier wissen nichts von mir. Sagen Sie ihnen, bitte, nicht, wer ich bin! Sie würden mich von hier forttreibem wenn Sie es thäten.«

»Ich muß aber doch Fräulein Finch sagen, wer Sie sind«, erwiderte ich.

»Nein, nein, nein!« rief er eifrig aus. »Ich kann den Gedanken, daß sie darum wissen sollte, nicht ertragen. Ich bin so entsetzlich beschimpft worden. Was würde sie von mir denken?«

Es folgte ein neuer Erguß seiner entzückten Bewunderung Lucilla’s, untermischt mit erneuten Bitten, seine Geschichte vor Jedermann geheim zu halten. Ich verlor die Geduld bei seinem gänzlichen Mangels an Charakterstärke und gesundem Menschenverstand.

»Mein lieber Oscar; ich möchte Sie wohl ohrfeigen«, sagte ich, »Sie befinden sich in Betreff dieser Angelegenheit in einem nichtswürdig krankhaften Gemüthszustande. Haben Sie nichts Anderes zu denken? Haben Sie keinen Beruf? Müssen Sie nicht für Ihren Unterhalt arbeiten?«

Ich sprach, wie man sieht, in ziemlich starken Ausdrückem denen ich noch durch einen entsprechenden Ton und eben solche Manieren den gehörigen Nachdruck verlieh. Herr Oscar Dubourg sah mich mit der verwirrten Miene eines Menschen an, dessen Geist sich plötzlich eine Fülle neuer Ideen gewaltsam aufdrängt. Er gab bescheiden die für ihn demüthigende Wahrheit zu. Seit seinen Kinderjahren hatte er immer nur die Hände in die Tasche zu stecken gebraucht, um jederzeit Geld zu finden, ohne daß er jemals nöthig gehabt hätte, es vorher zu verdienen. Sein Vater war ein beliebt er Porträtmaler gewesen und hatte eine Dame, deren Portrait er gemalt, eine Erbin geheirathet. Oscar und Nugent fanden sich beim Tode ihrer Eltern in der verabscheuungswürdigen Lage unabhängiger Gentlemen. Die Würde der Arbeit war etwas diesen unglücklich verwöhnten jungen Leuten Unbekanntes.

»Ich verachte einen reichen Müssiggänger«, sagte sich zu Oscar in in meiner republikanischen Strenge. »Sie bedürfen des veredelnden Einflusses der Arbeit, um einen Mann aus sich zu machen. Kein Mensch hat ein Recht, müssig zu gehen, Keiner ein Recht, reich zu sein. Sie würden sich in einem weniger krankhaften Gemüthszustande befinden, mein junger Manu, wenn Sie Ihr Brot und Ihren Käse verdienen müßten, bevor Sie es essen.«

Er starrte mich mit kläglicher Miene an. Die edlen Gesinnungen, welche ich von meinem verstorbenen Gatten überkommen hatte, brachten Herrn Oscar Dubourg völlig außer Fassung. »Seien Sie mir nicht böse«, sagte er in seiner unschuldigen Weise. »Meinen Käse würde ich auch nicht essen können, wenn ich ihn mir verdiente, ich kann keinen Käse vertragen. Uebersdies beschäftige ich mich so gut ich kann.« Er nahm seine kleines goldene Vase von dem hinter ihm stehenden Tische und erzählte mir, was ich ihn schon Lucilla hatte erzählen hören, als ich am Fenster horchte. »Sie würden mich diesen Morgen bei der Arbeit gefunden haben«, fuhr er fort, »wenn nicht die dummen Menschen, die mir meine Metallplatten schicken, ein Versehen gemacht hätten. Die Legirung sowohl des Goldes wie des Silbers ist diese Mal ganz Verkehrt. Ich muß die Platten wieder zurückschicken und einschmelzen lassen, bevor ich irgend etwas damit anfangen kann. Sie liegen schon alle bereit, um heute, wenn der Fracht wagen kommt, wieder abgeschickt zu werden. Wenn es hier Bedürftige giebt, die Geld brauchen, so werde ich ihnen mit dem größten Vergnügen etwas von dem meinigen abgeben. Es ist nicht meine Schuld, daß mein Vater meine Mutter heirathete. Und was kann ich dafür, daß er Jedem von uns, meinem Bruder und mir eine jährliche Einnahme von zweitausend Pfund hinter lassen hat?«

Zweitausend Pfund! Und der berühmte Pratolungo hatte nie vor seiner Verbindung mit mir gewußt, was es heißt, fünf Pfund zu seiner Verfügung haben. Ich blickte nach der Zimmerdecke empor. In meiner gerechten Entrüstung vergaß ich Lucilla und ihre Neugier in Betreff Oscar’s — vergaß ich Oscar und seine Angst, daß Lucilla entdecken möchte, wer er sei. Ich öffnete meine Lippen, um zu reden. Im nächsten Augenblicke würde ich meine Donnerkeile gegen das ganze infame System der modernen Gesellschaft geschleudert haben, wenn ich nicht durch die merkwürdigste und unerwartetste Unterbrechung, die jemals einer Frau die Lippen geschlossen hat, zum Schweigen gebracht worden wäre.



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Zehntes Kapitel - Erstes Auftreten von Jicks

Plötzlich trat durch die offene Thüre des Zimmers leise und ruhig ein pausbäckiges kleines Mädchen, das nicht mehr als höchstens drei Jahre alt sein konnte. trug weder Hut noch Mütze aus dem Kopfe. Ein schmutziges Kinderkleid bedeckte die ganze kleine Gestalt vom Kinn bis zu den Füßen. Diese merkwürdige Erscheinung schritt mit einer zerlumpten und sehr unrespectabel aussehenden Puppe, welche sie mit ihrem einen Arm fest umschlungen hielt, bis in die Mitte des Zimmers vor; sah zuerst Oscar und dann mich starr an, trat dann an meine Knie heran, legte mir die unrespectable Puppe auf den Schooß, deutete aus einen neben mir leer stehenden Stuhl und nahm die Rechte der Gastfreundschaft mit den Worten in Anspruch:

»Ich will sitzen.«

Wie war es unter diesen Umständen noch möglich, das infame System der modernen Gesellschaft anzugreifen? Jetzt konnte ich nichts thun, als Jicks küssen.

»Kennen Sie das Kind?« fragte ich, während ich dasselbe auf den Stuhl hob.

Oscar lachte laut auf. Gleich mir sah er diese mysteriöse junge Dame jetzt zum ersten Male; gleich mir fragte er sich, was der merkwürdige Spitzname, unter welchem sie sich eingeführt hatte, wohl zu bedeuten haben könne. Wir sahen das Kind an; es hielt seine Beine, welche in ein Paar kleine bestäubte durch löcherte Stiefeln ausliefen, ausgestreckt gerade vor sich hin, erhob seine dunkeln runden, von einem Wetterdach ungekämmter Flachshaare überschatteten Augen, sah uns wieder ernst an und nahm unsere Gastfreundschaft zum zweiten Male mit den Worten in Anspruch: »Jicks will etwas zu trinken haben.«

Während Osrar in die Küche lief, um etwas Milch zu holen, gelang es mir, ausfindig zu machen, wer »Jicks« sei. Etwas, ich kann nicht genau sagen was, in der Art, wie das Kind mit seiner Puppe in das Zimmer hineingeschlendert war, erinnerte mich an die lymphatische Dame im Pfarrhause, wie sie mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand vor und rückwärts schlenderte.

Ich nahm mir die Freiheit, Jicks’ Kleid etwas genauer zu untersuchen und entdeckte in der einen Ecke desselben das Zeichen »Selina Finch.« Neben mir saß also, wie ich vermuthet hatte, ein Mitglied der zahlreichen Familie Frau Finch’s, das, wie mir schien, reichlich jung war, um ganz allein ohne Kopfbedeckung die Umgegend von Dimchurch zu durch streifen. Oscar kam mit einem Becher Milch zurück Das Kind bestand darauf; den Becher selbst in die Hände zu nehmen, leerte denselben ohne abzusetzen bis aus den letzten Zug, holte tief Athem, sah mich mit einem weißen Schnurrbart auf der Oberlippe an und kündigte das Ende seines Besuchs mit den Worten an: »Jicks will wieder hinunter.«

Ich half unserer kleinen Freundin vom Stuhl hinunter. Sie nahm ihre Puppe und blieb einen Augenblick in Gedanken versunken stehen. Was hatte sie jetzt vor? Darüber sollten wir nicht lange in Ungewißheit bleiben. Plötzlich legte sie ihre heiße, fette, kleine Hand in die meinige und versuchte es, mich mit sich zum Zimmer hinaus zu ziehen.

»Was willst Du?« fragte ich.

Jicks antwortete in einem unübersetzbar zusammen gesetzten Wort: »Mann Hott, hott.«

Ich ließ mich zum Zimmer hinauszerren, um «»Mann Hott, hott« zu sehen, zu spielen, oder zu essen; bestimmt zu sagen, was ich eigentlich damit sollte, war unmöglich Das Kind zog mich über den Vor platz vor die Hausthür. Hier hielt der Fuhrmann mit dem Wagen, welcher die zur Zurücksendung nach London bestimmte Kiste mit Gold — und Silberplatten auf nehmen sollte und von dessen Eintreffen wir des weihen Rasenbodens wegen nichts gehört hatten. Ich sah Oscar an, der mir gefolgt war. Jetzt verstanden wir nicht nur das meisterhaft zusammengesetzte Wort Jicks, welches, den Wagen als unwichtig außer Acht lassend, Mann und Pferd bedeutete, sondern auch die höfliche Zuvorkommenheit, mit welcher Jicks zu uns gekommen war und uns, nachdem sie sich ausgeruht und etwas getrunken hatte, von einem Umstande in Kenntniß setzte, welcher von uns unbemerkt geblieben war. Das merkwürdige Kind war, wie der Fuhrmann selbst erzählte, bis nach Browndown geschlendert, um zu sehen, was er hier machen werde, und hatte ihn vorhin befragt und auszuforschen gesucht. Jicks war ein öffentlicher Charakter in Dimchurch, der Fuhrmann kannte sie ganz genau. Man hatte ihr ihres Umherstreifens wegen den Spitznamen »Gipsy« gegeben und hatte diesen Namen in ihrem eigenen Dialekt in Jicks umgeändert. Sie war auf keine Weise im Pfarrhause zu halten; man hatte dort seit langer Zeit jeden Versuch als hoffnunglos aufgegeben. Früher oder später kam sie aber immer wieder zum Vorschein, oder es brachte sie jemand nach Hause, oder einer der Schäferhunde fand sie unter einem Gebüsch eingeschlafen und schlug Lärm. »Was in dem Kopfe des Kindes vorgeht«, sagte der Fuhrmann, indem er Jicks mit einer Art abergläubischer Verehrung ansah, »das weiß nur der liebe Gott. Sie hat ihren eigenen Willen und ihre eigene Art und Weise. Sie ist ein Kind und ist auch kein Kind. Mit drei Jahren ist sie ein Räthseh das niemand von uns lösen kann. Und das ist Alles, was ich von ihr weiß.«

Während der Fuhrmann uns diese Ausschlüsse gab traten der Zimmermann, welcher die Kiste zugenagelt hatte, und sein Sohn zu uns. Sie gingen mit Oscar ins Haus und kamen, die Kiste mit dem kostbaren Metall, welche für einen zu schwer war, gemeinschaftlich tragend, wieder heraus. Nachdem die Kiste auf den Wagen gehoben war, setzten sich auch die beiden Zimmerleute, Vater und Sohn, welche sich zu ihrer kleinen Fahrt nach Brighton der Fuhrgelegenheit bedienen wollten, in den Wagen. Der ältere Zimmermann, ein großer dicker Mann, sagte spaßend zu Oscar: »Die Gegend zwischen hier und Brighton ist sehr einsam, Herr Dubourg. Unserer drei werden nicht zu viel sein, um Ihre kostbare Kiste sicher an die Eisenbahn zu bringen.« Oscar nahm die Sache ernsthaft und fragte: »Giebt es hier in der Gegend Räuber?« »Du lieber Gott«, erwiderte der Fuhrmann, »Räuber würden hier Hungers sterben, wir haben ja nichts, was des Raubens werth wäre.«

Jicks, welche Alles, was vorging, bis auf die kleinsten Einzelheiten mit dem lebhaftesten Interesse beobachtete, nahm es auf sich, den Männern das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Das wunderliche Kind machte gegen seinen Freund, den Fuhrmann gewandt, mit seiner fetten kleinen Hand eine befehlende Geberde und rief so laut es konnte: »Weg!« Der Fuhrmann legte mit einem komischen Ausdruck von Respect seine Hand an den Hut und rief Jicks zu: »AlIes in Ordnung,Fräulein, Zeit ist Geld, nicht wahr?« Er knallte mit der Peitsche und der Wagen rollte über den dichten dicken Rasen geräuschlos davon.

Es war Zeit für mich, nach dem Pfarrhause zurückzukehren und die umherstreifende Jicks diesmsl in die Arme ihrer Familie zurückzuführen. Ich wandte mich zu Oscar, um ihm Adieu zu sagen.

»Ich wollte, ich könnte mit Ihnen gehen «, sagte Oscar.

»Sie werden so gut wie ich im Pfarrhause aus und eingehen können«, antwortete ich, »sobald man dort erfahren haben wird, was diesen Morgen zwischen Ihnen und mir vorgegangen ist. Sie haben von dem, was ich darüber mittheilen werde, nichts zu fürchten, sondern können nur dadurch gewinnen. Machen Sie sich frei von Hirngespinnsten und argwöhnischen Gedanken, die ihrer unwürdig sind. Morgen werden wir gute Nachbarn, Ende der Woche werden wir gute Freunde sein. Für jetzt sage ich Ihnen Lebewohl!«

Ich kehrte mich um, um Jicks bei der Hand zu nehmen. Aber während ich mit Oscar gesprochen hatte, war das Kind entschlüpft und keine Spur von ihm zu sehen. Noch ehe wir einen Schritt thun konnten, um unsere verlorene kleine Zigeunerin zu suchen, drang ihre Stimme von der hinter uns liegenden Seite des Hauses her in schrillen und zornigen Tönen zu uns. »Geht weg«, hörten wir das Kind ungeduldig rufen, »häßliche Männer, geht weg!«

Wir gingen um die Ecke des Hauses und fanden hier zwei schäbig aussehende Fremde, die sich an die Seitenmauer des Hauses lehnten. Ihre leichenhaften Gesichter, ihr thierischer Ausdruck und ihr von übelriechendem Schmutz starrender Anzug ließen mich in ihnen Exemplare des niedrigsten Lumpengesindels, das die Welt noch hervorgebracht hat, des in London aufwachsenden Lumpengesindels erkennen. Da standen sie lungernd, die Hände in den Taschen und den Rücken an die Mauer gelehnt, wie wenn sie sich vor einem Wirthshause sonnten, und da stand Jicks vor ihnen auf dem Rasen mit weit ausgespreizten Beinen, vertrat trotz ihres jugendlichen Alters das Eigenthumsrecht und hieß die Schufte fortgehen.

»Was macht Ihr hier?« fragte Oscar in scharfem Tone.

Einer der Kerle schien im Begriff, eine impertinente Antwort zu geben; aber der andere jüngere und noch gemeiner aussehende hielt ihn zurück und ergriff zuerst das Wort:

»Wir haben einen langen Marsch gemacht, Herr«, sagte der Kerl in einem unverschämt demüthigen Ton, »und haben uns die Freiheit genommen, uns an Ihrer Mauer auszuruhen und unsere Augen an der Schönheit Ihres jungen Fräuleins hier zu weiden.« Dabei deutete er auf das Kind. Jicks aber ballte die Faust gegen ihn und hieß ihn in noch leidenschaftlicherem Tone als vorher fortgehen.

»Im Dorfe ist ein Wirthshaus«, sagte Oscar, »seid so gut, Euch da auszuruhen, mein Haus ist kein Wirthshaus.«

Der ältere Mann machte einen zweiten Versuch zu reden und setzte mit einem Fluch an; aber der Jüngere hielt ihn zurück.

»Sei still, Jim«, sagte der dem anderen überlegene Lump. »Der Herr empfiehlt das Getränk im Wirthsause. Komm laß uns auf die Gesundheit des Herrn trinken.« Dabei wandte er sich gegen das Kind und zog den Hut mit einer tiefen Verneigung. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Fräulein. Sie gehören gerade zu der Art von Frauenzimmern, die mir gefallen. Bitte, verloben Sie sich nicht, bis ich wiederkomme.«

Sein roher Kamerad fand diesen feinen Scherz so komisch, daß er plötzlich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Arm in Arm gingen die beiden Schufte in der Richtung des Dorfes von dannen. Unsere komische kleine Jicks aber wurde ganz plötzlich zu einer tragischen und schrecklichen Gestalt.

Das Kind empfand die Unverschämtheit der beiden Kerle, als ob es ihre Worte wirklich verstanden hätte. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so junges Geschöpf in einer so leidenschaftlichen Aufregung gesehen. Sie hob einen Stein auf und warf mit demselben, noch bevor ich ihr Einhalt thun konnte, nach den Kerlen. Sie schrie und stampfte mit den Füßchen auf den Boden, bis sie purpurroth im Gesicht war. Dann warf sie sich hin und wälzte sich wüthend auf dem Rasen umher. Sie beruhigte sich nicht eher, als bis ihr Oscar unüberlegter Weise ein Versprechen gab, an das er noch oft erinnert werden sollte, nämlich nach der Polizei zu schicken und die beiden Männer für ihre Frechheit, über Jicks zu lachen, gehörig durchprügeln zu lassen. Sie stand auf, trocknete sich die Augen mit ihren Handknöcheln und sah Oscar mit einem drohenden Blicke an. »Vergiß nicht«, sagte das merkwürdige Kind, dessen Busens noch unter dem schmutzigen Ueberzug wogte, »die Männer sollen Prügel haben und Jicks soll es sehen.«

Ich sagte Oscar im Augenblick nichts davon, aber ich konnte mich auf dem Heimwege eines geheimen Unbehagens über das Erscheinen der beiden Männer in der Nähe von Browndown nicht erwehren. Es war unmöglich, zu erfahren, wie lange sie sich schon in der Nähe des Hauses versteckt gehalten haben mochten, als das Kind sie entdeckte. Möglicherweise hatten sie durch das offene Fenster gehört, was Oscar in Betreff seiner kostbaren Metallplatten zu mir gesagt hatte und hatten vielleicht gesehen, wie die schwere Kiste auf den Wagen gepackt worden war. Das sichere Eintreffen der Kiste in Brighton machte mir keine Sorge; die drei Männer im Wagen waren Manns genug, um dieselbe zu schützen. Meine Befürchtungen galten der Zukunft.

Oscar lebte ganz allein in einem mehr als eine halbe Meile vom Dorfe entfernten einsamen Hause. Seine Liebhaberei für die Anfertigung getriebener Arbeit von kostbarem Metall konnte eine gefährliche Anziehungskraft üben, sobald sie über die idyllische Einsamkeit von Dimchurch hinaus bekannt wurde. Zu diesem Argwohn gesellte sich noch ein anderer; ich fragte mich, ob die beiden Kerle sich wohl nur zufällig in unserer entlegenen Gegend umhertrieben, oder ob sie wohlüberlegter Weise zu einem bestimmten Zweck nach Browndown gekommen seien.

Von diesen Zweifeln gequält, fragte ich, als ich bei meinem Eintritt in die Pforte zum Pfarrhause mit meiner kleinen Begleiterin zufällig auf die alte Amme Zillah stieß, dieselbe ohne Weiter es: »Kommen hier nach Dimchurch viele Fremde?«

»Fremde?« wiederholte die Alte, »außer Ihnen, Madame, haben, wir hier seit Jahr und Tag keinen Fremden gesehen.«

Ich nahm mir vor, Oscar bei« der ersten passen den Gelegenheit einen warnenden Wink zu geben.



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Elftes Kapitel - Blinde Liebe

Lucilla saß, als ich ins Wohnzimmer trat, am Clavier.

»Ich habe mich nach Ihnen gesehnt«, sagte sie. »Ich habe das ganze Haus nach Ihnen durchsuchen lassen. Wo sind Sie gewesen?«

Ich sagte ihr, wo ich gewesen sei.

Mit einem Schrei des Entzückens sprang sie auf.

»Sie haben ihn dahin gebracht, Ihnen sein Vertrauen zu schenken; Sie haben alles herausgebracht;: Sie haben zwar nur gesagt: »Ich bin in Browndown gewesen«, aber ich habe es an Ihrer Stimme gehört, daß Sie Alles wissen. Heraus damit,heraus damit!«

Ich erzählte ihr nun, während Sie regungslos dastand und kaum zu athmen wagte, Alles was zwischen Oscar und mir vorgegangen war. Kaum war ich mit meinem Berichte fertig, als sie hochroth und leidenschaftlich aufgeregt nach der Thür ihres Schlafzimmers eilte.

