Ein tiefes Geheimnis
Erstes Kapitel
Man nähert sich dem Abgrunde
Es war am 9. Mai gewesen, als Mr. und Mistreß Frankland auf ihrer Reise von London nach Porthgenna an der Station West Winston Halt gemacht hatten. Am 11. Juni verließen sie diesen Ort wieder, um ihre Reise nach Cornwall weiter fortzusetzen. Am 12. langten sie, nachdem sie unterwegs ein Nachtquartier gemacht, gegen Abend in Porthgenna Tower an.
Es hatte den ganzen Morgen gestürmt und geregnet. Im Laufe des Nachmittags war es ruhiger geworden, und als die Reisenden endlich das Schloß erreichten, hatte der Wind sich vollständig gelegt. Ein dichter, weißer Nebel entzog aber das Meer den Blicken und plötzliche Regenschauer fielen noch von Zeit zu Zeit.
Nicht einmal ein einsamer Müßiggänger aus dem Dorfe trieb sich an der westlichen Terrasse herum, als der Wagen mit dem jungen Ehepaar, dem Kinde und zwei Dienern an dem Hause vorfuhr.
Niemand wartete an der offenen Tür, um die Reisenden zu empfangen, denn alle Hoffnung, daß sie diesen Tag ankommen würden, war aufgegeben worden und das unaufhörliche Donnern der Brandung an der Küste übertäubte das Rollen der Wagenräder auf der nach der Terrasse führenden Straße.
Der Kutscher mußte von seinem Sitze heruntersteigen und die Türglocke ziehen. Es verging über eine Minute, ehe geöffnet ward.
Der Regen plätscherte eintönig und ununterbrochen auf das Dach des Wagens, die rauhe Feuchtigkeit der Atmosphäre drang durch alle Umhüllungen und Fugen, das Dröhnen der Brandung erklang in der dichten Dunkelheit des Nebels drohend nahe, und so warteten die jungen Eheleute auf den Einlaß in ihre eigene Heimat wie zu ungelegener Zeit kommende Fremdlinge.
Als das Tor endlich geöffnet ward, wurden Herr und Herrin, welche die Dienstleute bei jeder andern Gelegenheit mit geeigneten Glückwünschen bewillkommnet haben würden, jetzt dagegen mit den geeigneten Entschuldigungen empfangen. Mr. Munder, Mistreß Pentreath, Betsey und Mr. Franklands Lakai drängten sich alle in die Halle herbei und baten verlegen um Verzeihung, daß sie nicht an der Tür bereit gestanden, als der Wagen vorgefahren.
Das Erscheinen des Kleinen verwandelte die abgedroschenen Entschuldigungen der Haushälterin und der Magd in ebenso abgedroschene Ausdrücke der Bewunderung; die Männer aber blieben ernst und düster und sprachen von dem erbärmlichen Wetter in einem Tone, als ob sie daran schuld wären.
Der Grund, weshalb sie so hartnäckig bei diesem einen unerfreulichen Thema verweilten, trat zu Tage, als Mr. Frankland und seine junge Gattin die westliche Treppe hinauf geführt wurden. Der Sturm am Morgen war unheilvoll für drei der im Dorfe Porthgenna wohnenden Fischer gewesen. Alle drei waren mit ihren Booten verunglückt und ihr Tod hatte das ganze Dorf in Trauer versetzt.
Die Dienstleute des Schlosses hatten, seitdem sie zu einer frühen Stunde des Nachmittags Kunde von diesem Unglücksfall erhalten, nichts getan als davon gesprochen, und Mr. Munder hielt es nun für seine Pflicht, zu erklären, daß die Abwesenheit der Dorfbewohner bei Gelegenheit der Ankunft ihrer Gutsherrschaft ihren Grund einzig und allein in der traurigen Wirkung habe, welche durch den Untergang des Fischerboots auf die kleine Gemeinde hervorgebracht worden sei. Unter weniger beklagenswerten Umständen hätte die westliche Terrasse sicherlich von Menschen gewimmelt und das Erscheinen des Wagens wäre mit lautem Freudenrufe bewillkommnet worden.
„Lenny, ich wünsche fast, daß wir noch ein wenig länger gewartet und uns jetzt noch nicht hierher begeben hätten“, flüsterte Rosamunde, indem sie sich ängstlich an den Arm ihres Gatten klammerte. „Es ist sehr schauerlich und entmutigend, an einem solchen Tage wie dieser in meine erste Heimat zurückkehren zu müssen. Die Geschichte von den armen Fischern ist eine traurige und kein freudiger Willkommen für mich an dem Orte meiner Geburt. Wir wollen gleich morgen früh hinschicken und sehen, was wir für die armen, hilflosen Frauen und Kinder tun können. Ich werde mich, nachdem ich diese Geschichte gehört, nicht eher wieder in meinem Gemüt ruhig fühlen, als bis wir etwas zum Troste dieser armen Leute getan haben.“
„Mit den Reparaturen werden Sie hoffentlich zufrieden sein“, sagte die Haushälterin, indem sie auf die nach der zweiten Etage führende Treppe zeigte.
„Mit den Reparaturen?“ wiederholte Rosamunde zerstreut. „Mit den Reparaturen! Ich höre dieses Wort jetzt nie, ohne an die nördlichen Zimmer und an die Pläne zu denken, die wir entworfen hatten, um meinen armen guten Vater zu bewegen, darin zu wohnen. Mistreß Pentreath, ich habe an Euch und Mr. Munder eine Menge Fragen in Bezug auf die außerordentlichen Dinge zu tun, die sich hier ereignet haben, als jene geheimnisvolle Frau und jener rätselhafte Ausländer hier gewesen sind, um das Haus in Augenschein zu nehmen. Aber erst sagt mir – dies hier ist die westliche Front – wie weit sind wir hier von den nördlichen Zimmern entfernt? Ich meine, wieviel Zeit würden wir brauchen, wenn wir jetzt nach diesem Teile des Hauses gehen wollten?“
„O, nicht fünf Minuten, Madame“ antwortete Mistreß Pentreath.
„Nicht fünf Minuten!“ wiederholte Rosamunde, wieder ihremGatten zuflüsternd. „Hörst du das, Lenny? In fünf Minuten könnten wir in dem Myrtenzimmer sein.“
„Und dennoch“, sagte Mr. Frankland lächelnd, „dennoch sind wir bei der Unwissenheit, in der wir uns gegenwärtig befinden, davon noch ebenso weit entfernt, als wenn wir noch in West Winston wären.“
„Das glaube ich nicht, Lenny. Es ist vielleicht bloß Einbildung von mir, aber jetzt, wo wir an Ort und Stelle sind, ist es mir, als hätten wir das Geheimnis bis in sein letztes Versteck getrieben. Wir sind nun wirklich in dem Hause, welches dieses Geheimnis in sich schließt, und ich lasse mir es nicht ausreden, daß wir auch schon halb auf dem Wege sind, es ausfindig zu machen. Doch wir wollen nicht auf diesem kalten Vorplatz stehen bleiben. Wohin haben wir jetzt zu gehen?“
„Hierhin, Madame“, sagte Mr. Munder, indem er die erste Gelegenheit benutzte, um sich vorzudrängen und bemerkbar zu machen. „Das Besuchzimmer ist geheizt. Wollen Sie mir die Ehre gestatten, Sir, Sie nach dem fraglichen Zimmer zu leiten und zu führen?“ setzte er hinzu, indem er Mr. Frankland dienstfertig die Hand entgegenstreckte.
„Nein, durchaus nicht!“ mischte Rosamunde sich sofort ein. Mit ihrer gewohnten scharfen Beobachtungsgabe hatte sie bemerkt, daß es Mr. Munder an dem Zartgefühl fehlte, welches ihn hätte abhalten sollen, seinen blinden Herrn in ihrer Gegenwart neugierig anzugaffen, und sie ward deshalb sehr zu seinen Ungunsten eingenommen. „Wo auch das fragliche Zimmer liegen mag“, fuhr sie mit satyrischem Nachdruck fort, „so werde ich Mr. Frankland dorthin führen, wenn Ihr mir es erlaubt. Wenn Ihr Euch nützlich machen wollt, so geht lieber voran und öffnet die Tür.“
Äußerlich demütig, in seinem Innern aber entrüstet, ging Mr. Munder nach dem Besuchzimmer voran. Das Feuer brannte hell, das altmodische Zimmergerät nahm sich sehr malerisch und vorteilhaft aus, die Tapeten an den Wänden sahen behaglich und warm und der Teppich, so verschossen er auch war, fühlte sich doch unter den Füßen weich und warm an.
Rosamunde führte ihren Gatten an einen Lehnstuhl am Kamin und begann sich nun zum ersten Male heimisch zu fühlen.
„Hier sieht es wirklich recht behaglich aus“, sagte sie. „Wenn wir diese schauerlichen weißen Nebel nicht mehr sehen, wenn die Lichter angezündet sind und der Tee auf dem Tische steht, werden wir uns über nichts mehr in der Welt zu beklagen haben. Diese warme Atmosphäre ist dir angenehm, Lenny, nicht wahr? Es steht ein Piano hier im Zimmer; da kann ich dir also des Abends in Porthgenna vorspielen, gerade so wie ich in London zu tun pflegte. – Wärterin, setzt Euch nieder und macht es Euch mit dem Kleinen so bequem als Ihr könnt. Ehe wir unsere Hüte absetzen, muß ich mit Mistreß Pentreath fortgehen und nach dem Schlafzimmer sehen. Wie heißt du, mein Mädchen, mit dem gutmütigen, rotbäckigen Gesicht? – Betsey? Wohlan denn, Betsey, gehe jetzt hinunter und hole den Tee und wenn du uns auch etwas kaltes Fleisch mit heraufbringen kannst, so soll es uns um so lieber sein.“
Nachdem Rosamunde in diesen gutgelaunten Ausdrücken ihre Befehle erteilt, ohne darauf zu achten, daß ihr Gatte eine etwas unbehagliche Miene machte, daß sie so vertraulich zu einer Dienerin sprach, verließ sie in Mistreß Pentreaths Begleitung das Zimmer.
Als sie zurückkam, war ihr Gesicht und ihr Wesen verändert. Sie sah und sprach ernst und ruhig:
„Ich hoffe, ich habe alles so angeordnet, wie es am besten ist, Lenny“, sagte sie. „Das luftigste und größte Zimmer ist, wie Mistreß Pentreath mir sagt, das, in welchem meine Mutter gestorben ist. Ich glaubte aber, wir täten wohl, von deisem keinen Gebrauch zu machen; es war mir, als äußerte schon sein Anblick eine erkältende und traurig stimmende Wirkung auf mich. Weiterhin auf dem Korridor befindet sich das Zimmer, welches meine Kinderstube war. Als Mistreß Pentreath mir sagte, sie habe gehört, daß ich darin geschlafen, war es mir fast, als besönne ich mich auf den hübschen kleinen Türbogen, der in das zweite Zimmer führte – in die Nachtkinderstube, wie man sie früher nannte. Ich habe befohlen, hier einzuheizen und die Betten zu machen. Es ist auch noch ein Zimmer rechter Hand da, welches mit der Tagkinderstube zusammenhängt. Ich glaube, in diesen drei Zimmern könnten wir uns sehr bequem und behaglich einrichten – wenn du nämlich nichts dagegen zu erinnern hast – obschon sie weder groß, noch so elegant eingerichtet sind wie die Fremdenzimmer. Wenn du es wünschest, kann ich die Sache auch anders arrangieren. Das Haus sieht auf den ersten Blick etwas einsam und öde aus – mein Herz zieht mich zu der alten Kinderstube hin und ich glaube, wir könnten es wenigstens zum Anfange dort versuchen, Lenny?“
Mr. Frankland war ganz der Meinung wie seine junge Gattin und bereit, allen häuslichen Arrangements, die sie angemessen fände, beizutreten.
Während er ihr dies versicherte, ward der Tee gebracht und der Anblick desselben half Rosamunden ihre gewohnte Heiterkeit wiedergewinnen.
Als der Tee getrunken war, beschäftigte sie sich damit, daß sie ihrem Kleinen ein bequemes Unterkommen für die Nacht in dem Zimmer rechter Hand bereitete, welches mit der Tagkinderstube zusammenhing.
Nachdem sie diese mütterliche Pflicht erfüllt, kam sie zu ihrem Gatten in das Besuchszimmer zurück und die Unterhaltung zwischen ihnen drehte sich, wie jetzt, wenn sie allein waren, fast stets der Fall war – um die beiden rätselhaften Themata – Mistreß Jazeph und das Myrtenzimmer.
„Ich wollte, es wäre nicht schon Nacht“, sagte Rosamunde. „Ich möchte mit meinen Nachforschungen lieber sofort beginnen. Vergiß nicht, Lenny, daß du mich auf denselben begleiten mußt. Ich leihe dir meine Augen und du gibst mir deinen Rat. Du darfst nicht die Geduld verlieren und mir niemals sagen, daß du mir von keinem Nutzen sein könntest. Du wirst sowohl meinen Mut aufrecht erhalten, asl mir auch mit deinen Ratschlägen zur Seite stehen. Wie wünschte ich, daß wir unsere Entdeckungsreise noch diesen Augenblick antreten könnten! Jedenfalls aber können wir Erkundigungen einziehen“, fuhr sie fort, indem sie die Klingel zog. „Wir wollen die Haushälterin und den Kastellan heraufkommen lassen und versuchen, ob wir ihnen nicht etwas mehr abfragen können als sie uns in ihrem Briefe mitgeteilt haben.“
Betsey erschien auf den Ruf der Klingel. Rosamunde trug ihr auf, Mr. Munder und Mistreß Pentreath heraufzuschicken. Betsey, welche Mistreß Frankland die Absicht ausdrücken hörte, die Haushälterin und den Kastellan zu befragen, erriet, warum diese beiden Personen jetzt verlangt wurden, und lächelte geheimnisvoll.
„Hast du vielleicht auch etwas von jenen seltsamen fremden Leuten gesehen, die sich so sonderbar hier benommen haben?“ fragte Rosamunde, das Lächeln bemerkend. „Ganz gewiß ist es so. Sage uns, was du sahst. Wir wünschen, alles zu hören, was geschehen ist – alles, bis auf die geringste Kleinigkeit.“
In dieser direkten Weise aufgefordert, bemühte Betsey sich mit vielen Umschweifen zu erzählen, was sie von dem Tun und Treiben der rätselhaften Frau und ihres ausländischen Begleiters selbst mit angesehen und gehört hatte. Als sie fertig war und dann gehen wollte, hielt Rosamunde sie mit der Frage zurück:
„Du sagst, die Frau sei ohnmächtig oben an der Treppe liegend gefunden worden. Weißt du vielleicht, Betsey, weshalb sie ohnmächtig geworden war?“
Die Magd zögerte.
„Na“, sagte Rosamunde, „du weißt etwas davon, ich sehe es dir an. Sag es uns.“
„Ich fürchte, Sie werden mir böse sein, Madame“, sagte Betsey, indem sie ihre Verlegenheit dadurch ausdrückte, daß sie mit ihrem Zeigefinger langsam Linien auf einem neben ihr stehenden Tisch zog.
„Durchaus nicht; ich werde dir bloß bös sein, wenn du nicht sprichst. Also weshalb glaubst du, daß die fremde Frau ohnmächtig geworden war?“
Betsey zog mit ihrem verlegenen Zeigefinger eine sehr lange Linie, wischte sie dann mit ihrer Schürze wieder weg und antwortete:
„Ich glaube, sie ward ohnmächtig, weil sie das Gespenst gesehen hatte.“
„Das Gespenst! Was! Ist ein Gespenst hier im Hause? Lenny, da werden wir eine romantische Geschichte zu hören bekommen, die wir nicht erwartet hätten! Was für ein Gespenst ist es denn? Erzähle uns die ganze Geschichte!“
Die ganze Geschichte, wie Betsey dieselbe erzählte, war nicht geeignet, ihren Zuhörern außerordentliche Aufschlüsse zu gewähren, oder sie lange in Ungewißheit zu erhalten. Das Gespenst war eine Dame, die vor langer Zeit die Gattin eines der Besitzer von Porthgenna Tower gewesen und sich eines Betrugs gegen ihren Gatten schuldig gemacht hatte. Deshalb war sie verdammt worden, in den nördlichen Zimmern umherzugehen, so lange die Mauern derselben zusammenhielten. Sie hatte langes, gekräuseltes, hellbraunes Haar, sehr weiße Zähne, und ein Grübchen in jeder Wange und war mit einem Worte ganz „fürchterlich schön“ anzusehen. Ihre Annäherung ward jedem Sterblichen, der so unglücklich war, ihr in den Weg zu kommen, durch das Wehen eines kalten Windes verkündet und niemand, der jemals diesen Wind gefühlt, hatte Aussicht, wieder warm zu werden.
Dies war alles, was Betsey von dem Gespenst wußte, und es war nach ihrer Meinung genug, um schon bei dem Gedanken daran das Blut eines jeden Menschen in den Adern erstarren zu machen.
Rosamunde lächelte, dann machte sie wieder ein ernstes Gesicht.
„Ich wollte, du hättest uns noch etwas mehr erzählen können“, sagte sie. „Da du dies aber nicht kannst, so müssen wir es zunächst mit Mistreß Pentreath und Mr. Munder versuchen. Schicke die beiden daher herauf, Betsey, sobald du hinunterkommst.“
Das Verhör der Haushälterin und des Kastellans führte durchaus zu keinem Resultat. Es war aus ihnen weiter nichts herauszubekommen, als was sie schon in ihrem Briefe an Mistreß Frankland mitgeteilt hatten.
Mr. Munders vorherrschende Idee war, daß der Ausländer das Schloß Porthgenna mit verbrecherischen Absichten auf das silberne Tafelgeschirr betreten habe.
Mistreß Pentreath stimmte dieser Meinung bei und erwähnte in Verbindung damit ihre eigene persönliche Vermutung, daß die Frau in der dunkeln saubern Kleidung eine kurz vorher aus einem Irrenhause entsprungene Unglückliche sei.
Was einen guten Rat oder den Vorschlag eines Weges zur Lösung des Geheimnisses betraf, so schien weder die Haushälterin noch der Kastellan zu glauben, daß die Leistung eines Beistandes dieser Art überhaupt in ihr Departement gehöre. Sie hatten ihre eigene praktische Ansicht von der Handlungsweise der beiden Fremden, und keine menschliche Macht konnte sie vermögen, einen Zoll darüber hinauszublicken.
„O, die Dummheit, die unüberwindliche, anmaßende Dummheit dieser beiden Menschen“, rief Rosamunde, als sie mit ihrem Gatten wieder allein war. „Von diesen ist keine Hilfe zu erwarten. Wir haben nun auf nichts zu hoffen als auf die Untersuchung des Hauses morgen, und diese Hoffnung kann uns ebenso täuschen wie alle übrigen. Wie muß es mit Doktor Chennery stehen? Warum hörten wir nicht von ihm, ehe wir gestern West Winston verließen?“
„Geduld, Rosamunde, Geduld! Wir werden sehen, was die Post morgen bringt.“
„Ach, spricht nicht von Geduld! Mein Vorrat an dieser Tugend war niemals ein sehr bedeutender und ist seit wenigstens zehn Tagen schon völlig erschöpft. O, wie viele Wochen habe ich mir vergebens diese eine Frage vorgelegt: Warum warnte Mistreß Jazeph mich, in das Myrtenzimmer zu gehen? Fürchtet sie, daß ich ein Verbrechen entdecken oder daß ich durch den Fußboden brechen werde? Was wollte sie in dem Zimmer tun, als sie hineinzugelangen versuchte? Warum ins Himmels Namen weiß sie etwas von diesem Hause, was ich niemals wußte und was mein Vater ebenso wenig wußte als jemand anders?“
„Rosamunde“, rief Mr. Frankland, indem er plötzlich die Farbe wechselte und in seinem Stuhle zusammenfuhr. „Ich glaube, ich kann erraten, wer Mistreß Jazeph ist.“
„Mein Gott, Lenny, was meinst du?“
„Etwas in diesen deinen letzten Worten brachte mich auf den Gedanken in dem Augenblick, wo du sprachst. Weißt du noch, als wir im Seebad waren und miteinander darüber sprachen, ob es uns wohl möglich sein würde, deinen Vater zu bewegen, hier bei uns zu wohnen, weißt du noch, Rosamunde, daß du mir damals von gewissen unangenehmen Erinnerungen erzähltest, welche dieses Haus für ihn hätte und daß du unter diesen auch das geheimnisvolle Verschwinden einer Dienerin am Morgen des Todes deiner Mutter erwähntest?“
Rosamunde ward bleich bei dieser Frage.
„Wie kommt es, daß wir nicht schon früher daran gedacht haben?“ sagte sie.
„Du erzähltest mir“, fuhr Mr. Frankland fort, „diese Dienerin habe einen seltsamen Brief zurückgelassen, in welchem sie gestanden, daß deine Mutter ihr zur Pflicht gemacht, deinem Vater ein Geheimnis mitzuteilen – ein Geheimnis, welches sie sich scheute zu offenbaren und wegen dessen sie ausgefragt zu werden fürchtete. Habe ich Recht oder nicht, wenn ich diese zwei Gründe als diejenigen nenne, die sie für ihr Verschwinden angab?“
„Du hast vollkommen recht.“
„Und dein Vater hörte niemals wieder von ihr?“
„Nein, niemals.“
„Es ist ein kühner Schluß, den ich ziehe, Rosamunde, aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß an dem Tage, wo Mistreß Jazeph in West Winston in dein Zimmer kam, diese Frau keine andere war als jene Dienerin, und daß sie das auch wußte.“
„Und das Geheimnis, Lenny – das Geheimnis, welches sie sich scheute meinem Vater mitzuteilen?“
„Muß in irgendeiner Weise mit dem Myrtenzimmer zusammenhängen.“
Rosamunde gab keine Antwort. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und begann in großer Aufregung im Zimmer auf- und abzugehen. Als Leonard das Rascheln ihres Kleides hörte, rief er sie zu sich, ergriff sie bei der Hand, legte einen Finger an ihren Puls und dann einen Augenblick lang an ihre Wangen.
„Ich wollte, ich hätte bis morgen gewartet, ehe ich die meine Gedanken über Mistreß Jazeph mitgeteilt“, sagte er. „Ich habe dich ohne allen Zweck aufgeregt und dir die Aussicht auf eine gute Nachtruhe verdorben.“
„Nein, nein, durchaus nicht. O, Lenny, wie erhöht diese deine Vermutung das Interesse, das furchtbare, atemlose Interesse, welches wir daran haben, die Spur dieser Frau zu verfolgen und das Myrtenzimmer ausfindig zu machen. Denkst du –“
„Für heute abend bin ich mit dem Denken fertig, liebes Kind, und du mußt auch damit fertig sein. Wir haben über Mistreß Jazeph schon mehr als genug gesprochen. Gib ein anderes Thema an, und ich will mit dir sprechen, wovon du wünschest.“
„Es ist nicht so leicht, ein anderes Thema anzugeben“, sagte Rosamunde schmollend und indem sie sich von ihrem Gatten entfernte, um wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Dann laß uns den Ort wechseln und auf diese Weise uns die Aufgabe erleichtern. Ich glaube, du kennst mich als den hartnäckigsten Menschen von der Welt, aber es liegt Vernunft in meiner Hartnäckigkeit, und du wirst das zugeben, wenn du morgen, durch eine gute Nachruhe erfrischt, erwachst. Komm, wir wollen unserer Unruhe Ferien geben. Führe mich in eines der andern Zimmer und laß mich versuchen, ob ich durch Berührung der Möbel erraten kann, was es für eins ist.“
Die Hindeutung auf Leonards Blindheit, welche seine letzten Worte enthielten, führte Rosamunden sofort an seine Seite.