»Was wollen Sie thun?« fragte ich

»Ich will meinen Hut und meinen Stock holen «

»Wollen Sie ausgehen?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Können Sie das noch fragen? Natürlich nach Browndown!«

Ich bat sie, einen Augenblick zu warten und mich erst anzuhören. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß ich mit ihr zu reden wünschte; um ihr klar zu machen, daß es unschicklich für sie sein würde, an einem und demselben Tage einen ihr fremden Mann zum zweiten Male zu besuchen. Ich erklärte ihr unumwunden, daß eine solche Handlungsweise hinreichen würde, ihren Ruf in Gefahr zu bringen. Das Ergebniß meiner Einmischung war merkwürdig und höchst interessant; es zeigte mir, daß die Tugend der Bescheidenheit — ich rede wohlgemerkt nicht von der Tugend der Wohlanständigkeit — ein künstliches Gewächs ist und daß die Entwickelung dieser Tugend nicht durch den Einfluß der Rede, sondern durch den des Gefühles bewirkt wird. Man stelle sich vor, daß ich in der ebenerwähnten Weise mit einem anderen zum ersten Male verliebten Mädchen spräche, was würde das Mädchen thun? Es würde sicherlich in eine unruhige Verwirrung gerathen und aller Wahrscheinlichkeit nach, während es mir zuhörte, lieblich erröthen. Aber Lucilla’s hübsches Gesicht zeigte nur einen Ausdruck, den der Enttäuschung, vielleicht untermischt mit etwas Erstaunen. Ich hielt sie schon damals für das, was sie, wie ich mich später überzeugte, wirklich war: das reinste Geschöpf, das die Erde jemals getragen hat. Und doch zeigte sich bei ihr keine Spur von der natürlichen und ein Mädchen so gut kleidenden Verwirrung, keine Spur von dem lieblichen, dem Weibe eigenen Wechseln der Farbe, das ich so sicher erwartet hatte, und dabei war sie, wohlgemerkt, von ungewöhnlich feinfühliger und impulsiver Natur, und sonst bei den geringfügigsten Anlässen sehr leicht erregt und immer bereit, ihrer Erregung Ausdruck zu geben. Was hatte das zu bedeuten? Es zeigte sich mir hier eine eigenthümliche Wirkung des schrecklichen Leidens, welches ihr Leben verdunkelte, und es bedeutete, daß Bescheidenheit wesentlich der Ausfluß unseres Bewußtseins davon ist, daß die Augen Anderer uns beobachten und daß Blindheit aus dem einfachen Grunde nie verschämt ist, weil sie — nicht sehen kann! Das bescheidenste Mädchen ist im Dunkeln kühner gegen ihren Geliebten. Ein Mädchen oder eine Frau, die zum ersten Male in einem Actsaale als Modell sitzen soll und sich vor dieser Schaustellung ihrer Reize entsetzt, läßt sich schließlich doch überreden, ein Künstleratelier zu betreten, wenn man ihr die Augen verbindet. Meine arme Lucilla hatte immer eine Binde vor den Augen, sie konnte ihren Geliebten nie sehen. Sie war mit den Leidenschaften eines Weibes aufgewachsen und hatte doch nie die Grenzen der furchtlosen und reinen Unschuld eines Kindes überschritten. O, wenn jemals einem Menschen ein heiliges Pfand anvertraut war, so mußte ich mich als den Hüter eines solchen Pfandes betrachten! Ich konnte es nicht ertragen, das arme hübsche blinde Gesicht nach meinen letzten Worten mit einem solchen Ausdruck der Unempfindlichkeit mir zugekehrt zu sehen Ich ergriff ihren Arm und zog sie aus meinen Schooß: »Liebes Kind«, sagte ich sehr ernst, »Sie dürfen heute nicht wieder zu ihm gehen.«

»Ich habe ihm aber so viel zu sagen«, antwortete sie ungeduldig. »Ich möchte ihm sagen, wie tief ich für ihn empfinde und wie sehr es mir am Herzen liegt, sein Leben, wenn es mir möglich ist, glücklicher zu gestalten.«

»Meine liebe Lucilla! Das dürfen Sie einem jungen Manne nicht sagen. Das wäre so gut, als wenn sie ihm geradeheraus erklärten, das sie ihn lieben!«

»Ich liebe ihn!«

»Still, still. Behalten Sie das für sich, bis Sie gewiß sind, daß er Ihre Liebe erwidert. Es gebührt dem Manne, mein Liebling, und nicht dem Weibe, bei solchen Gelegenheiten seine Gefühle zuerst zu offenbaren.«

»Das ist sehr hart für die Frauen. Wenn sie zuerst fühlen, sollten sie auch ihre Gefühle zuerst aus sprechen dürfen.« Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich und sprang dann plötzlich von meinem Schooße auf, indem sie ungestüm rief: »Ich muß ihn sprechen. Ich muß ihm sagen, daß ich seine Geschichte gehört habe und daß ich darnach nicht schlechten sondern nur besser von ihm denke!«

Wieder wollte sie fort, « um ihren Hut zu holen. Meine einzige Hoffnung sie zurückzuhalten, beruhte auf der Möglichkeit, sie zu einem Compromiß zu bewegen.

»Schreiben Sie ihm ein Billet«, sagte ich, bedachte dann aber plötzlich, daß sie blind sei.

»Sie sollen mir dictiren«, fügte ich hinzu, »ich will für Sie schreiben. Begnügen Sie sich damit für heute um meinetwillen, Lucilla.

Das arme Kind gab mit einigem Widerstreben nach.

Aber sie weigerte sich eifersüchtig, mich für sie schreiben lassen.

»Mein erstes Billet an ihn muß ganz von mir geschrieben sein«, sagte sie, »ich kann schreiben auf meine eigene weitläufige Manier. Es dauert lange; und ist langweilig, aber es geht doch. Sehen Sie! einmal her.«

Sie ging mir voran an einen in einer Ecke des Zimmers stehenden Schreibtisch, setzte sich und hielt eine Weile nachdenklich die Feder in der Hand. Plötzlich übergoß ihr unwiderstehlich liebliches Lächeln wie ein Strom von Licht ihr Antlitz »O!« rief sie, »jetzt weiß ich, wie ich ihm sagen will, was ich denke «

Indem sie die von ihrer rechten Hand gehaltene Feder mit den Fingern der linken leitete, schrieb sie langsam in großen kindischen Lettern das Folgende:

»Lieber Herr Oscar, ich habe Alles über Sie er fahren. Bitte, schicken Sie mir die kleine goldene Vase.

Ihre Freundin Lucilla.«

Sie couvertirte und adressirte den Brief und klatschte vor Freude in die Hände »Er wird verstehen, was das zu bedeuten hat«, sagte sie fröhlich.

Es war vergebens, ihr zum zweiten Mal Vorstellungen zu machen. Ich klingelte, — natürlich unter Protest, denn was sollte man davon denken, daß sie ein Geschenk von einem Herrn annehmen wollte, welchen sie diesen Morgen zum ersten Mal gesprochen hatte, — und der Stallknecht wurde mit dem Brief nach Browndown geschickt. Indem ich diese Concession machte, sagte ich mir:

»Ich will Oscar schon im Zaum halten, er ist der lenksamere von Beiden!«

Die Zeit bis zur Rückkehr des Stallknechts war nicht leicht auszufüllen Ich schlug vor, etwas zu: musiciren; aber Lucilla war noch zu voll von der Angelegenheit, die ihr Interesse so ganz in Anspruch nahm. Plötzlich fiel es ihr ein, daß ihr Vater und ihre Stiefmutter beide davon unterrichtet werden müßten, daß Herr Dubourg vollkommen würdig sei, in dem Pfarrhause als Gast empfangen zu werden; sie beschloß, ihrem Vater zu schreiben.

Bei dieser Gelegenheit machte sie keine Schwierigkeit, mir zu dictiren und mich für sie schreiben zu lassen. Wir brachten zusammen einen enthusiastischen, etwas überschwänglichen Brief zu Stande. Ich war keineswegs sicher, daß wir damit dem ehrwürdigen Finch eine günstige Meinung von unserem neuen Nachbarn beibringen würden. Indessen das war nicht meine Sache. Ich erschien bei dieser Angelegenheit in einem sehr günstigen Lichte, als die besonnene fremde Dame, welche darauf bestanden hatte, Nachforschungen anzustellen. Ueberdies war es für mich eine Ehrensache, in einem Briefe, den ich für eine Blinde schrieb, an dem, was mir dictirt wurde, kein Wort zu ändern. Als der Brief fertig war, schrieb ich die Adresse des Hauses in Brighton, in welchem sich Herr Finch damals gerade aufhielt und wollte eben das Couvert schließen, als mich Lucilla zurückhielt.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, »schließen Sie den Brief noch nicht.«

Ich begriff nicht recht, warum ich das Couvert noch offen lassen sollte und warum Lucilla ein wenig verlegen aussah, als sie mir untersagte, den Brief zu schließen, Ich erhielt bald einen neuen unerwarteten Aufschluß über den Einfluß, den Blindheit auf die von ihr Betroffenen übt. — Nachdem wir miteinander Rath gehalten hatten, waren wir übereingekommein daß ich Frau Finch von der Aufklärung des Geheininisses in Browndown benachrichtigen solle. Lucilla gestand offen, daß sie keinen besonderen Geschmack an der Gesellschaft ihrer Stiefmutter finde, und ebensowenig an der jedem sich lange bei dieser fruchtbaren Dame Aufhaltenden, unvermeidlich obliegenden Verpflichtung, ihr Schnupftuch aufzuheben oder ihr Baby zu halten. Ich erhielt einen Schlüssel zu der Verbindungsthür zwischen den beiden Theilen des Hauses und ging fort. Ehe ich meinen Auftrag ausrichtete, ging ich einen Augenblick in mein Schlafzimmer, um meinen Hut und meinen Sonnenschirm wegzulegen. Als ich wieder an der Thür des Wohnzimmers vorüberkam, fand ich, daß dieselbe von Jemandem, der das Zimmer nach mir betreten hatte angelehnt gelassen war und hörte ich Lucilla sagen: »Nimm den Brief aus dem Couvert und lies ihn mir vor.«

Ich ging weiter über den Corridor an der Thür vorüber, sehr langsam, wie ich bekennen muß, und hörte, wie die alte Amme Lucilla die ersten Sätze des Briefes, den ich unter ihrem Dictat geschrieben hatte, laut vorlas. Der unüberwindliche Argwohn der Blinden, welche, in fortwährendem Mißtrauen gegen die Personen um sie her, immer fürchten, von einem der Glücklichen, die sehen können betrogen zu werden, hatte Lucilla getrieben, mich, selbst in einer so geringfügigen Angelegenheit, wie dieser Brief es war, hinter meinem Rücken aus die Probe zu stellen. Sie bediente sich Zillahs Augen, um sich zu vergewissern, daß ich wirklich Alles, was sie dictirt hatte, geschrieben habe, gerade wie sie sich bei vielen späteren Gelegenheiten meiner Augen bediente, um sich zu vergewissern, daß Zillah Aufträge zu häuslichen Besorgungen pünktlich ausgeführt habe. Keine noch so lange Erfahrung von der treuen Ergebenheit derer, welche mit ihnen leben, beruhigt die Blinden ganz.

Wie traurig muß es sein, in ewiger Finsterniß zu leben!

In dem Augenblick, wo ich die Verbindungsthür öffnete, war es, als hätte ich gleichzeitig alle Thüren der Schlafzimmer im Pfarrhause geöffnet.

Kaum hatte ich den Vorplatz betreten, als die Kinder aus einem Zimmer nach dem anderen wie Kaninchen aus ihren Höhlen hervor huschten.

»Wo ist Eure Mama?« fragte ich.

Die Kaninchen antworteten mir mit einem allgemeinen Gekreisch und huschten wieder in ihre Höhlen zurück.

Ich ging die Treppe hinunter, um mein Glück im Erdgeschoß zu versuchen. Aus dem Fenster des Treppenabsatzes hatte man eine Aussicht auf den Vordergarten. Ich sah hinaus und erblickte unsere kleine Zigeunerin, die pausbackige Jicks, ganz allein im Garten umherstreifen, offenbar um die nächste Gelegenheit zu erspähen, wo sie sich ungesehen davonmachen könnte.

Dieses merkwürdige kleine Geschöpf machte sich nichts aus der Gesellschaft der andern Kinder. Zu Hause pflegte sie nachdenklich in einer Ecke des Zimmers zu sitzen und ihre Mahlzeiten, wenn irgend möglich, auf dem Fußboden zu nehmen. Außerhalb des Hauses streifte sie umher bis ihre Kräfte erschöpft waren, und legte sich dann wie ein kleines Thier an die erste beste Stelle zum Schlafen. Sie blickte zufällig auf, während ich am Fenster stand. Als sie meiner ansichtig wurde, deutete sie mit der Hand nach der Pforte des Pfarrhauses. »Was giebts?« fragte ich. Die kleine Zigeunerin antwortete: »Jicks will da hinaus.«

In demselben Augenblick benachrichtigte mich das Geschrei eines Baby von unten her, daß ich mich in nächster Nähe von Frau Finch befinde. Ich ging dem Geschrei nach, bis ich an die Schwelle einer offenstehen den großen Speisekammer am äußersten Ende des Vorplatzes gelangte. In der Mitte der Kammer saß Frau Finch, damit beschäftigt, der Köchin Haushaltsgegenstände zu verabreichen. Dieses Mal war sie mit einem Unterrock begleitet und in einen Shawl gehüllt, und hatte das Baby und den Roman, flach auf dem Rücken liegend, auf dem Schoß.

»Acht Pfund Seife? Ich möchte wohl wissen, wo das Alles bleibt!« stöhnte Frau Finch unter dem Accompagnement des schreienden Baby’s. »Fünf Pfund Soda für das Waschhaus? Man sollte glauben, wir besorgten die Wäsche für das ganze Dorf. Sechs Pfund Lichte? Sie müssen die Lichte essen wie die Russen; wer hat je gehört, daß man sechs Pfund Lichte in einer Woche verbrennt? Zehn Pfund Zucker? Wer bekommt denn all’ den Zucker? Ich nehme nie Zucker, ich bekomme das ganze Jahr keinen Zucker zu kosten. Vergeudung, nichts als Vergeudung!« Bei diesen Worten blickte Frau Finch nach der Thür und wurde meiner ansichtig. »O, Madame Pratolungo! Wie geht es Ihnen? Gehen Sie nicht fort; ich bin gerade fertig. Eine Flasche Wichse? Meine Schuhe sehen ja aus, daß es eine Schmach für das ganze Haus ist. Fünf Pfund Reis? Wenn ich indische Dienstboten hätte, würden fünf Pfund Reis ein Jahr lang für dieselben ausreichen. Hier, bringen Sie die Sachen nach der Küche. Entschuldigen Sie meinen Anzug, Madame Pratolungo. Wie soll ich mich anziehen, bei Allem was ich zu thun habe? Wie sagen Sie? Meine Zeit muß sehr in Anspruch genommen sein? Ach, das ist es ja gerade! Wenn man des Morgens eine halbe Stunde verloren hat und sie nicht wieder einbringen kann, nicht zu gedenken des Ausgebens in der Speisekammer und des Verspätens des Mittagessens für die Kinder und des verdrießlichen Baby’s, so zieht man rasch einen Unterrock an, wirft sich einen Shawl über und läßt die Dinge gehen wie sie gehen wollen. Wo mag nur mein Schnupftuch geblieben sein? Hatten Sie wohl die Güte, zwischen den Flaschen hinter Ihnen nachzusehen? O, hier ist es schon; das Baby liegt darauf. Darf ich Sie bitten, mir das Buch einen Augenblick zu halten? Ich glaube das Baby wird ruhiger sein, wenn ich es anders herumliege.«

Bei diesen Worten legte Frau Finch das Baby auf den Bauch und klopfte es weidlich auf den Rücken Aber der nicht zu beschwichtigende Säugling schrie nur um so lauter. Seine Mutter schien dieses Geschrei durchaus nicht zu rühren. Die resignirte häusliche Märtyrerin blickte ruhig zu mir auf, während ich, den Roman in der Hand, fassungslos vor ihr stand.

»O, das ist eine sehr interessante Geschichte«, fuhr sie fort. »Es kommt natürlich sehr viel Liebe darin vor. Sie kommen deshalb her, nicht wahr? Ich erinnere mich, ich versprach gestern, Ihnen das Buch zu leihen.«

Noch ehe ich antworten konnte erschien die Köchin, wieder, um sich noch weitere Haushaltungsgegenstände zu holen. Frau Finch wiederholte die Forderungen der Köchin eine nach der anderen in Tönen der Verzweiflung.

»Noch eine Flasche Essig? Ich glaube Sie begießen den Garten mit Essig. Noch mehr Stärke? Ich bin überzeugt, daß bei der Wäsche der Königin nicht so viel Stärke wie bei uns verbraucht wird. Sandpapier? Sandpapier wird in diesem verschwenderischen Hause wie Makulatur behandelt. Ich werde es dem Herrn sagen. Wenn es so fortgeht, kann ich wahrhaftig nicht mit meinem Hausstandsgelde auskommen. Gehen Sie nicht fort, Madame Pratolungo, ich werde gleich fertig sein. Wie, Sie müssen fort? O, dann legen Sie, bitte das Buch wieder auf meinen Schoß und werfen Sie doch einmal einen Blick hinter jenen Sack; der erste Band ist heute Morgen da hinuntergefallen und ich habe noch keine Zeit gehabt, ihn wieder aufzuheben. — Sandpapier? Meinen Sie, ich könnte Sandpapier hexen? Haben Sie den ersten Band gefunden? Ach, da ist er! Ganz mit Mehl bedeckt; der Sack wird wohl ein Loch haben. — Zwölf Bogen Sandpapier in einer Woche gebraucht! Wozu? Ich möchte doch wohl wissen wozu? Vergeudung, schmähliche, sündhafte Vergeudung!«

In diesem Stadium von Frau Finchs Gejammer machte ich mich mit dem Buche davon und verschob die Mittheilung in Betreff Oscar Dubourgs auf eine passendere Gelegenheit. Die letzten Worte, die ich beim Hinausgehen noch durch das Geschrei des Baby hindurch vernahm, betrafen noch immer den verschwenderischen Verbrauch von Sandpapier. Vergießen wir eine Thräne über Frau Finchs Leiden und überlassen wir sie ihren Jeremiaden über häusliche Verschwendung in der duftigen Atmosphäre ihrer Speisekammer.

Ich hatte eben Lucilla über das Fehlschlagen meiner Expedition nach dem Vorderhause berichtet, als der Stallknecht mit der goldenen Vase und einem Briefe zurückkehrte. Oscar’s Antwort war nach dem Vorbilde von Lucillais Billet geflissentlich kurz gefaßt. »Sie haben mich wieder zu einem glücklichen Menschen gemacht. Wann darf ich der Vase folgen?« Diese beiden Sätze bildeten den ganzen Brief.

Zu einer zweiten Discussion mit Lucilla gab die Frage Veranlassung, ob es schicklich sei, daß wir Oscar in Abwesenheit des Ehrwürdigen Finch empfingen. Alles was ich erreichen konnte, war, daß ich sie über redete zu warten, bis sie wenigstens von ihrem Vater gehört haben werde, wogegen ich mich bereit erklären mußte, am nächsten Morgen wieder in der Richtung nach Browndown mit ihr spazieren zu gehen. Durch diese neue Concession gelang es mir, sie zu beruhigen.

Sie hatte sein Geschenk empfangen, sie hatte Briefe mit ihm gewechselt; das war für den Augenblick genug, um sie zu befriedigen.

»Glauben Sie, daß er auf dem Wege ist, sich in mich zu verlieben?« fragte sie mich, ehe sie sich mit ihrer goldenen Vase ins Bett legte, grade wie sie als Kind ein neues Spielzeug mit sich ins Bett genommen haben würde. »Lassen Sie ihm Zeit, liebes Kind«, antwortete ich. »Nicht Jedem ist es gegeben, in einer so ernsten Angelegenheit wie diese so rasch vorzugehen wie Ihnen.« Mein Scherz übte keine Wirkung auf sie. »Nehmen Sie die Kerze fort«, sagte sie. »Ich bedarf ihrer nicht, ich kann ihn mit meinem inneren Auge sehen.« Sie legte sich bequem auf ihrem Kissen zurecht und klopfte mir mit neckischem Trotz auf die Wange, als ich mich über sie beugte. »Gestehen Sie nur, daß ich jetzt gegen Sie im Vortheil bin«, sagte sie. »Sie können im Dunkeln nicht ohne Ihre Kerze sehen; ich könnte in diesem Augenblick durch das ganze Haus gehen, ohne einen einzigen Fehltritt zu thun.«

Ich glaube aufrichtig, an jenem Abend war das »arme Fräulein Finch« das glücklichste Mädchen der Welt!



Kapiteltrenner

Zwölftes Kapitel

Ein häuslicher Aufruhr nöthigte uns am nächsten Morgen, unsern beabsichtigten Spaziergang nach Browndown einige Stunden aufzuschieben.

Die alte Amme Zillah war während der Nacht krank geworden; die Mittel, die wir zur Hand hatten, gewährten ihr so wenig Erleichterung, daß wir am Morgen zum Arzt schicken mußten, der in einiger Entfernung von Dimchurch wohnte. Da dieser die erforderliche Medicin erst von seiner Wohnung holen lassen mußte, wurde es fast ein Uhr Nachmittags, bevor die verordneten Mittel ihre Wirkung thaten und die Amme sich hinlänglich erholt hatte, um uns zu ermöglichen, sie der Pflege der Magd zu überlassen.

Wir hatten die nöthige Toilette für unsern Spaziergang gemacht, wobei natürlich Lucilla viel früher fertig war als ich, und waren eben an der Gartenpforte angelangt als wir von jenseits der Gartenmauer her eine sonore Baßstimme sagen hörten: »Glauben Sie mir, mein werther Herr, die Sache hat nicht die mindeste Schwierigkeit. Ich brauche nur eine Anweisung an meine Banquiers nach Brighton zu schicken.«

Lucilla fuhr zusammen und faßte mich am Arm.