„Du weißt doch stets, was das beste ist“, sagte sie, indem sie ihren Arm um seinen Hals schlang und ihn küßte. „Ich sah vor einer Minute unfreundlich aus, Geliebter, aber die Woken sind nun alle wieder entschwunden. Wir wollen den Schauplatz wechseln und, wie du vorschlägst, ein anderes Zimmer explorieren.“
Sie schwieg. Ihre Augen funkelten plötzlich, ihre Wangen erröteten dunkler und sie lächelte bei sich selbst, als ob plötzlich eine neue Idee in ihr erwacht wäre.
„Lenny, ich will dich wohin führen, wo du wirklich ein ganz besonders merkwürdiges Möbel berühren sollst“, hob sie wieder an, indem sie ihn, während sie sprach, nach der Tür führte. „Wir wollen sehen, ob du mir sagen kannst, was es ist. Du darfst aber nicht ungeduldig sein, sondern mußt mir versprechen, nichts eher anzurühren, als bis du fühlst, daß ich deine Hand führe.“
Sie zog ihn hinter sich her den Korridor entlang, öffnete die Tür des Zimmers, in welchem der Kleine zu Bett gebracht worden, gab der Wärterin einen Wink, sich still zu verhalten, führte Leonard bis an die Wiege und dann sanft seine Hand so, daß die Spitzen seiner Finger die Wange des Kindes berührten.
„Nun!“ rief sie, während ihr Gesicht von Glück strahlte, als sie die plötzliche Glut von Überraschung und Freude sah, welche den sonst so ruhigen, gedämpften Ausdruck der Züge ihres Gatten veränderte. „Was sagst du zu diesem Möbel? Ist es ein Stuhl oder ein Tisch? Oder ist es der kostbarste Gegenstand im ganzen Hause, in ganz Cornwall, in ganz England, in der ganzen Welt? Küsse ihn und siehe, was es ist – die von einem Bildhauer gemeißelte Büste eines Kindes, o, ein lebendiger Cherub, dessen Mutter dein Weib ist.“
Sie drehte sich lachend herum und sagte zu der Wärterin:
„Hannah, Ihr sehet so ernsthaft aus, daß ich überzeugt bin, Ihr müsst hungrig sein. Habt Ihr noch nicht Euer Abendessen bekommen?“
Die Wärterin lächelte und antwortete, sie habe besprochen, hinunter zum Essen zu gehen, sobald eine der Dienerinnen heraufkäme, um sie bei dem Kleinen abzulösen.
„Nun, so geht“, sagte Rosamunde. „Ich will hier bleiben und den Kleinen hüten. Geht hinunter, eßt Euer Abendbrot und kommt in einer halben Stunde wieder.“
Als die Wärterin das Zimmer verlassen hatte, stellte Rosamunde für Leonard einen Stuhl neben die Wiege und setzte sich auf einen niedrigen Schemel zu seinen Füßen.
Ihre veränderliche Laune schien abermals zu wechseln, als sie dies tat. Ihr Gesicht ward nachdenklich, ihre Augen wurden feucht, indem sie sich bald auf ihren Gatten, bald auf das Bett hefteten, in welchem der Knabe neben ihm schlief. Nachdem sie einige Minuten geschwiegen, ergriff sie eine seiner Hände, legte sie auf sein Knie und ihre Wange sanft darauf.
„Lenny“, sagte sie fast traurig, „ich möchte wissen, ob wir eins wie das andere fähig sind, in dieser Welt vollkommenes Glück zu empfinden.“
„Was veranlaßt dich zu dieser Frage, liebes Kind?“
„Mir ist es, als könnte ich mich vollkommen glücklich fühlen und dennoch –“
„Und dennoch –?“
„Und dennoch scheint es, als ob bei allen Gütern, mit welchen ich gesegnet bin, doch dieses eine mir niemals gewährt werden sollte. Ich würde mich jetzt vollkommen glücklich fühlen, wenn nicht ein einziger kleiner Umstand wäre. Du kannst wohl nicht erraten, was es für einer ist?“
„Es wäre mir lieber, wenn du es mir sagtest, Rosamunde.“
„Seitdem unser Kind geboren ist, Geliebter, empfinde ich einen kleinen Schmerz im Herzen, besonders wenn wir alle Drei beisammen sind, so wie jetzt – einen kleinen Kummer deinetwegen, dessen ich mich nie entschlagen kann.“
„Meinetwegen? Richte deinen Kopf empor, Rosamunde, und rücke näher an mich heran. Ich fühlte etwas auf meiner Hand, was mir verrät, daß du weinst.“
Sie erhob sich sofort und legte ihr Gesicht dicht an das seinige.
„Mein Geliebter“, sagte sie, indem sie ihn mit ihren Armen fest umschlang. „Geliebter meines Herzens, du hast unser Kind nie gesehen!“
„Doch, Rosamunde – ich sehe es ja mit deinen Augen.“
„O, Lenny! Ich sage dir alles, was ich kann – ich tue mein Möglichstes, um die grausame Finsternis zu erhellen, welche das liebliche kleine Antlitz, das so nahe neben dir liegt, vor dir verbirgt. Aber kann ich dir wohl sagen, wie der Knabe aussieht, wenn er anfängt, auf etwas zu achten? Gott ist sehr barmherzig gegen uns gewesen. Aber o, wie weit schwerer lastet das Gefühl deines Gebrechens auf mir jetzt, wo ich mehr bin als dein Weib, wo ich die Mutter deines Kindes bin!“
„Und dennoch sollte dieses Gebrechen leicht auf deinem Gemüt lasten, Rosamunde, denn du hast es mir selbst leicht gemacht.“
„Habe ich das? Habe ich das wirklich und wahrhaftig? Es ist etwas Erhabenes, dafür zu leben, Lenny, wenn ich dafür leben kann. Es ist ein Trost, dich sagen zu hören, wie du soeben sagtest, daß du mit meinen Augen siehst. Sie werden dir stets dienen – o stets! Stets! – so treulich, als ob es deine eigenen wären. Die geringste Kleinigkeit von einem sichtbaren Dinge, welches ich mit Interesse betrachte, sollst auch du sehen. Mit einem andern Manne zum Gatten hätte ich vielleicht meine kleinen, harmlosen Geheimnisse gehabt, mit dir aber auch nur einen einzigen geheimen Gedanken zu haben wäre mir, als zöge ich den niedrigsten und grausamsten Vorteil von deiner Blindheit. Ich liebe dich so innig, Lenny! Ich liebe dich jetzt weit mehr, als da wir vermählt wurden – ich dachte nie, daß dies der Fall sein könnte, und doch ist es so. Du erscheinst mir in jeder Beziehung viel schöner, viel klüger, viel kostbarer. Aber das sage ich dir ja fortwährend, nicht wahr? Wirst du müde, mich zu hören? Nein? Weißt du das gewiß? Ganz, ganz gewiß?“
Sie schwieg und sah ihn mit einem Lächeln auf ihrer Lippe, und während noch die Tränen in ihren Augen schlummerten, mit innigem Blick an.
Gerade in diesem Augenblick rührte sich der Kleine ein wenig in seiner Wiege und lenkte ihre Aufmerksamkeit nach einer andern Richtung. Sie deckte ihn warm zu, betrachtete ihn eine Weile schweigend und setzte sich dann wieder auf den Schemel zu Leonards Füßen.
„Der Kleine hat sein Gesicht jetzt ganz nach dir herumgedreht“, sagte sie. „Soll ich dir genau sagen, wie er aussieht und wie sein Bett aussieht und wie das Zimmer möbliert ist?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann sie das Aussehen und die Lage des Kindes mit der wunderbaren Genauigkeit der Beobachtung eines Weibes zu beschreiben. Während sie dies tat, erholte sich ihr elastischer Sinn wieder und der von Natur heitere, fröhliche Ausdruck erschien wieder auf ihrem Gesicht.
Als die Wärterin wieder auf ihren Posten zurückkam, plauderte Rosamunde mit all ihrer gewohnten Lebhaftigkeit und ergötzte ihren Gatten mit all ihrem gewohnten Erfolg.
Als sie in das Besuchszimmer zurückkehrte, öffnete sie das Piano und setzte sich, um zu spielen.
„Ich muß dir dein gewohntes Abendkonzert geben, Lenny“, sagte sie; „oder ich spreche wieder über das verbotene Thema – das Myrtenzimmer.“
Sie spielte eine von Mr. Franklands Lieblingspiècen mit einer Einheit des Gefühls und der Phantasie, welche den Zauber ihres eigenen Gemüts mit dem Zauber der Melodien zu verschmelzen schien, die unter ihrer Berührung zum Leben erwachten.
Nachdem sie alles gespielt, dessen sie sich am leichtesten erinnerte, schloß sie mit dem „letzten Walzer“ von Weber. Es war Leonards Lieblingsstück und ward deshalb immer zum würdigen Schluß der musikalischen Abendunterhaltung aufgespart.
Sie verweilte bei den letzten klagenden Tönen des Walzers länger als gewöhnlich, erhob sich dann plötzlich vom Piano und eilte über das Zimmer hinüber nach dem Kamin.
„Es muß seit den letztvergangenen Minuten viel kälter geworden sein“, sagte sie, indem sie auf den Herdteppich niederkniete und ihr Gesicht und ihre Hände über das Feuer hielt.
„Wirklich?“ entgegnete Leonard. „Ich fühle keine Veränderung.“
„Vielleicht habe ich mich erkältet“, sagte Rosamunde. „Oder vielleicht“, setzte sie etwas gezwungen lachend hinzu, „Vielleicht hat der Wind mich angeweht, welcher der gespenstischen Dame der nördlichen Zimmer vorangeht. Ich fühlte ganz gewiß etwas wie plötzlichen Frost, Lenny, während ich die letzten Takte des Weber’schen Walzers spielte.“
„Ach, Unsinn, Rosamunde! Du bist zu müde und zu aufgeregt. Sage der Zofe, sie solle dir heißen Wein mit Wasser bereiten und verliere keine Zeit, dich zu Bett zu begeben.“
Rosamunde schmiegte sich dichter an das Feuer.
„Es ist gut, daß ich nicht abergläubisch bin“, sagte sie, „sonst könnte ich mir einbilden, ich wäre bestimmt, das Gespenst zu sehen.“
Zweites Kapitel
Dicht am Rande
Die erste Nacht in Porthgenna verging, ohne das mindeste Geräusch und ohne die geringste Unterbrechung irgendeiner Art. Kein Gespenst, kein Traum von einem Gespenst störte Rosamunde in ihrem festen, gesunden Schlafe. Sie erwachte in ihrer gewöhnlichen frohne Stimmung und bei gewohnter Gesundheit und war schon vor dem Frühstück draußen im westlichen Garten.
Der Himmel war umwölkt und der Wind sprang launenhaft nach allen Punkten des Kompasses herum.
Im Verlaufe ihres Spazierganges begegnete Rosamunde dem Gärtner und fragte ihn, was er vom Wetter dächte.
Der Mann antwortete, es könne Vormittag vielleicht regnen, wenn er sich aber nicht sehr irre, so werde es noch vor Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden wieder sehr warm werden.
„Habt Ihr jemals von einem Zimmer auf der Nordseite unseres alten Hauses gehört, welches man das Myrtenzimmer nennt?“ fragte Rosamunde. Sie hatte sich gleich beim Aufstehen diesen Morgen vorgenommen, keine Gelegenheit zu versäumen, die überaus wichtige Entdeckung zu machen, und deshalb es nicht an Fragen gegen jedermann in der Nachbarschaft fehlen zu lassen. Demgemäß begann sie mit dem Gärtner.
„Davon habe ich nichts gehört, Madame“, sagte der Gärtner. „Der Name ist jedoch sehr wahrscheinlich, denn die Myrte gedeiht hier wirklich sehr gut.“
„Stehen vielleicht Myrtenbüsche an der nördlichen Seite des Hauses?“ fragte Rosamunde, welche plötzlich bedachte, daß es vielleicht möglich sei, das geheimnisvolle Zimmer durch Erörterungen außerhalb des Hauses, anstatt innerhalb desselben zu ermitteln. „Ich meine dicht an der Mauer“, setzte sie hinzu, als sie sah, daß der Mann ein verblüfftes Gesicht machte, „unter den Fenster, wißt Ihr.“
„So lange ich da bin, habe ich unter den Fenstern nie etwas anderes gesehen als Unkraut und Gerüll“, entgegnete der Gärtner.
Gerade in diesem Augenblicke läutete die Frühstücksglocke. Rosamunde kehrte in das Haus zurück mit dem Entschluß, den nördlichen Garten zu untersuchen und wenn sie ein Überbleibsel von einem Myrtenbeete fände, sich das darüber befindliche Fenster zu merken und das betreffende Zimmer sofort öffnen zu lassen.
Sie teilte diesen neuen Plan ihrem Gatten mit. Er lobte ihren Scharfsinn, gestand aber, daß er nach dem, was der Gärtner von Unkraut und Gerüll gesagt, keine große Hoffnung auf Entdeckungen außerhalb des Hauses habe.
Sobald das Frühstück vorüber war, zog Rosamunde die Klingel, um den Gärtner rufen zu lassen und zu sagen, daß die Schlüssel zu den nördlichen Zimmern gebraucht würden.
Auf den Ruf der Klingel erschien Mr. Franklands Diener, der die soeben vom Postboten abgegebenen Briefe mitbrachte.
Rosamunde sah die Adressen rasch durch, hielt einen davon mit einem ganz besondern Ausdruck von Freude fest und sagte zu ihrem Gatten:
„Der Poststempel von Long Beckley! Endlich Antwort vom Vikar!“
Sie öffnete den Brief und überflog ihn mit den Augen, dann ließ sie ihn plötzlich in den Schoß fallen, während ihr Gesicht dunkel erglühte.
„Lenny“, rief sie, „hier erhalten wir Nachrichten, über welchen einem der Kopf schwindlig werden möchte. Der Brief des Vikars hat mir förmlich den Atem geraubt.“
„Lies ihn vor“, sagte Mr. Frankland; „ich bitte dich, lies ihn sogleich.“
Rosamunde erfüllte diesen Wunsch mit sehr schwankender, unsicherer Stimme. Doktor Chennery begann seinen Brief mit der Meldung, daß sein Gesuch an Andrew Treverton unbeantwortet geblieben sei; er fügte aber hinzu, daß er nichtsdestoweniger zu Ergebnissen geführt habe, welche niemand hätte voraussehen können; über den Gegenstand dieser Ergebnisse verwies er Mr. und Mistreß Frankland auf eine angefügte Kopie einer als vertraulich bezeichneten Mitteilung, die er von seinem Geschäftsagenten in London erhalten.
Diese Mitteilung enhielt einen ausführlichen Bericht über eine Unterredung, welche zwischen Mr. Trevertons Diener und dem Boten stattgefunden, der Antwort auf Doktor Chennerys Brief hatte holen wollen. Sie beschrieb die kaltblütig von Shrowl selbst erzählten Umstände, unter welchen die Kopie von dem alten Plan der nördlichen Zimmer gemacht worden, und meldete die Bereitwilligkeit des Kopisten, dieses Dokument gegen eine Entschädigung von fünf Pfund herauszugeben. In der Nachschrift war ferner angegeben, daß der Bote den kopierten Plan gesehen und sich überzeugt, daß derselbe wirklich die Lage der Türen, Treppen und Zimmermit den Namen derselben enthielte und, soweit sich dies nach dem Augenschein beurteilen ließe, wirklich nach einem echten Original kopiert zu sein schiene.
Wieder seinen eigenen Brief aufnehmend, schrieb Doktor Chennery weiter, er müsse es nun gänzlich Mr. und Mistreß Frankland anheimstellen, zu entscheiden, welches Verfahren sie einzuschlagen hätten. Er habe sich nach seiner Ansicht schon ein wenig kompromittiert, indem er sich eine Eigenschaft beigelegt, die ihm nicht zukäme, und er fühle, daß er für seine Person in der Sache, jetzt, wo dieselbe eine völlig neue Gestalt gewonnen, nicht weiter gehen und daher auch weder eine Meinung aussprechen noch einen Rat erteilen könne. Er sei überzeugt, daß seine jungen Freunde zu der richtigen Entscheidung gelangen würden, sobald sie die Sache nach allen Seiten hin reiflich erwogen hätten. In dieser Überzeugung habe er seinen Geschäftsagenten beauftragt, in der Sache nichts weiter zu unternehmen, als bis er wieder von Mr. Frankland gehört, und sich nach den Weisungen zu richten, welcher dieser ihm geben würde.
„Weisungen!“ rief Rosamunde, indem sie den Brief, sobald sie ihn zu Ende gelesen, in einem Zustande gewaltiger Aufregung zusammenknitterte. „Alle Weisungen, die wir zu geben haben, können in wenigen Minuten niedergeschrieben und in einer Sekunde gelesen werden. Was um aller Welt willen meint der Vikar, wenn er von reiflicher Überlegung schwatzt? Es versteht sich doch von selbst“, rief Rosamunde, indem sie nach Weiberart gerade auf das Ziel schauete, welches sie im Auge hatte, ohne einen Gedanken an die Mittel zu verschwenden, durch welche es erreicht werden sollte – „es versteht sich doch von selbst, daß wir dem Mann seine Fünfpfundnote geben und uns mit umgehender Post den Plan schicken lassen.“
Mr. Frankland schüttelte ernsthaft den Kopf.
„Ganz unmöglich“, sagte er. „Wenn du dir die Sache einen Augenblick lang überlegst, liebes Kind, so wirst du sicherlich sehen, daß keine Rede davon sein kann, mit einem Diener wegen einer Auskunft zu unterhandeln, die er sich verstohlenerweise aus der Bibliothek seines Herrn verschafft hat.“
„O, sage das nicht!“ bat Rosamunde, ganz erschrocken über die Ansicht, welche ihr Gatte von der Sache faßte. „Was tun wir denn Unrechtes, wenn wir dem Mann seine fünf Pfund geben? Er hat ja bloß eine Kopie gemacht – er hat ja nichts gestohlen!“
„Nach meinen Begriffen von der Sache hat er die Auskunft allerdings gestohlen“, sagte Leonard.
„Nun gut, wenn er dies auch getan hätte“, fuhr Rosamunde hartnäckig fort, „welchen Schaden tut das seinem Herrn? Nach meiner Ansicht verdient übrigens sein Herr, daß ihm die Auskunft gestohlen wird, da er nicht einmal die gewöhnliche Höflichkeit gehabt hat, sie dem Vikar mitzuteilen. Wir müssen den Plan haben – O, Lenny, schüttle nicht den Kopf! Wir müssen ihn haben, du weißt, daß wir ihn haben müssen! Was kann es denn nützen, gewissenhaft mit einem alten Knauser zu sein – denn so muß ich ihn nennen, obschon er mein Onkel ist – mit einem alten Knauser, sage ich, der sich nicht einmal in die gewöhnlichsten Sitten der Gesellschaft fügt. Mit einem solchen – und ich bin überzeugt, der Vikar würde, wenn er hier wäre, dasselbe sagen – mit einem solchen kann man nicht umgehen wie mit zivilisierten Menschen, oder wie mit Menschen, die ihren richtigen Verstand haben, was, wie alle Welt sagt, bei ihm nicht der Fall ist. Was nützt ihm der Plan der nördlichen Zimmer? Und überdies, wenn ihm derselbe etwas nützt, so hat er ja das Original! Sein Eigentum wird ihm durchaus nicht gestohlen, denn er behält es ja – mußt du das nicht selbst sagen, Lenny?“
„Rosamunde, Rosamunde!“ rief Leonard, über die durchsichtige Sophistik seiner Gattin lächelnd, „du versuchst zu folgern wie ein Jesuit.“
„Ich frage nicht danach, wie ich folgere, dafern ich nur den Plan bekomme.“
Mr. Frankland schüttelte immer noch den Kopf. Da Rosamunde sah, daß ihre Argumente nichts halfen, so nahm sie klüglich ihre Zuflucht zu der seit undenklichen Zeiten bei ihrem Geschlecht gewöhnlichen Waffe – der Überredung – und gebrauchte dieselbe so energisch und mit so gutem Erfolg, daß sie endlich die widerstrebende Zustimmung ihres Gatten zu einer Art Vergleich erhielt, welcher ihr gestattete, Anweisung zum Kaufe des kopierten Plans zu erteilen, aber unter einer Bedingung.
Diese Bedingung bestand darin, daß man den Plan, sobald man ihn zu Rate gezogen, an Mr. Treverton zurücksende, denselben von der Art und Weise, auf welche man dazu gelangt war, in Kenntnis setze und zur Rechtfertigung dieses Verfahrens seinen eigenen Mangel an Höflichkeit geltend machte, womit er eine an und für sich bedeutungslose Auskunft verweigert habe, die jeder andere an seiner Stelle sicherlich ohne weiteres mitgeteilt haben würde.
Rosamunde bemühte sich sehr, eine Zurücknahme oder Modifikation dieser Bedingung zu erwirken, der empfindsame Stolz ihres Gatten aber vertrug selbst von ihrer leichten Hand ungestraft keine Berührung.
„Ich habe ohnehin schon meiner Überzeugung Gewalt angetan“, sagte er, „und will dies nicht noch mehr tun. Wenn wir uns durch Unterhandlungen mit diesem Diener erniedrigen wollen, so wollen wir es ihm wenigstens unmöglich machen, uns als seine Mitschuldigen zu betrachten. Schreibe daher, Rosamunde, in meinem Namen an Doktor Chennerys Geschäftsagenten und sage, daß wir bereit sind, den kopierten Plan unter der von mir gestellten Bedingung zu kaufen – von welcher Bedingung er natürlich den Diener in den schlichtesten, unumwundensten Ausdrücken in Kenntnis setzen wird.“
„Und wenn der Diener es nun nicht auf die Gefahr ankommen lassen will, seinen Dienst zu verlieren, was doch der Fall sein muß, wenn er auf unsere Bedingung eingeht?“ frug Rosamudne, indem sie mit einigem Widerstreben nach dem Schreibtisch ging.
„Wir wollen uns doch nicht mit Voraussetzungen quälen, liebes Kind! Laß uns warten und hören, was geschieht, und demgemäß handeln. Wenn du zum Schreiben bereit bist, so sag’ es mir – ich will dir bei dieser Gelegenheit den Brief diktieren. Ich wünsche, den Geschäftsagenten des Vikars begreiflich zu machen, daß wir deshalb so verfahren, weil wir erstens wissen, daß Mr. Andrew Treverton ein Mann ist, mit welchen man nicht nach den in der Gesellschaft geltenden Regeln verhandeln kann, und zweitens, weil der Aufschluß, den sein Diener uns bietet, in einem Auszug aus einem gedruckten Buch enthalten ist und weder direkt noch indirekt mit Mr. Trevertons Privatangelegenheiten in Zusammenhang steht. Jetzt, wo du mich überredet hast, Rosamunde, in diesen Kompromiß zu willigen, muß ich denselben vor andern ebenso wie vor mir selbst so vollständig als möglich rechtfertigen.“
Da Rosamunde sah, daß Leonards Entschluß unerschütterlich feststand, so hatte sie Takt genug, sich aller weiteren Einwendungen zu enthalten. Der Breif ward daher genau so geschrieben, wie Leonard ihn diktierte.