»Mein Vater!« rief sie mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens aus. »Mit wem spricht er?«

Ich hatte den Schlüssel zur Gartenpforte bei mir. »Was für eine prächtige Stimme Ihr Vater hat«, sagte ich, während ich den Schlüssel aus der Tasche nahm und die Pforte öffnete. Vor uns standen Arm in Arm, als hätten sie sich von Jugend auf gekannt Lucilla’s Vater und Oscar Dubourg. Der Ehrwürdige Finch eröffnete die Verhandlungen, indem er seine Tochter zärtlich umarmte, mit den Worten:

»Mein liebes Kind, Deinen sehr interessanten Brief erhielt ich diesen Morgen. Sobald ich ihn gelesen hatte, fühlte ich, daß ich gegen Herrn Dubourg eine Pflicht zu erfüllen habe. Als Pfarrer von Dimchurch lag es mir erklärlich ob, einen bekümmerten Bruder zu trösten. Ich fühlte in der That, wenn ich so sagen darf, ein Verlangen, die Hand der Freundschaft diesem schwer geprüften Manne darzureichen. Ich borgte mir den Wagen meines Freundes und fuhr direct hierher. Wir haben eine lange und herzliche Unterhaltung mit einander gehabt; ich habe Herrn Dubourg mit hergebracht; er muß zu uns gehören. Mein liebes Kind, Herr Dubourg muß zu uns gehören. Laß mich Dich vorstellen. Meine älteste Tochter, Herr Dubourg!«

Er vollzog die Ceremonie der Vorstellung mit so unterschütterlichem Ernst als glaube er wirklich, daß seine Tochter und Oscar sich jetzt zum ersten Male sähen. In meinem Leben hatte ich keinen gemeiner aussehenden Menschen gesehen als diesen Pfarrer. Er reichte mir kaum bis an die Schulter und war von einer so jammervollen Magerkeit daß er aussah wie eine Personification des Hungers. Er hätte sich nur in Lumpen zu kleiden gebraucht um in den Straßen London’s sein Glück zu machen; sein Gesicht war ganz mit Pockennarben bedeckt; sein kurzes häßliches Haar stand steif und gerade in die Höhe, wie die Haare eines Besens. Seine kleinen weißlich grauen Augen hatten einen unruhigem inquisitorischen hungrigen Blick, der etwas unbeschreiblich Irritirendes und Unbehagliches hatte. Sein einziger äußerer Vorzug war seine herrliche Baßstimme, die aber zu der ganzen Erscheinung des Mannes durchaus nicht paßte. Bis man sich an den Contrast gewohnte, hatte es etwas fast Unerträgliches, diese vollen, prächtigen tiefen Töne aus dem schmächtigen kleinen Körper herauskommen zu hören. Das berühmte lateinische Wort enthält eine bessere Schilderung des Ehrwürdigen Finch, als ich sie zu geben im Stande bin; er war in Wahrheit: Nichts als Stimme »Madame Pratolungo, nicht wahr?« fuhr er fort, in dem er sich zu mir wandte. »Es freut mich ungemein, die Bekanntschaft der umsichtigen Gesellschafterin und Freundin meiner Tochter zu machen. Sie müssen zu uns gehören, wie Herr Dubourg. Erlauben Sie mir, Sie mit Herrn Dubourg bekannt zu machen: Madame Pratolungo, Herr Dubourg. Dies ist der ältere Theil des Pfarrhauses, mein werther Herr Dubourg. Wir haben ihn wieder in Stand setzen lassen, es war, — wie lange ist es doch her? — richtig, es war gerade nach der vorletzten Entbindung meiner Frau.« (Ich merkte bald daß Herr Finch die Zeit immer nach den Entbindungen seiner Frau berechnete). »Sie wer den den Bau im Innern sehr merkwürdig und interessant finden. Lueilla, mein Kind! Es hat der Vorsehung gefallen, mein werther Herr Dubourg, meiner Tochter das Augenlicht zu versagen. Unerforschliche Vorsehung! — Lucilla, wir sind hier an dem Theil des Hauses, der Dir gehört; reiche Herrn Dubourg den Arm und geht voran. Mache die Honneurs des Hauses, mein Kind. Madame Pratolungo, erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Arm reiche. Ich bedaure, daß ich bei Ihrer Ankunft nicht anwesend war, um Sie im Pfarrhause zu bewillkommnen; betrachten Sie sich, ich bitte recht sehr darum, als ganz zu uns gehörig.«

Er stand still und stimmte sein gewaltiges Organ zu einem vertraulichen Gemurmel herab: »Ein herrlicher Mensch dieser Herr Dubourg, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr er mir gefällt; und welch eine traurige Geschichte. Verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg, meine liebe Pratolungo; mir zu Gefallen, verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg.«

Er sagte das mit dem Ausdruck der tiefsten Besorgniß; noch mehr, er bekräftigte es durch einen zärtlichen Druck meiner Hand. Ich habe meiner Zeit viele verwegene Menschen kennen gelernt; aber die Verwegenheit des Ehrwürdigen Finch, welcher die Stirn hatte, sich uns gegenüber beharrlich zu stellen, als ob er unsern Nachbar entdeckt habe, und als ob Lucilla und ich völlig unfähig seien, ohne seinen Beistand Oscar zu verstehen und zu würdigen, übertraf Alles, was ich in dieser Art je erlebt hatte. Ich fragte mich, was sein für Lucilla und mich gleich unerwartetes Benehmen zu bedeuten haben möge. Das, was ich durch seine Tochter über seinen Charakter erfahren hatte, in Verbindung mit dem, was wir ihn außerhalb der Gartenmauer hatten sagen hören, ließ mich vermuthen, daß der Schlüssel zu seinem Benehmen in einem Geldinteresse liege.

Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder. Der einzige unter uns, der sich ganz behaglich zu fühlen schien, war Herr Finch. Er ließ seine Tochter und seinen Gast keinen Augenblick allein. »Mein liebes Kind, zeige Herrn Dubourg dies, zeige Herrn Dubourg das. Meine Tochter besitzt dies, meine Tochter besitzt das;« so ging es eine Weile fort. Oscar schien durch die überwältigenden Aufmerksamkeiten seines neuen Freundes ein wenig erschreckt zu sein. Lucilla war, wie ich sehen konnte, innerlich aufgebracht daß sie im Aufträge ihres Vaters Oscar Aufmerksamkeiten erweisen mußte, die sie ihm gern aus freien Stücken erwiesen hätte.

Was mich betrifft, so fing ich bereits an, der patronisirenden Höflichkeit des kleinen Pfaffen mit der mächtigen Stimme überdrüssig zu werden und wir fühlten uns alle erleichtert als eine Botschaft von Frau Finch eintraf, welche ihren Gatten ersuchen ließ sofort in den vorderen Theil des Pfarrhauses zu ihr zu kommen, um eine häusliche Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Gezwungen, uns zu verlassen, hielt der Ehrwürdige Finch seine Abschiedsrede. Indem er Oscars Hand mit einer Art von väterlicher Zärtlichkeit in seinen beiden Hände nahm, sprach er mit einer so volltönenden Herzlichkeit daß die Glas- und Porzellansachen auf Lucilla’s Nipptisch durch seine brausenden Baßtöne in Schwingungen versetzt wurden.

»Trinken Sie doch Thee bei uns, mein werther Herr; ohne Umstände heute Abend um sechs Uhr. Wir müssen versuchen, Sie durch fröhliche Gesellschaft und ein wenig Musik aufzuheitern Lucilla, mein liebes Kind, Du wirst Herrn Dubourg etwas vorspielen, nicht wahr? Und Madame Pratolungo wird es, wenn ich Sie darum bitte gewiß auch thun; wir werden es verstehen, selbst unser stilles Dimchurch für unseren Nachbar angenehm zu machen. Wie sagt der Dichter: »Das Glück ist nicht an einen Ort gebunden; denn nirgends wird es oder überall gefunden.« Wie erhebend und wie wahr! Auf Wiedersehen!«

Glas und Porzellan hörten aus zu klirren; die kleinen dürren Beine des Herrn Finch trugen ihn zum Zimmer hinaus.

Kaum hatte er den Rücken gewendet, als Lucilla und ich Oscar mit derselben Frage bestürmten. Was war der Inhalt seiner Unterredung mit dem Pfarrer gewesen? Die Männer sind alle gleich unfähig, die Fragen der Frauen genügend zu beantworten, wenn es sich bei diesen Fragen um kleine Einzelheiten handelt. Eine Frau an Oscar’s Stelle würde im Stande gewesen sein, uns nicht nur die ganze Unterhaltung mit dem Pfarrer, sondern jeden noch so geringfügigen Umstand, welcher dieselbe begleitete, zu berichten. Aus unserem unzulänglichen Gewährsmann aber konnten wir nur die allgemeinsten Umrisse der Unterhaltung herausbringen. Das Coloriren und Ausfüllen dieser Umrisse blieb uns selbst überlassen.

Oscar bekannte, daß er dem Pfarrer in seiner Dankbarkeit für den freundlichen Besuch und die bewiesene Theilnahme sein ganzes Herz eröffnet und diesen ehrenwerthen Geistlichen, der ein vortrefflicher Geschäftsmann zu sein scheinte, vollständig au fait über seine Angelegenheiten gesetzt habe. Zum Dank dafür hatte der ehrenwerthe Finch sich auch seinerseits in der offensten Weise ausgesprochen. Er hatte ein trauriges Bild von der armseligen Lage Dimchurchs als Pfründe entworfen und hatte in so beweglichen Ausdrücken von dem verfallenen Zustande der alten und interessanten Kirche gesprochen, daß der einfältige Oscar von innigster Theilnahme ergriffen, auf der Stelle in der Gestalt einer Anweisung einen Beitrag zu dem Fonds;für die Reparatur des alten Thurmes geleistet hatte. Sie waren eben noch mit dem Thurm und dem Beitrag beschäftigt gewesen, als wir die Gartenpforte öffneten und sie hineinließen. Nun begriff ich die Handlungsweise unseres ehrwürdigen Freundes; es war klar, daß der Pfarrer sich über die finanziellen Verhältnisse Oscar’s etwas näher hatte unterrichten wollen und daß er sich jetzt für überzeugt hielt, es würde, wenn er die beiden jungen Leute zu einem lebhaften Verkehr ermuntere, um mich seines eigenen Ausdruckes zu bedienen, »vielleicht zu Gelde führen«. Er hatte nach meiner Ueberzeugung den Kirchthurm nur als Fühler voransgesandt, um seiner Zeit einen Angriff von mehr persönlicher Natur auf Oscar’s wohl gefüllte Börse folgen zu lassen. Noch mehr, er war nach meiner Ansicht scharfsichtig genug, um nach dem Ergebniß der Sondirung des Charakters seines jungen Freundes vorauszusehen, daß er von einer dauernden Verbindung Oscar’s mit seiner Tochter keine Verminderung, sondern eine Vermehrung seiner Einnahme zu gewärtigen habe.

Ob Lucilla auch ihrerseits zu demselben Schlusse gelangte, darüber wage ich mich nicht positiv auszusprechen. Ich kann nur berichten, daß sich auf ihren Zügen eine große Unbehaglichkeit malte, als uns die erwähnten Thatsachen mitgetheilt wurden und daß sie die erste Gelegenheit wahrnahm, um der Unterhaltung über ihren Vater ein Ende zu machen.

Was Oscar anlangt, so genügte es ihm, daß er sich seinen Platz als Freund des Hauses gesichert hatte. Er verabschiedete sich von uns in der besten Stimmung. Ich beobachtete ihn und Lucilla scharf, als sie einander Adieu sagten. Ich sah deutlich, wie sie ihm die Hand drückte. Bei der Geschwindigkeit, mit der die Dinge sich bis dahin gestaltet hatten, fragte ich mich, ob der Ehrwürdige Finch wohl beim Thee in seiner Amtstracht erscheinen und seinen schwer geprüften jungen Freund und seine Tochter zwischen der ersten und zweiten Tasse Thee trauen werde!

Bei unserer abendlichen Zusammenkunft fiel in dessen nichts Bemerkenswerthes vor.

Nur das muß ich noch erwähnen, daß Lucilla und ich beide zu Ehren der Gelegenheit sehr elegant gekleidet waren, wobei Frau Finch eine vortreffliche Folie für uns abgab.

Sie hatte einen ungeheuren Anlauf genommen und war — halb angezogen Ihre Abendtoilette bestand aus einem alten grünseidenen Rock und der unvermeidlichen blauen Merinojacke: »Ich verliere immer alle meine Sachen«, flüsterte mir Frau Finch ins Ohr; »ich besitze eine Taille zu diesem Rock, kann sie aber nirgends finden.« Die gewaltige Stimme des Pfarrers erschallte unaufhörlich; der kleine Mann mit seinen hochtrabenden Redensarten sprach in immer tieferen Baßtönen bis selbst die Theetassen auf dem Tische vor diesem gewaltigen Redestrom klirrend zusammenfuhren. Die älteren Kinder, welche an dem Familienfest Theilnehmen durften, aßen, bis sie nicht mehr essen konnten, starrten uns an und gingen dann zu Bett. Oscar kam mit Jedem gut fort. Frau Finch nahm ein natürliches Interesse an ihm, als einem Zwilling, obgleich sie andererseits auch überrascht und unangenehm berührt davon war, daß seine Mutter mit diesem Zwillingspaare angefangen und aufgehört hatte; Lucilla saß in stummer Glückseligkeit da, ganz eingenommen von dem unaussprechlichen Genuß, Oscar reden zu hören; für sie barg die Stimme des Geliebten so viel beglückende Abwechselung, wie für uns der Anblick eines geliebten Gesichtes. Später am Abend musicirten wir ein wenig und da hörte ich zum ersten Mal, wie reizend Lucilla spielte; sie war mit einer echt musikalischen Anlage geboren und ihr Anschlag war von einer Feinheit, wie selbst die größten Virtuosen sie selten besitzen. Oscar war entzückt. Mit einem Wort, der Abend war sehr gelungen.

Ich wußte es möglich zu machen, unserem Gaste, als er sich verabschiedete, wie ich es mir vorgenommen hatte, ein vertrauliches Wort in Betreff der einsamen Lage seiner Wohnung zu sagen. Jene Befürchtungen für Oscar’s Sicherheit in seinem einsamen Hause, welche bei mir, wie früher erwähnt, durch die Entdeckung der beiden Strolche in ihrem Versteck an der Mauer erweckt worden waren, präorcupirten mich noch immer und trieben mich, ihn zu ermahnen, irgend welche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, bevor die kostbaren Metallplatten, welche er zum Schmelzen nach London zurückgeschickt hatte, wieder eintreffen würden. Er gab mir die erwünschte Gelegenheit, als er nach seiner Uhr sah und sich dafür entschuldigte, daß er seinen Besuch bis zu einer auf dem Lande so entsetzlich späten Stunde, bis Mitternacht ausgedehnt habe.

»Wartet Ihr Diener auf Sie?« fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich von seinen häuslichen Einrichtungen nichts wisse.

Er zog einen großen plumpen Schlüssel aus der Tasche und sagte: »Das ist mein einziger Diener in Browndown; um vier oder fünf Uhr Nachmittags haben die Leute aus dem Gasthofe Alles für mich gethan, was ich brauche; nach dieser Zeit bin ich ganz allein im Hause.«

Er reichte uns die Hand zum Abschiede; der Pfarrer gab ihm das Geleit bis zur Hausthür; ich schlüpfte hinaus, während sie die letzten Worte mit einander sprachen und trat zu Oscar, als er allein durch den Garten ging.

»Ich muß einen Augenblick frische Luft schöpfen«, sagte ich; »ich will Sie bis an die Gartenpforte begleiten.«

Er fing sofort an, von Lucilla zu reden; zu seiner Ueberraschung kam ich aber ohne weiteres auf seine Wohnung in Browndown zurück

»Halten Sie es für richtig«, fragte ich, »Nachts ganz allein in einem Hause wie das Ihrige zu sein? Warum halten Sie nicht einen Diener?«

»Ich hasse fremde Menschen antwortete er. »Ich l bin unendlich viel lieber allein.

»Wann erwarten Sie Ihre Gold- und Silberplatten zurück?«

»In ungefähr acht Tagen.«

»Wie hoch schätzen Sie den Werth derselben?«

»Auf ungefähr fiebzig bis achtzig Pfund.«

»In acht Tagen also«, sagte ich, »werden Sie Gegenstände im Werthe von siebzig bis achtzig Pfund in Browndown haben, Gegenstände, die ein Dieb nur einzuschmelzen braucht, um jeder Besorgniß vor Entdeckung enthoben zu sein.«

Oscar stand still und sah mich an.

»Was fällt Ihnen nur ein?« fragte er, »es giebt ja keine Diebe an diesem primitiven Orte.«

»Es giebt aber Diebe an anderen Orten, die hier her kommen können«, antwortete ich, »haben Sie die beiden Kerle vergessen, die wir gestern entdeckten, wie sie sich in der unmittelbaren Nähe von Browndown herumtrieben?«

Er lächelte. Ich hatte in ihm die Erinnerung an einen komischen Moment wachgerufen, weiter nichts.

»Nicht wir haben sie entdeckt«, sagte er, »sondern jenes sonderbare Kind. Was meinen Sie, wenn ich zu meiner Bewachung Jicks zu mir ins Haus nehme?«

»Ich scherze nicht«, erwiderte ich; »ich habe in meinem ganzen Leben keine verdächtiger aussehenden Strolche gesehen, als diese beiden Kerle. Das Fenster stand offen, als Sie mir erzählten, daß die Platten umgeschmolzen werden müßten. Die Kerle können so gut wie wir wissen, daß Ihr Gold und Silber nach einiger Zeit wieder bei Ihnen eintreffen wird.«

»Was Sie für eine lebhafte Einbildungskraft haben«, rief er aus, »Sie sehen ein paar schäbige Touristen von Brighton, die eine Excursion nach Dimchurch gemacht haben und machen ohne weiteres aus diesen harmlosen Leuten ein paar zu Raub und Mord verschworene Einbrecher. Sie und mein Bruder Nugent würden recht zu einander passen; seine Einbildungskraft geht auch immer mit ihm durch, gerade wie die Ihrige.«

»Lassen Sie sich von mir rathen«, erwiderte ich ernst. »Schlafen Sie nicht mehr in Browndown, ohne eine lebende Seele im Hause bei sich zu haben.«

Er war in ausgelassen guter Laune; er küßte mir die Hand und dankte mir in seiner überschwänglichen Weise für das Interesse, das ich an ihm nähme. »Gut«, sagte er, als er die Gartenpforte öffnete, »ich will mir eine lebende Seele ins Haus nehmen, ich will mir einen Hund anschaffen.«

Wir nahmen Abschied von einander; ich hatte ihm gesagt, was mich quälte, mehr konnte ich nicht thun, und am Ende war es ja ganz möglich, daß seine Art die Dinge anzusehen, richtig und die meinige falsch war.



Kapiteltrenner

Dreizehntes Kapitel - Jicks’ zweites Auftreten

Es vergingen weitere fünf Tage, während welcher Zeit wir unsern Nachbar fortwährend sahen; entweder Oscar kam ins Pfarrhaus oder wir gingen nach Browndown. Der Ehrwürdige Finch wußte sich meisterlich das Ansehen zu geben, als ahne er nichts; er wartete ruhig, bis die Beziehungen der beiden jungen Leute zu einem richtigen Liebesverhältniß herangereift sein möchten, und wirklich gingen diese Beziehungen unter Lucilla’s Einfluß rasch einer solchen entscheidenden Gestaltung entgegen. Niemand tadle mein armes blindes Mädchen dafür, daß sie den Mann, welchen sie liebte, ohne Scheu zur Erwiderung ihrer Liebe ermuthigte; er war als Courmacher der zurückhaltendste Mann, der mir je vorgekommen ist. Je mehr er sich in sie verliebte, desto schüchterner und mißtrauischer gegen sich selbst wurde er. Ich gestehe, daß ich keine Freundin von bescheidenen Männern bin und ich muß aufrichtig bekennen, daß Herr Oscar Dubourg bei näherer Bekanntschaft nicht sehr in meiner Achtung stieg. Indessen Lucilla verstand ihn, und das war genug. Sie wollte sich in ihrem Geiste ein möglichst getreues Bild von ihm verschaffen; mit Jedem im Hause, die Kinder einbegriffen, nahm sie ein Kreuzverhör über Dubourgs persönliche Erscheinung vor, wie sie auch, mich bereits ein solches Kreuzverhör hatte bestehen lassen. Ueber seine Züge und feine Gesichtsfarbe, seine Höhe und seine Breite; seine Art sich zu kleiden und seine Schmucksachen, — über alle diese Punkte verschaffte sie sich nach jeder Richtung hin die detaillirteste Auskunft. Es gewährte ihre eine besondere Genugthuung, von allen Seiten zu hören, daß er einen hellen Teint habe; sie hatte in ihrer Blindheit einen unüberwindlichen Widerwillen gegen dunkle Farben, gleichviel ob dieselben sich an Lebenden oder leblosen Gegenständen fanden. Sie war völlig außer Stande, einen Grund für diesen Widerwillen anzugeben; sie konnte ihn nur aussprechen.

»Ich habe die sonderbarsten Instinkte in Betreff einiger Dinge, sagte sie mir eines Tages; »ich wußte es zum Beispiel an jenem köstlichen Abend, wo ich zu erst den Klang von Oscar’s Stimme hörte, gleich, das heißt, ich fühlte im Innersten, daß er hell und blond sei. Das Gefühl ging auf geradem Wege von meinem Ohr in mein Herz und ließ mich ihn mit meinem innern Auge sehen, gerade wie Ihr Alle ihn mir seitdem geschildert habt. Mama sagt mir, sein Teint sei heller als der meinige; finden Sie das auch? Ich bin so glücklich darüber. Ist Ihnen je eine so sonderbare Person vorgekommen? Ich habe die wunderlichsten Ideen in meinem blinden Kopfe; für mich sind Leben und Schönheit unzertrennlich von hellen und Tod und Verbrechen von dunkeln Farben. Wenn ich je einen Mann mit dunklem Teint heirathen und später mein Gesicht wieder erlangen sollte, würde ich davonlaufen.«

Dieses sonderbare Vorurtheil gegen Menschen von dunklem Teint war mir aus persönlichen Gründen nicht angenehm. Dieses Vorurtheil stand mit meinem eigenen Geschmack durchaus nicht im Einklange. Unter uns, der selige Doctor Pratolungo hatte einen schönen mahagonibraunen Teint.

Was im Uebrigen die Dinge in Dimchurch anlangt, so finde ich in meinem Tagebuche über jene fünf Tage wenig Bemerkenswerthes verzeichnet; wir wurden durch keine zweite Erscheinung der beiden Strolche in Browndown erschreckt und nahm Oscar keine Veränderung mit seinen häuslichen Einrichtungen vor. Unsere kleine umherstreifende Jicks beehrte ihn wiederholt mit ihrem Besuche; bei jeder Gelegenheit erinnerte ihn das Kind mit ernster Miene an sein vorschnelles Versprechen, sich an die Polizei zu wenden, und die beiden häßlichen fremden Männer, die über sie gelacht hatten, körperlich züchtigen zu lassen. Die ersten Fragen, mit welchen die junge Dame regelmäßig, so oft sie Oscar mit einem Morgenbesuch beehrte, die Unterhaltung eröffnete, waren: »Wann sollen die Männer ihre Prügel bekommen?« und »Wann soll Jicks es sehen?«

Am sechsten Tage trafen die Gold und Silber platten aus der Londoner Fabrik wieder ein. Am nächsten Morgen erhielt ich von Oscar ein Billet folgenden Inhalts:

»Liebe Madame Pratolungo!

Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern mit theilem daß mir in der verflossenen Nacht nichts zugestoßen ist. Meine Schlösser und Riegel sind in guter Ordnung; meine Gold und Silberplatten stehen sicher in meiner Werkstatt und ich selbst verzehre eben mein Frühstück mit unabgeschnittener Kehle. — Ihr ganz ergebener

Oscar.«

Darnach blieb mir nichts weiter zu« sagen. Jicks mochte dabei beharren, sich der beiden übelaussehenden Fremden zu erinnern; ältere und klügere Leute dachten nicht weiter an diese Kerle.

Es kam der Sonnabend, der zehnte Tag seit jenem denkwürdigen Morgen, an dem ich Oscar in dem kleinen Seitenzmmer in Browndown genöthigt hatte, sich gegen mich auszusprechen. Am Vormittage besuchte er uns im Pfarrhause; Nachmittags gingen wir nach Browndown, um ihn ein neues Stück in Gold getriebener Arbeit anfangen zu sehen, einen Handschuhkasten, der dazu bestimmt war, nach seiner Vollendung Lucilla’s Toilettentisch zu zieren. Wir verließen Oscar, emsig bei seiner Arbeit sitzend und entschlossen, bis Dunkelwerden damit fortzufahren.

Am Frühabend setzte sich Lucilla ans Klavier und ich machte einen verabredeten Besuch im Vorderhause des Pfarrhauses.

Frau Finch hatte beschlossen, eine vollständige Reform mit ihrer Garderobe vorzunehmen; sie hatte mich gebeten, ihr dabei mit meinem französischen Geschmack als vertraute Rathgeberin an die Hand zu gehen. »Ich kann mir keine neuen Sachen anschaffen«, sagte die arme Frau; »aber aus dem, was ich habe, ließe sich gewiß viel machen, wenn eine geschickte Hand sich mit den nöthigen Veränderungen befassen wollte.« Wer hätte einem so kläglichen Appell wiederstehen können? Ich ließ mir in stiller Ergebung das Baby, die übrigen Kinder und den Roman gefallen und begab mich, mit Scheere und Musterpapier bewaffnet, reich an Ideen, in Frau Finchs Wohnzimmer, während der Ehrenwürdige Finch auf seinem Zimmer damit beschäftigt war, eine Predigt zu verfassen. Wir hatten eben mit der Arbeit begonnen, als eines der älteren Kinder mit einer Botschaft aus der Kinderstube erschien. Es war Vesperzeit für die Kinder und Jicks war wie gewöhnlich nicht vorhanden; man hatte sie zuerst in den unteren Räumen des Hauses und dann im Garten gesucht, hatte aber nirgends eine Spur von ihr gefunden; Niemand war davon überrascht oder beunruhigt. Wir sagten: »Ach, sie ist gewiß wieder nach Browndown gegangen!« und vertieften uns wieder in die Bestandtheile von Frau Finch’s leidender Garderobe. Ich hatte eben decretirt, daß die blaue Merinojacke ausgedient haben und in den Ruhestand versetzt werden solle, als durch die offene Thür, welche nach dem Hintergarten führte, ein Klageruf an mein Ohr drang. Ich hielt inne und sah Frau Finch an. Der Klageruf erscholl abermals lauter und aus größerer Nähe und dieses Mal deutlich erkennbar als das Wimmern eines Kindes. Die Stubenthür war angelehnt geblieben, als der Abgesandte der Kinderstube uns wieder verlassen hatte; ich stieß die Thür auf und vor mir auf dem Vorplatz stand Jicks. Jeder Nerv erzitterte mir bei dem Anblick des Kindes. Das arme kleine Ding war bleich und zitterte vor Angst und Aufregung; sie war unfähig zu reden. Als ich niederknieete, um sie durch Liebkosungen zu beschwichtigen, ergriff sie mit einer krampfhaften Bewegung meine Hand und versuchte es, mich in die Höhe zu ziehen; ich stand wieder auf; sie stieß abermals ihr dumpfes Geschrei in noch lauteren Tönen aus und suchte mich zum Hause hinaus zuzerren. Sie war so schwach, daß sie bei diesem Versuch stolperte. Ich nahm sie auf den Arm; mit einer meiner Hände berührte ich, als ich sie mit dem Arm umschlang, das obere Ende ihres Kleidchens gerade unter ihrem Halse und fühlte etwas an meinen Fingern; ich sah näher zu. Barmherziger Gott! Sie waren mit Blut befleckt! Ich drehte das Kind um, mein Blut erstarrte; ihre Mutter, die hinter mir stand, stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Das weiße Kleidchen des lieben kleinen Dinges war überall mit frischem Blut befleckt und bespritzt. Es war nicht ihr eigenes Blut; an ihrem Körper war keine Schramme zu finden. Ich sah die schrecklichen Zeichen genauer an.

Sie waren offenbar absichtlich, wie es schien, mit dem Finger auf ihrem Kleide gemacht. Ich trug das Kind hinaus in’s Helle. Die Blutspuren bildeten Buchstaben; man hatte ihr mit schwachen Schriftzügen auf den Rücken ihres Kleides ein Wort geschrieben. Ich konnte, etwas dem Buchstaben »H« Aehnliches erkennen; dann kam ein völlig unleserlicher Buchstabe, dann etwas, das ein »l« und ein »f« bedeuten konnte, und dann ein letzter Buchstabe, in welchem ich ein »e« erkannte.

Sollte das Wort »Hilfe« heißen? — Ja, auf dem Rücken des Kinderkleides stand mit in Blut getauchtem Finger geschrieben — »Hilfe!«



Kapiteltrenner

Vierzehntes Kapitel - Entdeckungen in Browndown

Ich brauche wohl kaum zu sagen, zu welchem Schluß ich gelangte, sobald ich wieder hinreichend zu mir gekommen war, um überhaupt denken zu können. Dank meiner abenteuerlichen Vergangenheit habe ich mir die Gewohnheit angeeignet, mich bei ernsten Vorkommnissen aller Art rasch zu entschließen. Im gegenwärtigen Falle mußte nach meiner Ansicht zunächst augenblicklich Hilfe nach Browndown geschafft, dann aber das Vorgefallene vor Lucilla geheim gehalten werden, bis ich wieder zurückkehren und sie auf die Entdeckung vorbereiten konnte. Ich sah Frau Finch an; sie war hilflos auf einen Stuhl nieder gesunken.

»Ermannen Sie sich!« sagte ich und schüttelte sie Es war keine Zeit, Ohnmachten und hysterischen Zufällen Theilnahme zu erweisen; das Kind lag noch in meinen Armen und das arme Ding war von der Anstrengung und dem Schrecken ganz erschöpft; Ich konnte nichts anfangen, bis ich mich von dieser Last befreit hatte. Frau Finch blickte zitternd und schluchzend zu mir auf. Ich setzte ihr das Kind auf den Schoß.

Jicks machte einen schwachen Versuch, sich einer Trennung von mir zu widersetzen, gab aber bald jeden Widerstand auf und ließ ihr Köpfchen auf die Brust ihrer Mutter sinken. »Können Sie ihr das Kleidchen ausziehen?« fragte ich und schüttelte Frau Finch dabei und dieses Mal gehörig. Die Aufforderung zu einer hausfräulichen Beschäftigung schien eine belebende Wirkung auf sie zu üben. Sie sah nach dem in einer Ecke des Zimmers in seiner Wiege liegenden Baby und nach dem auf einem Stuhl in einer andern Ecke des Zimmers liegenden Roman. Die Anwesenheit dieser beiden ihr so vertrauten Gegenstände schien sie zu ermnthigen; sie schauderte, unterdrückte einen Seufzer, kam wieder zu Athem und fing an, dem Kinde sein Kleidchen auszuziehen.

»Legen Sie das Kleid sorgfältig bei Seite,« sagte ich »und reden Sie mit niemand über das Vorgefallene bis ich zurückkomme. Sorgen Sie, daß das Kind keinen Schaden nimmt; beruhigen Sie sie und warten Sie hier auf mich. Ist Herr Finch in seinem Arbeitszimmer?«

Frau Finch unterdrückte abermals einen Seufzer und sagte »Ja«. Das Kind machte eine letzte Anstrengung »Jicks will mit Dir gehen«, sagte die kleine Zigeuner in mit schwacher Stimme. Ich eilte zum Zimmer hinaus und überließ die drei Baby’s, das große, das kleine und das kleinste, sich selber.

Nachdem ich an die Thür des Arbeitszimmers geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, öffnete ich dieselbe und trat ein. Der Ehrwürdige Finch war in einem bequemen Lehnstuhl, mit den zur Aufnahme seiner Predigt bestimmten weißen Blättern vor sich, in einen gesunden Schlaf verfallen, und sprang jetzt plötzlich erwachend auf. Der Pfarrer von Dimchurch fand sofort das Bewußtsein seiner Würde wieder.

»Ich bitte um Vergebung; Madame Pratolungo, ich war ganz in Gedanken vertieft. Fassen Sie Ihr Anliegen, wenn ich bitten darf, kurz.« Bei diesen Worten deutete er mit einer vornehm selbstbewußten Handbewegung auf die leeren Blätter und fügte in seinem tiefsten Baßton hinzu: »Predigttag!«

Ich erzählte ihm in kurzen Worten, was ich auf dem Kleide seines Kindes gesehen und theilte ihm meine Besorgnisse in Betreff des in Browndown Vorgefallenen mit. Er wurde todtenbleich. Nie habe ich: ein solches Entsetzen gesehen, wie die Gesichtszüge des Ehrwürdigen Finch in diesem Augenblicke darboten.

»Fürchten Sie eine Gefahr?« fragte er. »Es sind Sie der Meinung, daß sich verbrecherische Menschen dort im Hause oder in der Nähe befinden?«

»Ich bin der Meinung, daß hier kein Augenblick zu verlieren ist«; antwortete ich. »Wir müssen nach Browndown gehen und uns unterwegs zur Hilfsleistung so viele geeignete Leute mitnehmen, wie wir bekommen können.«

Ich öffnete die Thür und wartete einen Augenblick auf ihn. Herr Finch, der ersichtlich noch von dem Gedanken an die verbrecherischen Menschen präoccupirt war, machte ein Gesicht, als ob er sich in diesem Augenblick hundert Meilen von seinem eigenen Pfarrhause entfernt wünsche. Aber er war der Herr des Hauses, der angesehenste Mann am Orte; wie die Dinge standen, blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Hut zu nehmen und mit mir zu kommen. Wir gingen zusammen ins Dorf. Zum ersten Mal in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft fand ich meinen ehrwürdigen Begleiter schweigsam. Wir erkundigten uns nach dem einzigen Polizei Officianten, der in dem Districte fungirte; er war eben an seiner Runde begriffen.

Wir fragten weiten ob der Doctor wohl in Dimchurch sei? Nein, es war heute nicht der Tag, wo er nach Dimchurch kam. Der Wirth zur »Gut in Hand« war mir als ein tüchtiger und respectabler Mann genannt worden und ich proponirte Herrn Finch, im, Wirthshause vorzusprechen und den Wirth mitzunehmen. Bei diesem Vorschlag klärte sich Herrn Finch’s Gesicht sofort auf; das Gefühl seiner Wichtigkeit stieg wieder in ihm, wie das Quecksilber in einem Thermometer.

»Das wollte ich gerade vorschlagen«, sagte er. Gootheridge in der »Guten Hund« ist ein für seinen Stand respectabler Mann. Lassen Sie uns Gootheridge auf alle Fälle mitnehmen. Fürchten Sie nichts, Madame Pratolungo, wir stehen Alle in Gottes Hand; es ist ein wahres Glück für Sie, daß Sie mich zu Hause getroffen haben. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen? Ich bitte recht sehr, fürchten Sie sich nicht. Sollten uns Spitzbuben in den Weg kommen, ich habe ja, wie Sie sehen, meinen Stock bei mir; ich bin nicht groß, aber ich habe die Körperkraft eines starken Mannes; mein Körper ist so zu sagen ganz Muskel; fühlen Sie nur einmal!«

Dabei hielt er mir einen seiner dürren kleinen Arme hin, der ungefähr halb so groß wie mein Arm war. Wäre sich nicht viel zu bekümmert gewesen, um zu Scherzen aufgelegt zu sein, ich würde ohne Zweifel erklärt haben, daß ich es in der Begleitung eines solchen Ausbundes von Stärke für überflüssig halte, den Wirth zu incommodiren. Ich darf nicht behaupten, daß Herr Finch merkte, was in mir vorging, ich kann nur versichern, daß er, sobald wir des Wirthshauses ansichtig wurden, sich beeilte, Gootheridge eifrig und heftig zu rufen. Der Wirth trat aus dem Hause und erklärte sich, sobald er gehört hatte, um was es sich handle, sofort bereit, mit uns zu gehen .

»Nehmet! Sie Ihr Gewehr mit«, sagte Herr Finch.

Gootheridge that wie ihm geheißen wurde; wir gingen raschen Schrittes nach Browndown.

»War Ihre Frau oder Ihre Tochter heute in Browndown fragte ich den Wirth.

»Ja, Madame, sie waren beide in Browndown. Sie haben dort wie gewöhnlich ihre Arbeit gethan, und haben das Haus schon vor länger als einer Stunde verlassen.«

»Hat sich während ihrer Anwesenheit dort irgend etwas Ungewöhnliches zugetragen?«

»Nichts daß ich wüßte, Madame!«

Ich dachte einen Augenblick nach und wagte es, noch einige weitere Fragen an Herrn Gootheridge zu richten. Ich fragte, ob man diesen Abend irgend welche Fremde hier gesehen habe?«

»Ja, Madame« vor ungefähr einer Stunde fuhren zwei Fremde in einer Chaise an meinem Hause vorüber.«

»In welcher Richtung?«

»Der Wagen kam von der Brightoner Landstraße her und fuhr in der Richtung nach Browndown zu.«

»Haben Sie die Fremden angesehen?«

»Nicht genau« Madame« ich war gerade beschäftigt.«

Ein schrecklicher Argwohn, daß die beiden Fremden in der Chaise die beiden Männer sein möchten, die ich damals hinter der Mauer versteckt gesehen hatte, drängte sich mir auf. Ich sagte nichts weiter, bis wir bei dem Hause angelangt waren. Alles war ruhig; das einzige Zeichen von etwas Ungewöhnlichem waren die deutlichen Radspuren auf dem Rasen vor dem Hause in Browndown. Der Wirth war der erste, der diese Wagenspuren bemerkte. »Der Wagen muß vor dem Hause gehalten haben, Herr Pfarrer«, sagte er zu dem Ehrwürdigen Finch gewandt. Dieser schien wieder seine Sprache verloren zu haben; Alles was er hervorzubringen vermochte, als wir uns der Thür des einsam und öde daliegenden Hauses näherten, waren die mit äußerster Anstrengung gesprochenen Worte: »Bitte, lassen Sie uns vorsichtig sein!«

Der Wirth langte zuerst an der Thür an; ich folgte ihm, während der Pfarrer in einer kleinen Entfernung die Arrièregarde bildete und auf seine Deckung durch die hinter ihm liegenden Hügel bedacht war. Gootheridge klopfte laut an die Thür und rief: »Herr Dubourg!« Es erfolgte keine Antwort; es herrschte eine schreckliche Stille; ich vermochte die Ungewißheit nicht länger zu ertragen, schob den Wirth bei Seite und er faßte den Griff der unverschlossenen Thür.

»Lassen Sie mich vorangehen« Madame«, sagte Gootheridge; und dieses Mal schob er mich bei Seite. Ich folgte ihm auf dem Fuße; wir traten ins Haus und riefen wieder. Abermals erfolgte keine Antwort; wir blickten in das kleine Wohnzimmer, welches an der einen, und in das Eßzimmer, welches an der andern Seite des Vorplatzes lag, beide waren leer. Wir gingen weiter nach der Rückseite des Hauses, wo das Zimmer lag, welches Oscar seine Werkstätte nannte; als wir in dieselbe eintreten wollten, zeigte es sich, daß die Thür verschlossen war. Wir klopften an und riefen wieder, aber es blieb unheimlich still. Ich steckte meinen Finger in das Schlüsselloch; der Schlüssel steckte nicht darin. Ich knieete, nieder und guckte durch dass Schlüsselloch. Aber kaum hatte ich das gethan, als ich auch schon in wildem Entsetzen wieder aufsprang.

»Erbrechen Sie die Thür!« schrie ich. »Ich habe feine Hand auf dem Fußboden liegen gesehen!«

Der Wirth war wie der Pfarrer nur ein kleiner Mann, und die Thür war, wie Alles in Browndown, von der plumpsten und schwerfälligsten Construction. Ohne geeignetes Werkzeug würden wir alle drei zu schwach gewesen sein, die Thür zu erbrechen. In dieser schwierigen Lage erwies sich der Ehrwürdige Finch zum ersten und einzigen Male nützlich.

»Warten Sie, meine Freunde!« sagte er, »wenn die Pforte zum Hintergarten offen ist, können wir durch das Fenster ins Zimmer gelangen.«

Weder der Wirth, noch ich hatten an das Fenster gedacht. Wir eilten um das Haus herum an die Rückseite und sahen, daß die Spuren der Wagenräder die selbe Richtung verfolgten. Die Pforte in der Gartenmauer stand weit offen. Wir durchschritten den kleinen Garten und konnten durch das bis auf den Boden reichende Fenster der Werkstätte, wie es der Pfarrer vorausgesagt hatte, in dieselbe gelangen; so betraten wir das Zimmer.

Da lag der arme unglückliche Oscar, bewußtlos in einer Lache seines eigenen Bluts. Allem Anscheine nach hatte ihn ein Schlag auf der linken Seite des Kopfes auf der Stelle zu Boden geworfen. Ob die Wunde nicht nur die Kopfhaut, sondern auch den Schädel verletzt habe, war ich nicht im Stande zu beurtheilen. Ich hatte mir im Dienste der heiligen Sache der Freiheit an der Seite meines edlen Pratolungo einige Erfahrungen in der Behandlung von Kranken gesammelt; kaltes Wasser, Essig und Leinen zum Verbinden, nach denen ich verlangte, fanden sich im Hause. Gootheridge fand den Thürschlüssel in einer Ecke des Zimmers liegend; er schaffte mir Wasser und Essig, während ich die Treppe hinauf in Oscar’s Schlafzimmer lief und mir einige von seinen Handtüchern holte. Nach wenigen Minuten hatte ich eine kalte Compresse auf die Wunde gelegt und wusch Oscar’s Gesicht mit Essig und Wasser. Er war noch immer bewußtlos, — doch er lebte. Der Ehrwürdige Finch, der nicht die geringste Hilfe leistete, hielt es für seine Pflicht, Oscar den Puls zu fühlen. Er that es mit einer Miene, als ob das unter den obwaltenden Umständen die einzige verdienstliche Handlung sei, die er vornehmen könne und als ob niemand außer ihm den Puls fühlen könne. »Ein wahres Glück«, sagte er, indem er die langsamen schwachen Schläge am Handgelenk des armen Oscar zählte, »ein wahres Glück, daß ich zu Hause war. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen?«

Was uns jetzt zunächst oblag, war natürlich zum Arzt zu schicken und uns Leute zu verschaffen, die uns behilflich sein könnten, Oscar die Treppe hinan in sein Bett zu tragen. Gootheridge erklärte sich bereit, sich ein Pferd zu verschaffen und den Doktor zu holen. Wir verabredeten, daß er mir seine Frau und deren Bruder, um mir beim Hinauftragen Oscar’s zu helfen, schicken solle. Nachdem wir diese Verabredung getroffen hatten, blieb uns nur noch das eine zu thun, uns von der lästigen Gegenwart des Ehrwürdigen Finch zu befreien. Jetzt wo die Anwesenheit verdächtiger Individuen im Hause nicht mehr zu fürchten war, ertönte die gewaltige Stimme des kleinen Mannes wieder unnterbrochen, wie eine in der Nachbarschaft arbeitende Dampfmaschine. Ich hatte wieder eine Eingebung. Auf dem Boden sitzend und Oscar’s Kopf in meinem Schoße haltend, gab ich meinem ehrwürdigen Begleiter etwas zu thun. »Sehen Sie sich doch einmal im Zimmer um«, sagte ich, »ob die Kiste mit den Gold und Silberplatten hier ist?«

»Fassen Sie sich, Madame Pratoluugo«, sagte er, »keine nervöse aufgeregte Vielgeschäftigkeit, wenn ich bitten darf; ich habe mich der Sache angenommen und es versteht sich von selbst, daß ich auch nach der Kiste sehen werde.«

»Gewiß!« stimmte ich bei. »Ich zweier auch nicht, daß die Kiste fort sein wird!«

Diese Erwidernng veranlaßte ihn, sofort geschäftig im Zimmer hin und her zu laufen. Von der Kiste war keine Spur zu finden! Damit war mir jeder Zweifel benommen; die beiden Spitzbuben, die wir damals an die Mauer gelehnt gefunden, hatten meine schlimmsten Befürchtungen in entsetzlicher Weise gerecht fertigt.

Als Frau Gootheridge und ihr Bruder eintrafen, trugen wir Oscar auf sein Zimmer; wir legten ihn aufs Bett, nachdem wir ihm seine Cravatte abgenommen und das Fenster geöffnet hatten, so daß die frische Luft ungehindert über ihn wegstreichen konnte. Er gab noch kein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins von sich, aber sein Puls fuhr fort, wenn auch schwach zu schlagen.

Sein Zustand schien sich nicht zu verschlimmern. Auf die Ankunft des Arztes durften wir vor Ablauf einer Stunde nicht hoffen; ich fand es daher nothwendig, sofort nach dem Pfarrhause zurückzukehren und Lucilla mit aller nöthigen Vorsicht die traurige Wahrheit mitzutheilen, denn es stand zu befürchten, daß sie sonst, nachdem sich die Nachricht im Dorfe verbreitet haben würde, die Sache aus die denkbar ungeeignetste Weise durch einen der Dienstboten erfahren möchte. Zu meiner größten Genugthuung bat mich Herr Finch, als ich mich erhob um fortzugehen, zu entschuldigen, wenn er mich nicht begleite. Es war ihm aufgegangen, daß ihm als Pfarrer die Pflicht obliege, den Behörden sofort von dem in Browndown begangenen Verbrechen Anzeige zu machen. Er ging zu dem nächstwohnenden Friedensrichter und ich kehrte nach dem Pfaarhause zurück und ließ Oscar unter der Obhut von Frau Goetheridge und ihrem Bruder. Herrn Finch’s letzte Worte beim Abschiede erinnerten mich noch einmal daran, daß wir unter den obwaltenden traurigen Umständen wenigstens für Eines dankbar sein mußten.