Als er in den Postbeutel gesteckt worden und auch die beiden andern Briefe, die an diesem Morgen eingegangen, gelesen und beantwortet waren, erinnerte Mr. Frankland seine Gattin an ihre vor dem Frühstück zu erkennen gegebene Absicht, den nördlichen Garten zu besuchen und wünschte, daß sie ihn mit dorthin nehme.
Er gestand offen, seitdem er den Inhalt von Doktor Chennerys Brief kenne, wolle er gern fünfmal so viel geben als Shrowl für die Kopie des Plans verlange, wenn das Myrtenzimmer ohne Beistand von irgendeiner Seite entdeckt werden könnte, ehe der Brief an den Geschäftsagenten des Vikars auf die Post gegeben würde. Nichts, sagte er, würde ihm größeres Vergnügen machen, als wenn er diesen Brief ins Feuer werfen und statt dessen eine glatte Weigerung, wegen des Plans zu unterhandeln, absenden könnte.
Sie gingen in den nördlichen Garten, aber hier überzeugte Rosamunde sich mit eigenen Augen, daß sie nicht die mindeste Absicht hatte, in der Nähe irgendeines der Fenster auch nur eine Spur von einem Myrtenbeet zu entdecken.
Aus dem Garten kehrten sie in das Haus zurück und ließen sich die Tür öffnen, welche in die nördliche Halle führte.
Man zeigte ihnen den Platz auf den Steinplatten des Fußbodens, wo die Schlüssel gefunden worden, und die Stelle oben an der Treppe, wo man Mistreß Jazeph entdeckt, als der Lärm entstanden war.
Auf Mr. Franklands Anraten ward nun die Tür des Zimmers geöffnet, welche sich dieser Stelle unmittelbar gegenüber befand.
Ein ödes Schauspiel von Staub, Schmutz und Düsterkeit bot sich dar. Einige alte Gemälde lagen an einer der Wände aufeinandergetürmt, einige zerbrochene Stühle standen in der Mitte des Zimmers, einiges zerbrochene Porzellangeschirr stand auf dem Kaminsims und ein halb verfaulter, von oben bis unten geborstener Schrank in einer Ecke.
Diese wenigen Überbleibsel von dem Meublement und der Ausstattung des Zimmers wurden alle sorgfältig untersucht, aber man entdeckte nichts von auch nur der mindesten Bedeutung, nichts, was im entferntesten dazu hätte beitragen können, das Geheimnis des Myrtenzimmers aufzuklären.
Mr. Frankland machte nun bemerklich, daß vielleicht Spuren von Fußtritten auf dem staubigen Fußboden des Vorplatzes zu sehen wären, aber auch davon war nichts zu finden.
Zu einer frühern Zeit war der Fußboden mit Binsendecken belegt worden und die zerrissene, zerfetzte, vor Alter verfaulte Fläche war jetzt überall viel zu uneben, als daß der Staub glatt darauf hätte liegen bleiben können. Hier und da, wo man ein Loch in den Brettern des Vorplatzes entdeckte, glaubte Mr. Franklands Diener in dem Staube Spuren zu entdecken, welche von der Spitze oder dem Absatz eines Schuhes herrühren könnten; diese schwachen und zweifelhaften Andeutungen aber lagen ellenweit auseinander und einen Schluß von auch nur der mindesten Bedeutung daraus zu ziehen, war platterdings unmöglich.
Nachdem man so eine Stunde mit der Untersuchung der Nordseite des Hauses zugebracht, mußte Rosamunde bekennen, daß sie nichts entdecken würden.
„Der Brief muß abgehen, Lenny“, sagte sie, als sie in das Frühstückszimmer zurückkehrten.
„Ja, es läßt sich nicht ändern“, antwortete Leonard. „Schicke den Postbeutel fort und laß uns vor der Hand nicht weiter über die Sache sprechen.“
Der Brief ward mit der Post desselben Tages abgefertigt.
Bei der Abgelegenheit des Schlosses Porthgenna und dem noch unvollendeten Zustande der Eisenbahn zu jener Zeit, mußten zwei Tage vergehen, ehe man eine Antwort von London zu erhalten hoffen konnte. Überzeugt, daß es für Rosamunde besser sein würde, wenn diese Zeit der Ungewißheit außerhalb des Hauses zugebracht würde, schlug Mr. Frankland vor, sie durch einen kleinen Ausflug längst der Küste nach einigen Orten auszufüllen, die wegen ihrer Umgegend berühmt waren. Er setzte voraus, daß sie seine Gattin interessierten und daß es ihr eine angenehme Beschäftigung sein würde, sie ihrem blinden Gatten an Ort und Stelle zu schildern.
Dieser Vorschlag ward sofort angenommen und ausgeführt. Das junge Ehepaar verließ Porthgenna und kehrte erst am Abend des zweiten Tages zurück.
Am Morgen des dritten Tages lag der ersehnte Brief von dem Geschäftsagenten des Vikars auf dem Tische, als Leonard und Rosamunde in das Frühstückszimmer traten. Shrowl hatte sich entschlossen, auf Mr. Franklands Bedingung einzugehen, erstens weil er der Ansicht war, daß jeder, der sich weigerte, eine Fünfpfundnote zu nehmen, wenn sie ihm angeboten würde, nicht recht bei Verstande sein könnte, und zweitens weil er glaubte, sein Herr sei zu unbedingt abhängig von ihm, um ihn wegen irgendeiner Ursache fortzujagen.
Demgemäß war der Handel in fünf Minuten abgeschlossen worden – und diese Tatsache ward durch die dem Briefe beigeschlossene Kopie des Planes außer allen Zweifel gesetzt.
Rosamunde breitete das hochwichtige Dokument mit zitternden Händen auf dem Tische aus, überflog es einige Sekunden lang mit begierigen Blicken und legte den Finger auf das Viereck, welches die Lage des Myrtenzimmers bezeichnete.
„Hier ist es!“ rief sie. „O, Lenny, wie mir das Herz schlägt! Eins, zwei, drei, vier – die vierte Tür der ersten Etage ist die Tür des Myrtenzimmers.“
Sie würde sofort die Schlüssel zu den nördlichen Zimmern verlangt haben, ihr Gatte aber bestand darauf, daß sie wartete, bis sie sich ein wenig gefaßt und etwas von dem Frühstück genossen hätte.
Trotz alles dessen aber, was er sagen konnte, ward das Mahl so rasch beendet, daß, ehe noch zehn Minuten vergingen, der Arm seines Weibes in dem seinen lag und sie ihn nach der Treppe führte.
Die Prophezeiung des Gärtners in Bezug auf das Wetter war in Erfüllung gegangen – es war wieder heiß geworden – schwül, neblig, dunstig, drückend heiß. Eine einzige, weiße, zitternde Nebelwolke breitete sich dünn über den ganzen Himmel, rollte sich am Horizont abwärts nach dem Meere und stumpfte die scharfen Ränder der fernen Moorlandschaft ab.
Die Sonne schien bleich und zitternd, die leichtesten und höchsten Blätter an offenen Fenstern stehender Blumen waren still, die Haustiere lagen schläfrig in dunkeln Winkeln, hier und da ein zufälliges Geräusch von häuslichen Verrichtungen dröhnte dumpf und schwer durch die träge, luftlose Stille, welche sich mit der Hitze auf die Erde herabgesenkt zu haben schien.
Unten in der Dienerhalle war in der gewöhnlichen Rührigkeit der Morgenarbeit ebenfalls eine Pause eingetreten. Als Rosamunde auf ihrem Wege nach dem Zimmer der Haushälterin hineinsah, um die Schlüssel zu holen, fächelten sich die Weiber und die Männder saßen in Hemdsärmeln.
Alle sprachen verdrießlich über die Hitze und alle kamen dahin überein, daß ein solcher Tag im Monat Juni noch niemals erlebt worden.
Rosamunde nahm die Schlüssel, lehnte das Anbieten der Haushälterin, sie zu begleiten, ab, führte ihren Gatten die Gänge entlang und schloß die Tür der nördlichen Halle auf.
„Wie unnatürlich kühl es hier ist!“ sagte sie, als sie in die verlassenen öden Räume traten.
Am Fuße der Treppe blieb sie stehen und faßte den Arm ihres Gatten fester.
„Ist dir etwas?“ fragte Leonard. „Berührt der Übergang in die feuchte Kühle dieses Ortes dich vielleicht unangenehm?“
„Nein, nein“, antwortete sie hastig. „Ich bin viel zu aufgeregt, um Hitze oder Feuchtigkeit so zu fühlen, wie ich sie zu andern Zeiten fühlen würde. Aber, Lenny, gesetzt nun, deine Vermutung in Bezug auf Mistreß Jazeph wäre richtig?“
„Ja – nun?“
„Und gesetzt, wir entdeckten das Geheimnis des Myrtenzimmers, könnte dasselbe nicht etwas meinen Vater oder meine Mutter Betreffendes sein, was wir nicht wissen sollen? Ich dachte daran, als Mistreß Pentreath sich erbot, uns zu begleiten, und es bestimmte mich, mit dir allein hierherzugehen.“
„Ebenso wahrscheinlich ist es auch, daß das Geheimnis etwas sei, was wir wissen sollten“, entgegnete Mr. Frankland, nachdem er einen Augenblick nachgedacht. „Auf jeden Fall ist übrigens meine Idee in Bezug auf Mistreß Jazeph bloß eine Vermutung ins Blaue hinein. Indessen, Rosamunde, wenn du vielleicht noch warten willst –“
„Nein! Möge daraus kommen was da wolle, Lenny, nun können wir nicht wieder zurücktreten. Gib mir die Hand wieder. Wir haben das Geheimnis bis hierher miteinander verfolgt und wollen es auch gemeinschaftlich vollends enthüllen.“
Sie ging die Treppe hinauf und führte ihn, während sie sprach, hinter sich her. Auf dem Vorplatz warf sie nochmals einen Blick auf den Plan und überzeugte sich, daß der erste Eindruck, den sie davon in Bezug auf die Lage des Myrtenzimmers gewonnen, richtig war. Sie zählte die Türen bis zur vierten, suchte dann aus dem Schlüsselbunde den mit „4“ numerierten heraus und steckte ihn ins Schloß.
Ehe sie ihn umdrehte, hielt sie inne und sah sich nach ihrem Gatten um.
Er stand neben ihr, sein geduldiges Gesicht nach der Tür gewendet. Sie legte die rechte Hand an den Schlüssel, drehte ihn langsam im Schlosse um, zog ihren Gatten mit der linken Hand näher an sich und machte wieder eine Pause.
„Ich weiß nicht, was auf einmal über mich gekommen ist“, flüsterte sie matt. „Es ist mir, als fürchtete ich mich, die Tür aufzustoßen.“
„Deine Hand ist kalt, Rosamunde. Warte ein wenig – schließe die Tür wieder zu – schiebe es auf bis einen andern Tag.“
Er fühlte, wie die Finger seines Weibes seine Hand immer dichter und dichter umschlossen, während er diese Worte sagte. Dann trat ein Augenblick – ein einziger denkwürdiger, atemloser Augenblick, der nie wieder vergessen werden sollte – gänzlichen Schweigens ein.
Dann hörte Leonard das laute knarrende
Geräusch der sich
öffnenden Tür, er fühlte sich plötzlich in eine
andere Atmosphäre hineingezogen
und wußte, daß Rosamunde und er im Myrtenzimmer standen.
Drittes Kapitel
Das Myrtenzimmer
Ein breites, viereckiges Fenster mit kleinen Scheiben und dunkeln Gardinen, unheimliches, gelbes Licht durch den Schmutz eines halben Jahrhunderts schimmernd; reinere, durch die Lücken drei zerbrochener Scheiben quer durch das trübe Licht fallende Strahlen; aufwärts, abwärts fliegender und sich in der stillen Atmosphäre glatt runumdrehender Staub; hohe, kahle, verschossene, rote Wände, verworren durcheinander stehende Stühle, schiefgestellte Tische; ein hoher, schwarzer Bücherschrank mit einer nur noch halb in den Angeln hängenden offenstehenden Tür; ein Fußgestell mit einer in Bruchstücken daneben liegenden Büste, eine mit Schmutzflecken besäte Decke, ein von Staub weißbestreuter Fußboden – dies war der Anblick des Myrtenzimmers, als Rosamunde, ihren Gatten bei der Hand führend, es zum ersten Male betrat.
Nachdem sie die Schwelle überschritten, ging sie langsam einige Schritte weiter und blieb dann stehen. Jeder ihrer Sinne stand gleichsam Wache, jede ihrer geistigen Fähigkeiten war bis zum höchsten Gipfel der Spannung emporgeschraubt.
So wartete sie in der ominösen Stille, in der öden, schauerlichen Einsamkeit auf das unbestimmte Etwas, welches das Zimmer enthalten, welches sichtbar vor ihr auftauchen, welches hörbar neben ihr erklingen, was sie von oben, von unten, von jeder Seite plötzlich berühren konnte.
Eine Minute oder noch länger wartete sie atemlos, aber nichts erschien, nichts erklang, nichts berührte sie. Das Schweigen und die Einsamkeit hatten ihr Geheimnis zu hüten und sie hüteten es gut.
Rosamunde sah sich nach ihrem Gatten um. Sein zu andern Zeiten so ruhig und gefaßtes Gesicht gab jetzt Zweifel und Unruhe zu erkennen. Seine freie Hand war ausgestreckt und bewegte sich vorwärts und rückwärts, auf und ab, in dem vergeblichen Versuche, etwas zu berühren, was ihn in den Stand setzen könnte, die Stellung zu erraten, in welche er versetzt war.
Sein Ansehen und seine Gebärde, während er so in dieser neuen und seltsamen Sphäre stand, die stumme Ansprache, die er so wehmütig und so unbewußt an die liebende Hilfe seines Weibes erhob, gab Rosamunde ihre Selbstbeherrschung wieder, indem ihr Herz dadurch zu dem höchsten Interesse, was die Welt für sie besaß, zu der heiligsten aller ihrer Pflichten zurückgerufen ward.
Ihre nur erst den Augenblick zuvor so mißtrauisch auf den unheimlichen Anblick der Vernachlässigung und des Verfalls, der sie hier umgab, gehefteten Augen wendeten sich wieder liebend dem Antlitz ihres Gatten zu, strahlend von dem unergründlichen Glanze des Mitleids und der Liebe. Sie neigte sich rasch zu ihm, faßte seinen ausgestreckten Arm und drückte ihn an ihre Seite.
„Tue das nicht, Lenny“, sagte sie sanft, „ich sehe es nicht gern. Es sieht aus, als ob du vergessen hättest, daß ich bei dir bin – als ob du allein und hilflos wärest. Was brauchst du deinen Gefühlssinn, wenn du mich hast? Hörtest du mich die Tür öffnen, Lenny? Weißt du, daß wir im Myrtenzimmer sind?“
„Was sahst du, Rosamunde, als du die Tür öffnetest? Was siehst du jetzt?“
Er tat diese Fragen rasch und begierig flüsternd.
„Nichts als Schmutz, Staub und Verödung. Das einsamste Moorland in Cornwall sieht nicht so einsam aus wie dieses Zimmer, aber es ist nichts zu bemerken, was uns Befürchtungen einflößen könnte; außer unserer eigenen Phantasie ist nichts da, was den Gedanken an irgendeine Gefahr erweckte.“
„Weshalb schwiegst du so lange, ehe du mich anredetest, Rosamunde?“
„Ich fürchtete mich so sehr, als ich die Schwelle dieses Zimmers betrat – nicht sowohl über das, was ich sah, als vielmehr vor meinen eigenen wunderlichen Gedanken, was ich sehen könnte. Ich war so kindisch, zu glauben, es könne etwas aus den Wänden hervortreten, oder aus dem Fußboden auftauchen – was aber, das weiß ich nicht. Diese Furcht habe ich nun überwunden, Lenny; dennoch aber fühlte ich noch ein gewisses Mißtrauen gegen das Zimmer. Fühlst du es auch?“
„Allerdings fühle ich so etwas“, entgegnete er unruhig. „Es ist mir, als ob die Nacht, die stets meine Augen umschwebt, an diesem Orte schwärzer wäre, als an einem andern. Wo stehen wir jetzt?“
„Dicht vor der Tür.“
„Sieht der Fußboden aus als ob er ohne Gefahr betreten werden könnte?“
Er untersuchte ihn argwöhnisch mit dem Fuße, asl er diese Frage stellte.
„Er scheint ganz sicher zu sein“, entgegnete Rosamunde. „Er würde nicht die Möbel tragen, die darauf stehen, wenn er so verfault wäre, daß das Betreten Gefahr brächte. Komm mit mir über das Zimmer und versuche es.“
Mit diesen Worten führte sie ihn langsam nach dem Fenster.
„Jetzt ist es mit, als wäre mir die Luft näher“, sagte er, indem er sein Gesicht nach der niedrigsten der zerbrochenen Fensterscheiben herabneigte. „Was ist jetzt vor uns?“
Sie sagte es ihm, indem sie genau die Größe und das Aussehen des Fensters beschrieb.
Er wendete sich gleichgültig davon ab, als ob dieser Teil des Zimmers kein Interesse für ihn hätte.
Rosamunde weilte noch in der Nähe des Fensters, um zu versuchen, ob sie einen Hauch von der äußern Atmosphäre fühlen könnte. Es herrschte augenblickliches Schweigen, welches endlich von ihrem Gatten unterbrochen ward.
„Was machst du jetzt?“ fragte er ängstlich.
„Ich schaue zu einer der zerbrochenen Glasscheiben hinaus und versuche etwas Luft zu schöpfen“, antwortete Rosamunde. „Der Schatten dieses Hauses ist unter mir und ruht auf dem einsamen Garten, aber es steigt keine Kühle davon herauf. Ich sehe das lange Unkraut und Gestrüpp gerade und still emporragen und die wilden Blumen verflechten sich schwerfällig damit. Es steht ein Baum in meiner Nähe und die Blätter sehen aus, als ob sie aller Bewegung beraubt wären. Weiterhin links sieht man ein Stück weißes Meer und braunen Sand in der gelben Sonnenglut zittern. Wolken sind nicht da, aber auch kein blauer Himmel. Der Nebel erstickt den Glanz des Sonnenlichts und läßt nichts hindurch, als das Feuer desselben. Es schwebt etwas Drohendes am Himmel und die Erde scheint es zu wissen.“
„Aber das Zimmer? Das Zimmer?“ sagte Leonard, indem er sie vom Fenster hinwegzog. „Laß die Aussicht sein wie sie will; sage mir, wie das Zimmer aussieht – ganz genau. Ich kann mich um deinetwillen nicht eher beruhigen, Rosamunde, als bis du mir alles genau so beschreibst, wie es ist.“
„Mein guter Lenny, du weißt, du kannst mit Gewißheit darauf rechnen, daß ich dir alles beschreibe. Ich bin bloß zweifelhaft, wo ich beginnen soll und wie ich zuerst das erwähne, was nach deiner Meinung das Wichtigste sein würde. Hier an der Wand steht eine alte Ottomane – an der Wand, wo das Fenster ist. Ich will meine Schürze nehmen und sie ein wenig abstäuben, dann kannst du dich darauf niedersetzen und bequem zuhören, während ich dir erzähle, bevor wir an etwas anderes denken. Vor allen Dingen muß ich dir wohl begreiflich machen, wie groß das Zimmer ist?“
„Ja, das ist das erste. Siehe zu, ob du es mit einem Zimmer vergleichen kannst, welches ich genau gekannt habe, ehe ich das Augenlicht verlor.“
Rosamunde schauete vorwärts und rückwärts von einer Wand zur andern. Dann ging sie bis an den Kamin und langsam durch das ganze Zimmer der Länge nach, indem sie die Schritte zählte. Mit fast zimperlicher Regelmäßigkeit und kindischer Befriedigung, während sie auf die roten Rosetten ihrer Morgenschuhe herabblickte, schritt sie über den staubigen Boden und hielt ihr helles Musselinkleid empor, um es nicht zu beschmutzen, sodaß die schöne Stickerei ihres Unterrocks und die glänzenden Strümpfe sichtbar wurden, wleche an ihre kleinen Füße und Knöchel anschlossen wie eine zweite Haut.
So bewegte sie sich durch den öden Verfall dieser Umgebung, als der reizendste lebende Gegensatz, den Jugend, Gesundheit und Schönheit darbieten konnten.
Am Ende des Zimmers angelangt, dachte sie ein wenig nach und sagte dann zu ihrem Gatten:
„Entsinnst du dich noch des blauen Besuchzimmers in dem Hause des Vaters in Long Beckley, Lenny? Ich glaube, dieses Zimmer ist ebenso groß, wo nicht etwas größer.“
„Wie sehen die Wände aus?“ fragte Leonard, indem er, während er sprach, die Hand hinter sich an die Wand legte. „Sie sind mit Papier tapeziert, nicht wahr?“
„Ja, mit verschossenem roten Papier, ausgenommen auf einer Seite, wo einzelne Streifen abgerissen und auf die Diele geworfen sind. Die Wände sind auch ringsum mit Holz getäfelt. Dieses ist an vielen Stellen geborsten und hat Löcher, welche von Ratten und Mäusen herzurühren scheinen.“
„Hängen Bilder an den Wänden?“
„Nein. Über dem Kamin hängt ein leerer Rahmen. Gegenüber – ich meine gerade über der Stelle, wo ich jetzt stehe – hängt in der Mitte ein kleiner zersprungener Spiegel mit zerbrochenen Armen, die zu beiden Seiten hervorragen und die Dienste von Leuchtern zu verrichten bestimmt sind. Wieder über diesem befindet sich ein Hirschkopf mit Geweih; ein Teil des Gesichts ist heruntergefallen und zwischen dem Geweih hängt ein vollständiges Labyrinth von Spinnweben. An den anderen Wänden gibt es große Nägel, von welchen ebenfalls mit Schmutz behaftete Spinnweben herabhängen, Bilder aber nirgends. Nun weißt du genau, wie die Wände aussehen. Was soll ich zunächst beschreiben? Den Fußboden?“
„Ich glaube, wie es mit diesem steht, haben mir meine Füße schon gesagt, Rosamunde.“
„Sie können dir gesagt haben, daß er kahl ist, lieber Lenny, aber ich kann dir mehr sagen. Er ist von allen Seiten her nach der Mitte abschüssig. Er ist dick mit Staub bedeckt, welcher – wahrscheinlich durch den durch die zerbrochenen Scheiben hereinblasenden Wind – zu seltsamen federartigen Gestalten zusammengeweht ist, welche die darunter befindliche Diele gänzlich verbergen, Lenny, wie wenn nun diese Bretter an irgendeiner Stelle aufgehoben werden können? Wenn wir heute nichts entdecken, wollen wir sie morgen reinfegen lassen. Mittlerweile muß ich wohl in meiner Schilderung des Zimmers weiter fortfahren, nicht wahr? Die Größe desselben kennst du, ebenso wie das Fenster ist, wie die Wände sind und wie der Fußboden aussieht. Willst du noch etwas anderes wissen, ehe wir auf die Möbel kommen? Ach ja, die Decke – denn diese vervollständigt sozusagen die Schale des Zimmers. Viel kann ich davon nicht sehen – sie ist gar so hoch. Es befinden sich an derselben große Risse und Flecken von einem Ende bis zum andern und der Kalk ist an vielen Stellen abgeblättert. Die Verzierung in der Mitte scheint aus abwechselnden Reihen von kleinen Gipsranken und großen Gipsquadraten zu bestehen. Zwei Endchen Kette hängen von der Mitte herab und haben wahrscheinlich früher einen Kronleuchter getragen. Der Sims ist so modrig, daß ich kaum sagen kann, was für ein Muster er vorstellt. Er ist sehr breit und plump und sieht an einigen Stellen aus, als ob er früher bemalt gewesen wäre; das ist aber alles, was ich davon sagen kann. Glaubst du nun von dem ganzen Zimmer eine richtige Vorstellung zu haben, Lenny?“
„Jawohl, liebe Rosamunde. Ich habe nun in meinem Geiste dasselbe klare Bild davon, was du mir stets von allem gibst, was du siehst. Du brauchst nicht noch mehr Zeit an mich zu verschwenden. Du kannst dich nun dem Zwecke widmen, wegen dessen wir hierhergekommen sind.“
Bei diesen letzten Worten schwand das Lächeln, welches auf Rosamundes Antlitz dämmerte, als ihr Gatte sie anredete, augenblicklich wieder davon hinweg. Sie stahl sich dicht an seine Seite, neigte sich über ihn, legte ihren Arm auf seine Schulter und sagte in leisem, flüsterndem Tone:
„Als wir das Zimmer auf der andern Seite des Vorplatzes öffnen ließen, begannen wir damit, daß wir das Meublement untersuchten. Wir glaubten – wenn du dich noch erinnerst – daß das Geheimnis des Myrtenzimmers mit versteckten Wertsachen zusammenhinge, welche gestohlen worden, oder mit versteckten Papieren, welche hätten vernichtet werden sollen, oder mit verborgenen Flecken und Spuren eines Verbrechens, das vielleicht durch einen Stuhl oder einen Tisch verraten werden könnte. Wollen wir die Möbel hier auch untersuchen?“
„Sind deren viele da, Rosamunde?“
„Mehr als in dem andern Zimmer waren“, antwortete sie.