»Ein wahres Glück, Madame Pratolungo, daß ich zu Hause war; was hätten Sie wohl ohne mich angefangen!«



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Fünfzehntes Kapitel - Ereignisse am Krankenbette

Ich bin, wie man sich gütigst erinnern wolle, meinem ganzen Wesen nach Französin und daher immer bestrebt mir soviel wie möglich trübe Eindrücke fern zu halten. Aus diesem Grunde kann ich mich wirklich nicht entschließen, zu schildern, was zwischen meiner blinden Lucilla und mir vorging, als ich unser hübsches Wohnzimmer betrat. Es rührte mich damals zu Thränen und es würde mich und vielleicht auch den Leser wieder zu Thränen rühren, wenn ich berichten wollte, was das zarte junge Wesen litt, als ich ihr die traurige Nachricht mittheilte. Ich will es nicht in Abrede stellen; ich habe eine unüberwindliche Abneigung gegen Thränen Sie greifen die Nase an und meine Nase ist das Beste an meinem Gesichte. Laßt uns, meine schönen Freundinnen unsere Augen dazu gebrauchen, Eroberungen zu machen, nicht aber zum Weinen.

Es genüge, daß, als ich nach Browndown zurückkehrte, Lucilla mich begleitete. Es war das erste Mal, daß ich an Lucilla eine Regung von Eifersucht auf uns Glückliche, die wir sehen konnten, beobachtete. Kaum hatte sie Oscars Zimmer betreten, als sie darauf bestand, sich so nahe an das Bett zu setzen, daß sie uns, während wir den Verwundeten pflegten, hören oder berühren könnte. Sie setzte sich auch sofort an den bis jetzt von Frau Gootheridge eingenommenen Platz und fing an Oscars Gesicht und Stirn mit kaltem Wasser zu besprengen. Sie war selbst auf mich eifersüchtig, als sie entdeckte, daß ich die Umschlägel auf der Wunde anfeuchtete. Ich reizte sie dadurch, das Antlitz des armen bewußtlos daliegenden Kranken ohne Rücksicht auf unsere Gegenwart zu küssen; die Wirthin aus der »Guten Hand « war eine Frau nach meinem Sinn; sie wußte allen Dingen eine heitere Seite abzugewinnen. »Sie ist in ihn verliebt, nicht wahr?« flüsterte sie mir zu, da dürfen wir uns wohl auf eine Hochzeit in Dimchurch gefaßt machen.«

Bei dem Küssen und dem Geflüster wurde es dem einzigen anwesenden Manne, Frau Gootheridge’s Bruder, sehr unbehaglich; er gehörte zu der großen und respectabeln Classe von Engländern, die nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen, oder wie sie ein Zimmer verlassen sollen. Es that mir leid; er war wirklich ein hübscher Mann.

»Gehen Sie doch ein wenig in den Garten und rauchen Ihre Pfeife, Herr Gootheridge«, sagte ich; »wir wollen Sie aus dem Fenster rufen, wenn wir Ihrer hier oben bedürfen.« Frau Gootheridges Bruder warf mir einen Blick voll unaussprechlicher Dankbarkeit zu und machte sich davon, als wenn man ihn aus einer Falle, in die er sich verfangen, befreit hätte.

Endlich erschien der Arzt.

Gleich seine ersten Worte gewährten uns eine unbeschreibliche Erleichterung. Die Hirnschale unseres armen Freundes war nicht verletzt; es hatte eine Erschütterung des Gehirns stattgefunden und in der Haut befand sich eine offenbar mit einem stampfen Instrumente beigebrachte Wunde. Für die Wunde hatte ich vor Ankunft des Doctors Alles gethan, was erforderlich war; was das Gehirn anlangte, so hoffte der Arzt, daß Zeit und sorgfältige Pflege Alles wieder in — Ordnung bringen werde.

»Seien Sie guten Muths, meine Damen«, sagte dieser Engel von einem Mann, »es ist nicht der mindeste Grund vorhanden, sich wegen des Patienten Sorge zu machen.

Vier oder fünf Stunden, nachdem wir ihn am Fußboden der Werkstätte gefunden hatten, kam Oscar wieder zu sich, das heißt, er öffnete die Augen und blickte wie abwesend umher.

Der Geist des Armen war noch ganz irre. Er erkannte niemanden. Er machte mit seinen Fingern die Bewegung des Schreibens und sagte in dringendem Tone immer wieder: »Geh’ nach Hause, Jicks, geh’ nach Hause«, in der Idee, daß er noch hilflos am Boden liege und das Kind uns zu Hilfe rufen solle. Später am Abend schlief er ein. Den ganzen nächsten Tag zeugten seine Aeußerungen noch von Geistesabwesenheit; erst am nächstfolgenden Tage kam er langsam wieder zu vollem Bewußtsein Lucilla erkannte er zuerst! Sie war gerade damit beschäftigt, sein schönes kastanienbraunes Haar zu bürsten, da streichelte er zu ihrer unaussprechlichen Freude ihre Hand und murmelte ihren Namen. Sie flüsterte ihm etwas in’s Ohr, was das bleiche Gesicht des jungen Mannes erröthen und seine matten Augen vor Freude strahlen machte. Einige Tage später gestand sie mir, daß sie ihm zugeflüstert habe: »Werden Sie besser um meinetwillen!« Sie schämte sich durchaus nicht, so deutlich gesprochen zu haben, im Gegentheil, sie triumphirte darüber und sagte in sehr entschiedenem Tone: »Lassen Sie mich nur machen, ich will ihn erst heilen und dann sein Weib werden.«

Eine Woche später befand er sich wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, war aber noch entsetzlich schwach und erholte sich nur sehr langsam von der Erschütterung, die er erlitten hatte.

Er war jetzt im Stande, uns bruchstückweise zu erzählen, was in der Werkstätte vorgefallen war.

Nachdem Frau Gootheridge und ihre Tochter zur gewöhnlichen Zeit das Haus verlassen hatten, war er auf sein Zimmer gegangen, hatte sich dort eine Weile aufgehalten und war dann wieder hinunter gegangen. Als er sich der Werkstätte näherte, klangen ihm aus dem Zimmer flüsternde Stimmen entgegen; es war ihm sofort klar, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Er versuchte sachte die Thür zu öffnen und fand sie verschlossen. Die Räuber hatten offenbar diese Vorsichtsmaßregel gebraucht, um von niemand im Hause bei ihrer Diebesarbeit überrascht zu werden. Der einzige andere Weg, in das Zimmer zu gelangen, war der, dessen wir uns bedient hatten. Ost er ging um das Haus herum in den Hintergarten und sah hier vor der Pforte eine offene Chaise halten. Dieser Umstand erschien ihm höchst auffallend; hätte er nicht die Thür der Werkstätte in so mysteriöser Weise verschlossen gefanden, so würde er bei dem Anblick des Wagens nichts weiter geargwohnt haben, als die Ankunft einiger unerwarteter Besucher. Begierig, das Räthsel zu lösen, stieg er durch das Fenster in das Zimmer, und sah hier die beiden Männer vor sich stehen, welche Jicks zehn Tage vorher an die Gartenmauer gelehnt gefunden hatte.

Als er sich dem Fenster näherte, kehrten sie ihm beide den Rücken zu und waren eifrig damit beschäftigt, die Kiste, welche die Metallplatten enthielt, mit Stricken festzubinden. Bei seinem Eintreten erhoben sie sich und vertraten ihm den Weg. Dieser Raub bei hellem Tageslicht machte Oscar’s leicht erregbares Blut sofort heftig aufwallen; er stürzte auf den jüngeren von den beiden Gesellen, der ihm gerade am nächsten stand, zu. Der Spitzbube sprang bei Seite, so daß Oscar ihn nicht erreichen konnte, ergriff einen auf dem Tische bereit liegenden, mit Blei gefüllten ledernen Schaft, einen sogenannten »Todtschläger« und schlug Oscar damit auf den Kopf, bevor er noch wieder zu sich kommen und dem Mann entgegentreten konnte.

Was sich von jenem Augenblick an bis dahin, wo er nach der ersten Erschütterung des Schlages wieder zur Besinnung gekommen war, zugetragen hatte, wußte er nicht. Er fand sich schwindlich und blutend auf dem Boden liegen und sah das Kind, welches, während er besinnungslos dagelegen hatte, ins Zimmer geschlendert sein mußte, und nun starr vor Entsetzen vor ihm stand. Der Gedanke sich ihrer zu bedienen, um sich Hilfe zu verschaffen, kam ihm wie eine Eingebung, so bald er sie erkannt hatte. Er bewog das Kind durch schmeichelndes Zureden, sich so nahe an ihn heranzuwagen, daß er es mit der Hand erreichen konnte tauchte seinen Finger in das Blut, das seinem Kopfe entströmte, und schrieb damit aus den Rücken des Kinderkleides die schreckliche Botschaft, welche ich herausbuchstabirt hatte. Nachdem er das gethan hatte, nahm er seine letzten Kräfte zusammen, um Jicks sanft an das offene Fenster zu schieben, und sie anzuweisen, nach Hause zu gehen; während er noch die Worte »geh’ nach Hause, geh’ nach Hause«, wiederholte, fiel er von Blutverlust erschöpft wieder in Ohnmacht, sah aber noch oder bildete sich ein zu sehen, wie das Kind starr vor Entsetzen hartnäckig im Zimmer stehen blieb. Wann, der Muth und die Einsicht ihr gekommen waren, nach Hause zu laufen, davon, wie von allem Uebrigen, was sich seitdem ereignet hatte, wußte er natürlich nichts. Sein nächster mit Bewußtsein empfangener Eindruck war, wie schon erwähnt, der Anblick der an seinem Bette sitzenden Lucilla.

Diesem von Oscar erstatteten Berichte folgte eine ergänzende Mittheilung der Polizei. Die Behörden waren thätig und die Dorfbewohnerschaft befand sich tagelang in einem Zustande fieberhafter Aufregung. Nie hat wohl bei einem Verbrechen eine gründlichere Nachforschung stattgefunden, und nie ist wohl ein dürftigeres Ergebniß erzielt worden. Es wurde nichts Wesentliches, was ich nicht schon selbst herausgefunden hatte, entdeckt. Man gewann die Ueberzeugung, daß; wie ich es vermuthet hatte, der Raub ein wohlüberlegter gewesen sei. Obgleich keiner im Pfarrhause die Diebe gesehen hatte, so wurden sie doch, wie von der Behörde festgestellt wurde, an jenem Tage, wo die unglückliche Kiste mit den Metallplatten zuerst in Browndown abgeliefert worden war, in Dimchurch gesehen. Nachdem sie mit Muße das Haus untersucht, und sich mit den häuslichen Gewohnheiten der Bewohner desselben bekannt gemacht hatten, waren die Spitzbuben zum zweiten Male — ohne Zweifel, um den Raub zu begehen — damals in’s Dorf gekommen, als wir sie entdeckt hatten. Als sie ihren Plan durch die unerwartete Rücksendung der Gold und Silberplatten nach London vereitelt sahen, hatten sie ihre Zeit abgewartet, waren mit der Kiste wieder nach Browndown gekommen, und hatten, Dank der einsamen Lage des Hauses und dem mörderischen Schlage, mit welchem sie Oscar bewußtlos zu Boden streckten, ihren Zweck erreicht.

Mehr als ein Zeuge war auf der Straße von Brighton ihrer Chaise mit der Kiste begegnet. Als sie aber den Wagen wieder zu dem Fuhrwerksbesitzer brachten, von welchem sie denselben gemiethet hatten, war von der Kiste nichts mehr zu sehen. Complicen in Brighton waren ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach behilflich gewesen, die Metallplatten aus der Kiste zu entfernen und in gewöhnliche Reisekoffer, die keine besondere Aufmerksamkeit an der Eisenbahnstation erregen konnten, zu verpacken. So lautete die Erklärung der Polizei, und gleichviel ob sie nun richtig oder unrichtig war, so stand fest, daß die Spitzbuben nicht gefaßt wurden und daß der räuberische Einbruch in Oscars Haus auf die lange Liste der Verbrechen gesetzt werden muß, welche so geschickt ausgeführt werden, daß der Arm des Gesetzes die Thäter nicht erreicht.

Wir für unsern Theil kamen Alle darin überein, Lucilla’s Beispiel zu folgen und uns nicht in nutzlosen Klagen zu ergehen, sondern dankbar dafür zu sein, daß Oscar ohne ernste Verletzung davongekommen war. Das Uebel war nun einmal geschehen. In dieser philosophischen Stimmung sahen wir die Sache an, während unser Patient sich erholte; wir brüsteten uns Alle mit unserem so ungemein verständigen Verhalten und, — ach, wir armen kurzsichtigen Menschen! Wir waren Alle in einem verhängnißvollen Irrthum befangen. Weit entfernt, sein Ende erreicht zu haben, hatte das Uebel erst angefangen. Die eigentlichen Folgen des in Browndown verübten Raubes sollten sich noch erst zeigen und sollten ihre eigenthümliche und traurige Wirkung jedem Mitgliede des kleinen in Dimchurch versammelten Kreises fühlbar machen.



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Sechzehntes Kapitel - Die Folgen des Raubes

Fünf bis sechs Wochen nach dem erlittenen Unfall durfte Oscar sein Zimmer verlassen und war von seiner Wunde geheilt Während dieser Zeit war Lucilla ihrem Programme, Oscar zu heilen, um ihn dann zu heirathen, beharrlich treu geblieben. Nie habe ich eine ähnliche Pflege gesehen und werde auch wohl nie etwas Aehnliches wieder sehen. Von früh bis spät wußte sie ihn auf die eine oder die andere Art zu zerstreuen und ihn bei guter Laune zu erhalten.

Das reizende Geschöpf verstand es sogar, ihre Blindheit zu einem Mittel der Erheiterung ihres Geliebten zu machen; bisweilen setzte sie sich vor Oscar’s Spiegel und ahmte alle die unzähligen kleinen Künste einer eitlen Kokette, die sich für ihre Eroberungen schmückt, mit so wunderbarer Wahrheit und einem so echt komischen Geberdenspiel nach, daß man hätte schwören mögen, sie sei im Vollbesitz ihrer Sehkraft; dann wieder gab sie Oscar Proben ihrer außerordentlichen Fähigkeit, auf dem Klang der Stimme einer Person die Entfernung zu berechnen, in welcher sich diese Person befand. Bei diesen Versuchen mußte ich mich zum Opfer hergeben; nachdem Lucilla eines der Bouquetta die sie immer selbst vor Oscar’s Bett zu legen pflegte, in die Hand genommen hatte, wies sie mich an, mich geräuschlos an irgend eine beliebige Stelle des Zimmers zu begeben und ihren Namen auszusprechen. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, als auch schon das Bouquet mir in’s Gesicht flog. So oft sie dieses Experiment auch versuchte, nie verfehlte sie ihr Ziel und nie ließ sie in der Kundgebung ihrer kindischen Freude über ihre eigene Geschicklichkeit nach. Niemand anders durfte Oscar seine Medicin geben; sie hörte an dem Klang der in den Löffel gegossenen Flüssigkeit, ob der Löffel voll war. Als Oscar wieder im Bette auf sitzen durfte, konnte sie ihm, wenn sie am Kopfende des Bettes stand, nach der verschiedenen Wirkung der Luftströmung das ihr Gesicht, je nachdem er sich vorüberbeugte oder zurücklehnte, sagen, wie nahe sein Kopf dem ihrigen sei. Jn derselben Weise war sie durch die verschiedene Wirkung der Luft aus ihre Stirn und ihre Wangen im Stande, so gut wie Oscar zu sagen wann die Sonne schien und wann sie von Wolken verhüllt war.

Das ganze Gewirre von kleinen Gegenständen die sich in einem Krankenzimmer ansammeln, wußte sie nach eine m ihr eigenthümlichen System in der besten Ordnung zu erhalten. Es machte ihr das größte Vergnügen, das Zimmer spät Abends, wo wir Sehende in unserer Hilslosigkeit daran denken mußten, Licht anzuzünden, aufzuräumen. In der Dämmerungsstunde schwebte sie, für uns noch eben erkennbar, im Zimmer hin und her, bald sichtbar, wenn sie am Fenster vor überging, bald in das Dunkel der entfernteren Theile des Zimmers verloren und fing an, die Gegenstände die während des Tages gebraucht worden waren, von dem Tische abzuräumen und diejenigen, welche während der Nacht gebraucht werden würden, darauf hinzustellen. Wir durften nicht eher Licht anzünden, als bis sie uns das Zimmer wie durch Feenhände geordnet zeigen konnte. Wenn wir uns überrascht zeigten, lachte sie schalkhaft und sagte, sie bedaure die armen unnützen Menschen aufrichtig, die nichts ohne Licht thun könnten. Dasselbe Vergnügen, das es ihr gewährte, das Zimmer im Dunkeln aufzuräumen, machte es ihr auch, im Dunkeln durch das ganze Haus zu gehen und sich mit jedem Winkel desselben vom Dach bis zum Keller gründlich bekannt zu machen. Sobald Oscar wohl genug war, um wieder hinunterzugehen bestand sie darauf, ihn zu führen.

»Sie waren so lange auf Ihr Zimmer angewiesen«, sagte sie, »daß Sie das übrige Haus vergessen haben müssen. Nehmen Sie meinen Arm und kommen Sie mit mir. Jetzt sind wir auf dem Vorplatz, vergessen Sie nicht; hier führt eine Stufe hinunter und hier führt wieder eine Stufe hinauf; hier auf dem oberen Treppenabsatze müssen Sie um eine scharfe Ecke biegen und hier ist eine häßliche Falte im Treppenteppich, über die Sie fallen könnten.« So brachte sie ihn nach seinem eigenen Wohnzimmer, als ob er blind und sie sehend wäre.

Wer hätte einer solchen Pflegerin widerstehen können? Ist es zu verwundern, als ich einen Augenblick an jenem Tage das Zimmer verlassen hatte, daß ich seinen Ton vernahm, der eine höchst verdächtige Aehnlichkeit mit einem Kusse hatte? Ich hatte sie stark im Verdacht, daß sie auch hierbei der führende Theil gewesen sei; denn sie war so eigenthümlich ruhig und er sah so eigenthümlich bestürzt aus, als ich wieder in’s Zimmer trat. Eine Woche nach Oscars Genesung beschloß Lucilla die Kur ihres Patienten, mit anderen Worten, Oscar machte ihr einen Heirathsantrag. Ich bin fest überzeugt, daß er es nicht ohne Hilfe zu Stande gebracht haben würde, diesen Wendepunkt in einer so zarten Angelegenheit herbeizuführen und daß Lucilla ihm diese Hilfe leistete.

Ich will es dahin gestellt sein lassen, ob ich darin Recht oder Unrecht habe, die Thatsache aber kann ich verbürgen, daß Lueilla, als sie mir an einem lieblichen Herbstmorgen die Neuigkeit mittheilte, in einer so ans gelassenen Laune war, daß sie vor Freude tanzte und was noch unschicklicher war, mich in meinen respektablen Jahren mit ihr zu tanzen zwang. Sie faßte mich um die Taille und walzte mit mir auf dem Rasen, während Frau Finch in der abgesetzten blauen, Jacke, das Baby in der einen und den Roman in der andern Hand, dabei stand und uns beide mahnte, daß wenn wir eine halbe Stunde damit verlören, auf dem Rasen herumzuwirbeln, wir die verlorene Zeit in diesem Hause nie wieder einbringen würden. Trotzdem fuhren wir fort zu tanzen, bis wir ganz außer Athem waren. Nur die vollständigste Erschöpfung konnte Lucilla bändigen. Was mich betrifft, so bin ich, glaube ich, die rascheste Person meines Alters, die es giebt. Ich höre den Leser fragen, wie alt ich denn sei? Ja, das ist der einzige Punkt, über welchen ich immer die strengste Discretion beobachte. Setzen wir meine Raschheit auf Rechnung meiner französischen Nationalität, meines ruhigen Gewissens, meiner vortrefflichen Verdauung und fahren wir in unserer Erzählung fort.

Im Laufes jenes Tages fand in Browndown eine vertrauliche Unterhaltung zwischen Oscar und dem Ehrwürdigen Finch statt. Was bei dieser Gelegenheit zwischen beiden verhandelt wurde, erfuhr ich nicht. Als der Pfarrer wieder zu uns kam, trug er den Kopf hoch und stolzirte selbstbewußt auf seinen dürren kleinen Beinen einher. Er umarmte seine Tochter in pathetischem Schweigen und reichte mir die Hand mit einem heiteren Lächeln der Herablassung welche des größten Schwindlers, der je auf einem Thron gesessen hat, Ludwig des Vierzehnten, würdig gewesen wäre. Als er endlich seiner väterlichen Erregung Herr wurde und zu reden begann, ertönte seine Stimme so gewaltig, daß ich wirklich fürchtete, sie werde ihn zersprengen. Der Dunst von Worten, in den er sich hüllte, lief, wenn man ihn verdichtet zu Papier bringt, auf die beiden folgenden Sätze hinaus: Erstens begrüßte er in Oscar, als ob er an seinen eigenen Kindern noch nicht genug habe, einen neuen Sohn; zweitens erblickte er dies Hand der Vorsehung in allem, was geschehen war. Zu meiner Schande mußte ich bekennen, daß ich nichts erblickte, als — die Hand Finch’s und Oscars Tasche.

Der Tag der Hochzeit war noch nicht definitiv festgesetzt; es war nur im Allgemeinen verabredet, daß die Hochzeit in etwa sechs Wochen stattfinden solle. Diese Zeit sollte zu einem doppelten Zweck verwendet werden: Die Advocaten sollten sie dazu benutzen, den Heirathscontract vorzubereiten und Oscar sollte bis dahin wieder vollständig hergestellt sein.

In Betreff dieses letzteren Punktes waren wir Alle nicht ohne Besorgniß. Ost aus Wunde war geheilt und seine geistigen Fähigkeiten waren wieder ganz die alten. Aber trotz alledem war etwas bei ihm nicht ganz in Ordnung. Jene eigenthümlichen Gegensätze in seinem Charakter, deren ich schon früher Erwähnung gethan habe, äußerten sich jetzt stärker als je. Der Mann, welcher, als sein Blut in Wallung gewesen, den Muth gehabt hatte, sich allein und unbewaffnet mit zwei Räubern zu messen, konnte jetzt das Zimmer, in welchem der Kampf stattgefunden hatte, nicht betreten,: ohne am ganzen Leibe zu zittern. Er, der mich verlacht hatte, als ich ihn bat, nicht allein in seinem Hause zu schlafen, hatte jetzt zwei Männer, einen Gärtner und einen Diener, zu seinem Schutze ins Haus genommen und fühlte sich auch so noch nicht sicher. In seinen Träumen sah er sich beständig von dem Spitzbuben mit dem Todtschläger angegriffen oder blutend auf dem Boden liegen und Jicks schmeichelnd zureden, ihm so nahe zu kommen, daß er sie mit der Hand erreichen konnte. Wenn einer von uns nur entfernt darauf hindeutete, daß er seine Lieblingsbeschäftigung wieder aufnehmen möchte, hielt er sich die Ohren zu und bat uns inständigst, seine Erinnerungen an die schreckliche Vergangenheit nicht wieder wachzurufen. Er wollte nicht einmal seine Kiste mit Werkzeugen ansehen. Auf unsere Frage, was dieser Zustand zu bedeuten habe, erklärte der Arzt, daß Oscar’s Nervensystem erschüttert sei, und gestand offen, daß dabei nichts zu thun sei, als die Zeit ihren günstigen Einfluß üben zu lassen. Ich für meinen Theil war, wie ich bekennen muß, geneigt, Oscar’ Zustand ziemlich streng zu beurtheilen. Nach meiner Ueberzeugung wäre es seine Pflicht gewesen, sich Zwang anzuthun. Er erschien mir zu indolent, um das seinige zur Besserung seines Zustandes zu thun. Zwischen Lucilla und mir kam es wiederholt zu lebhaften Erörterungen über Oscar. Eines Abends, als wir abwechselnd plaudernd und spielend am Klavier saßen, war sie gründlich böse auf mich, weil ich nicht so unbedingt mit ihrem Liebling sympathisirte wie sie. »Ich habe etwas bemerkt, Madame Pratolungo«, sagte sie erröthend und in gereiztem Tone zu mir, »Sie haben Oscar von Anfang an keine Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

Man achte wohl an diese anscheinend unbedeutenden Worte. Die Zeit wird kommen, wo sie uns bedeutungsvoller erscheinen werden.

Die Vorbereitungen für die Hochzeit nahmen ihren Fortgang. Die Advocaten legten ihren Entwurf eines Ehecontracts vor und Osrar schrieb seinem Bruder, um demselben die bevorstehende Veränderung in seinem Leben und die Umstände, welche dieselbe herbeigeführt hatten, mitzutheilen.

Den Ehecontract bekam ich nicht zu sehen, schloß aber aus gewissen Anzeichen, daß Oscars vollkommene Uneigennützigkeit in Geldsachen von seinem künftigen Schwiegervater ausgebeutet worden sei. Der Ehrwürdige Finch hatte, wie mir erzählt wurde, bei der Durchlesung des Documents Thränen vergossen und Lucilla verließ das Studierzimmer ihres Vaters nach dort stattgehabter Unterhaltung in leidenschaftlicherer Entrüstung, als ich sie noch je bei ihr gesehen hatte.

»Fragen Sie mich nicht, was es giebt!« murmelte sie zwischen den Zähnen. »Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen.« Als Oscar etwas später zu ihr ins Zimmer trat, fiel sie — fiel sie thatsächlich vor ihm auf die Knie. Ihres ganzen Wesens hatte sich eine so leidenschaftliche Aufregung bemächtigt, daß sie im Augenblick nicht mehr wußte, was sie that. »Ich bete Dich an«, brach sie aus, indem sie seine Hand mit krampfhaften Küssen bedeckte; »Du bist der edelste Mensch auf der Welt. Ich kann nimmermehr Deiner würdig werden.« Die Erklärung dieser überschwenglichen Reden und Handlungen ließ sich nach meiner Ansicht kurz dahin zusammenfassen, daß Oscar’s Geld in die Tasche des Pfarrers fließen und die Tochter des Pfarrers als Mittel dienen sollte, diese Transactioan bewerkstelligen.

Die Zeit der Vorbereitungen zur Hochzeit verfloß; Woche auf Woche verging; Alles war längst für die Hochzeit bereit und doch fand die Hochzeit nicht statt. Weit entfernt, wie der Arzt es voraus gesagt hatte, mit Hilfe der Zeit wieder seinen früheren Gesundheitszustand zu erlangen, wurde Oscars Befinden fort während schlimmer. Alle dies Symptome nervöser Aufregung, welche ich bereits früher geschildert habe, traten, anstatt sich zu verlieren, immer stärker bei ihm hervor. Er wurde immer magerer und bleicher. Im Beginn des Monats November mußten wir wieder zum Arzt schicken. Die Frage, welche ihm dieses Mal vorgelegt werden sollte, ging auf Lucilla’s Wunsch da hin, ob nicht eine Luftveränderung angezeigt sei.

Ein Umstand, der mir entfallen ist, verzögerte die Ankunft des Arztes. Oscar hatte den Gedanken, den Arzt an diesem Tage zu sehen, bereits ganz aufgegeben und war zu uns ins Pfarrhaus gekommen, als der Doctor plötzlich an dem Pfarrhause vorüberfuhr. Man hielt ihn an, bevor er nach Browndown weiter fuhr und er hatte eine Besprechung mit seinem Patienten in Lucillas Wohnzimmer.

Lucilla, die mit mir in meinem Schlafzimmer wartete, wurde ungeduldig Sie bat mich, an die Thür des Wohnzimmers zu klopfen und zu fragen, ob sie etwa der Consultation beiwohnen dürfe. Ich fand den Doctor und seinen Patienten am Fenster stehend, in einer ruhigen Unterhaltung begriffen. Offenbar war nichts vorgekommen, was einen von Beiden im Mindesten hätte aufregen können. Oscar sah ein wenig bleich und angegriffen aus, war aber gleich seinem ärztlichen Rathgeber vollkommen ruhig.

»Im nächsten Zimmer«, sagte ich, »ist eine junge Dame, welche sehr begierig ist, das Ergebniß Ihrer Consultation zu erfahren.«

Der Doctor sah Oscar an und lächelte.

»Wir haben Fräulein Finch in der That nichts mitzutheilen«, sagte er. »Herr Dubourg und ich haben seinen Zustand wieder gründlich durchgesprochen und sind zu keinem neuen Ergebniß gelangt. Sein Nervensystem hat sich nicht so rasch wieder beruhigt, wie ich es erwartet hatte; das thut mir leid, beunruhigt mich aber nicht im Mindesten; bei seinem Alter kann man sicher auf eine völlige Wiederherstellung rechnen. Er muß Geduld haben und die junge Dame muß sich gleichfalls gedulden. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie etwas dagegen, daß Herr Dubourg eine Luftveränderung versucht?« fragte ich.

»Durchaus nichts. Er kann gehen, wohin er Lust hat und sich die Zeit vertreiben, wie es ihm gut scheint. Sie Alle nehmen Herrn Dubourgs Fall etwas zu ernst. Bis auf eine an und für sich gewiß unangenehme Verstimmung der Nerven fehlt ihm wirklich nichts. Es findet sich keine Spur eines organischen Leidens bei ihm. Der Puls fuhr der Doctor fort, indem er seinen Finger leicht an Oscar’s Handgelenk legte, »ist vollkommen befriedigend. In meinem Leben habe ich keinen ruhigeren Puls gefühlt.«

Während er das sagte, zeigte sich plötzlich auf Oscar’s Gesicht eine schreckliche Verzerrung der Muskeln.

Seine Augen waren widerlich nach oben gerichtet. Sein ganzer Körper verzog sich, wie wenn eine Riesenhand ihn gepackt hätte, vom Scheitel bis zur Zehe nach der rechten Seite hin. Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, lag er in Krämpfen am Boden zu den Füßen seines Arztes.

»Guter Gott, was ist das?« rief ich aus.

Der Doktor löste Oscar’s Cravatte und entfernte die MöbeL die sich in seiner Nähe befanden, betrachtete dann einen Augenblick den auf dem Fußboden in Zuckungen daliegenden und sich windenden Mann.

»Können Sie nichts thun?« fragte ich.

Er schüttelte ernst den Kopf. »Nichts.«

»Was ist es denn?«

»Ein epileptischer Zufall.«



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Siebzehntes Kapitel - Der Ausspruch des Arztes

Noch bevor wir ein weiteres Wort hatten wechseln können, betrat Lucilla das Zimmer. Wir sahen einander an. Hätten wir reden können, wir würden in jenem Augenblick, glaube ich, beide gesagt haben:

»Gott sei Dank, daß sie blind ist!«

»Habt Ihr mich Alle vergessen?« fragte sie. »Oscar, wo bist Du? Was sagt der Doctor?«

Sie trat näher heran und würde über den am Boden sich windenden Oscar gestolpert sein, wenn ich nicht meine Hand auf ihren Arm gelegt und sie zurück gehalten hätte.

Plötzlich ergriff sie meine Hand mit der ihrigen. »Sie zittern! Warum zittern Sie?« fragte sie. Ihr feiner Tastsinn ließ sich nicht täuschen; vergebens leugnete ich, daß irgend etwas vorgefallen sei, meine Hand hatte mich verrathen. »Hier ist etwas nicht in Ordnung!« rief sie aus; »Oscar hat mir nicht geantwortet.«

Der Doctor kam mir zu Hilfe

»Es ist durchaus nichts Beunruhigendes«, sagte er. »Herr Dubourg ist nicht ganz wohl.«

Sie wandte sich mit einem plötzlichen Zornesausbruch gegen den Doctor.

»Sie täuschen mich«, rief sie; »ihm ist ein ernster Unfall begegnet; sagen Sie mir die Wahrheit! O, es ist schmachvoll, es ist herzlos von Ihnen beiden, ein unglückliches blindes Geschöpf wie mich zu betrügen!«

Während der Dortor noch zauderte, sagte ich ihr die Wahrheit.

»Wo ist er?« fragte sie, indem sie mich an beiden Schultern packte und in ihrer leidenschaftlichen Aufregung schüttelte. Ich flehete sie an, ein wenig zu warten; ich versuchte es, sie zum Niedersetzen auf einen Stuhl zu bewegen; sie aber schob mich mit einer verächtlichen Geberde bei Seite und knieete mit vorgestreckten Händen auf den Fußboden nieder. »Ich werde ihn finden«, murmelte sie, »ich werde ihn Euch zum Trotz finden.« Sie fing an über den Fußboden hinzukriechen und mit den Händen vor sich herzutasten.

Es war ein schrecklicher Anblick. Ich ging ihr nach und richtete sie mit Gewalt wieder auf.

»Ringen Sie nicht mit ihr«, sagte der Doctor. »Lassen Sie sie nur herkommen. Er ist jetzt ruhig.«

Ich sah Oscar an; das Schlimmste war vorüber; er war erschöpft und ganz ruhig. Der Stimme des Doctors folgend, gelangte Lucilla an die Stelle, wo Oscar lag. Sie setzte sich neben Oscar auf den Boden und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Seine Berührung übte eine ähnliche Wirkung auf sie, wie sie ein Sehender, dem man längere Zeit die Augen verbunden hätte, in dem Augenblick empfinden würde, wo man ihm die Binde abnähme. Befreiung von angstvoller Ungewißheit durchströmte ihr ganzes Wesen, sie war wieder sie selbst, die sanfte Lucilla.

»Es thut mir leid, daß ich mich außer Fassung habe bringen lassen«, sagte sie mit der einfachen Natürlichkeit eines Kindes; »aber Sie wissen nicht, wie hart es ist, getäuscht zu werden, wenn man blind ist.« Bei diesen Worten beugte sie sich über Oscar hin und fuhr ihm mit ihrem Schnupftuch leicht über die Stirn. »Doctor«, fragte sie, »wird sich dieser Zufall wieder holen?«

»Das hoffe ich nicht «

»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?«

»Das kann ich nicht behaupten.«

»Was hat den Zufall herbeigeführt?«

»Ich fürchte per Schlag auf den Kopf.«

Sie fragte nichts weiter; der Ausdruck der Spannung auf ihrem Gesichte machte plötzlich der Ruhe des Nachdenkens Platz. Es schien etwas ihre Gedanken zu beschäftigen nach der letzten Antwort des Doctors, das sie ganz in sich versenkte.

Als Oscar wieder zu sich kam, überließ Lucilla es mir, seine ersten sehr natürlichen Fragen zu beantworten. Als er sich dann direct an sie wandte, antwortete sie ihm freundlich, aber kurz; es schien in jenem Augenblick etwas in ihr vorzugehen, was sie selbst vor ihm verschlossen machte. Als der Doctor vorschlug, Oscar nach Browndown zurückzubringen, bestand Lucilla nicht, wie ich vermuthet hatte, darauf, ihn zu begleiten. Sie nahm zärtlich von ihm Abschied, aber sie ließ ihn gehen. Während er, noch sehnsüchtig nach ihr zurückblickend, an der Thür zögerte, ging sie langsam nach dem entgegengesetzten Ende des Zimmers, ganz in ihre eigene dunkle Welt versenkt, in ihren Gedanken gegen ihn wie gegen uns abgeschlossen. Der Doctors versuchte es, sie aus ihrer Träumerei aufzurütteln.

»Sie dürfen die Sache nicht zu ernst nehmen«, sagte er, indem er an das Fenster, an welchem sie stand, herantrat und die Stimme so sinken ließ, daß Oscar ihn nicht hören konnte. Er hat Ihnen selbst gesagt, daß er sich jetzt wohler und leichter fühlt, als vor dem Zufall. Dieser hat ihm keinen Schaden gethan, sondern ihm nur Erleichterung gebracht. Es ist keine Gefahr, ich versichere Sie auf meine Ehre, Sie haben nichts zu fürchten.«

»Können Sie mich auf Ihre Ehre auch noch einer anderen Sache versichern?« fragte sie, indem sie jetzt auch ihrerseits die Stimme sinken ließ. »Können Sie mir aufrichtig versichern, daß diesem ersten Zufall nicht ähnliche folgen werden?«

Der Doctor parirte diese Frage.

»Ich will«, antwortete er, »ehe ich mich darüber entschieden ausspreche, mit einem anderen Arzte consultiren. Bei meinem nächsten Besuch werde ich einen Arzt aus Brighton mitbringen.«

Oscar der bis jetzt, von der Veränderung in Lucilla’s Wesen betroffen, gewartet hatte, öffnete die Thür; der Doctor folgte ihm und sie verließen uns.

Lucilla setzte sich an’s Fenster, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte ihre Stirn in ihre Hände. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Im bitterem Ton murmelte sie vor sich hin das eine Wort: »Lebewohl!« .

Ich näherte mich ihr, denn ich fand es für nothwendig, sie daran zu erinnern, daß ich im Zimmer sei.

»Wem rufen Sie ein Lebewohl zu?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte.

»Seinem und meinem Glück«, antwortete sie, ohne ihr Gesicht von ihren Händen zu erheben. »Jetzt kommen für Oscar und für mich die trüben Tage.«

»Warum denken Sie das? Sie haben doch gehört, was der Doctor gesagt hat.«

»Der Doetor weiß nicht, was ich weiß.«

»Was wissen Sie.«

Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann, indem sie plötzlich ihr Stillschweigen brach: »Glauben Sie an ein Verhängniß?«

»Ich glaube an nichts, was die Menschen ermuntert, an sich selbst zu verzweifeln«, erwiderte ich.

Sie fuhr fort, ohne aus meine Worte zu achten:

»Was hat den Zufall, der ihn vorhin hier überkam, veranlaßt? Der Schlag, der ihn aus den Kopf getroffen hat, und diesen Schlag erhielt er bei dem Versuch, das, was ihm und mir gehörte, zu vertheidigen. Womit war er an jenem Tage beschäftigt gewesen, als die Diebe in sein Haus eindrangen? Er hatte an dem Kasten gearbeitet; der für mich bestimmt war. Sehen Sie nicht, wie die Ereignisse sich zu einem Ringe verketten? Ich glaube, der Ansall wird bald zu noch anderen Ereignissen führen; es wird noch etwas Anderes kommen, sein und mein Leben zu trüben. Für uns wird es keinen Hochzeitstag geben. Die Hindernisse thürmen sich vor uns auf. Das nächste Unglück steht uns nahe bevor, Sie werden es erleben!« Bei diesen Worten fuhr sie schaudernd zusammen und setzte sich, von mir zurückweichend, kauernd in die Fensternische.

Es war nutzlos, mit ihr zu streiten und schlimmer als nutzlos, dazusitzen und sie zu ermuntern, noch weiter zu reden. Ich stand auf.

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»Es gebt eine Sache, an die ich fest glaube«, sagte ich heiter. »Ich glaube an die frische Luft in den Hügeln. Kommen Sie lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen!«

Sie drückte sich noch fester in ihre Ecke und schüttelte den Kopf .

»Lassen Sie mich«, brach sie ungeduldig aus, »lassen Sie mich allein!« Kaum hatte sie das gesagt, als sie es auch schon bereute; sie stand auf, umschlang meinen Hals mit ihren Armen und küßte mich. »Ich wollte nicht so unfreundlich reden«, sagte das sanfte zärtliche Mädchen, »Schwester, mein Herz ist schwer! Noch nie ist mein künftiges Leben meinen blinden Augen so dunkel erschienen wie jetzt.« Eine Thräne entrann diesen armen blinden Augen und fiel auf meine Wange. Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab. »Verzeihen Sie mir«, murmelte sie, »und lassen Sie mich gehen.« Noch ehe ich ihr antworten konnte, war sie fortgegangen, um sich in ihr Zimmer zu verschließen. Das liebliche Mädchen! Man konnte nur das tiefste Mitleid mit ihr haben, man mußte sie lieben!

Ich ging allein spazieren; sie hatte mich mit ihren abergläubischen Ahnungen einer trüben Zukunft nicht angesteckt, aber ein trauriges Wort hatte sie gesagt, welchem ich zustimmen mußte. Nach dem, was ich in ihrem Zimmer mit angesehen hatte, schien mir der Hochzeitstag in der That in eine weitere Ferne gerückt als je zuvor.



Kapiteltrenner

Achtzehntes Kapitel - Traurige Familienverhåltnisse

Keine fünf Tage waren vergangen, als sich schon Lucilla’s traurige Besorgnisse in Betreff Oscar’s bestätigten. Er hatte einen zweiten epileptischen Anfall.

Die versprochene Consultation mit dem Brightoner Arzte fand statt. Der neue Arzt machte uns wenig Hoffnung. Die rasche Aufeinanderfolge der beiden Anfälle war nach seiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Er gab allgemeine Verordnungen für Oscar’s Behandlung und überließ es seiner eigenen Entscheidung, ob er es mit einer Ortsveränderung versuchen wolle. Keine solche Veränderung, schien der Arzt zu meinen, würde einen unmittelbaren Einfluß auf die epileptische Disposition üben. Der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten würde sich in Folge dessen vielleicht heben, das sei aber auch Alles. Was die Heirath an langte, so erklärte er ohne Zaudern, daß wir daran fürs Erste nicht denken dürften.

Lucilla nahm den Bericht über das Ergebniß der ärztlichen Consultation mit einer versteckten Resignation auf, die mich tief betrübte. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als er seinen ersten Anfall hatte«, rief sie. »Unsere Sommerzeit ist vorüber, unser Winter ist gekommen.

Sie sagte das wie jemand, der einem kommenden Ereignisse hoffnungslos entgegensieht, der fest überzeugt ist, daß ihm ein Unglück bevorsteht. Erst als Oscar eintrat, ermannte sie sich. Er war höchst begreiflicher Weise in einer sehr gedrückten Stimmung; alle seine Aussichten waren ihm vorläufig zerstört. Lucilla that mit Erfolg ihr Bestes, ihn aufzuheitern; meinerseits versuchte ich es vergebens, ihn zu überreden, Browndown zu verlassen und sich an einem lustigeren Orte zu zerstreuen. Er hatte eine ängstliche Scheu vor neuen Gesichtern und neuen Umgebungen. In der Gesellschaft dieser beiden trübseligem schwerbedrückten jungen Menschen fing selbst die mir angeborene Heiterkeit zu schwinden an. Wenn wir alle drei inmitten einer Wildniß in die Tiefe eines ausgetrockneten Brunnens gerathen wären, wir hätten unsere Aussichten kaum mit größerer Muthlosigkeit ansehen können, als wir es jetzt thaten. Zum Glück waren Oscar wie Lucilla leidenschaftliche Freunde der Musik. Wir nahmen in jenen Tagen des Unglück Zuflucht zum Clavier als unsern besten Trost. Lucilla und ich spielten abwechselnd und Oscar hörte uns zu; wir musicirten viel, waren aber übrigens einsilbig und verstimmt.

Der Ehrwürdige Finch fand sich mit seinem Antheil an unseren jetzigen Prüfungen durch möglichst laute Reden ab. Wer den kleinen Pfarrer in jenen Tagen hörte, hätte glauben sollen, niemand empfinde unser häusliches Unglück so schmerzlich wie er. Es war der Mühe werth, ihn am Tage der ärztlichen Consultation zu sehen, wie er in dem Wohnzimmer seiner Frau auf- und abstolzirte und seine, aus seiner Frau und mir bestehende Zuhörerschaft haranguirte. Frau Finch saß in der einen Ecke im Unterrock und Shawl mit dem Baby und Roman und ich in der andern Ecke, um einer an mich gerichteten Anfrage gemäß mit dem Pfarrer zu berathen, mit andern Worten, um es mit, anzuhören, wie Herr Finch erklärte, daß er derjenige sei, welchen die über unserm Hause hängende Wolke des Unglücks am tiefsten überschatte.