„Mehr als du während eines Vormittags untersuchen kannst?“
„Nein, das glaube ich nicht.“
„Nun dann beginne mit den Möbeln, wenn du nichts Besseres vorzuschlagen weißt. Ich bin in einer solchen Krisis ein sehr hilfloser Ratgeber; ich muß die Verantwortlichkeit der Hauptsache nach immer auf deinen Schultern ruhen lassen. Dein sind die Augen, welche sehen, und dein sind die Hände, welche suchen, und wenn das Geheimnis des Grundes, welchen Mistreß Jazeph hatte, dich vor dem Betreten dieses Zimmers zu warnen, duch Nachsuchen in diesem Zimmer zu finden ist, so weißt du es zu finden.“
„Und du wirst es erfahren, Lenny, sobald es gefunden ist. Ich mag dich nicht sprechen hören, Geliebter, als ob ein Unterschied zwischen uns bestünde, oder als ob meine Stellung etwas vor der deinigen voraus hätte. Jetzt laß mich sehen. Womit soll ich beginnen? Mit dem hohen Bücherschranke dem Fenster gegenüber? Oder dem alten Schreibtisch in der Wandvertiefung hinter dem Kamin? Dies sind die beiden größten Möbel, welche ich in dem Zimmer sehen kann.“
„Beginne mit dem Bücherschranke, liebe Rosamunde, da du diesen zuerst bemerkt zu haben scheinst.“
Rosamunde näherte sich dem Bücherschrank um einige Schritte – blieb dann stehen und blickte plötzlich seitwärts nach dem untern Ende des Zimmers.
„Lenny! Ich habe etwas vergessen, als ich dir die Wände beschrieb“, sagte sie. „Es sind außer der Tür, durch welche wir in dieses Zimmer getreten sind, noch zwei andere da. Sie befinden sich beide in der Wand rechts, wenn ich mit dem Rücken nach dem Fenster zu stehe. Jede ist gleich weit von der Ecke entfernt und jede ist von derselben Größe und demselben Aussehen. Glaubst du, daß wir sie öffnen und sehen sollen, wohin sie führen?“
„Allerdings. Aber stecken denn die Schlüssel in den Schlössern?“
Rosamunde ging näher an die Türen hin und antwortete bejahend.
„Nun, dann öffne sie“, sagte Leonard. „Doch halt, nicht allein. Nimm mich mit. Ich mag nicht hier sitzen bleiben und dich diese Türen allein öffnen lassen.“
Rosamunde kehrte nach der Stelle zurück, wo Leonard saß, und führte ihn dann nach der Tür, welche von dem Fenster am weitesten entfernt war.
„Wie, wenn sich nun auf einmal ein furchtbarer Anblick dahinter darböte!“ sagte sie ein wenig zitternd, indem sie die Hand nach dem Schlüssel ausstreckte.
„Nimm lieber an – was auch viel wahrscheinlicher ist – daß sie bloß in ein anderes Zimmer führt“, meinte Leonard.
Rosamunde stieß plötzlich die Tür weit auf.
Ihr Gatte hatte recht. Sie führte bloß in das Nebenzimmer.
Nun gingen sie weiter nach der zweiten Tür.
„Kann diese denselben Zweck haben wie die erste?“ sagte Rosamunde, indem sie langsam und mißtrauisch den Schlüssel umdrehte.
Sie öffnete sie wie sie die erste Tür geöffnet, steckte einen Augenblick den Kopf hinein, zog ihn schaudernd wieder zurück und machte die Tür mit einem schwachen Ausruf des Ekels heftig wieder zu.
„Erschrick nicht, Lenny“, sagte sie, indem sie ihn rasch hinwegführte. „Die Tür führt bloß in einen großen, leeren Wandschrank. Aber es kriechen eine Menge abscheuliche braune Tiere an der inwendigen Wand herum. Ich habe sie wieder in ihre Finsternis und Ungestörtheit eingeschlossen und ich will dich nun wieder auf deinen Platz zurückführen, ehe wir nun zunächst untersuchen, was der Bücherschrank enthält.“
Da die Tür des obern Teils des Bücherschranks offen war und nur noch halb in ihren Angeln hing, so war die Leere der Brettgestelle des Schrankes auf der einen Seite sofort sichtbar. Die andere Tür zeigte, als Rosamunde sie aufriß, genau denselben Anblick von Kahlheit und Leere. Auf jedem Brette lag dieselbe Anhäufung von Schmutz und Staub, ohne eine Spur von einem Buch, ohne auch nur einen Fetzen Papier, der in irgendeiner Ecke das Auge angezogen hätte.
Der untere Teil des Bücherschranks bestand aus drei verschlossenen Abteilungen. An der Tür einer derselben stak noch der rostige Schlüssel im Schlosse.
Rosamunde drehte ihn mit einiger Mühe um und schaute in das Behältnis hinein. Im Hintergrunde desselben lag ein Pack braunter und schmutziger Spielkarten umhergestreut. Ein Stück Musselin lag daneben und erwies sich, als Rosamunde es auseinanderzog, als das Überbleibsel von der Halskrause eines Geistlichen. In der einen Ecke fand sie einen zerbrochenen Korkenzieher und den Haspel einer Angelrute; in einer andern einige Stummel von Tabakspfeifen, einige alte Medizinflaschen und ein zerknittertes Liederbuch.
Dies war alles, was in diesem Behältnis vorzufinden war.
Nachdem Rosamunde jeden dieser Gegenstände ganz genau so wie sie ihn fand, ihrem Gatten beschrieben, wendete sie sich zu dem zweiten Behältnis.
Als sie die Tür versuchte, ergab sich, daß dieselbe nicht verschlossen war. Als sie hineinschaute, entdeckte sie darin nichts als einige Stücke schwarzgewordenes, baumwollenes Garn und die Überreste von einem Juwelenpackkästchen.
Die dritte Tür war verschlossen, der rostige Schlüssel des ersten Behältnisses öffnete auch diese. Im Innern befand sich bloß ein Gegenstand – eine kleine hölzerne Schachtel, mit Bindfaden umschnürt, dessen beide Enden durch ein Siegel befestigt waren. Rosamundes schon ermattende Aufmerksamkeit ward durch diese Entdeckung sofort wieder angespornt.
Sie beschrieb die Schachtel ihrem Gatten und fragte, ob er glaube, daß sie das Recht habe, das Siegel zu erbrechen.
„Steht nichts auf dem Deckel geschrieben?“ fragte er.
Rosamunde trug die Schachtel an das Fenster, blies den Staub von dem Deckel hinweg und las auf einem darauf genagelten Pergamente: „Papiere, John Arthur Treverton, 1760.“
„Ich glaube, du kannst die Verantwortung auf dich nehmen und das Siegel erbrechen“, sagte Leonard. „Wenn diese Papiere von Bedeutung für die Familie wären, so hätten sie dein Vater und sein Testamentsvollstrecker sicherlich nicht in einem Bücherschranke stehen lassen.“
Rosamunde erbrach das Siegel und sah dann zweifelhaft ihren Gatten an, ehe sie das Kistchen öffnete.
„Ich glaube, es ist schade um die Zeit, wenn ich mir erst die Mühe nehmen, hineinzuschauen“, sagte sie. „Wie kann eine Kiste, die seit 1760 nicht geöffnet worden, uns das Geheimnis des Myrtenzimmers und der rätselhaften Mistreß Jazeph entdecken helfen?“
„Aber wissen wir denn, ob sie seit jener Zeit nicht geöffnet worden?“ sagte Leonard. „Kann der Bindfaden und das Siegel nicht erst in neuerer Zeit darum gelegt worden sein? Du wirst dies am besten beurteilen können, denn du kannst sehen, ob an dem Bindfaden oder dem Siegel irgend etwas wahrzunehmen ist, woraus man einen Schluß ziehen könnte.“
„Auf dem Siegel, Lenny, ist weiter nichts zu sehen, als ein Vergißmeinnicht in der Mitte. Ebenso sehe ich weder auf der einen noch auf der andern Seite des Bindfadens irgendein schriftliches Zeichen. Jeder beliebige Mensch hätte die Kiste schon vor mir öffnen können“, fuhr sie fort, indem sie den Deckel bequem mit den Händen aufzog, „denn das Schloß ist kein Schutz dagegen. Das Holz des Deckels ist so verfault, daß ich das Mittelstück herausgezogen habe und das übrige in dem Schloß steckengeblieben ist.“
Als sie die Kiste näher untersuchte, fand sie, daß dieselbe mit Papieren angefüllt war. Auf dem zu oberst liegenden Paket standen die Worte geschrieben: „Ausgaben bei der Wahl. Vier Stimmen verschafften mir den Sieg. Jede kostete 50 Pfund. J. A. Treverton.“
Die nächste Schicht Papiere hatte keine Überschrift. Rosamunde öffnete sie und las auf dem ersten Blatt: „Geburtstags-Hymne. Dem Mäcenas unserer Zeit in seiner poetischen Zurückgezogenheit zu Porthgenna ehrerbietigst gewidmet.“
Unter diesem Geistesprodukt zeigte sich eine Sammlung von alten Rechnungen, alten Einladungskarten, alten Rezepten und alten Blättern von Wettbüchern mit einem Stück Peitschenschnur zusammengebunden.
Zuletzt, auf dem Boden der Kiste, lag ein einziges dünnes Blatt Papier, dessen sichtbare Seite vollkommen leer war. Rosamunde ergriff es, drehte es um und sah auf der andern Seite einige schwache, mit Tinte gezogene Linien, die sich nach verschiedenen Richtungen durchkreuzten und an gewissen Stellen mit Buchstaben des Alphabets versehen waren.
Rosamunde setzte ihren Gatten von dem Inhalte aller übrigen Papiere natürlich in Kenntnis und als sie ihm dieses letzte Papier beschrieben, erklärte er ihr, daß die Linien und Buchstaben ein mathematisches Problem darstellten.
„Der Bücherschrank sagt uns nichts“, bemerkte Rosamunde, indem sie die Papiere langsam wieder in die Kiste legte. „Wollen wir es nun mit dem Schreibetisch an dem Kamin versuchen?“
„Wie sieht er aus, Rosamunde?“
„Er hat zu beiden Seiten abwärts zwei Reihen von Schubfächern und der ganze obere Teil ist sonderbar altmodisch und so geformt, daß er eine schräge Fläche bildet wie ein sehr großer Schreibepult.“
„Geht der obere Teil auf?“
Rosamunde näherte sich dem Tisch, betrachtete ihn genau und versuchte dann das Blatt aufzuheben.
„Ja, es muß aufgehen, denn ich sehe das Schlüsselloch“, sagte sie. „Aber es ist verschlossen. Und die Schubfächer“, fuhr sie fort, indem sie eins nach dem andern probierte, „sind ebenfalls alle verschlossen.“
„Steckt kein Schlüssel in einem derselben?“ fragte Leonard.
„Nicht eine Spur. Das Blatt greift sich aber so locker an, daß ich wirklich glaube, man könnte es aufsprengen, gerade so wie ich die kleine Kiste aufsprengte – freilich aber müßte es durch ein Paar stärkere Hände geschehen, als deren ich mich rühmen kann. Ich will dich an den Tisch führen, Lenny; vielleicht weicht er deiner Kraft.“
Sie legte Leonards Hände sorgfältig unter den Vorsprung, der durch die überragende Platte des Tisches gebildet ward. Er bot seine ganze Kraft auf, aber das Holz war diesmal gesund und fest, das Schloß hielt und alle seine Bemühungen waren vergebens.
„Müssen wir einen Schlosser holen?“ fragte Rosamunde mit einem Blick getäuschter Erwartungen.
„Wenn der Tisch von einigem Wert ist, so müssen wir dies“, entgegnete Leonard. „Ist dies nicht der Fall, so werden sich das Blatt und die Schubfächer mit Hilfe eines Hammers und eines Schraubenziehers leicht öffnen lassen.“
„Dann wollte ich, wir hätten diese Werkzeuge gleich mit zur Stelle gebracht, denn der einzige Wert des Tisches liegt in den Geheimnissen, die er uns vielleicht verbirgt. Ich habe eher keine Ruhe, als bis wir wissen, was darin steckt.“
Indem sie diese Worte sagte, faßte sie ihren Gatten bei der Hand, um ihn wieder nach seinem Platze auf dem Sofa zurückzuführen. Als sie an dem Kamin vorbeikamen, trat er auf den nackten steinernen Herd und da er auf diese Weise eine neue Substanz unter den Füßen fühlte, so streckte er instinktmäßig die Hand aus, die er frei hatte.
Er berührte eine Marmortafel mit halb erhabener Bildhauerarbeit, die in die Mitte des Kaminsimses eingesetzt war.
Er blieb sofort stehen und fragte, was für ein Gegenstand es sei, den seine Finger zufällig berührt hätten.
„Es ist ein steinernes Bildwerk“, sagte Rosamunde. „Ich hatte vorher nicht darauf geachtet. Es ist sehr groß und nicht besonders anziehend, wenigstens nicht nach meinem Geschmack. Insoweit ich es beurteile, stellt es –“
Leonard unterbrach sie, ehe sie weitersprechen konnte.
„Laß mich einmal versuchen, ob ich selbst ermitteln kann, was es vorstellt“, sagte er ein wenig ungeduldig. „Ich will einmal mit meinen Fingern probieren, ob ich erraten kann, was der Gegenstand dieser Bildhauerarbeit ist.“
Er fuhr mit den Händen langsam und sorgfältig über das Basrelief, während Rosamunde jede seiner Bewegungen mit stummer Aufmerksamkeit verfolgte, überlegte ein wenig und sagte:
„Ist in der rechten Ecke nicht die sitzende Figur eines Mannes, und sind nicht höher oben links etwas plump ausgeführte Felsen und Bäume zu sehen?“
Rosamunde sah ihn zärtlich an und lächelte.
„Mein armer guter Lenny!“ sagte sie. „Dein sitzender Mann ist in der Wirklichkeit eine verkleinerte Kopie der berühmten alten Statue der Niobe und ihres Kindes; deine Felsen sind marmorne Nachahmungen von Wolken und deine plump ausgeführten Bäume sind Pfeile, welche von der Hand eines unsichtbaren Jupiter oder Apollo oder irgendeines andern heidnischen Gottes abgeschossen werden. Ach, Lenny, Lenny, du kannst auf deinen Gefühlssinn nicht so bauen wie du auf mich bauen kannst.“
Ein augenblicklicher Schatten des Verdrusses flog über sein Gesicht, verschwand aber sofort, als Rosamunde seine Hand ergriff, um ihn wieder auf seinen Platz zurückzuführen. Er zog sie sanft an sich und küßte sie auf die Wange.
„Du hast recht, Rosamunde“, sagte er. „Der einzige zuverlässige Freund in meiner Blindheit, der mir niemals untreu wird, ist mein Weib.“
Da Rosamunde ihn wehmütig gestimmt sah und mit dem Scharfblick der Liebe eines Weibes fühlte, daß er an die Zeit dachte, wo er noch das Glück des Augenlichts genossen, so kehrte sie, sobald sie ihn wieder auf der Ottomane hatte Platz nehmen lassen, zu der Aufgabe zurück, welche sie in das Myrtenzimmer geführt hatte.
„Wo soll ich nun suchen, lieber Lenny?“ fragte sie. „Den Bücherschrank haben wir untersucht. Mit dem Untersuchen des Schreibtisches müssen wir warten. Was gibt es sonst noch hier, was ein Schubfach oder sonst ein verschlossenes Behältnis hätte?“
Sie sah sich verlegen um und ging dann nach dem Teile des Zimmers, welcher ihre Aufmerksamkeit zuletzt angezogen – dem Teile, wo der Kamin sich befand.
„Ich glaubte hier etwas zu bemerken, Lenny, als ich eben mit dir vorbeiging“, sagte sie, indem sie sich der zweiten Vertiefung hinter dem Kaminsims näherte, welche ganz der entsprach, in welcher der Schreibtisch stand.
Sie schaute hinein und entdeckte in einer Ecke, die durch den Schatten des dicken, hervorragenden Kaminsimses dunkel gemacht ward, einen schmalen, wackligen, kleinen Tisch aus dem ordinärsten Mahagoni gefertigt – das gebrechlichste, armseligste und am wenigsten in die Augen fallende Möbel im ganzen Zimmer.
Mit dem Fuße schob sie es verächtlich in das Licht. Es bewegte sich auf plumpen, altmodischen Rollen und knarrte träg, während es geschoben ward.
„Lenny, ich habe noch einen Tisch gefunden“, sagte Rosamunde, „ein elendes, erbärmliches, kleines Ding, welches halb unsichtbar in einem Winkel stand. Ich habe es soeben ins Licht geschoben und ein Schubfach daran entdeckt.“
Sie schwieg und versuchte das Schubfach zu öffnen, aber es leistete Widerstand.
„Wieder ein Schloß!“ rief sie ungeduldig. „Selbst dieses erbärmliche Ding ist gegen uns!“
Sie schob den Tisch mit der Hand heftig fort. Er schwankte auf seinen gebrechlichen Beinen, taumelte, und fiel auf den Fußboden – so schwerfällig als ob er zwei Mal so groß gewesen wäre – mit einem Schlage, der durch das Zimmer dröhnte und von dem Echo der einsamen nördlichen Halle mehrmals zurückgegeben ward.
Rosamunde eilte, als sie ihren Gatten erschrocken von seinem Platze emporfahren sah, auf ihn zu und erzählte ihm, was geschehen sei.
„Du nanntest den Tisch einen kleinen“, entgegnete er erstaunt; „er fiel ja aber wie eines der größten Möbel im Zimmer.“
„Ganz gewiß muß etwas Schweres in dem Schubfache sein“, sagte Rosamunde, indem sie sich noch ganz aufgeregt durch den unnatürlichen schweren Fall des Tisches demselben wieder näherte. Nachdem sie eine Weile gewartet, um dem Staub, der durch den Fall von dem Fußboden emporgewirbelt worden, und der noch in dicken trägen Wolken über dem Tische schwebte, Zeit zu lassen, sich zu zerstreuen, bückte sie sich und sah den Tisch näher an. Er war oben an dem Blatt von einem Ende bis zum andern geborsten und das Schloß durch den Fall von seiner Befestigung losgerissen.
Rosamunde setzte den Tisch sorgfältig wieder in die Höhe, zog den Schubkasten heraus und wendete sich, nachdem sie einen Blick auf den Inhalt geworfen, zu ihrem Gatten.
„Ich dachte es gleich“, sagte sie. „Ich wußte, daß etwas Schweres in dem Schubkasten liegen müsse. Er ist mit einer Menge Kupfererzen angefüllt, gleich jenen in der Sammlung, die sich mein Vater von den verschiedenen Gesteinarten des Porthgenna-Schachtes angelegt hatte, Lenny, weißt du noch? Doch warte; ich glaube, ich fühle dahinten, so weit ich mit meiner Hand reichen kann, noch etwas Anderes.“
Sie zog unter den Erzklumpen, die in dem hintern Teile des Schubfaches lagen, hervor einen kleinen, runden Bilderrahmen von schwarzem Holz, ungefähr von der Größe eines gewöhnlichen Handspiegels. Er lag mit der Vorderseite nach unten und die Fläche innerhalb des runden Rahmens war mit einem dünnen Brett ausgefüllt, von der Gattung, die man gewöhnlich zu Hinterseiten von kleinen Rahmen verwendet, um die Bilder darin festzuhalten.
Dieses Brettchen, welches auf der Hinterseite des Rahmens nur mit einem einzigen Nagel befestigt war, hatte der Sturz des Tisches wahrscheinlich aus seiner Lage gebracht, und als Rosamunde den Rahmen aus dem Schubfache herausnahm, bemerkte sie zwischen dem Rahmen und dem verschobenen Ende ein Stück Papier, welches, wie es schien, viele Mal zusammengebrochen war, um den kleinstmöglichen Raum einzunehmen.
Sie zog das Papier heraus, legte es beiseite auf den Tisch, ohne es auseinanderzufalten, brachte das Brettchen wieder in die geeignete Lage und drehte dann den Rahmen herum, um zu sehen, ob auf der Vorderseite sich ein Bild darin befände.
Allerdings war ein Bild da – ein Bild in Ölfarben gemalt und vom Alter etwas dunkel gemacht, aber nicht sehr verblichen. Es stellte den Kopf einer Dame und die Gestalt derselben bis auf den Busen vor.
Sobald als Rosamundes Augen darauf fielen, schauderte sie und eilte mit dem Bilde in der Hand sofort auf ihren Gatten zu.
„Nun, was hast du jetzt gefunden?“ fragte er, als ob er sie sich ihm nähern hörte.
„Ein Bild“, antwortete sie leise, indem sie stehenblieb, um es wieder anzusehen.
Leonards leises Ohr bemerkte sofort die Veränderung in ihrer Stimme.
„Hat das Bild etwas, was dich beunruhigt?“ fragte er halb im Scherz, halb im Ernst.