»Ich verzweifle, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich verzweifle daran, Ihnen einen Begriff davon zu geben, wie tief mich dieser traurige Zustand der Dinge ergreift. Sie sind sehr gut gegen uns gewesen; Sie haben uns die Theilnahme einer wahren Freundin bewiesen. Aber Sie können sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, wie schwer dieser Schlag mich betroffen hat. Ich bin zerschmettert, Madame Pratolungo.« Das sagte er in meiner Erke zu mir; dann wandte er sich an seine Frau in ihrer Ecke und wiederholte: »Liebe Frau, ich bin zerschmettert. Es giebt keinen anderen Ausdruck, um meinen Zustand erschöpfend zu bezeichnen — zerschmettert.« Dann stellte er sich in die Mitte der Stube und sah abwechselnd mich und seine Frau erwartungsvoll an. Sein Gesicht und sein ganzes Benehmen sagten deutlich: »Wenn diese beiden Frauen jetzt in Ohnmacht fallen, so werde ich das, nach dem was ich ihnen eben mitgetheilt habe, nur sehr angemessen und natürlich finden.« Ich wartete ab, was die Frau vom Hause thun würde; Frau Finch aber sank nicht mit dem Baby und dem Roman ohnmächtig zu Boden. Dadurch ermuthigt, erlaubte auch ich mir, ruhig sitzen zu bleiben. Ich machte ein möglichst klägliches Gesicht; Frau Finch blickte ehrfurchtsvoll zu ihrem Gatten auf, als ob sie ihn für dass edelste Wesen halte und hielt schweigend das Schnupftuch vor die Augen. Das befriedigte Herrn Finch und er fuhr fort: »Meine Gesundheit hat gelitten, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, meine Gesundheit hat gelitten. Seit diesem traurigen Vorfall ist meine Verdauung gestört, das Gleichgewicht meiner Kräfte geschwunden, die Regelmäßigkeit meiner Functionen gebrochen. Ich bin lediglich in Folge dieser traurigen Angelegenheit von Anfällen eines krank haften Appetits geplagt. Ich muß zu ganz ungewöhnlichen Zeiten meine Mahlzeiten nehmen; mein Frühstück mitten in der Nacht, Mittagessen um vier Uhr Morgens; ich muß auch jetzt etwas zu mir nehmen.« Herr Finch hielt entsetzt über diese Entdeckung plötzlich inne und versank mit finster zusammengezogenen Brauen, indem er die Hand krampfhaft gegen die unteren Knöpfe seiner verschossenen Weste preßte, in tiefes Nachdenken Frau Finchs wasserblaue Augen blickten mit einem feucht melancholischen Ausdruck ehrlicher Trauer zu mir hinüber. Der Pfarrer schien plötzlich durch die Berathung mit seinem Magen erleuchtet zu sein, stolzirte auf die Thür zu, riß sie weit auf und rief mit einer Donnerstimme die Treppe hinab: »Koche mir ein weiches Ei!« Er ging wieder in die Mitte des Zimmers, hielt mit einem scharf auf mich gerichteten strengen Blick eine zweite Berathung mit seinem Magen, stolzirte in wüthender Eile wieder nach der Thür und brüllte eine Contreordre die Küchentreppe hinab: »Kein Ei! Gieb mir einen geräucherten Häring!«

Er kam zum zweiten Male ins Zimmer zurück; dieses Mal schloß er die Augen und legte die Hand wie zerstreut aus den Kopf. Wieder wandte er sich abwechselnd an Frau Finch und an mich. »Sieh doch selbst, Frau, sehen Sie nur, Madame Pratolongo, in welchem Zustande ich mich befinde. Es ist wahrhaft bejammernswerth; bei den geringfügigsten Dingen kann ich zu keinem Entschlusse kommen. Erst glaubte ich, ich müsse ein weiches Ei essen, dann meinte ich, mir würde ein geräucherter Häring gut thun und jetzt weiß ich gar nicht mehr was ich will, auf mein Ehrenwort als Geistlicher und Gentleman, ich weiß nicht, was ich will. Ein krankhafter Appetit während des ganzen; Tages, eine krankhafte Schlaflosigkeit während der ganzen Nacht. Welcher Zustand! Ich habe keine Ruhe, ich störe meine Frau Nachts, ich störe Dich Nachts, Frau. Wie viele Male muß ich mich, seit dieses Unglück uns betroffen hat, im Bett umherwälzen, bevor ich einschlafe? Acht Mal? Bist Du Deiner Sache gewiß? Uebertreibe nicht! Bist Du gewiß, daß Du die Male gezählt hast? Ach, Du gute Seele! Ich kann mich nicht erinnern, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so totale Erschütterung meines ganzen Organismus er fahren zu haben wie jetzt. In einem annähernd ähnlichen Zustande befand ich mich vor einigen Jahren bei der fünft letzten Entbindung meiner Frau. War es nicht bei Deiner fünft letzten Entbindung, Frau, oder war es bei Deiner sechst letzten? Deiner fünft letzten? Bist Du Deiner Sache gewiß? Leitest Du nicht unsere Freundin irre? Du hast Recht, Du gute Seele! Damals hatte mein Zustand seinen Grund in pecuniären Verlegenheiten, Madame Pratolungo. Diese pecuniären Verlegenheiten überwand ich damals. Wie soll ich aber mein jetziges Mißgeschick überwinden? Mein Plan für Oscar und Lucilla war vollkommen fertig. Die künftige Gestaltung meiner Verhältnisse zu meinen verheiratheten Kindern lag schon in der angenehmsten Klarheit vor mir; ich sah meine eigene Zukunft, ich sah die Zukunft meiner Familie vor mir. Und was sehe ich jetzt? Alles wie mit einem Schlage vernichtet. Unerforschliche Vorsehung!« Er hielt inne und erhob Augen und Hände fromm zur Zimmerdecke.

Die Köchin erschien mit dem geräucherten Häring.

»Unerforschliche Vorsehung«, wiederholte Herr Finch in einem etwas leisern Tone. »Iß den Häring, ehe er kalt wird, lieber Mann«, sagte Frau Finch.

Der Pfarrer hielt wieder inne. Seine ruhelose Zunge trieb ihn, mit seinen Reden fortzufahren; sein undisciplinirter Magen verlangte nach dem Häring. Die Köchin nahm den Deckel von der Schüssel. Herrn Finchs Nase schlug sich sofort auf die Seite seines Magens. Er ließ es bei der »unerforschlichen Vorsehung« bewenden und« schüttete Pfeffer auf seinen Häring.

Nachdem ich so berichtet habe, wie der Pfarrer angesichts des Unglücks, welches die Familie betroffen hatte, sprach, habe ich mein Bild nur noch durch die Angabe dessen, was der Pfarrer demnächst that, zu vervollständigen. Er borgte zweihundert Pfund von Oscar und hörte alsbald auf, sich mitten am Tage geräucherte Häringe zu bestellen und Frau Finch Nachts im Schlafe zu stören.

Die trüben Herbsttage gingen zu Ende und die langen Winterabende nahmen ihren Anfang. Unsere Aussichten für die Zukunft gestalteten sich keineswegs freundlicher. Vergebens boten die Aerzte alles auf, einen Zustand der Besserung Oscar’s herbeizuführen. Die schrecklichen Zufälle wiederholten sich wieder und wieder. Die Tage vergingen und unser trübes Leben nahm seinen einförmigen Fortgang. Ich war geneigt, mit Lucilla anzunehmen, daß irgend eine Krisis nahe hervorstehen müsse. »So kann es nicht fortgehen«, pflegte ich bei mir zu denken, namentlich wenn ich sehr hungrig war. »Bevor das Jahr zu Ende geht, muß sich etwas ereignen.«

Der Monat December kam und es ereignete sich endlich etwas. Mit den traurigen Verhältnissen in der Familie des Pfarrers trafen gleich traurige Verhältnisse in meiner eigenen Familie zusammen. Ich erhielt einen Brief von einer meiner jüngeren Schwestern aus Paris. Derselbe enthielt beunruhigende Nachrichten über eine mir sehr thenre Person, deren ich bereits im Beginn dieser Erzählung gedacht habe, über meinen lieben Papa. War der ehrwürdige Urheber meiner Tage gefährlich krank? Ach nein! Das nicht gerade, aber ihn hatte das nächst einer tödtlichen Krankheit Schlimmste betroffen; er war sterblich verliebt in ein übelberufenes junges Frauenzimmer und das in einem Alter von fünfundsiebzig Jahren! Was soll ich von meinem alten Vater sagen; er ist eine urkräftige Natur. Papa hat ein jugendfrisches, nie alterndes Herz.

Ich bedaure, den Leser mit meinen Familienangelegenheiten behelligen zu müssen; aber dieselben verknüpfen sich, wie man sehen wird, allmählig auf das Engste mit den Angelegenheiten Oscar’s und Lucillais. Ich sehe mich unglücklicher Weise dazu verurtheilt, diese Geschichte nicht erzählen zu können, ohne früher oder später die einzige, freilich liebenswürdige Schwäche des heitersten, angenehmsten und bestconservirten Mannes seiner Zeit zu berühren.

Ach, ich muß jetzt auf Eierschalen gehen, das weiß ich wohl! Das englische Gespenst mit Namen »Schicklichkeit« schleicht sich auf meinem Schreibtisch an mich heran und flüstert mir wüthend ins Ohr: »Madame Pratolungo, wenn Sie die Wangen der Unschuld erröthen machen, so ist es von dem Augenblick an mit Ihnen und Ihrer Geschichte vorbei.« O, ihr leicht entzündlichen Wangen der Unschuld, übet dieses eine Mal Nachsicht und ich will versuchen, ob ich die Sache nicht erzählen kann, ohne bei Euch Anstoß zu erregen! Darf ich den guten Papa als einen Priester im Tempel der Venus, welcher unaufhörlich Weihrauch auf dem Altar der Liebe verbrennt, bezeichnen? Nein, »Tempel der Venus« ist heidnisch und »Altar der Liebe« ist kein schicklicher Ausdruck; sehen wir daher von diesen Bezeichnungen ab. Nur soviel will ich von meinem ewig jungen Vater sagen, daß sein Leben von Jugend auf eine einzige ununterbrochen Huldigung der Reize des schwächeren Geschlechts gewesen war und daß meine Schwestern und ich, die wir ja selbst diesem Geschlechte angehörten, es nicht über uns gewinnen konnten, ihn deshalb zu verlassen. Er war ein so schöner, herzlicher, liebenswürdiger Mann, der nur einen Fehler hatte, und dieser eine Fehler war ein Compliment für die Frauen, welche ihn natürlich wieder anbetetent! Wir fanden uns in unser Schicksal vier Jahre nach dem Tode unserer Mutter gewöhnten wir uns darin, in fortwährender Furcht von der Möglichkeit zu leben, daß er eine von den hunderten gewissenloser Dirnen, die sich seiner bemächtigt hatten, heirathen und, was noch schlimmer gewesen wäre, sich wegen dieser Weiber mit Männern duelliren möchte, die seine Enkel hätten sein können. Papa war so empfindlich und so tapfer! Unendlich oft war an mich als die Tochter, welche den stärksten Einfluß auf ihn übte, die Aufforderung ergangen, mich ins Mittel zu legen, und ebenso oft war es mir gelungen, ihn auf die eine oder auf die andere Weise aus den Banden, in die er sich hatte schlagen lassen, zu erlösen; immer aber hatte die Sache auf dieselbe traurige Weise mit einer Entschädigung durch Geld geendigt, wobei ich über das betreffende Frauenzimmer, das schamlos genug war, eine Schädigung einzugestehen, mein Verdict dahin abgebe: »Es geschieht ihr recht!«

Der vorliegende Fall war eine Wiederholung aller früheren Fälle. Meine Schwestern hatten vergebens Alles aufgebotem der Sache Einhalt zu thun; mir blieb nichts übrig, als mich selbst auf den Schauplatz zu begeben, um meine Thätigkeit vielleicht damit zu beginnen, daß ich das betreffende Frauenzimmer mit Ohrfeigen tractirte, jedenfalls aber damit zu endigen, daß ich dem Weibe die Taschen füllte.

Meine Entfernung in diesem Augenblicke war für meine blinde Lucilla mehr als eine Verdrießlichkeit, sie verursachte ihr wahren Kummer. Am Morgen meiner Abreise umschlang sie mich mit einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit, als ob sie entschlossen sei, mich nicht von sich zu lassen.

»Was soll ich ohne Sie anfangen?« sagte sie, »es ist hart für mich, in diesen traurigen Tagen den Trost threr Stimme entbehren zu sollen. Ich werde mich jedes Haltes beraubt fühlen, wenn Sie nicht mehr bei mir sind. Wie lange werden Sie fortbleiben?«

»Ich brauche einen Tag zur Reise nach Paris«, antwortete ich, »einen Tag zur Rückreise, macht zwei, fünf Tage, wenn es in dieser Zeit möglich ist, die Dirne niederzuschmettern und Papa zu erlösen, macht sieben Tage. Sagen wir also, wenn es irgend möglich ist, nicht länger als eine Woche.«

»Sie müssen, gleichviel was geschehen möge, vor Neujahr zurück sein.« »Und warum?«

»Ich muß meinen jährlichen Besuch bei meiner Tante machen. Ich habe ihn zweimal aufgeschoben und muß daher durchaus vor Jahresschluß nach London gehen, um dort meine vorgeschriebenen drei Monate in Fräulein Batchford’s Hause zu verlieben. Ich hatte gehofft, vor Jahresschluß Oscar’s Frau zu sein«, sie hielt einen Augenblick inne, um die Festigkeit ihrer Stimme wie der zu gewinnen. »Das ist jetzt Alles vorbei, wir müssen uns trennen. Wenn ich aber Sie nicht hier lassen kann, um ihn während meiner Abwesenheit zu trösten und für ihn zu sorgen, so bleibe ich, mag daraus entstehen was da will, in Dimchurch.«

Wenn sie zur festgesetzten Zeit in Dimchurch blieb, ohne verheirathet zu sein, so bedeutete das in Gemäßheit der testamentarischen Bestimmungen ihres Onkels soviel wie den Verlust ihres Vermögens. Wenn der Ehrwürdige Finch sie gehört hätte, so würde er nicht einmal haben ausrufen können: »Unerforschliche Vorsehung«, er würde vor Schreck auf der Stelle das Bewußtsein verloren haben.

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»Fiirchten Sie nichts,« Lucilla«, antwortete ich, »ich werde vor der für Ihre Abreise festgesetzten Zeit wieder hier sein. Ueberdies geht es mit Oscar bis dahin vielleicht besser; er wird vielleicht im Stande sein, Ihnen nach London zu folgen und Sie bei Ihrer Tante zu besuchen.«

Sie schüttelte den Kopf mit einem so tief traurigen Ausdruck des Zweifels, daß ich mich der Thränen nicht erwehren konnte. Ich küßte sie zum letzten Male und eilte davon.

Mein Weg führte mich zuerst nach Newhaven und dann über den Kanal nach Dieppe. Ich hatte, glaube ich, selbst nicht gewußt, wie theuer mir Lucilla geworden war, bis ich bei der ersten Wendung des Weges nach Brigthon das Pfarrhaus aus dem Gesichte verlor. Meine angeborene Festigkeit verließ mich. Mich marterte eine böse Ahnung, daß sich während meiner Abwesenheit ein großes Unglück ereignen werde. Ich er staunte über mich selber, mich, die Wittwe des Spartaners Pratolungo, als ich wie eine gewöhnliche Frau in Thränen ausbrach! Früher oder später müssen wir empfindsamen Seelen das Vorrecht der Liebe Alle mit einem Herzeleid bezahlen. Gleichviel, Herzeleid oder nicht, man muß, so lange man in dieser Welt ist, etwas lieben. Ich liebte Lucilla. Vor Lucilla liebte ich meinen Pratolungo; vor Pratolungo — nun ich denke, man wird es mir erlassen, noch weiter zurückzugehen.



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Neunzehntes Kapitel - Fernere Folgen des Raubanfalls

Ueber das, was während meines Pariser Aufenthalts vorging, kann ich mich sehr kurz fassen.

Unter den vielerlei Einzelheiten, die sich in meiner Erinnerung an die Befreiung meines guten Papa knüpfen, brauche ich nur bei einer einzigen länger zu verweilen.

Mit Papa sah die Sache diesmal sehr schlimm aus. Der ehrwürdige Liebhaber war so weit gegangen, Alles aufzubieten, um sich wieder zu verjüngen, hatte sich neue Zähne, eine neue Perrücke, einen neuen Teint und eine neue Gestalt, das Letztere vermittelst des Ankaufs einer neuen Schnürbrust angeschafft. Ich muß gestehen, daß ich ihn kaum erkannte, so fabelhaft und unnatürlich jung sah er aus. Vergebens bot ich Alles auf, meinen früheren Einfluß auf ihn geltend zu machen. Er umarmte mich mit der rührendsten Zärtlichkeit; er gab den edelsten Gefühlen gegen mich Ausdruck; aber in Betreff seiner beabsichtigten Heirath war er unerschütterlich. Das Leben erschien ihm nur unter einer Bedingung erträglich. Die Geliebte oder der Tod — so lautete das Losungswort dieses alten Vulcans.

Was die Sache noch hoffnungsloser erscheinen ließ, war der Umstand, daß die Geliebte frech genug war, sofort ihre Trumpfkarte auszuspielen.

Ich will gegen die Person gerecht sein: Sie verschanzte sich in einer durchaus unangreifbaren Position; sie autorisirte uns, die Partie, wenn wir könnten, rückgängig zu machen. »Ich verweise Sie an Ihren Vater; ich bitte Sie, sich es gesagt sein zu lassen, daß ich ihn nicht zu heirathen wünsche, wenn seine Töchter dagegen etwas einzuwenden haben. Er braucht nur zu sagen: »Entbinde mich meines Worts«, und er soll auf der Stelle frei sein.« Gegen ein solches Vertheidigungssystem war nichts zu machen, wir wußten so gut wie sie, daß unser bethörter Vater das entscheidende Wort nicht sprechen würde. Unsere einzige Chance war, keine Kosten zu scheuen, um Nachforschungen über das frühere Leben dieser Dame anzustellen und so unwiderlegliche Beweise gegen sie vorzubringen, daß selbst die thörichte Verblendung eines Greises dieselben nicht für Lügen werde erklären konnte.

Wir gaben Geld aus, wir stellten Nachforschungen an, wir schafften uns die nöthigen Beweise. Damit vergingen vierzehn Tage, nach Verlauf welcher Zeit wir das nöthige Material in Händen hatten, um unserem guten Papa die Augen zu öffnen. Im Laufe dieser Untersuchung kam ich mit vielen sonderbaren Leuten in Berührung, unter Anderen mit einem Manne, der mich bei seinem ersten Anblick durch etwas er schreckte, das mir bei aller meiner Erfahrung noch nie vorgekommen war. Die Gesichtsfarbe des Mannes war nämlich keine der gewöhnlichen Nuancen menschlicher Hautfarbe, sondern bot den widerlichen, ich möchte fast sagen, teuflischen Anblick eines fahlen Schwarzblau. Der Mann erwies sich als ein höchst freundlicher, intelligenter und dienstfertiger Mensch; als ich aber zum ersten Male seiner ansichtig wurde, erschrak ich dermaßen über seine furchtbare Gesichtsfarbe, daß ich einen Schrei des Entsetzens nicht unter drücken konnte. Er nahm nicht nur meine unabsichtliche Rücksichtslosigkeit in der nachsichtigsten Weise auf, sondern erklärte mir, wie er zu dieser sonderbaren Gesichtsfarbe gekommen sei; so daß ich ganz à mon aise mit ihm wurde, noch bevor ich auf die delicate Untersuchung, welche uns zusammengeführt hatte, näher einging.