„Allerdings hate es etwas Auffälliges – etwas, was mich, so heiß auch der Tag ist, für den Augenblick wie Frost durchschauert“, entgegnete Rosamunde. „Entsinnst du dich noch der Schilderung, welche Betsey uns am Abend unserer Ankunft von dem Gespenst der nördlichen Zimmer machte?“
„Ja, ich erinnere mich noch vollkommen.“
„Lenny, diese Beschreibung paßt ganz genau auf dieses Bild. Hier ist das gekräuselte hellbraune Haar. Hier ist das Grübchen auf jeder Wange. Hier sind die weißen, regelmäßigen Zähne. Hier ist die lauernde, frivole verhängnisvolle Schönheit, welche das Mädchen zu beschreiben suchte und auch wirklich beschrieb, indem sie sagte, dieselbe sei grauenhaft.“
Leonard lächelte.
„Deine lebhafte Phantasie ergeht sich zuweilen in seltsamen Vorstellungen“, sagte er ruhig.
„Meine Phantasie?“ wiederholte Rosamunde bei sich selbst. „Wie kann von Phantasie die Rede sein, wenn ich das Gesicht wirklich hier vor mir sehe. Wie kann es Phantasie sein, wenn ich fühle –“
Sie schwieg, schauderte wieder und kehrte schnell an den Tisch zurück, auf welchen sie das Bild mit dem Gesicht abwärts niederlegte. Indem sie dies tat, fiel ihr wieder das zusammengefaltete Papier, welches sie aus dem Hinterteil des Rahmens herausgenommen, ins Auge.
„Vielleicht finde ich hier einigen Aufschluß über dieses Bild“, sagte sie, indem sie die Hand nach dem Papier ausstreckte.
Es war jetzt ziemlich Mittag. Die Hitze lastete schwerer auf der Luft und die Stille aller Dinge war banger als je, als Rosamunde das Papier von dem Tische nahm und auseinanderfaltete.
Viertes Kapitel
Die Enthüllung des Geheimnisses
Falte um Falte öffnete Rosamunde das Papier und sah, daß auf der innern Seite geschriebene Buchstaben standen, die eine hellgelbliche Farbe angenommen hatten. Sie strich es auf dem Tische glatt, hob es dann wieder auf und sah die erste Zeile der Schrift an.
Die erste Zeile enthielt drei Worte – Worte, welche ihr sagten, daß das Papier mit der Schrift darauf nicht die Beschreibung eines Bildes war, sondern ein Brief – Worte, bei welchen sie, als ihr Auge darauf fiel, zusammenschrak und die Farbe wechselte. Ohne es zu versuchen, weiter zu lesen, wendete sie schnell das Blatt um, um die Stelle zu finden, wo die Schrift endete.
Sie endete am Fuße der dritten Seite, aber nahe am Fuße der zweiten Seite war ein Absatz zwischen den Zeilen und in diesem Absatz standen zwei Namen geschrieben.
Sie sah den obersten der beiden Namen an – schrak wieder zusammen – und kehrte dann sofort zu der ersten Seite zurück.
Zeile um Zeile und Wort um Wort las sie die Schrift. Ihre natürliche Gesichtstfarbe schwand dabei allmählich hinweg und eine fahle, gleichförmige Blässe überzog an ihrer Stelle das ganze Gesicht. Als sie an das Ende der dritten Seite gekommen war, sank die Hand, in welcher sie den Brief hielt, schlaff herab und sie wendete den Kopf langsam nach Leonard herum.
So blieb sie stehen. Keine Träne befeuchtete ihr Auge, keine Veränderung machte sich in ihren Zügen bemerklich, kein Wort entschlüpfte ihren Lippen, keine Bewegung änderte die Stellung ihrer Glieder – so stand sie, den verhängnisvollen Brief in ihren kalten Fingern zusammenknitternd und unverwandt, sprachlos und atemlos ihren blinden Gatten betrachtend.
Er saß noch wie sie ihn vor wenigen Minuten hatte sitzen sehen – mit gekreuzten Beinen, die Hände gefaltet und das Gesicht erwartungsvoll nach der Richtung hingewendet, in welcher er den Ton der Stimme seines Weibes zuletzt vernommen.
Nach wenigen Augenblicken erweckte jedoch die ununterbrochene Stille im Zimmer seine Aufmerksamkeit. Er veränderte seine Stellung – horchte eine Weile, wendete den Kopf unruhig von einer Seite zur andern und rief dann:
„Rosamunde?“
Bei dem Klange seiner Stimme bewegten sich ihre Lippen und ihre Finger faßten das Papier, welches sie hielt, fester, aber sie tat keinen Schritt und sprach kein Wort.
„Rosamunde!“
Ihre Lippen bewegten sich wieder, leichte Spuren von Ausdruck begannen sich schattenhaft über die leichenblasse Fläche ihres Gesichts zu stehlen – sie tat einen Schritt, zögerte, sah den Brief an und blieb wieder stehen.
Da Leonard keine Antwort hörte, so erhob er sich überrascht und unruhig. Seine armen, hilflosen Hände vor sich in der Luft hin- und herbewegend, ging er einige Schritte vorwärts, geradeaus von der Wand, an welcher er gesessen. Ein Stuhl, welchen zu berühren seine Hände nicht tief genug herabreichten, stand ihm im Wege und da er immer noch vorwärts ging, so stieß er heftig mit dem Knie daran.
Ein Schrei entfuhr Rosamundes Lippen, als ob der Schmerz dieses Stoßes von ihrem Gatten auf sie selbst überginge. Im nächsten Augenblick war sie an seiner Seite.
„Du hast dir doch nicht Schaden getan, Lenny?“ fragte sie leise.
„Nein, nein.“
Er versuchte seine Hand an die Stelle zu drücken, wo er sich gestoßen, Rosamunde kniete rasch nieder und legte ihre eigene Hand darauf, indem sie zugleich, während sie darauf kniete, ihren Kopf in seltsam zögernder, schüchterner Weise an ihn schmiegte.
Er legte die Hand, deren Bewegung sie gehemmt, leicht auf ihre Schulter.
In dem Augenblick, wo diese Hand sie berührte, begannen ihre Augen einen andern Ausdruck zu gewinnen, Tränen stiegen in dieselben empor und rannen langsam an den Wangen herunter.
„Ich dachte, du hättest mich verlassen“, sagte er. „Es war so still im Zimmer, daß ich glaubte, du wärest hinausgegangen.“
„Willst du jetzt mit mir hinauskommen?“ fragte sie.
Ihre Kräfte schienen ihr untreu zu werden, während sie diese Frage tat, ihr Kopf sank auf seine Brust herab und sie ließ den Brief neben sich auf den Fußboden niederfallen.
„Bist du schon müde, Rosamunde? Deine Stimme klingt so matt.“
„Ich möchte das Zimmer verlassen“, sagte sie noch in demselben leisen gezwungenen Tone. „Schmerzt dich dein Knie noch, Lenny? Kannst du jetzt gehen?“
„Jawohl. Mein Knie ist durchaus nicht beschädigt. Wenn du müde bist, Rosamunde – ich weiß, daß du es bist, wenn du es auch nicht gestehen willst – so wird es gut sein, wenn wir dieses Zimmer so bald als möglich verlassen.“
Sie schien die letzten Worte, die er sagte, nicht zu hören. Ihre Finger bewegten sich fieberhaft an ihrem Halse und Busen herum; zwei helle, rote Punkte begannen auf ihren bleichen Wangen zu brennen; ihre Augen waren stier auf den neben ihr liegenden Brief geheftet; ihre Hände tasteten umher, ehe sie ihn aufhoben.
Einige Sekunden lang wartete sie so auf den Knien liegend und sah den Brief unverwandt an, den Kopf von ihrem Gatten abgewendet, dann erhob sie sich und ging nach dem Kamin.
Unter dem Staub, der Asche und anderm Schutt an der hintern Stelle des Rostes lagen einige alte, zerrissene Stücke Papier umhergestreut. Ihre Augen fielen darauf und sie betrachtete dieselben aufmerksam. Sie schauete und schauete und bog sich langsam immer tiefer auf den Rost herab. Einen Augenblick lang hielt sie den Brief mit beiden Händen über die Asche – den nächsten zog sie ihn heftig schaudernd zurück und drehte sich so, daß sie ihrem Gatten wieder gegenüber stand. Als sie ihn erblickte, entrang sich ihr ein schwacher, unartikulierter Ausruf, halb Seufzer, halb Schluchzen.
„O, nein, nein!“ flüsterte sie bei sich selbst, indem sie inbrünstig die Hände faltete und ihn mit liebenden, wehmütigen Augen betrachtete; „niemals, niemals, Lenny! Möge daraus werden, was da wolle.“
„Sprachst du mit mir, Rosamunde?“
„Ja, Geliebter. Ich sagte –“
Sie schwieg und faltete mit zitternden Fingern das Papier genau wieder zu der Form zusammen, in welcher sie es gefunden.
„Wo bist du?“ fragte er. „Deine Stimme klingt fern von mir, wieder am andern Ende des Zimmers. Wo bist du?“
Zitternd und weinend eilte sie auf ihn zu, faßte ihn beim Arm und ohne einen Augenblick zu zögern, ohne die mindeste Spur von Unentschlossenheit in ihrem Gesicht, legte sie das zusammengefaltete Papier kühn in seine Hand.
„Behalte dies, Lenny“, sagte sie totenbleich, aber ohne ihre Festigkeit zu verlieren. „Behalte dies und fordre mich auf, es dir vorzulesen, sobald wir das Myrtenzimmer verlassen haben.“
„Was ist es?“ fragte er.
„Das Letzte, was ich gefunden, Geliebter“, entgegnete sie, indem sie ihn innig mit einem tiefen Seufzer wie aus erleichtertem Herzen ansah.
„Ist es von Wichtigkeit?“
Anstatt zu antworten, drückte sie ihn plötzlich an ihre Brust, klammerte sich mit aller Inbrunst an ihn und bedeckte atemlos und leidenschaftlich sein Gesicht mit Küssen.
„Na, sachte, sachte!“ rief Leonard lachend. „Du erdrückst mich ja!“
Sie ließ von ihm ab, trat einen Schritt zurück, legte eine Hand auf jede seiner Schultern und betrachtete ihn schweigend.
„O mein Engel!“ murmelte sie zärtlich. „Alles, was ich in der Welt habe, wollte ich darum geben, wenn ich wüßte, wie sehr du mich liebst.“
„Nun“, entgegnete er immer noch lachend, „das solltest du doch nun wissen, Rosamunde.“
„Ich werde es bald wissen.“
Sie sprach diese Worte in so ruhigem und leisem Tone, daß sie nur eben hörbar waren. Die Veränderung in ihrer Stimme als ein neues Symptom von Ermüdung deutend, forderte Leonard sie auf, ihn wegzuführen, indem er ihr die Hand entgegenstreckte.
Auf dem Rückwege nach dem bewohnten Teile des Hauses sagte Rosamunde weiter nichts über das zusammengefaltete Papier, welches sie ihm in die Hand gedrückt. Ihre ganze Aufmerksamkeit, während sie nach der westlichen Front zurückkehrten, schien darauf gerichtet zu sein, daß sie jeden Zoll des Bodens, auf welchem er wandelte, eifersüchtig betrachtete, um sich zu überzeugen, daß er glatt und sicher sei, ehe sie Leonard gestattete, seinen Fuß darauf zu setzen. So sorgfältig und umsichtig sie auch vom ersten Tage ihres Ehestandes gewesen, wenn sie ihren Gatten von einem Ort nach dem andern führte, so war sie doch jetzt übertrieben, ja fast lächerlich besorgt, ihn vor der entferntesten Möglichkeit eines Unfalls zu bewahren.
Als sie fand, daß er, als sie das Myrtenzimmer verließen, an dem äußern Rande des offenen Vorplatzes hinging, bestand sie darauf, daß er mit ihr die Seite wechselte und sich nun längs der Wand hin bewege.
Als sie die Treppe hinuntergingen, blieb sie mitten auf derselben stehen, um ihn zu fragen, ob er Schmerz in dem Knie empfände, womit er sich an den Stuhl gestoßen.
Auf der letzten Stufe bewog sie ihn abermals, stehen zu bleiben, während sie die zerrissenen, durcheinander gewirrten Überreste einer alten Fußdecke auf die Seite schob, damit er sich nicht mit den Füßen darein verwickelte.
Als sie durch die nördliche Halle schritten, bat sie ihn, ihren Arm zu nehmen und sich recht fest darauf zu stützen, denn sie sei überzeugt, daß sein Knie noch nicht ganz frei von Steifheit sei.
Selbst an der kurzen Treppe, welche den Eingang der Halle mit den nach der Westseite des Hauses führenden Gängen in Verbindung setzte, ließ sie ihn abwärts zwei Mal Halt machen, um seinen Fuß auf die noch gesunden Teile der Stufen zu setzen, welche nach ihrer Behauptung an mehr als einer Stelle gefährlich abgenutzt waren.
Er lachte gutmütig über ihre übertriebene Besorgtheit, ihn vor aller Gefahr des Stolperns zu bewahren, und fragte, ob sie, da sie so oft Halt machte, wohl für den Imbiß noch Zeit genug nach der westlichen Seite des Hauses kommen würden.
Sie war nicht wie gewöhnlich mit einer schnellen, witzigen Antwort bereit; sein Gelächter fand kein angenehmes Echo in dem ihrigen; sie antwortete bloß, es sei unmöglich, allzubesorgt um ihn zu sein, und dann gingen sie schweigend weiter, bis sie die Tür des Zimmers der Haushälterin erreichten.
Rosamunde ließ Leonard einen Augenblick vor dieser Tür warten, während sie hineinging, um die Schlüssel an Mistreß Pentreath zurückzugeben.
„Mein Himmel, Madame“, rief die Haushälterin, „Sie scheinen von der Hitze der Witterung und der dumpfen Luft in diesen alten Zimmern sehr angegriffen zu sein. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen, oder befehlen Sie mein Riechfläschchen?“
Rosamunde lehnte beide Anerbietungen ab.
„Darf ich fragen, Madame, ob sich diesmal in den nördlichen Zimmern etwas gefunden hat?“ fragte Mistreß Pentreath, indem sie die Schlüssel anhing.
„Bloß einige alte Papiere“, entgegnete Rosamunde sich abwendend.
„Sie erlauben mir wohl noch eine Frage, Madame“, fuhr die Haushälterin fort. „Wenn nun heute vielleicht Herrschaften aus der Umgegend kommen, um ihren Besuch zu machen –“
„Wir sind beschäftigt. Mag es sein, wer es wolle – wir sind beide beschäftigt.“
Mit dieser kurzen Antwort verließ Rosamunde die Haushälterin und begab sich wieder zu ihrem Gatten.
Mit demselben Übermaß von Aufmerksamkeit und Sorgfalt, welches sie auf dem Wege nach dem Zimmer der Haushälterin an den Tag gelegt, führte sie ihn jetzt auch die westliche Treppe hinauf. Da zufällig die Tür des Bibliothekszimmers offen stand, so gingen sie auf ihrem Wege nach dem Besuchzimmer, welches das größere und kühlere von beiden war, durch ersteres hindurch.
Nachdem Rosamunde ihren Gatten an einen Stuhl geführt, kehrte sie in das Bibliothekzimmer zurück und nahm von dem Tische einen Präsentierteller, den sie vorhin bemerkt und auf welchem eine Flasche Wasser und ein Glas standen.
„Es ist leicht möglich, daß Ohnmacht oder Schrecken mich überwältigen“, sagte sie rasch bei sich selbst, indem sie sich mit dem Präsentierbrett in der Hand herumdrehte, um wieder in das große Zimmer zurückzukehren.
Nachdem sie das Wasser auf einen Tisch in einer Ecke gesetzt, verschloß sie geräuschlos erst die in die Bibliothek und dann die hinaus auf den Korridor führende Tür.
Leonard, welcher hörte, daß sie sich umherbewegte, riet ihr, doch lieber ruhig auf dem Sofa sitzenzubleiben. Sie streichelte ihm die Wange und stand im Begriff, eine geeignete Antwort zu geben, als sie zufällig ihr Gesicht in dem Spiegel erblickte, unter welchem er saß.
Der Anblick ihrer bleichen Wangen und verstörten Augen hemmte die Worte auf ihren Lippen. Sie eilte fort nach dem Fenster, um einen Hauch der Luft zu erhaschen, welche von dem Meere her ihr zuwehte.
Der Sonnennebel barg immer noch den Horizont. Näher war die ölige, farblose Fläche des Wassers gerade sichtbar und hob sich von Zeit zu Zeit in einer eintönigen Woge, welche sich glatt und endlos hinausrollte, bis sie sich in dem weißen Dunkel des Nebels verlor.
Dicht am Strande war die sonst so tosende Brandung kaum zu hören. Kein Geräusch kam von der Bucht, ausgenommen in langen, ermüdenden Zwischenräumen, wenn ein kurzer Schlag und ein dumpfes, eben nur hörbares Plätschern den Fall einer kleinen, winzigen Welle auf den glühendheißen Sand verkündete.
Auf der Terrasse vor dem Hause war das eintönige Summen der Sommerinsekten alles, was von Leben und Bewegung sprach. Keine menschliche Gestalt war irgendwo an der Küste zu sehen; keine Spur von einem Segel dämmerte durch die Hitze auf dem Meere, kein Lufthauch bewegte die zarten Ranken der Schlingpflanzen, die an der Mauer des Schlosses sich hinzogen, oder erfrischte die an den Fenstern stehenden, schmachtenden Blumen.
Rosamunde wendete sich, nachdem sie die äußere Aussicht einen Augenblick lang betrachtet, ermüdet davon ab. Als sie wieder in das Zimmer hereinsah, redete ihr Gatte sie an.
„Was für ein kostbares Ding liegt denn in diesem Papier verborgen?“ fragte er, indem er den Brief zur Hand nahm und ihn lächelnd auseinanderfaltete. „Ganz gewiß muß es noch etwas Anderes sein, als bloße Schrift – vielleicht ist ein unschätzbares Pulver oder eine Banknote von fabelhaftem Werte in alle diese Falten eingewickelt.“
Rosamunde entsank der Mut, als er den Brief öffnete und mit den Fingern über die Schrift inwendig fuhr, indem zugleich in ironischer Weise seine Besorgnis aussprach und scherzend erklärte, alle in Porthgenna entdeckten Schätze mit Rosamunde teilen zu wollen.
„Ich will dir den Brief sogleich vorlesen, Lenny“, sagte sie, indem sie auf den nächsten Stuhl niedersank und mit matter Hand ihr Haar von den Schläfen zurückstrich. „Leg’ ihn aber jetzt auf einige Minuten weg und laß uns von irgendetwas anderm sprechen, es möge sein was es wolle, dafern es uns nur nicht an das Myrtenzimmer erinnert. Ich bin sehr launenhaft, nicht wahr, daß ich so plötzlich des Gegenstandes überdrüssig werde, über welchen ich seit so
vielen Wochen am liebsten und unermüdlichsten gesprochen. Sage mir, Geliebter“, setzte sie hinzu, indem sie plötzlich aufstand und an die Lehne seines Stuhles trat, „verschlimmern sich meine Grillen und Fehler, oder habe ich mich seit der Zeit unserer Vermählung gebessert?“
Er warf den Brief gleichgültig beiseite auf einen Tisch, welcher stets dicht neben seinem Stuhl stand und drohte ihr komisch vorwurfsvoll mit dem Finger.
„O pfui, Rosamunde!“ sagte er; „willst du mich verlocken, dir Komplimente zu machen?“
Der leichtfertige Ton, in welchem er immer noch sprach, schien sie geradezu zu ängstigen. Sie ging langsam von seinem Stuhl hinweg und setzte sich wieder in kurzer Entfernung von ihm nieder.
„Ich weiß, daß ich dich zuweilen beleidigte“, fuhr sie rasch und verlegen fort – „doch nein, ich beleidigte dich nicht – ich ärgerte dich bloß ein wenig – weil ich allzu vertraulich mit den Dienstleuten sprach. Du hättest anfangs, wenn du mich nicht so gut gekannt hättest, fast glauben können, es sei dies so meine Gewohnheit, weil ich früher selbst einmal eine dienende Person gewesen wäre. Gesetzt nun, ich wäre wirklich eine dienende Person gewesen – die Dienerin, welche dich in deinen Krankheiten gepflegt, die Dienerin, welche dich in deiner Blindheit sorgfältiger geführt als sonst jemand getan – würdest du dann viel an den Unterschied zwischen usn gedacht haben – würdest du –“
Sie schwieg. Das Lächeln war aus Leonards Gesicht verschwunden und er hatte sich ein wenig von ihr abgewendet.
„Was kann es nützen, Rosamunde, Fälle anzunehmen, die sich niemals hätten ereignen können?“ fragte er etwas ungeduldig.
Sie ging an den Nebentisch, schenkte sich von dem Wasser, welches sie aus dem Bibliothekzimmer geholt, in das Glas und trank es begierig; dann ging sie an das Fenster und pflückte einige von den hierstehenden Blumen. Einige davon warf sie im nächsten Augenblick wieder weg, behielt aber die übrigen in der Hand und ordnete sie so, daß ihre Farben mit der Wirkung kontrastierten. Als dies geschehen war, steckte sie sie an die Brust, sah zerstreut darauf herab, nahm sie wieder von dem Kleide ab, kehrte zu ihrem Gatten zurück und steckte ihm den kleinen Strauß in das Knopfloch seines Rockes.
„Da hast du etwas, was dir ein heiteres Aussehen gibt, Geliebter – so wie ich stets zu sehen wünsche“, sagte sie, indem sie sich in ihrer beliebten Stellung zu seinen Füßen niedersetzte und, mit ihren Armen auf seinen Knien ruhend, wehmütig zu ihm aufblickte.
„Woran denkst du, Rosamunde?“ fragte er nach einer Pause.
„Ich dachte bloß nach, Lenny, ob noch irgendein Weib auf der Welt dich so lieben könnte wie ich. Ich fürchte fast, daß es noch mehrere gebe, die ebenso wie ich nichts mehr verlangen würden, als für dich zu leben und zu sterben. Es liegt etwas in deinem Gesicht, in deiner Stimme, in deinem ganzen Wesen – außer dem Interesse, welches dein beklagenswertes Gebrechen einflößt – was, glaube ich, das Herz jedes Weibes zu dir ziehen muß. Wenn ich sterben sollte –“
„Wenn du sterben solltest!“
Er fuhr empor, indem er diese Worte wiederholte und sich vorwärts neigend seine Hand unruhig auf ihre Stirn legte. „Du denkst und sprichst diesen Morgen sehr seltsam, Rosamunde. Bist du nicht wohl?“
Sie erhob sich auf ihre Knie, sah ihn näher an, ihr Gesicht heiterte sich ein wenig auf und ein mattes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich möchte wissen, ob du mich stets so lieben wirst, wie du mich jetzt liebst“, flüsterte sie, indem sie seine Hand küßte, während sie dieselbe von ihrer Stirn hinwegnahm.
Er lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sagte scherzend, sie solle nicht zu weit in die Zukunft schauen.
Diese Worte, so leichthin sie auch gesprochen wurden, drangen tief in ihr Herz.
„Es gibt Zeiten, Lenny“, sagte sie, „wo alles Glück der Gegenwart von der Gewißheit der Zukunft abhängt.“
Sie sah den Brief an, den ihr Gatte offen auf dem Tische neben sich hatte liegen lassen und nach einem augenblicklichen Kampfe mit sich selbst nahm sie ihn in die Hand, um ihn zu lesen.
Bei dem ersten Worte aber versagte ihr die Stimme – die tödliche Blässe breitete sich wieder über ihr Gesicht; sie warf den Brief wieder auf den Tisch und ging fort bis ans andere Ende des Zimmers.
„Der Zukunft?“ fragte Leonard. „Welcher Zukunft, Rosamunde? Was meinst du?“
„Gesetzt, ich meinte unsere Zukunft in Porthgenna“, sagte sie, indem sie ihre trockenen Lippen mit einigen Tropfen Wasser befeuchtete. „Werden wir hier so lange bleiben, wie wir dies bis jetzt gedacht und werden wir hier so glücklich sein, wie wir anderwärts gewesen sind? Auf der Reise sagtest du mir, ich würde es sehr langweilig finden, und mich zu allerhand außerordentlichen Beschäftigungen genötigt sehen, um mir die Zeit zu vertreiben. Du sagtest, ich würde mit der Gärtnerei anfangen und damit enden, daß ich einen Roman schriebe.“
„Einen Roman!“
Sie näherte sich wieder ihrem Gatten und sah ihm aufmerksam ins Gesicht, während sie fortfuhr:
„Warum nicht? Es werden jetzt von Frauen mehr Romane geschrieben, als von Männern. Was soll mich abhalten, es zu versuchen? Das erste große Erfordernis ist, glaube ich, eine Idee zu einer Geschichte zu haben, und diese habe ich.“
Sie ging noch einige Schritte weiter, erreichte den Tisch, auf dem der Brief lag und legte ihre Hand darauf, während sie ihre Augen immer noch aufmerksam auf Leonards Gesicht geheftet hielt.
„Und was hast du für eine Idee, Rosamunde?“ fragte er.
„Diese“, entgegnete sie. „Die Hauptpersonen meiner Geschichte sind ein junges Ehepaar. Sie sollen einander innig lieben – so innig wie wir, Lenny – und sie sollen demselben Range angehören wie du. Nachdem sie eine Zeit glücklich vermählt gewesen und nachdem sie mit einem Kinde beglückt worden, welches ihre Liebe zueinander noch höher steigert, bricht auf einmal wie ein Donnerschlag aus heiterm Himmel eine furchtbare Entdeckung über sie herein. Der Mann hat zu seiner Gattin eine junge Dame gewählt, welche einen so alten Familiennamen trägt, wie –“
„Wie der deine?“ meinte Leonard.
„Wie der Name der Familie Treverton“, fuhr sie nach einer Pause fort, während welcher ihre Hand rastlos den Brief auf dem Tische hin und her bewegt hatte. „Der Mann ist von guter Geburt – von ebenso guter Geburt wie du, Lenny – und die furchtbare Entdeckung besteht darin, daß sein Weib kein Recht auf den alten Namen hat, den sie trug, als sie heiratete.“
„Liebe Rosamunde, ich kann nicht sagen, daß mir deine Idee gefiele. Deine Geschichte wird den Leser verlocken, sich für ein Weib zu interessieren, welches zuletzt als Betrügerin dasteht.“
„Nein“, rief Rosamunde mit Wärme. „Ein echtes Weib ist sie – ein Weib, welches sich nie zu einem Betrug erniedrigte – ein Weib voll Mängel und Gebrechen, aber eine Freundin der Wahrheit auf alle Gefahren und Opfer hin. Laß mich ausreden, Lenny, ehe du urteilst.“
Heiße Tränen traten ihr in die Augen, aber sie trocknete sie schnell wieder und fuhr fort:
„Diese junge Dame wächst heran und heiratet, völlig unbekannt – merke das wohl – völlig unbekannt mit ihrer eigentlichen Geschichte. Die plötzliche Enthüllung der Wahrheit schmettert sie zu Boden – sie sieht sich von einem Unheil ereilt, an welchem sie keine Schuld hat. Sie wird durch die Entdeckung zermalmt, zerschmettert und fast dem Wahnsinne nahe gebracht. Die Entdeckung bricht über sie herein, während sie keine Stütze hat, als sich selbst. Es steht in ihrer Macht, sie vollkommen ungestraft vor ihrem Gatten geheim zu halten; sie fühlt sich in einem Augenblick furchtbarer Versuchung gleich andern schwachen Sterblichen erschüttert und nahe daran, diese Verheimlichung zu begehen; aber sie überwindet diese Versuchung und sagt, nur auf Antrieb ihres eigenen freien Willens, ihrem Gatten Alles, was sie selbst weiß. Nun, Lenny, wie nennst du dieses Weib. Immer noch eine Betrügerin?“
„Nein, ein Opfer.“
„Welches freiwillig zum Opfertode geht? Und welches auch geopfert werden muß?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Was würdest du mit ihr machen, Lenny, wenn du ihre Geschichte schriebest? Ich meine, wie würdest du ihren Gatten sich gegen sie benehmen lassen? Es ist dies eine Frage, bei welcher die Natur des Mannes ins Spiel kommt und eine Frau ist daher nicht befähigt, darüber zu entscheiden. Ich weiß deshalb auch nicht, wie ich die Geschichte schließen soll. Wie würdest du sie schließen, Geliebter?“
Bei diesen letzten Worten sank ihre Stimme wehmütig zu ihrem sanftesten, bittendsten Tone herab. Sie trat dicht an ihn heran und wickelte sein Haar liebkosend um ihre Finger.
„Wie würdest du sie schließen, Geliebter?“ wiederholte sie, indem sie sich bückte, bis ihre zitternden Lippen gerade seine Stirn berührten.
Er rückte unruhig in seinem Stuhle hin und her und antwortete:
„Ich bin kein Romanschreiber, Rosamunde.“
„Aber wie würdest du handeln, Lenny, wenn du dieser Mann wärest?“
„Das ist für mich schwer zu sagen“, antwortete er. „Ich besitze nicht deine lebhafte Einbildungskraft, liebe Rosamunde – ich besitze nicht die Fähigkeit, mich sofort in eine Stellung zu versetzen, die nicht die meinige ist, um zu wissen, wie ich in derselben handeln würde.“
„Aber gesetzt, dein Weib wäre dicht bei dir – so dicht wie ich jetzt. Gesetzt, sie hätte dir das furchtbare Geheimnis offenbart und stünde vor dir – so wie ich jetzt stehe – und das Glück ihres ganzen künftigen Lebens hinge von einem einzigen Worte deiner Lippen ab? O, Lenny, du würdest sie nicht mit gebrochenem Herzen zu deinen Füßen niedersinken lassen, nicht wahr nicht? Du würdest wissen, möchte ihre Geburt sein welche sie wollte, daß sie noch dieselbe wäre, welche dich seit dem Tage ihrer Vermählung geliebt und verehrt, und welche dagegen nichts verlangt hätte, als ihr Haupt an deine Brust zu legen und zu hören, daß du sie liebst. Du würdest wissen, daß sei den Mut gehabt, das verhängnisvolle Geheimnis zu offenbaren, weil sie in ihrer Liebe und Treue gegen ihren Gatten lieber verlassen und verachtet sterben, als ihn betrügend leben wollte. Alles dies würdest du wissen, und du würdest der Mutter deines Kindes, dem Weibe deiner ersten Liebe die Arme öffnen, obschon sie vor den Augen der Welt die niedrigste aller Niedriggeborenen wäre. Ja, das würdest du tun, Lenny – ich weiß, du würdest es tun.“
„Rosamunde, wie deine Hände zittern! Wie deine Stimme sich verändert! Du regst dich wegen dieser von dir erdichteten Geschichte auf, als ob du von wirklichen Ereignissen sprächst.“
„Du würdest sie an dein Herz schließen, nicht wahr, Lenny? Du würdest ihr ohne einen Augenblick unwürdigen Zweifels die Arme öffnen?“
„Still! Still! Ja, ich hoffe, ich würde es tun.“
„Du hoffst es! Du hoffst es bloß? O, denke noch ein Mal darüber nach; überlege es dir noch ein Mal und sage, daß du weißt, du würdest es tun.“
„Muß ich, Rosamunde? Nun gut, dann sage ich es hiermit.“
Sie trat, sobald er diese Worte gesprochen, von ihm zurück und nahm den Brief vom Tische.
„Du hast mich noch nicht aufgefordert, Lenny, dir den Brief vorzulesen, den ich in dem Myrtenzimmer gefunden. Jetzt erbiete ich mich aus freiem Antriebe, dies zu tun.“
Sie zitterte ein wenig, als sie diese wenigen, entscheidenden Worte sprach, aber sie sagte sie klar und deutlich, als ob ihr Bewußtsein, daß sie nun unwiderruflich verbunden sei, die Enthüllung zu bewirken, ihr endlich die nötige Kraft gäbe, um allen Gefahren zu trotzen und aller Ungewißheit ein Ende zu machen.
Ihr Gatte wendete sich nach der Stelle, von welcher der Ton ihrer Stimme zu ihm drang, mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, der ein Gemisch von Betroffenheit und Überraschung war.
Du gehst so plötzlich von einem Gegenstand auf den andern über“, sagte er, „daß ich kaum weiß, wie ich dir folgen soll. Was um aller Welt willen, Rosamunde, veranlaßt dich mit einem Male, von einem romantischen Streit über eine Situation in einem Roman auf die schlichte, praktische Verrichtung des Vorlesens eines alten Briefes überzuspringen?“
„Vielleicht besteht zwischen diesen beiden Dingen ein engerer Zusammenhang als du vermutest“, antwortete sie.
„Ein engerer Zusammenhang? Was für ein Zusammenhang? Ich verstehe nicht.“
„Der Brief wird das Nähere erklären.“
„Warum der Brief? Warum willst nicht du es erklären?“
Sie warf einen raschen, unruhigen Blick auf sein Gesicht und sah, daß eine Ahnung von etwas Ernstem jetzt zum ersten Male sein Gemüt überschattete.
„Rosamunde“, rief er, „hier waltet ein Geheimnis ob, welches –“
„Zwischen uns beiden gibt es keine Geheimnisse“, unterbrach sie ihn rasch. „Es hat deren nie zwischen uns gegeben, Geliebter, und es wird drene keine geben.“
Sie bewegte sich ein wenig näher zu ihm hin, um ihren alten Lieblingsplatz auf seinem Knie einzunehmen, tat sich aber plötzlich Einhalt und kehrte wieder an den Tisch zurück. Warnende Tränen in ihren Augen hießen sie ihrer eigenen Festigkeit mißtrauen und den Brief da lesen, wo sie nicht das Herz ihres Gatten klopfen fühlte.
„Sagte ich dir“, hob sie wieder an, nachdem sie einen Augenblick gewartet, um sich zu fassen, „wo ich das zusammengefaltete Papier fand, welches ich in dem Myrtenzimmer in deine Hand gab?“
„Nein“, entgegnete er, „ich glaube nicht.“
„Ich fand es auf der Rückseite des Rahmens jenes Bildes – des Bildes der gespenstischen Frau mit dem bösen Gesicht. Ich öffnete das Papier sofort und sah, daß es ein Brief war. Die Adresse inwendig, die erste Zeile unter derselben und eine der beiden Unterschriften, die es enthielt, waren von einer mir bekannten Hand.“
„Von wessen Hand?“
„Von der Hand der verstorbenen Mistreß Treverton.“
„Deiner Mutter?“
„Der verstorbenen Mistreß Treverton.“
„Mein Gott, Rosamunde, warum sprichst du auf diese Weise von ihr?“
„Laß mich lesen und du wirst es erfahren. Ich möchte es lieber lesen als sagen. Du hast mit meinen Augen gesehen wie das Myrtenzimmer aussieht; du hast mit meinen Augen jeden Gegenstand gesehen, den mein Nachsuchen darin ans Licht brachte, du mußt nun auch mit meinen Augen sehen, was dieser Brief enthält. Es ist das Geheimnis des Myrtenzimmers.“
Sie neigte sich dicht auf die verschlossene, verblichene Schrift herab und las folgende Worte:
„An meinen Gatten.
Wir scheiden auf immer, Arthur, und ich habe nicht den Mut gehabt, unsern Abschied durch das Geständnis zu verbittern, daß ich dich hintergangen habe – grausam und niedrig hintergangen. Noch vor wenigen Minuten weintest du an meinem Bett und sprachst von unserm Kinde. Mein betrogener, mein geliebter Gatte, die Tochter deines Herzens ist nicht dein, ist nicht mein. Sie ist ein Kind der Liebe, welches ich für das deine ausgegeben. Ihr Vater war ein Bergmann in Porthgenna, ihre Mutter ist meine Zofe, Sara Leeson.“
Rosamunde schwieg, aber hob ihre Augen nicht von dem Briefe empor. Sie hörte, wie ihr Gatte plötzlich seine Hand auf den Tisch legte; sie hörte wie er vom Stuhle in die Höhe fuhr, sie hörte wie er rasch und keuchend aufatmete; sie hörte wie er einen Augenblick darauf mit sich selbst sprechend flüsterte:
„Ein Kind der Liebe!“
Mit furchtbarer, qualvoller Deutlichkeit hörte sie diese Worte. Der Ton, in welchem er sie flüsterte, machte ihr das Blut erstarren. Aber sie bewegte sich nicht, denn es gab noch mehr zu lesen, und so lange es noch mehr zu lesen gab, wäre sie, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, nicht im Stande gewesen, aufzublicken.
Im nächsten Augenblick fuhr sie fort und las die folgenden Zeilen:
„Ich habe viele schwere Sünden zu verantworten, Arthur, aber diese eine mußt du mir verzeihen, Arthur, denn ich beging sie aus Liebe zu dir. Diese Liebe verriet mir ein Geheimnis, welches du vor mir zu verbergen suchtest. Diese Liebe sagte mir, daß dein unfruchtbares Weib nie eher dein ganzes Herz besitzen würde, als bis sie dir ein Kind geboren, und deine Lippen bestätigten es. Deine ersten Worte, als du von deiner Seereise zurückkamst und als das Kind in deine Arme gelegt ward, waren: „Niemals, Rosamunde, habe ich dich so geliebt, wie ich dich jetzt liebe!“ Hättest du dies nicht gesagt, so hätte ich nie mein strafbares Geheimnis vor dir verbergen können.“
„Ich kann weiter nichts hinzufügen, denn der Tod rückt mir immer näher. Wie der Betrug begangen ward, und welche Beweggründe ich noch dazu hatte, muß ich der Mutter des Kindes überlassen, dir zu sagen; ich habe ihr zur Pflicht gemacht, dies zu tun. Ich weiß, du wirst barmherzig gegen das arme kleine Wesen sein, welches meinen Namen trägt. Sei auch barmherzig gegen die unglückliche Mutter, die kein anderes Verbrechen begangen, als daß sie mir zu blindlings gehorcht hat. Wenn es etwas gibt, was die Bitterkeit meiner Reue mildern kann, so ist es die Erinnerung, daß mein Betrug das treueste und liebevollste Weib vor einer Schande bewahrte, die es nicht verdient hatte. Gedenke meiner und verzeihe mir, Arthur. Worte können sagen, wie ich an dir gesündigt, aber niemals können Worte sagen, wie ich dich geliebt habe.“
So weit hatte sie sich hindurchgekämpft und war bis zur letzten Zeile auf der zweiten Seite des Briefes gekommen, als sie wieder Halt machte, um dann die erste der beiden Unterschriften – „Rosamunde Treverton“ – zu lesen. Sie sprach mit matter Stimme zwei Silben des vertrauten Taufnamens – des Namens, der zu jeder Stunde des Tages auf den Lippen ihres Gatten war – und bemühte sich auch die zwei letzten auszusprechen, aber die Stimme versagte ihr.
Alle jene geheiligten häuslichen Erinnerungen, welche dieser grausame Brief für immer entweiht, schienen sich in einem und demselben Augenblick von ihrem Herzen loszureißen.
Mit leisem Gestöhn ließ sie ihre Arme auf den Tisch niedersinken und legte ihr Haupt darauf und verbarg ihr Gesicht. Sie hörte nichts – sie schien nichts mehr zu denken, bis sie eine Berührung an ihrer Schulter fühlte – eine leichte Berührung von einer Hand, welche zitterte. Jeder Puls ihres Körpers schlug rascher und sie blickte auf.
Ihr Gatte hatte sich bis zu ihr an den Tisch getastet. Tränen schimmerten in seinen trüben, der Sehkraft beraubten Augen.
Als Rosamunde sich erhob und ihn berührte, öffneten sich seine Arme und schlossen sich dann fest um sie.
„Meine Rosamunde!“ rief er, „komm zu mir und sei getrost!“
Fünftes Kapitel
Onkel Joseph
Der Tag und die Nacht war vergangen und der neue Morgen angebrochen, ehe die beiden Gatten Mut fanden, ruhig von dem Geheimnis zu sprechen und den Pflichten und Opfern, welche die Entdeckung desselben ihnen auflegte, resigniert ins Antlitz zu schauen.
Leonards erste Frage bezog sich auf jene Zeilen in dem Briefe, welche, wie Rosamunde ihm mitgeteilt, von einer ihr bekannten Handschrift waren.
Als sie fand, daß er sich nicht erklären konnte, auf welche Weise sie sich ein Urteil über diesen Punkt habe bilden können, erklärte sie ihm, daß nach Kapitän Trevertons Tode ganz natürlich viele von Mistreß Treverton an ihren Gatten geschriebene Briefe in ihren Besitz gekommen waren. Dieselben betrafen gewöhnliche häusliche Angelegenheiten, und sie hatte sie oft genug gelesen, um mit den Eigentümlichkeiten von Mistreß Trevertons Handschrift genau vertraut zu werden. Dieselbe war auffallend groß, fest und von fast männlichem Charakter, und die Adresse, die Zeile unter derselben und die oberste der beiden Unterschriften des Briefes, welcher in dem Myrtenzimmer gefunden worden, glichen einander in jeder Beziehung ganz genau.
Die nächste Frage bezog sich auf den Hauptinhalt des Briefes. Die Handschrift desselben, der zweiten Überschrift – „Sara Leeson“ – und der hinzugefügten Zeilen auf der dritten Seite, die ebenfalls mit „Sara Leeson“ unterzeichnet waren, alles dies war unzweifelhaft das Produkt einer und derselben Person.
Während Rosamunde ihren Gatten von dieser Tatsache in Kenntnis setzte, vergaß sie nicht, ihm zu erklären, daß, während sie am vorigen Tage den Brief vorgelesen, ihre Kräfte und ihr Mut ihr untreu geworden seien, ehe sie das Ende desselben erreicht. Sie setzte hinzu, die Nachschrift, welche sie auf diese Weise vorzulesen unterlassen, sei von Wichtigkeit, weil sie die Umstände erwähnte, unter welchen das Geheimnis verborgen geblieben, und bat ihn, ihr Gehör zu schenken, während sie ihn ohne weitern Aufschub vom Inhalte dieser Nachschrift in Kenntnis setzte.
Jetzt wieder so dicht an seiner Seite sitzend, als ob sie die ersten Tage ihrer Flitterwochen noch einmal durchlebte, las sie diese letzten Zeilen – die Zeilen, welche ihre Mutter vor sechzehn Jahren an dem Morgen geschrieben, wo sie von Porthgenna Tower entfloh.
„Wenn dieses Papier jemals gefunden werden sollte – und mein innigstes Gebet ist, daß dies niemals geschehen möge – so wünsche ich hiermit zu erklären, daß ich zu dem Entschluß, es zu verbergen, gekommen bin, weil ich nicht wage, die Schrift, die es enthält, meinem Herrn zu zeigen, an den sie gerichtet ist. Indem ich dies tue, breche ich – obschon ich den letzten Wünschen meiner Herrin entgegenhandle – nicht das feierliche Versprechen, welches sie mir auf ihrem Sterbebett abnahm. Dieses Versprechen verbietet mir, diesen Brief zu vernichten oder ihn mit fortzunehmen, wenn ich das Haus verlasse. Ich werde auch keins von beiden tun – ich beabsichtige bloß, ihn an einem Orte zu verbergen, wo nach meiner Meinung die mindeste Aussicht vorhanden ist, daß er jemals gefunden werde. Jedes Drangsal oder Unglück, welches eine Folge dieses unredlichen Verfahrens von meiner Seite sein kann, wird auf mich selbst zurückfallen. Andere, glaube ich mit fester Überzeugung, werden wegen des furchtbaren Geheimnisses, welches dieser Brief enthält, dann nur um so glücklicher sein.“
„Nun“, sagte Leonard, als seine Gattin fertig war, „nun kann kein Zweifel mehr obwalten, daß Mistreß Jazeph, Sara Leeson und die Dienerin, welche von Porthgenna Tower verschwand, eine und dieselbe Person sind.“
„Das arme Geschöpf“, sagte Rosamunde, indem sie seufzend den Brief weglegte. „Nun wissen wir, warum sie mich so ängstlich vor dem Betreten des Myrtenzimmers warnte! Wer kann sagen, was sie gelitten haben muß, da sie als eine Fremde an mein Bett kam. O, was gäbe ich nicht darum, wenn ich weniger hastig gegen sie gewesen wäre! Es ist furchtbar, zu bedenken, daß ich zu ihr sprach wie zu einer Dienerin, von welcher ich Gehorsam erwartete; noch furchtbarer ist es, zu fühlen, daß ich selbst jetzt nicht an sie denken kann, wie ein Kind an seine Mutter denken soll. Wie kann ich ihr jemals sagen, daß ich das Geheimnis kenne –“
Sie schwieg bei dem qualvollen Gedanken an den Makel, der nun an ihrer Geburt haftete; sie schwieg, indem sie an den Namen, den ihr Gatte ihr gegeben, und an ihre eigene Abstammung dachte, welche die Gesetze der Gesellschaft anzuerkennen verschmähten.
„Warum schweigst du?“ fragte Leonard.
„Ich fürchtete –“ begann sie und stockte wieder.