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie auf meine Entstellung nicht habe vorbereiten lassen, bevor ich ins Zimmer trat«, sagte der unglückliche Mensch. »Es giebt in allen Ländern der Erde Menschen von einer der meinigen ähnlichen Gesichtsfarbe, und ich vermuthete daher, daß Sie in Ihrem Leben schon ähnlichen Individuen begegnet wären. Die blaue Farbe meiner Haut ist die Wirkung innerlich genommenen Höllensteins. Höllenstein ist nämlich die einzige Medicin, durch welche Menschen von einem sonst unheilbaren Leiden befreit werden können. Wer mit diesem Leiden behaftet ist, hat nur die Wahl, es zu behalten oder sich die schrecklichen Folgen dieser Kur gefallen zu lassen.«

Er sagte mir nicht, worin sein Leiden bestanden habe, und ich mochte ihn, wie ich wohl kaum zu bemerken brauche, nicht weiter darnach fragen. Ich gewöhnte mich bei längerem Verkehr mit ihm an seine Entstellung und würde meinen blauen Mann ohne Zweifel über andere Dinge, welche mein Interesse in höherem Grade in Anspruch nahmen, vergessen haben, wäre nicht meine Aufmerksamkeit unerwarteter Weise auf die Wirkungen des Höllensteins als Medizin bei einer späteren Gelegenheit und unter für mich sehr überraschenden Umständen wieder gelenkt worden. Nachdem ich Papa vom Rande des vielleicht zwanzigsten Abgrundes, an welchem er in seinem Leben gestanden, gerettet hatte, mußte ich noch einige Tage bleiben, um ihn mit der Bitterkeit einer ihm wider seinen Willen zu Theil gewordenen Befreiung auszusöhnen. Wer es nicht mit angesehen hat, würde es nicht glauben, wie er litt; er knirschte mit seinen kostspieligen Zähnen, er riß sich seine vortrefflich gemachten Haare aus; er würde in seiner leidenschaftlichen Aufregung ohne Zweifel auch seine Schnürbrust gesprengt haben, wenn ich ihm dieselbe nicht fortgenommen und zum halben Preise wieder verkauft und so wenigstens neben den großen Verlusten einen kleinen Profit aus unserer Calamität erzielt hätte. Was man auch beginne, in dieser elenden Welt dreht sich Alles um Geld, einerlei, ob man für die Freiheit des Volkes sterbe oder ob man seinen Papa aus den Schlingen der Liebe befreie. Giebt es keine Abhilfe dagegen? Laßt mich Euch ein Wort ins Ohr flüstern: »Wartet nur bis zur nächsten Revolution!«

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In der Zeit meiner Abwesenheit hatte ich natürlich mit Lucilla correspondirt. Ihre Briefe waren sehr traurig und sehr kurz und schilderten den Zustand der Dinge in Dimchurch als sehr betrübend. Die schrecklichen epileptischen Zufälle hatten sich bei Oscar in immer kürzeren Zwischenräumen und mit immer größerer Heftigkeit wiederholt. Sobald ich wieder an meine Rückreise nach England denken konnte, schrieb ich an Lucilla, um sie durch die Aussicht auf meine Rückkehr aufzuheitern. Zwei Tage vor meiner Abreise von Paris erhielt ich noch einen Brief von ihr. Ich war schwach genug, mich fast vor der Eröffnung des Briefes zu ängstigen. Der Umstand, daß sie mir in einem Augenblicke schrieb, wo sie wußte, daß wir uns so bald wiedersehen würden, berechtigte mich zu der Vermuthung, daß sie mir etwas sehr Bedeutsames; mitzutheilen haben würde. Eine böse Ahnung sagte mir, daß der Brief die schlimmsten Nachrichten enthalten werde; ich mußte all’ meinen Muth zusammennehmen, den Brief zu erbrechen. O, was für Thoren sind wir doch! Auf einen Fall, wo sich unsere Ahnungen als begründet erweisen, kommen hundert Fälle, in denen sie uns irre geleitet haben. Statt mich zu betrüben, entzückte mich der Brief. Unsere traurigen Aussichten fingen endlich an, sich aufzuhellen; Lucilla schrieb in ihren großen kindischen Lettern: »Theuerste Freundin und Schwester, ich kann mit der Mittheilung einer guten Nachricht nicht warten, bis wir uns wiedersehen. Wir haben den Brightoner Arzt abgeschafft und statt dessen einen Londoner Arzt angenommen. Wenn man gescheute Leute braucht, muß man sich nach London wenden; der neue Arzt hatte Oscar kaum gesehen und einen Augenblick nachgedacht, als er auch schon mit sich im Reinen war; er hat eine eigene Art, Oscar’s Fall zu behandeln und garantiert uns seine Heilung von den schrecklichen Zufällen. Da haben Sie meine Neuigkeit! Kommen Sie wieder und lassen Sie uns vor Freude tanzen! Wie unrecht hatte ich, an unserer Zukunft zu zweifeln Nie, nie will ich wieder zwei feln. Dies ist der längste Brief, den ich je geschrieben habe. Ihre Sie liebende Lucilla.«

Diesem Briefe folgte ein von Oscar’s Hand geschriebenes Postscriptum: Dasselbe lautete:

»Lucilla hat Ihnen gesagt, daß ich endlich wieder etwas Hoffnung schöpfen darf; von den was ich hier schreibe, weiß Lucilla nichts; es ist nur für Sie allein bestimmt. Benutzen Sie die erste sich darbietende Gelegenheit, mich in Browndown aufzusuchen, ohne daß Lucilla etwas davon erfährt. Ich habe Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten, mein Glück hängt davon ab, daß sie mir dieselbe gewähren. Sie sollen erfahren, um was es sich handelt, wenn wir uns sehen Oscar.«

Dieses Postscriptum intriguirte mich; sein Inhalt stimmte nicht mit dem unbedingten Vertrauen, welches Oscar« soweit ich es hatte beobachten können, in Lucilla zu setzen pflegte. Es widersprach allen meinen Erfahrungen von Oscar’s Charakter, nach welchen ich ihn als das Gegentheil eines zurückhaltenden, versteckten Menschen kennen gelernt hatte. Die Verheimlichung seines Namens bei seiner ersten Begegnung mit uns war lediglich durch seinen Abscheu davor, als der Held des Criminalprocesses erkannt zu werden, veranlaßt worden. In allen gewöhnlichen Lebensverhältnissen war er von seinem durchaus offenen und fast zu rückhaltslosen Wesen. Daß er ein Geheimniß vor Lucilla haben konnte, welches er mir anvertrauen wollte, war mir völlig unbegreiflich. Meine Neugierde wurde dadurch auf’s Höchste gereizt, und mein Verlangen, nach England zurückzukehren, nur noch gesteigert.

Ich machte es möglich, meine Arrangements so zu treffen, daß ich meinem Vater und meinen Schwestern am Abend des dreiundzwanzigsten December Lebewohl sagen konnte. In der Frühe des vierundzwanzigsten verließ ich Paris und traf noch zeitig genug in Dimchurch ein, um den Festlichkeiten des Wethnachtsabends noch theilweise beiwohnen zu können. Es war ein Uhr vorüber, als mir Lucilla endlich erlaubte, mich von meiner Reise im Bette auszuruhen. Jetzt war sie wieder das muntere leichtherzige Geschöpf unserer glücklichen Tage und sie hatte mir so viel zu erzählen, daß selbst ihr Vater mit seinem Redefluß nicht durchgedrungen sein würde. Am nächsten Morgen hatte sie aber für die zu große Aufregung des Abends zu büßen; als ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie von nervösen Kopfschmerzen geplagt und unfähig, zur gewöhnlichen Zeit aufzustehen. Sie proponirte mir aus freien Stücken, allein nach Browndown zu gehen, um Oscar nach meiner Rückkehr zu begrüßen. Ich lasse mir selbst nur die einfachste Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich sage, daß ich mich durch diese Aufforderung Lucilla’s sehr erleichtert fühlte. Hätte sie sehen können, so würde ich mein Gewissen überhaupt nicht beschwert gefühlt haben, aber ich empfand eine tiefe Scheu davor, mein armes blindes Mädchen auch nur in der geringsten Kleinigkeit zu täuschen.

So ging ich denn mit Lucilla's Willen und allein zu Oscar. Ich fand ihn reizbar und aufgeregt und in der Stimmung, bei der geringsten Veranlassung in einen seiner leidenschaftlichen Paroxismen zu verfallen. Lucilla’s Geliebter zeigte in seinem Wesen nicht die leiseste Spur von Heiterkeit, die sich bei ihr wieder eingestellt hatte.

»Hat sie Ihnen irgend etwas über den neuen Doctor gesagt?« das waren die ersten Worte, die er an mich richtete.

»Sie hat mir gesagt, daß sie das vollste Vertrauen in ihn hat«, antwortete ich. »Sie ist fest überzeugt, daß er das Versprechen, Sie zu heilen, halten wird.«

»War sie gar nicht neugierig«l zu erfahren, wie er mich heilen will?«

»Nicht im aller mindesten. Es genügt ihr, daß Sie geheilt werden. Das Uebrige überläßt sie dem Doctor.«

Diese Antwort schien ihn zu erleichtern; er seufzte und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Das ist schön«, sagte er vor sich hin, »das freut mich.«

»Ist die Behandlungsweise des Doctors ein Geheimniß?« fragte ich.

»Sie muß für Lucilla ein Geheimniß bleiben«, sagte er sehr ernst. »Wenn sie versuchen sollte, sich darüber zu unterrichten, so muß sie wenigstens für jetzt auf jede Weise daran verhindert werden. Niemand hat Einfluß über sie außer Ihnen. Ich rechne auf Ihre Unterstützung.«

»Ist das die Gefälligkeit, um die Sie mich bitten wollten?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir das Geheimniß der ärztlichen Behandlung anvertrauen?«

»Gewiß, wie kann ich erwarten, daß Sie mir helfen werden, wenn Sie nichts wissen wie triftige Gründe dafür vorhanden sind, Lueilla im Dunkel zu lassen.«

Er betonte die beiden Worte »triftige Gründe« sehr scharf. Ich sing an, mich etwas unbehaglich zu fühlen. Ich hatte mir Lucilla's Blindheit noch nie, auch bei der geringfügigsten Veranlassung, zu Nutze gemacht. Und jetzt stand mir der Verlobte Lucilla's mit dem Verlangen gegenüber, sie über etwas im Dunkeln zu lassen.

»Ist die Behandlung des neuen Doctors gefährlich?« fragte ich.

»Durchaus nicht.«

»Ist sie denn nicht so sicher, wie er Lucilla glauben gemacht hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Wußten die anderen Aerzte nichts von dieser Behandlung?«

»Allerdings.«

»Warum wandten sie denn dieselbe nicht an?«

»Weil sie sich scheuten.«

»Scheuten? Worin besteht denn die Behandlung?«

»In dem Einnehmen von Medicin.«

»Verschiedener Medicinen oder einer?«

»Einer.«

»Wie heißt denn die Medicin?«

»Höllenstein.«

Ich sprang auf, sah Oscar an und sank auf meinen Stuhl zurück. Ich erinnerte mich sofort des Eindrucks, den die Erscheinung des blauen Mannes zuerst auf mich hervorgebracht hatte. Man wird sich erinnern, daß dieser, als er mir die Wirkung der Medizin er klärte, das Leiden, gegen welches er dieselbe gebraucht, nicht genannt hatte. Es war Oscar vorbehalten geblieben, mich durch seinen eigenen Fall darüber aufzuklären. Ich war so entsetzt, daß ich sprachlos dasaß. Bei Oscars feinem Gefühl hatte ich nicht nöthig, mich deutlich zu erklären; mein Gesicht sagte ihm, was in mir vorging.

»Sie haben schon einmal jemand gesehen, der, Höllenstein genommen hat?« rief er aus.

»Haben Sie schon einmal einen solchen Menschen gesehen?« fragte ich.

»Ich kenne den Preis, um den ich geheilt werden kann«, erwiderte er ruhig.

Seine Ruhe machte mich stutzig. »Wie lange nehmen Sie schon diese schreckliche Medizin?« fragte ich

»Seit etwas länger als einer Woche «

»Ich bemerke noch keine Veränderung an Ihnen.«

»Der Doctor sagt mir, es werden noch viele Wochen vergehen, ehe sich die geringste Veränderung bemerklich macht.«

Bei diesen Worten schöpfte ich einen Augenblick Hoffnung. »Sie können sich also noch anders besinnen«, sagte ich. »Um des Himmels willen, überlegen Sie sich die Sache noch einmal, ehe es zu spät ist!«

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. »So schwach auch mein Charakter sonst sein mag«, antwortete er, »dieses Mal steht mein Entschluß fest.«

Ich als Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, Oscars schönen Teint verdorben zu sehen.

»Sind Sie bei Sinnen?« platzte ich heraus. »Wollen Sie mich wirklich glauben machen, daß Sie sich wohlüberlegter Weise entschlossen haben, sich für jeden, dem Sie unter die Augen treten, zu einem Gegenstande des Entsetzen zu machen?«.

»Die einzige Person, an deren Meinung mir etwas liegt«, erwiderte er, »wird mich nie sehen.«

Endlich begriff ich ihn; das war also die Erwägung, die ihn mit diesem Heilmittel ausgesöhnt hatte. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß mir bei der Wendung, die unsere Unterhaltung jetzt nahm, Lucilla’s Abscheu vor Leuten mit dunkler Hautfarbe und dunklen Farben jeder Art wieder einfiel. Hatte sie sich auch gegen ihn zu diesem Abscheu bekannt, wie sie es gegen mich gethan hatte? Nein! Ich erinnerte mich, daß sie mich ausdrücklich gebeten hatte, ihm von dieser Abneigung nichts mitzutheilen. Im Anfang seiner Bekanntschaft mit ihm hatte sie ihn gefragt, wem von seinen Eltern er am ähnlichsten wäre. Das veranlaßte ihn, ihr zu erzählen, daß sein Vater von dunkler Hautfarbe gewesen sei; sofort hatte Lucilla sich in ihrer Delicatesse das gesagt sein lassen. »Er spricht mit großer Zärtlichkeit von seinem verstorbenen Vater«, sagte sie zu mir, »es möchte ihn verletzen, wenn er von der Antipathie erführe, die ich gegen dunkle Menschen habe. Lassen Sie uns nicht vor ihm davon reden.« Wie die Sachen jetzt standen, hatte ich auf der Zunge, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß Lucilla durch Andere von seiner Entstellung hören würde, und ihn vor den Folgen einer solchen Mittheilung zu warnen. Bei näherer Erwägung schien es mir jedoch gerathener, damit noch ein wenig zu warten und ihn zuvor über seine Motive zu sondiren.

»Ehe Sie mir sagen, in welcher Weise ich Ihnen helfen soll«, sagte ich, »muß ich noch eins von Ihnen erfahren. Haben Sie Ihren Entschluß in dieser ernsten Angelegenheit ganz allein gefaßt? Haben Sie sich bei niemand Raths erholt?«

»Ich brauche keinen Rath«, antwortete er scharf. »Mein Fall läßt mir keine Wahl. Selbst ein so nervöser und unentschlossener Mensch wie ich, kann in solchem Falle nicht zaudern.«

»Haben die Aerzte gesagt, daß Ihnen keine Wahl blieb?« fragte ich.

»Die Aerzte scheuten sich, mir dies zu sagen; ich mußte sie zu dem Bekenntniß zwingen. Ich sagte: »Ich mache es Ihnen zu einer Ehrenpflicht, mir auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben. Habe ich irgend eine sichere Aussicht, von meinen Zufällen geheilt zu werden.« Daran antworteten sie mir: »Bei, Ihrer Jugend glauben wir darauf hoffen zu dürfen.« Ich drang weiter in sie. »Können Sie einen Zeitpunkt bestimmen, bis zu welchem ich sicher darauf rechnen kann, von meinem Leiden befreit zu sein?« Das vermochte keiner von ihnen. Alles was sie sagen konnten, war: »Unsere Erfahrung berechtigt uns zu der Annahme, daß Sie geheilt werden, aber nicht dazu, irgend einen Zeitpunkt Ihrer Heilung vorauszubestimmen.« »So kann es also Jahre dauern, bevor ich davon befreit werde?« Sie versuchten der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Dabei beruhigte ich mich aber nicht, sondern sagte: »Sagen Sie mir gerade heraus, muß man auf eine solche Möglichkeit in meinem Falle gefaßt sein?« Der Arzt von Dimchurch sah den Londoner Arzt an und dieser sagte: »Wenn Sie es durch aus zu wissen verlangen, man muß allerdings auf eine solche Möglichkeit gefaßt sein.« Und nun vergegenwärtigen Sie sich die Aussicht, welche mir diese Antwort eröffnete Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat fortwährend in Gefahr zu sein, jeden Augenblick in Krämpfen zu Boden zu fallen. Ist das nicht ein elendes Leben?«

Was konnte ich ihm antworten? Was konnte ich sagen?

Er fuhr fort:

»Und dazu nehmen Sie noch, daß ich verlobt bin; kein Mann ist wohl je bitterer enttäuscht worden als ich. Mein Lebensglück winkt mir ganz nahe und ich darf es nicht genießen. Nicht nur meine Gesundheit ist erschüttert, sondern auch meine Aussichten für das Leben sind zerstört. Das Mädchen, das ich liebe, ist mir versagt, so lange ich mit meinem jetzigen Leiden behaftet bin. Vergegenwärtigen Sie sich das und dann stellen Sie sich vor, daß ein Mann an diesem Tische mit Papier, Feder und Tinte vor Ihnen sitzt, der nur ein paar Worte zu kritzeln braucht, damit Sie Ihre Kur sofort beginnen können. Wenn Sie in wenigen Monaten von den schrecklichen Zufällen befreit und mit dem Mädchen, das Sie lieben, verheirathet sein könnten und wenn der einzige Preis, den Sie für das Vertauschen dieser himmlischen Zukunft mit einer höllischen Gegenwart zu bezahlen hätten, darin bestände, daß Sie sich für den Rest des Lebens eine Entstellung des Gesichts gefallen lassen müßten, welche die Ihnen theuerste Person niemals sehen würde, würden Sie zaudern? Ich frage Sie, würden Sie an meiner Stelle in dem Augenblick, wo der Doctor die Feder zur Hand nahm, das Reeept zu schreiben, gesagt haben: Nein?«

Ich schwieg noch immer. Mein Eigensinn, Frauen sind ja nun einmal halsstarrig, sträubte sich dagegen, es zuzugeben, selbst als mein Gewissen mir sagte, er habe Recht.

Er sprang in derselben fieberhaften Erregung auf, mit der er mir, wie ich mich nur zu gut erinnerte damals in Browndown gesagt hatte, wer er wirklich sei .

»Würden Sie nein gesagt haben?« wiederholte er, indem er sich mit hochrothem erhitztem Gesicht über mich beugte, wie er sich bei jener ersten Gelegenheit über mich gebeugt hatte, als er mir seinen Namen ins Ohr flüsterte »Würden Sie«, wiederholte er lauter und lauter, »würden Sie nein gesagt haben?«

Bei der dritten Wiederholung dieser Worte fingen seine Gesichtszüge an, sich in der schrecklichem mir so wohlbekannten Weise zu verzerren. Die rechte Seite des Körpers verzog sich krampfhaft; er fiel zu Boden. Guter Gott! Wer hätte einem so sehr zu seinem Gunsten redenden Argumente gegenüber erklären mögen, daß er Unrecht habe? Wer würde nicht bereitwillig zugegeben haben, daß jede Entstellung durch welche sich die Befreiung von einem solchen Zustande erkaufen ließe, willkommen sein müßte!

Der Diener kam hereingestürzt und half mir die Möbel in eine sichere Entfernung von dem Unglückichen rücken. »Das wird bald ein Ende haben, Madame«, sagte der Mann, als er meine Aufregung bemerkte, um mich zu beruhigen. »In ein bis zwei Monaten, sagt der Doctor, werde die Medizin ihre Wirkung thun.« Ich konnte kein Wort sagen, ich konnte mir nur bittere Vorwürfe darüber machen, daß ich ihn durch meinen Widerspruch aufgeregt und so vielleicht den abscheulichen Zufall, der ihn nun zum zweiten Male in meiner Gegenwart ergriff, herbeigeführt habe.

Der Anfall dauerte dieses Mal nur kurze Zeit. Hatte die Arznei vielleicht schon angefangen ihre Wirkung zu thun? Nach Verlauf von zwanzig Minuten war er im Stande, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen und weiter mit mir zu reden.

»Sie meinen, Sie würden sich über meinen Anblick entsetzen, wenn ich ein blaues Gesicht hätte«, sagte er mit einem matten Lächeln, »und entsetzen Sie sich nicht über meinen Anblick, wenn ich in Krämpfen vor Ihnen auf dem Boden liege?«

Ich bat ihn flehentlich, nicht mehr davon zu reden.

»Gott weiß es«, sagte ich, »Sie haben meine Verstocktheit überwunden. Lassen Sie uns versuchen, jetzt nur an Ihre Aussicht auf vollständige Heilung zu denken, Was wünschen Sie, daß ich thun soll?«

»Sie haben sehr viel Einfluß aus Lucilla«, sagte er. »Wenn sie künftig in der Unterhaltung mit Ihnen ein Verlangen äußern sollte, etwas Näheres über die Wirkung der Medizin zu erfahren, gehen Sie nicht darauf ein; lassen Sie sie nicht mehr davon erfahren, als sie jetzt weiß.«

»Und warum das?«

»Warum! Wenn sie weiß, was sie wissen, so wird sie auch entsetzt sein wie Sie. Sie wird dann sofort zu mir kommen und wird es, wie Sie es getan haben versuchen mich zu überreden die Kur aufzugeben.«

Es war unmöglich, der Richtigkeit dieser Annahme zu widersprechen.

»Ich liebe sie so sehr«, fuhr er fort, »daß ich ihr nichts versagen kann. Sie würde mich schließlich überreden, die Sache aufzugeben. Kaum aber hätte sie mich verlassen würde ich meine Schwäche bereuen und die Kur wieder anfangen. Daraus würde für mich, dessen Kräfte schon so erschöpft sind, ein fortwährender Kampf entstehen. Halten Sie es nun, nach dem was Sie eben gesehen haben, für wünschenswerth, daß ich mich dem aussetze?«

Es wäre eine nutzlose Grausamkeit gewesen, ihm dazu zu rathen und ich konnte nichts thun, als ihn in seinem Entschluß befestigen. Zugleich aber flehte ich ihn an, eins nicht zu vergessen.

»Wir dürfen nicht hoffen«, sagte ich, »sie über Ihre Veränderung, sobald dieselbe eingetroffen sein wird, lange zu täuschen; früher oder später würde ihr doch jemand das Geheimniß verrathen.«

»Ich wünsche auch nur, daß ihr meine Entstellung, so lange sie noch im Werden ist, verborgen bleibe«, antwortete er. »Sobald die Sache unabänderlich ist, werde ich es ihr selbst mittheilen. Sie ist so glücklich in ihrer Hoffnung auf meine Wiederherstellung, welchen Nutzen kann es haben sie zum Voraus über den Preis aufzuklären den ich für meine Befreiung zu zahlen habe. Meine häßliche Hautfarbe wird meinen armen Engel nicht erschrecken. Was die anderen Leute betrifft, so werde ich mich ihnen nicht aufdrängen. Es ist mein innigster Wunsch, ganz einsam zu leben. Die wenigen Menschen in meiner Umgebung werden sich bald mit meinem Gesicht ausgesöhnt haben. Lucilla wird ihnen mit ihrem Beispiele vorangehen. Sie wird sich nicht lange über eine Veränderung meines Aeußeren quälen, die sie weder mit dem Gefühl noch mit dem Auge wahrnehmen kann.«

Hätte ich ihn hier über Lucilla’s eingewurzeltes Vorurtheil und über die Schwierigkeit aufklären sollen, die es vielleicht haben würde, sie mit dem Gedanken an sein verändertes Aussehen auszusöhnen? Allerdings hätte ich es wohl gesollt. Ich war gewiß zu tadeln daß ich davor zurückschreckte, einem Manne, der schon so viel gelitten hatte, neue Sorgen und neuen Kummer zu bereiten. Die einfache Wahrheit ist, daß ich es nicht vermochte. Würdet Ihr es an meiner Stelle gethan haben? Wenn Ihr diese Frage mit »Ja« beantworten könnt, so hoffe ich zu Gott, daß ich nie etwas mit Euch zu thun haben werde.

Unsere Zusammenkunft endete damit, daß ich Oscar verließ, nachdem ich ihm mein Wort geben hatte, Lucilla nichts von dem Preise wissen zu lassen, um welchen Oscar sich entschlossen hatte, seine Heilung zu erkaufen.



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