„Du fürchtetest“, sagte er an ihrer Statt den Redesatz vollendend, „daß Worte des Mitleids mit dieser Unglücklichen durch die Erinnerung an die Umstände deiner Geburt meinen empfindlichen Stolz verwunden könnten. Rosamunde, ich wäre deiner beispiellosen Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit gegen mich unwürdig, wenn ich meinerseits nicht gestünde, daß diese Entdeckung mich wirklich verwundet hat, wie nur ein stolzer Mann verwundet werden kann. Mein Stolz ist mit mir geboren und groß gewachsen. Mein Stolz benutzt selbst jetzt, während ich mit dir spreche, meine ersten Augenblicke wiedergewonnener Fassung und verlockt mich, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, zu bezweifeln, ob die Worte, die du mir vorgelesen, im Grunde genommen Worte der Wahrheit sein können. So stark aber dieses mir angeborene und anerzogene Gefühl auch ist – so hart es auch für mich sein mag, es so zu schulen und zu bemeistern, wie ich soll, muß und will – so lebt doch in meinem Herzen ein zweites Gefühl, welches noch stärker ist.“
Er tastete nach ihrer Hand, schloß sie in die seinen und setzte dann hinzu:
„Von der Stunde an, wo du dein Leben deinem blinden Gatten widmetest – von der Stunde an, wo du seine ganze Dankbarkeit gewannst, wie du schon seine Liebe gewonnen, nahmst du in seinem Herzen einen Platz ein, Rosamunde, von welchem nichts, selbst nicht ein solcher Schlag wie der, welcher uns jetzt getroffen, dich verdrängen kann. So hoch auch der Wert des Ranges in meiner Achtung stets gestanden hat, so habe ich doch schon vor dem gestrigen Ereignis gelernt, den Wert meines Weibes, sei ihre Herkunft welche sie wolle, noch viel höher anzuschlagen.“
„O, Lenny, Lenny, ich kann nicht zuhören, wie du mich lobst, wenn du in demselben Atem sprichst, als ob ich, indem ich dich geheiratet, ein Opfer gebracht hätte! Als ich jenen furchtbaren Brief das erste Mal las, hegte ich einen einzigen Augenblick lang den niedrigen, undankbaren Zweifel, ob deine Liebe zu mir gegen die Entdeckung dieses Geheimnisses Stand halten würde. Ich hatte einen einzigen Augenblick furchtbarer Versuchung, der mich von dir hinwegzog, während ich doch den Brief sogleich hätte in deine Hände legen sollen. Dein Anblick, als du darauf wartetest, daß ich wieder sprechen würde, während du so unschuldig warst an aller Kenntnis dessen, was so dicht in deiner Nähe geschah, dies war es, was mich wieder zur Besinnung brachte und mir sagte, was ich zu tun hätte. Es war der Anblick meines blinden Gatten, der mich die Versuchung, diesen Brief gleich im Augenblick der Entdeckung zu vernichten, überwinden ließ. O, wenn ich selbst das härteste aller Frauenherzen gehabt, hätte ich wohl je wieder deine Hand fassen können – könnte ich dich küssen, könnte ich mich neben dir niederlegen und dich eine Nacht nach der andern einschlafen hören, wenn ich mir bewußt wäre, daß ich deine Blindheit und Abhängigkeit von mir gemißbraucht, um meinen eigenen selbstsüchtigen Interessen zu dienen, und daß mir mein Betrug bloß gelungen, weil dein Gebrechen dich unfähig machte, den Betrug zu ahnen? Nein, nein, ich kann kaum glauben, daß die verworfenste der Frauen sich einer solchen Niedrigkeit schuldig machen könnte, und ich kann für mich weiter nichts in Anspruch nehmen als die Anerkennung, daß ich meine Aufgabe treulich erfüllt. Du sagtest gestern in dem Myrtenzimmer, der einzige treue Freund in deiner Blindheit, der dir niemals untreu würde, sei dein Weib. Jetzt, wo das Schlimmste vorüber, ist es für mich Lohn und Trost genug, zu wissen, daß du dies auch jetzt noch sagen kannst.“
„Ja, Rosamunde, das Schlimmste ist vorüber, aber wir dürfen nicht vergessen, daß noch schwere Prüfungen zu bestehen sein werden.“
„Schwere Prüfungen, Geliebter? Was für Prüfungen meinst du?“
„Vielleicht, Rosamunde, überschätze ich den Mut, den das Opfer verlangt; mir wenigstens aber wird es ein schweres Opfer sein, fremde Personen zu Teilhabern der Kenntnis des Geheimnisses zu machen, welches wir jetzt besitzen.“
Rosamunde sah ihren Gatten erstaunt an.
„Warum brauchen wir das Geheimnis irgendjemandem zu sagen?“ fragte sie.
„Vorausgesetzt, daß wir uns von der Echtheit dieses Briefes überzeugen können“, antwortete er, „wird uns keine andere Wahl übrigbleiben, als das Geheimnis auch fremden Personen mitzuteilen. Du kannst nicht die Umstände vergessen, unter welchen dein Vater – unter welchen Kapitän Treverton –“
„Nenne ihn meinen Vater“, sagte Rosamunde wehmütig; „bedenke, wie er mich liebte und wie ich ihn liebte, und sage immerhin mein Vater.“
„Ich fürchte, ich muß jetzt Kapitän Treverton sagen“, entgegnete Leonard, „sonst werde ich kaum im Stande sein, dir einfach und klar auseinanderzusetzen, was du durchaus wissen mußt. Kapitän Treverton ist gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Sein einziges Besitztum bestand in der Kaufsumme für dieses Schloß mit Zubehör und du erbtest sie als seine nächste Anverwandte.“
Rosamunde fuhr in ihrem Stuhl zurück und schlug entsetzt die Hände zusammen.
„O Lenny“, sagte sie einfach, „ich habe, seitdem ich den Brief gefunden, so viel an dich gedacht, daß mir dies nie eingefallen ist.“
„Es ist aber Zeit, daran zu denken, Geliebte. Wenn du nicht Kapitän Trevertons Tochter bist, so hast du auch kein Recht auf einen Heller des Vermögens, welches du jetzt besitzest, und es muß sofort der Person ausgeantwortet werden, welche wirklich Kapitän Trevertons nächster Anverwandter ist – oder mit andern Worten seinem Bruder.“
„Diesem Mann!“ rief Rosamunde. „Diesem Mann, der uns gänzlich fremd ist, der sogar unsern Namen verachtet. Sollen wir uns arm machen, damit er reich werde?“
„Wir müssen tun, was ehrenhaft und gerecht ist, und dabei unsere eigenen Interessen und uns selbst opfern, soweit es die Umstände erheischen“, sagte Leonard mit Festigkeit. „Ich glaube, Rosamunde, meine Einwilligung als Ehemann ist dem Gesetze gemäß notwendig, um diese Resitution zu bewirken. Wäre Mr. Andrew Treverton auch der bitterste Feind, den ich auf Erden hätte, und sollte die Wiederherausgabe dieses Geldes uns auch in unsern pekuniären Umständen vollständig ruinieren, so würde ich es doch freiwillig zurückerstatten bis auf den letzten Heller und ohne einen Augenblick zu zögern. Du würdest ganz gewiß dasselbe tun.“
Das Blut stieg ihm in die Wangen, während er sprach. Rosamunde sah ihn mit stiller Bewunderung an.
„Wer möchte wünschen, daß er weniger stolz sei“, dachte sie liebend, „wenn sein Stolz sich in solchen Worten ausspricht.“
„Du verstehst jetzt“, fuhr Leonard fort, „daß wir Pflichten zu erfüllen haben, welche uns nötigen, den Beistand anderer in Anspruch zu nehmen, und die es deshalb unmöglich machen werden, das Geheimnis für uns zu behalten. Sara Leeson muß ausfindig gemacht werden, und wenn wir ganz England nach ihr durchsuchen sollten. Unser künftiges Handeln hängt von ihren Antworten auf unsere Fragen, von ihrem Zeugnis in Bezug auf die Echtheit dieses Briefes ab. Obschon ich im voraus entschlossen bin, mich nicht hinter technische Flausen und Silbenstechereien zu verschanzen – obschon ich nichts bedarf als einen moralisch bündigen Beweis, wie unvollkommen er auch in juristischer Beziehung sein möge – so ist es doch unmöglich, in der Sache etwas zu tun, ohne sofort den geeigneten Rat einzuholen. Der Antwalt, welcher früher Kapitän Trevertons Angelegenheiten besorgte und jetzt auch die unserigen verwaltet, ist der rechte Mann, an den wir uns zu wenden haben, um die Nachforschungen nach Sara Leeson zu beginnen, und der uns sagen wird, auf welche Weise, da nötig, die Restitution geschehen kann.“
„Wie ruhig und mit welcher Festigkeit du davon sprichst, Lenny! Wird nicht die Verzichtleistung auf mein Vermögen ein furchtbarer Verlust für uns sein?“
„Wir müssen ihn uns als einen Gewinn für unser Gewissen denken, Rosamunde, und fügsam unsere Lebensweise nach unsern veränderten Mitteln ändern. Doch hierüber brauchen wir nicht weiter zu sprechen, bis wir von der Notwendigkeit, das Geld herauszugeben, überzeugt sind. Es muß dir ebenso wie mir zunächst daran gelegen sein, Sara Leeson – oder vielmehr deine Mutter – zu ermitteln, denn ich muß sie bei diesem Namen nennen lernen, sonst lerne ich niemals sie bemitleiden und ihr verzeihen.“
Rosamunde schmiegte sich dichter an ihren Gatten.
„Jedes Wort, welches du sprichst, Geliebter, tut meinem Herzen wohl“, flüsterte sie, indem sie ihr Haupt an seine Schulter legte. „Du wirst mir beistehen und mich stärken, wenn die Zeit kommt, meine Mutter so zu empfangen, wie es meine Pflicht ist! O, wie bleich, müde und abgezehrt sah sie aus, als sie an meinem Bett stand und mich und mein Kind betrachtete! Wird es lange dauern, ehe wir sie finden? Wird sie weit von uns entfernt sein oder vielleicht näher, viel näher als wir glauben?“
Ehe Leonard antworten konnte, ward er durch Anpochen an die Tür unterbrochen und Rosamunde durch das Eintreten der Dienerin überrascht.
Betsey war ganz aufgeregt und außer Atem. Dennoch machte sie es möglich, einen kurzen Auftrag von Mr. Munder, dem Kastellan, auszurichten, der um Erlaubnis bat, in einer wichtigen Angelegenheit mit Mr. oder Mistreß Frankland zu sprechen.
„Was gibt es? Was will er?“ fragte Rosamunde.
„Ich glaube, Madame, er wünscht zu wissen, ob er nach dem Konstabler schicken soll oder nicht“, antwortete Betsey.
„Nach dem Konstabler?“ wiederholte Rosamunde. „Sind denn am hellen lichten Tage Diebe im Hause?“
„Mr. Munder sagt, er wisse nicht, ob es sich nicht vielleicht um etwas noch Schlimmeres als Diebe handle“, entgegnete Betsey. „Der Ausländer ist nämlich wieder da. Er kam ganz keck an die Tür, zog die Klingel und fragte, ob er Mistreß Frankland sprechen könne.“
„Der Ausländer!“ rief Rosamunde, indem sie ihre Hand begierig auf den Arm ihres Gatten legte.
„Ja, Madame“, fuhr Betsey fort. „Derselbe, der mit der Frau hier war, um sich in dem Haus herumführen zu lassen, und –“
Rosamunde sprang mit der ihrem Charakter eigentümlichen Entschlossenheit auf.
„Laß mich hinuntergehen“, hob sie an.
„Warte“, sagte Leonard, indem er sie bei der Hand faßte. „Es ist durchaus nicht notwendig, daß du hinuntergehst. Laß den Fremden heraufkommen“, fuhr er zu Betsey gewandt fort, „und sage Mr. Munder, daß wir die Führung dieser Sache selbst in die Hand nehmen wollen.“
Rosamunde setzte sich wieder neben ihren Gatten.
„Das ist ein sehr seltsamer Zufall“, sagte sie in leisem, ernstem Tone. „Es muß mehr als bloßer Zufall sein, welcher den Schlüssel zu diesem Rätsel in dem Augenblick in unsere Hände legt, wo wir am wenigsten erwarteten ihn zu finden.“
Die Tür öffnete sich zum zweiten Male und es erschien bescheiden auf der Schwelle ein kleiner, alter Mann mit rosigen Wangen und langem, weißen Haar. Ein kleines ledernes Futteral hing mittelst eines Riemens an seiner Seite und das Rohr einer Tabakspfeife lugte aus der Brusttasche seines Rocks.
Er tat einen Schritt, blieb stehen, hob beide Hände mit seinem Filzhute dazwischen bis an sein Herz empor und machte rasch nacheinander fünf phantastische Bücklinge – zwei vor Mistreß Frankland, zwei vor ihrem Gatten und dann noch einen vor Mistreß Frankland, als einer Dame gebührende besondere Huldigung.
Niemals hatte Rosamunde eine vollständigere Verkörperung vollkommener Unschuld und Harmlosigkeit gesehen als diesen Fremdling, der in dem Briefe der Haushälterin als ein frecher Landstreicher geschildert war und in welchem Mr. Munder etwas noch Schlimmeres als einen Dieb zu erblicken glaubte.
„Madame und guter Herr“, sagte der alte Mann, indem er auf Mistreß Franklands Aufforderung noch ein wenig näher trat, „ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie belästige. Mein Name ist Joseph Buschmann. Ich wohne in der Stadt Truro, wo ich Kunsttischlerarbeiten und Teebretter verfertige und andere dergleichen glänzende Geschäfte mache. Ich bin auch, wenn Sie erlauben, derselbe kleine Ausländer, der von dem großen dicken Hausmeister, als ich mir das Haus ansehen wollte, so hart angelassen ward. Ich bitte um weiter nichts, als daß Sie für mich und eine andere Person, die meinem Herzen sehr nahe steht, ein einziges kleines Wort vorbringen lassen. Es wird bloß wenige Minuten in Anspruch nehmen, Madame und guter Herr, dann will ich mit meinen herzlichen Glückwünschen für Ihr Wohl und mit meinem herzlichsten Dank wieder meiner Wege gehen.“
„Ich bitte Sie, Mr. Buschmann, ganz nach Ihrem Belieben über unsere Zeit zu verfügen“, sagte Leonard. „Wir haben durchaus nichts vor, was Sie nötigen könnte, Ihren Besuch abzukürzen. Ich muß Ihnen im voraus und um jeder Verlegenheit von beiden Seiten vorzubeugen, sagen, daß ich das Unglück habe, blind zu sein. Ich kann Ihnen indessen, was das Zuhören betrifft, meine beste Aufmerksamkeit versprechen. Rosamunde, hat Mr. Buschmann Platz genommen?“
Mr. Buschmann stand noch in der Nähe der Tür und gab seine Sympathie mit dem ihm eben bemerklich gemachten Gebrechen dadurch zu erkennen, daß er sich nochmals gegen Mr. Frankland verbeugte und seinen Filzhut nochmals ans Herz drückte.
„Ich bitte, treten Sie näher und setzen Sie sich“, sagte Rosamunde. „Glauben Sie übrigens durchaus nicht, daß die Meinung unseres Kastellans den mindesten Einfluß auf uns äußere oder daß wir von Ihnen eine Entschuldigung wegen dessen verlangen, was während Ihres ersten Besuchs in diesem Hause stattgefunden hat. Wir haben ein Interesse – ein sehr großes Interesse“, setzte sie mit ihrer gewohnten herzlichen Freimütigkeit hinzu, „alles zu hören, was Sie uns zu sagen haben. Sie sind von allen Menschen gerade derjenige, welchen wir in diesem Augenblick –“
Sie stockte, denn sie fühlte ihren Fuß von dem ihres Gatten berührt und deutete dies sehr richtig als eine Mahnung, sich nicht allzu rückhaltlos gegen den Fremden auszusprechen, ehe er sich über den Zweck seines Kommens erklärt hätte.
Mit sehr erfreuter und auch ein wenig überraschter Miene, als er Rosamundes letzte Worte hörte, zog Onkel Joseph einen Stuhl in die Nähe des Tisches, an welchen Mr. und Mistreß Frankland saßen, drückte seinen Filzhut noch dichter zusammen und steckte ihn in eine der Seitentaschen seines Rockes. Dann zog er aus der andern ein kleines Paket Briefe, legte dieselben, nachdem er sich niedergesetzt, auf sein Knie, klopfte mit den Händen darauf und begann seine Erklärung.
„Madame und guter Herr“, sagte er, „ehe ich auf den eigentlichen Gegenstand komme, muß ich mit Ihrer Erlaubnis bis auf das letzte Mal zurückgehen, wo ich in Begleitung meiner Nichte in dieses Haus kam.“
„Ihrer Nichte!“ riefen Rosamunde und Leonard wie aus einem Munde.
„Ja, meine Nichte Sara“, sagte Onkel Joseph, -„des einzigen Kindes meiner Schwester Agathe. Um Saras willen bin ich jetzt hier. Sie ist das noch einzige Stück Fleisch und Blut, was mir in der Welt übrig geblieben ist. Die andern sind alle tot. Meine Frau, mein kleiner Joseph, mein Bruder Max, meine Schwester Agathe und der Mann, den sie heiratete, der gute, edle Engländer Leeson – alle, alle sind sie tot.“
„Leeson“, sagte Rosamunde, indem sie ihrem Gatten bedeutsam unter dem Tische die Hand drückte. „Ihre Nichte heißt Sara Leeson?“
Onkel Joseph seufzte und schüttelte den Kopf.
„Eines Tages“, sagte er – „von allen Tagen im Jahre war es der unheilvollste für Sara – wechselte sie diesen Namen. Von dem Manne, den sie heiratete – und der ebenfalls schon längst gestorben ist, Madame – weiß ich nichts weiter als dies: Sein Name war Jazeph, und er behandelte sie schlecht, weswegen ich ihn für den ersten Schurken halte. Ja“, rief Onkel Joseph mit so viel Zorn und Bitterkeit, als sein harmloses Gemüt überhaupt hegen konnte und in der Meinung, daß er sich eines ungemein harten Wortes und starken Ausdrucks bediene, „ja, und wenn er in diesem Augenblick wieder lebendig würde, so wollte ich ihm ins Gesicht sagen: Engländer Jazeph, du bist der erste Schurke!“
Rosamunde drückte ihrem Gatten zum zweiten Male die Hand. Wenn ihre eigene Überzeugung nicht schon Mistreß Jazeph mit Sara Leeson identifiziert hätte, so wären die letzten Worte des alten Mannes ausreichend gewesen, um sie zu versichern, daß beide Namen von einer und derselben Person geführt worden.
„Wohlan denn, ich komme nun auf den Tag zurück, wo ich mit Sara, meiner Nichte, hier war“, hob Onkel Joseph wieder an. „Ich muß in dieser Angelegenheit die Wahrheit sprechen, denn sonst komme ich nicht von der Stelle, während ich doch eigentlich jetzt schon viel weiter sein sollte. Madame und guter Herr, Sie werden die Güte haben, mir und Sara, meiner Nichte, zu verzeihen, wenn ich gestehe, daß wir nicht um das Innere des Schlosses zu sehen hierher kamen und die Klingel zogen und viel Mühe machten und dem dicken Hausmeister Veranlassung gaben, so viel Atem an uns zu verschwenden. Wir kamen in einer seltsamen Absicht hierher – nämlich wegen eines Geheimnisses meiner Nichte, welches mir noch jetzt so schwarz und finster ist wie die Mitte der schwärzesten und finstersten Nacht, die es jemals in der Welt gegeben. Da ich nun weiter nichts davon wußte, als daß durchaus nichts Unrechtes dabei war und da Sara sich einmal vorgenommen hatte, hierher zu gehen und ich sie nicht allein gehen lassen konnte – sowie auch aus dem guten Grunde, weil sie mir gesagt, sie wäre vollkommen berechtigt, jenen Brief wegzunehmen und an einem andern Orte zu verstecken, denn sie fürchtete, man könne ihn finden, wenn er länger in dem Zimmer bliebe, wo sie ihn gelassen – es war dies nämlich das Zimmer, wo sie ihn ursprünglich versteckt – so – so – konnte ich – oder nein – so konnte sie – ach mein Gott“, rief Onkel Joseph, indem er sich verzweifelt auf die Stirn schlug und zu diesem Ausruf in seiner Muttersprache Zuflucht nahm, „ich habe mich ganz verheddert, wie wir in Deutschland zu sagen pflegen. Ich weiß nicht mehr, wo ich halte – ich glaube, ich muß noch einmal von vorn anfangen.“
„Unsertwegen ist dies durchaus nicht nötig“, sagte Rosamunde, über ihrem Wunsche, dem alten Manne aus der Verlegenheit zu helfen, alle Vorsicht und Zurückhaltung vergessend, „Sie brauchen Ihre Auseinandersetzungen nicht zu wiederholen – wir wissen bereits –“
„Wir wollen“, mische Leonard sich plötzlich ein, ehe seine Gattin weiter ein Wort hinzusetzen konnte, „wir wollen annehmen, daß wir schon alles wissen, was Sie uns in Bezug auf das Geheimnis Ihrer Nichte und Ihren Beweggrund, das Innere dieses Hauses sehen zu wollen, zu sagen wünschen.“
„Das wollen Sie annehmen!“ rief Onkel Joseph, als ob ihm eine Last abgenommen würde. „Ach, ich danke Ihnen, Madame und guter Herr, ich danke Ihnen tausend mal, daß Sie mir dadurch aus der Verlegenheit helfen. Ich hatte mich, wie gesagt, förmlich verheddert, aber nun kann ich weiter sprechen und gedenke nun ordentlich bei der Stange zu bleiben. Also, ich will die Sache so erzählen: Ich und Sara, meine Nichte, sind in dem Haus – das ist die erste Voraussetzung. Ich und Sara sind außer dem Hause – das ist die zweite Voraussetzung. Nun gut. Gehen wir wieder weiter. Auf meinem Heimweg nach Truro wird mir bange um Sara, namentlich wegen der Ohnmacht, in die sie hier auf Ihrer Treppe fiel, und wegen eines Ausdrucks in ihrem Gesicht, der mir das Herz schwer machte. Ebenso tat sie mir auch leid, weil sie das, was sie hierher kam zu tun, nicht hatte tun können. Diese Dinge beunruhigen mich, doch ich tröste mich und mein Trost ist, daß Sara nun bei mir in meinem Hause in Truro bleiben wird un daß ich künftig für sie sorgen und sie womöglich aufheitern kann. Denken Sie sich daher, wie ich erschrecke, als ich höre, daß sie nicht bei mir bleiben will. Denken Sie sich, Madame und guter Herr, wie groß meine Überraschung ist, als ich sie nach dem Grunde frage und sie mir sagt, sie müsse Onkel Joseph verlassen, weil sie fürchte, von Ihnen entdeckt zu werden.“
Der alte Mann schwieg und bemerkte, als er ruhig Rosamunde ansah, daß ihr Gesicht, als er diese letzten Worte sprach, sich mit einem plötzlich wehmütigen Ausdruck von ihm abwendete.
„Tut Sara, meine Nicht, Ihnen leid, Madame? Bedauern Sie sie?“ fragte er in zögerndem und etwas zitterndem Tone.
„Ich bemitleide sie von ganzem Herzen“, sagte Rosamunde mit Wärme.
„Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen für dieses Mitleid“, entgegnete Onkel Joseph. „Ach Madame, Ihre Güte gibt mir Mut, weiterzusprechen und Ihnen zu erzählen, daß wir noch an dem Tage, wo wir zurück nach Truro kamen, uns wieder trennten. Als sie mich diesmal besuchte, waren viele lange und einsame Jahre vergangen, ohne daß wir einander gesehen hatten. Ich fürchtete, daß nun abermals viele Jahre vergehen würden, und ich versuchte Sara zu bereden, nun auf immer bei mir zu bleiben. Aber es war immer noch dieselbe Furcht, die sie hinwegtrieb – die Furcht, von Ihnen ausfindig gemacht und ausgefragt zu werden. Mit Tränen in den Augen – in den ihrigen wie in den meinigen – und mit Kummer im Herzen – in dem ihrigen wie in dem meinigen – ging sie fort, um sich in der öden Wüste der großen Stadt London zu verbergen, welche alle Leute und alle Dinge, die hinströmen, verschlingt und die nun auch Sara, meine Nichte, verschlungen hat. Mein Kind, wirst du zuweilen an Onkel Joseph schreiben? sagte ich und sie antwortete mir: ‚Ich werde oft schreiben.’ Seitdem sind nun drei Wochen vergangen, und hier auf meinem Knie liegen vier Briefe, die sie an mich geschrieben. Ich werde Sie um Erlaubnis bitten, Ihnen dieselben vorlegen zu dürfen, denn sie werden mir mit dem, was ich zu sagen habe, weiter forthelfen und ich sehe Ihnen, Madame, am Gesicht an, daß Sie meine Nichte wirklich von ganzem Herzen bemitleiden.“
Er band das Paket Briefe auf, öffnete dieselben, küßte sie einen nach dem andern und legte sie in einer Reihe auf den Tisch, indem er sie sorgfältig mit der Hand glatt strich und sich große Mühe gab, sie alle in eine vollkommen gerade Linie zu bringen. Ein Blick auf den ersten der kleinen Reihe bewies Rosamunden, daß die Handschrift dieselbe war, wie die des größern Teils des Briefes, welcher in dem Myrtenzimmer gefunden worden.
„Es steht nicht viel zu lesen darin“, sagte Onkel Joseph. „Wenn Sie dieselben erst durchlesen wollen, Madame, so kann ich Ihnen hernach den Grund sagen, aus welchem ich sie Ihnen zeige.“
Der alte Mann hatte Recht. Es stand in den Briefen sehr wenig zu lesen und sie wurden mit jedem neuen Datum immer kürzer. Alle vier waren in der steifen, ängstlich korrekten Weise einer Person geschrieben, welche, wenn sie die Feder ergreift, von der Furcht beseelt ist, Verstöße gegen Orthographie und Grammatik zu begehen. Ebenso waren sie gänzlich der leer an persönlichen, auf die Person der Schreiberin bezüglichen Einzelheiten. Alle vier enthielten die dringende Bitte, daß Onkel Joseph sich keine Sorge machen möge, erkundigten sich nach seiner Gesundheit und sprachen Dank und Liebe zu ihm so warm aus, wie die schüchternen Schranken dieser Schreibweise gestatteten.
Alle vier Briefe enthielten in Bezug auf Rosamunde zwei Fragen – erstens, ob Mistreß Frankland in Porthgenna Tower angelangt sei? Und zweitens, ob, wenn sie angelangt war, Onkel Joseph etwas von ihr gehört hätte? – Was die Adresse wegen einer Antwort betraf, so enthielten alle vier Briefe eine und dieselbe Weisung in den Worten: „Schreibe mir unter der Adresse S.J. poste restante Smith Street, London“, - und dann folgte auch allemal dieselbe Erklärung: „Entschuldige, daß ich dir nicht meine eigentliche Adresse angebe, ich unterlasse es aus Furcht vor einem etwaigen unglücklichen Zufall, denn selbst hier in London fürchte ich immer noch, daß man mich aufspüre. Ich lasse jeden Morgen auf dem Postbüro nachfragen, ob ein Brief an mich da ist, und deshalb kann ich gewiß sein, deine Antwort zu bekommen.“
„Ich sagte Ihnen schon, Madame“, begann der alte Mann wieder, als Rosamunde sich von den Briefen emporrichtete, „daß ich um Saras willen, als sie mich verließ, sehr ängstlich und besorgt war. Sie werden nun einsehen, daß ich, wenn ich diese vier Briefe alle so vor mich herlege, immer ängstlicher werden muß. Dieselben beginnen hier mit dem ersten zu meiner linken Hand und werden so wie sie näher zu meiner Rechten kommen, immer kürzer, kürzer und kürzer, bis der letzte nur acht kleine Zeilen enthält. Das ist aber noch nicht alles. Die Schrift des ersten Briefes hier, sehen Sie, ist sehr schön – das heißt, sehr schön für mich, weil ich Sara liebe und weil ich selbst sehr schlecht schreibe. In dem zweiten Briefe ist sie schon nicht mehr so gut; sie zittert ein wenig und die letzten Linien sind ein wenig krumm. In dem dritten ist sie noch schlechter – noch zitteriger, noch klecksiger, noch krümmer. Im vierten, wo es doch am wenigsten zu tun gegeben hat, sind Zittern, Kleckse und Krümme noch viel vorherrschender als in den andern drei allen zusammen. Das sehe ich, ich erinnere mich, daß sie schwach, müde und abgemattet war, als sie mich verließ, und ich sage bei mir selbst: Sie ist krank, obschon sie es nicht sagen will, denn die Handschrift verrät es.“
Rosamunde blickte wieder auf die Briefe herab und folgte den bedeutsamen Verschlechterungen der Handschrift Zeile um Zeile, sowie der alte Mann sie darauf aufmerksam machte.
„Das sage ich zu mir selbst“, fuhr er fort. „Ich warte und denke ein wenig nach und ich höre mein eigenes Herz mir zuflüstern: Geh, Onkel Joseph, nach London und hole, so lange es noch Zeit ist, sie zurück, um sie in deinem Hause wieder gesund, getröstet und glücklich zu machen. Dann warte ich und denke wieder ein wenig nach – nicht wegen meines Geschäfts und daß ich es auf ein paar Tage verlassen müßte, denn eher verließe ich es auf immer, als daß ich Sara etwas Schlimmes zustoßen ließe – sondern was ich tun soll, um sie zu bewegen, wieder zu mir zurückzukehren. Dieser Gedanke veranlaßt mich, wieder die Briefe anzusehen, die Briefe zeigen mir stets dieselben Fragen in Bezug auf Mistreß Frankland; ich sehe es so deutlich wie die Hand vor meinen Augen, daß ich Sara, meine Nichte, niemals werde bewegen können, zu mir zurückzukehren, wenn ich sie nicht zuvor wegen jenes Ausfragens durch Mistreß Frankland beruhigen kann, wovor sie sich fürchtet, als ob bei diesem Ausfragen Tod und Leben für sie auf dem Spiel stünde. Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Die Pfeife geht mir darüber aus, ich springe von meinem Stuhl auf, ich setze meinen Hut auf, ich reise hierher, wo ich mich schon einmal eingedrängt und wo ich, wie ich wohl weiß, gar nicht das Recht habe mich einzudrängen. Ich bitte Sie nun bei Ihrem Mitleid gegen meine Nichte und bei Ihrer Güte gegen mich, mir die Mittel, Sara zu mir zurückzubringen, nicht zu verweigern. Wenn ich ihr sagen kann: Ich habe Mistreß Frankland gesprochen und sie hat mir mit ihrem eigenen Munde gesagt, daß sie keine der Fragen an dich tun werde, die du so sehr fürchtest – wenn ich nur das sagen kann, so wird Sara mit mir in mein Haus zurückkehren und ich will Ihnen jeden Tag meines Lebens danken, daß Sie mich zu einem glücklichen Menschen gemacht haben.“
Die einfache Beredsamkeit, die in den Worten des alten Mannes lag, die unschuldige Innigkeit seines Wesens, rührten Rosamunde auf das tiefste.
„Ich will alles tun, ich will alles versprechen“, rief sie begierig, „um Ihre Nichte wieder zu Ihnen zurückführen zu helfen. Wenn sie mir nur erlauben will, sie zu sehen, so verspreche ich, nicht ein einziges Wort zu sagen, welches sie nicht von mir zu hören wünscht; ich verspreche, nicht eine einzige Frage – ja, auch nicht eine einzige – zu tun, deren Beantwortung ihr Schmerz verursachen könnte. O, welche tröstende Botschaft könnte ich ihr außerdem senden – was könnte ich sagen –“
Sie schwieg verlegen, denn sie fühlte, wie der Fuß ihres Gatten wieder den ihrigen berührte.
„O, sagen Sie nichts weiter – sagen Sie nichts weiter!“ rief Onkel Joseph, indem er sein kleines Paket Briefe wieder zusammenband und während sein rotes Gesicht dunkler erglühte. „Das ist genug gesagt, um Sara zu mir zurückzuführen – das ist genug gesagt, um Ihnen meine Dankbarkeit für meine ganze Lebenszeit zu sichern! O, ich bin so glücklich, so glücklich, so glücklich! – Meine Haut ist zu klein, um mich noch zu halten.“
Er warf das Paket Briefe in die Luft, fing es auf, küßte es und steckte es wieder in die Tasche – alles in einem Augenblick.
„Sie wollen doch nicht fort?“ sagte Rosamunde. „Sie wollen doch nicht schon wieder gehen?“
„Der Verlust ist mein, wenn ich hier fortgehe und ich muß mich darein fügen, aber ich habe dabei auch den Gewinn, daß ich desto eher zu Sara komme“, sagte Onkel Joseph. „Nur aus diesem Grunde werde ich Sie um Verzeihung bitten, wenn ich mich mit dankerfülltem Herzen wieder verabschiede und meiner Wege nach Hause gehe.“
„Wann gedenken Sie nach London aufzubrechen, Mr. Buschmann?“ fragte Leonard.
„Morgen früh beizeiten, Sir“, entgegnete Onkel Joseph. „Ich werde die Arbeit, die ich noch zu besorgen habe, diese Nacht fertig machen, das Übrige Samuel, meinem Gehilfen, überlassen und dann mit der ersten Fahrgelegenheit zu Sara reisen.“
„Darf ich Sie um die Adresse Ihrer Nichte in London bitten, im Fall wir an sie zu schreiben wünschen?“
„Sie gibt mir ja selbst weiter keine Adresse als das Postbüro, Sir, denn selbst in der großen Entfernung von London wird sie noch von derselben Furcht gepeinigt, die sie hatte, als wir dieses Haus hier verließen. Ich kann Ihnen indessen den Ort sagen, wo ich selbst mein Nachtquartier aufschlagen werde“, fuhr der alte Mann fort, indem er eine kleine Adresskarte zum Vorschein brachte. „Es ist das Haus eines Landsmanns von mir, eines ausgezeichneten Zuckerbäckers, Sir, und eines wirklich sehr guten Mannes.“
„Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie die Adresse Ihrer Nichte ausfindig machen wollen?“ fragte Rosamunde, indem sie zugleich die Adresse des Bäckers notierte.
„Jawohl, denn ich bin im Entwerfen meiner Pläne stets sehr rasch“, sagte Onkel Joseph. „Ich werde zu dem Postmeister gehen und zu ihm Folgendes und nichts weiter sagen: Guten Morgen, Sir. Ich bin der Mann, der die Briefe an S.J. schreibt. Es ist meine Nichte, wenn Sie erlauben, und ich wünsche weiter nichts zu wissen, als: Wo wohnt sie? – Dieser Plan ist ein sehr guter, sollte ich meinen – meinen Sie nicht auch, wie?“
Er breitete fragend die Hände aus und sah Mistreß Frankland mit selbstzufriedenem Lächeln an.
„Ich fürchte“, sagte Rosamunde, durch die Einfalt des guten Mannes halb ergötzt, halb gerührt, „daß die Offizianten des Postbüros die Adresse selbst nicht kennen werden. Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie einen Brief, mit ‚S.J’ adressiert, mitnähmen und ihn früh, wenn die Briefe aus der Provinz ankommen, mit aufgäben, dann in der Nähe der Tür warteten und der Person, welche von Ihrer Nichte – wie sie Ihnen selbst schreibt – abgeschickt wird, um die Briefe für S.J. abzuholen, folgten.“
„Sie glauben, das wäre besser?“ fragte Onkel Joseph, in seinem Innern überzeugt, daß seine eigene Idee unzweifelhaft die scharfsinnigere sei. „Gut. Das kleinste Wort, welches Sie zu mir sagen, Madame, ist ein Befehl, den ich von ganzem Herzen befolge.“
Mit diesen Worten zog er seinen zusammengedrückten Filz aus der Tasche und wollte Abschied nehmen, als Mr. Frankland ihn wieder anredete.
„Nicht wahr“, sagte Leonard, „wenn Sie Ihre Nichte gesund antreffen und dieselbe bereit ist, Ihnen zu folgen, dann werden Sie sie sofort nach Truro zurückführen? Und Sie werden es uns wissen lassen, wenn Sie beide zu Hause angelangt sind?“
„Jawohl, sofort, Sir“, sagte Onkel Joseph. „Auf diese beiden Fragen antworte ich: sofort.“
„Wenn also“, fuhr Leonard fort, „von heute an gerechnet eine Woche um ist, und wir nicht von Ihnen hören, so müssen wir daraus schließen, daß entweder Ihrer Rückkehr ein unvorhergesehenes Hindernis im Wege steht, oder daß Ihre Befürchtungen in Bezug auf Ihre Nichte nur zu wohl gegründet sind und daß sie nicht im Stande ist zu reisen.“
„Ja, Sir, so soll es sein. Ich hoffe aber, daß Sie von mir hören werden, ehe die Woche um ist.“
„Ich hoffe es auch – ich hoffe es innig!“ rief Rosamunde. „Sie entsinnen sich doch noch meines Auftrags?“
„Ich habe mir ihn hier eingeprägt – Wort für Wort“, sagte Onkel Joseph, indem er die Hand aufs Herz legte. Dann drückte er die Hand, welche Rosamunde ihm entgegenstreckte, an seine Lippen. „Ich werde versuchen, Ihnen besser zu danken, wenn ich wieder da bin“, sagte er. „Für alle Ihre Güte gegen mich und meine Nichte segne Gott Sie beide und erhalte Sie gesund und fröhlich bis wir uns wiedersehen.“
Mit diesen Worten eilte er nach der Tür, schwenkte ein paar Mal den alten zusammengedrückten Hut und verließ das Zimmer.
„Der gute, schlichte, warmfühlende alte Mann!“ sagte Rosamunde, als die Tür sich schloß. „Ich hätte ihm so gern alles gesagt, Lenny. Warum tatest du mir Einhalt?“
„Liebes Kind, eben diese Schlichtheit und Einfalt, welche du bewunderst und die auch ich bewundere, macht mich vorsichtig. Gleich bei dem ersten Ton seiner Stimme fühlte ich mich ebenso warm zu ihm hingezogen wie du; je mehr ich ihn aber sprechen hörte, desto fester ward ich überzeugt, daß es voreilig sein würde, ihm alles anzuvertrauen, da ja zu befürchten steht, er werde deiner Mutter sofort und zu früh enthüllen, daß wir ihr Geheimnis kennen. Die Möglichkeit, daß wir ihr Vertrauen gewinnen und eine Unterredung mit ihr erlangen, hängt, wie ich die Sache sehe, von unserm eigenen Takt ab, und wir müssen daher ihrem übertriebenem Argwohn und ihren ängstlichen Befürchtungen gegenüber mit der größten Umsicht zu Werke gehen. Dieser gute, alte Mann könnte trotzdem daß er die besten Absichten von der Welt hat, alles verderben. Wenn es ihm nur gelingt, seine Nichte wieder nach Truro zurückzubringen, so hat er alles getan, was wir hoffen und wünschen können. „Aber wenn es ihm nicht gelingt – wenn etwas vorfällt – wenn sie wirklich krank ist?“
„Laß uns warten, bis die Woche um ist,
Rosamunde. Dann wird
es noch Zeit genug sein, zu bestimmen, was wir in diesem Falle tun
sollen.“
Sechstes Kapitel
Warten und Hoffen
Die Woche des Wartens verging, aber von Onkel Joseph ging keine Nachricht in Porthgenna Tower ein.
Am achten Tage schickte Mr. Frankland einen Boten nach Truro mit dem Auftrage, Mr. Buschmanns Laden aufzusuchen und dem in demselben zurückgelassenen Gehilfen zu fragen, ob er Nachricht von seinem Herrn erhalten habe.
Im Laufe des Nachmittags kehrte der Bote zurück und meldete, Mr. Buschmann habe seit seiner Abreise an seinen Gehilfen einen einzigen kurzen Brief geschrieben und ihn benachrichtigt, er sei gegen Abend glücklich in London angelangt, von seinem Landsmann, dem deutschen Zuckerbäcker, gastfreundlich bewillkommnet worden, habe die Adresse seiner Nichte durch einen Zufall entdeckt, der ihm alle Mühe der Nachforschung erspart, und beabsichtige nun, sie zu einer frühen Stunde des nächsten Morgens aufzusuchen. Seit dem Eingang dieses Briefes habe der Gehilfe keine weitere Mitteilung von ihm erhalten und wisse daher auch nicht, wann er seine Rückkehr erwarten könne.
Die auf diese Weise erlangte Nachricht war nicht von der Art, daß dadurch die Ermutigung, welche der Zweifel und die Ungewißheit der vergangenen Worche in Mistreß Frankland erzeugt, gehoben worden wäre.
Ihr Gatte bemühte sich, diese Niedergeschlagenheit ihres Gemüts zu bekämpfen, indem er sie darauf aufmerksam machte, daß Onkel Josephs ominöses Schweigen ebenso wahrscheinlich durch die Abgeneigtheit, als durch die Unfähigkeit seiner Nichte, mit ihm nach Truro zurückzukehren, verursacht werden könne. Im Hinblick auf Saras außerordentliche Empfindlichkeit und kopflose Scheu erklärte er es für möglich, daß Rosamundes Botschaft, anstatt sie zu beruhigen, ihr vielleicht im Gegenteil neue Befürchtungen eingeflößt habe und sie deshalb in dem Entschlusse bestärte, sich außerhalb des Bereichs aller Mitteilungen von Porthgenna Tower zu halten.
Rosamunde hörte geduldig zu, während diese Ansicht des Falles ihr vorgetragen ward und gab zu, daß dieselbe unbestreitbar vernunftgemäß sei; dennoch aber war die Bereitwilligkeit, mit welcher sie zugab, daß ihr Gatte Recht und sie Unrecht haben könne, von keiner Besserung im Zustande ihrer Gemütsstimmung begleitet.
Die Auslegung, welche der alte Mann in Bezug auf die Verschlechterung von Mistreß Jazephs Handschrift gemacht, hatte einen lebhaften Eindruck auf ihr Gemüt geäußert und dieser Eindruck war durch ihre eigene Erinnerung an das bleiche Gesicht, als sie einander in West Winston gesehen, noch mehr bestärkt worden. Mochte daher Mr. Frankland auch noch so überzeugend folgern, so war er doch nicht im Stande, die Überzeugung seiner Gattin, daß Onkel Josephs Schweigen nur in der Krankheit seiner Nichte seinen Grund habe, zu erschüttern.
Die Rückkehr des Boten von Truro machte jeder weitern Diskussion über dieses Thema vor der Hand ein Ende, weil die beiden jungen Ehegatten dadurch bewogen wurden, sich mit der Erwägung einer Frage von weit größerer Bedeutung zu beschäftigen. Welches Verfahren hatten sie nun, nachdem sie einen Tag über die festgesetzte Woche gewartet, bei dem Mangel aller Nachrichten von London oder von Truro, wonach sie ihre künftigen Maßnahmen hätten richten können, einzuschlagen?
Leonards erste Idee war, sofort an Onkel Joseph unter der Adresse zu schreiben, welche dieser bei Gelegenheit seines Besuchs in Porthgenna Tower zuückgelassen. Als dieser Vorschlag Rosamunde mitgeteilt ward, widersprach sie demselben aus dem Grunde, weil die notwendige Frist, ehe die Antwort auf den Brief ankommen könnte, einen bedeutenden Zeitverlust zur Folge haben würde, während es vielleicht von der höchsten Wichtigkeit war, auch nicht den Verlust eines einzigen Tages zu riskieren. Wenn Mistreß Jazeph durch Krankheit abgehalten ward, die Reise zu unternehmen, so war es notwendig, sie sofort aufzusuchen, weil ja diese Krankheit sich verschlimmern konnte.
War sie bloß mißtrauisch gegen die ihr gemachten Mitteilungen, so war es ebenso wichtig, persönliche Unterhandlungen mit ihr zu eröffnen, ehe sie Gelegenheit fand, sich wieder an irgend einer Zufluchtsstätte zu verbergen, welche Onkel Joseph dann vielleicht nicht im Stande war, ausfindig zu machen.
Die Wahrheit dieser Folgerungen war einleuchtend, Leonard aber zögerte, denselben beizutreten, weil sie die Notwendigkeit einer Reise nach London in sich schlossen. Wenn er ohne seine Gattin dorthin ging, so gab seine Blindheit ihn in die Gewalt fremder Personen und Dienstleute, während es sich doch um Erörterungen von der zartesten Art handelte, bei welchen die größte Verschwiegenheit beobachtet werden mußte. Ließ er sich von Rosamunde begleiten, so ward es notwendig, das Kind mitzunehmen und dann auf einer langen und anstrengenden Reise von mehr als zweihundertfünftig Meilen sich alle Arten von Verzögerungen und Unbequemlichkeiten preiszugeben.
Rosamunde begegnete diesen beiden Schwierigkeiten mit ihrer gewohnten Geradheit und Entschiedenheit. Den Gedanken, daß ihr Gatte in seinem hilflosen, abhängigen Zustande, unter irgend welchen Umständen irgend wohin reise ohne von ihr begleitet zu sein, erklärte sie sofort für etwas so Ungereimtes und Widersinniges, daß davon gar nicht die Rede sein könne.
Dem zweiten Einwand, daß es nicht geraten erscheine, das Kind den Zufälligkeiten und Anstrengungen einer langen Reise auszusetzen, begegnete sie duch den Vorschlag, daß sie gemächlich und in ihrem eigenen Wagen nach Exeter reisen und sich dadurch aller möglichen Bequemlichkeit und Fülle an Raum dadurch versichern sollten, daß sie, wenn sie die Eisenbahn in Exeter erreichten, einen Wagen für sich allein nähmen.
Nachdem sie auf diese Weise die Schwierigkeiten, welche sich der Reise entgegenzustellen schienen, beseitigt, kam sie wieder auf die unbedingte Notwendigkeit, dieselbe zu unternehmen, zurück. Sie erinnerte Leonard daran, wie wichtig es sei, sofort Mistreß Jazephs Aussage in Bezug auf die Echtheit des in dem Myrtenzimmer gefundenen Briefes sowohl wie in Bezug auf Ermittelung aller näheren Umstände des außerordentlichen Betrugs zu hören, welcher von Mistreß Treverton an ihrem Gatten verübt worden.
Ebenso sprach sie auch von ihrem eigenen sehr natürlichen Wunsche, den Schmerz, welchen sie, ohne es zu ahnen, in dem Schlafzimmer zu West Winston der Person zugefügt, deren Fehltritte und Kümmernisse sie zu achten verpflichtet war, so viel als in ihren Kräften stand, wieder gutzumachen, und nachdem sie auf diese Weise alle Beweggründe dargelegt, welche ihren Gatten und sie selbst nötigten, keine Zeit zu verlieren, in persönliche Mitteilung mit Mistreß Jazeph zu treten, kam sie wieder zu dem unvermeidlichen Schlusse, daß in der Lage, in welche sie jetzt versetzt wären, es keine andere Wahl für sie gäbe, als die Reise nach London unverweilt anzutreten.
Ein wenig weitere Überlegung überzeugte Leonard, der vorliegende dringliche Fall sei von der Art, daß dadurch alle Versuche, ihm durch halbe Maßregeln zu begegnen, unmöglich gemacht wurden. Er fühlte, daß seine eigenen Überzeugungen mit denen seiner Gattin übereinstimmten und er beschloß demgemäß, sofort und ohne weitere Unentschlossenheit oder weiteren Verzug zu handeln.
Ehe noch der Abend zu Ende ging, ward den Dienern in Porthgenna zu ihrem großen Erstaunen befohlen, die Reisekoffer zu packen und in der Poststadt zu einer frühen Stunde des nächsten Morgens Pferde zu bestellen.
Am ersten Tage der Reise brachen die Reisenden auf, sobald der Wagen bereit war, rasteten gegen Mittag in einem Gasthaus an der Landstraße und übernachteten in Liskeard. Am zweiten Tage langten sie in Exeter an und übernachteten hier. Am dritten Tage erreichten sie London mit der Eisenbahn zwischen sechs und sieben Uhr abends.
Als sie sich bequem in ihrem Hotel für die Nacht eingerichtet und nachdem eine Stunde Ruhe sie in den Stand gesetzt hatte, sich ein wenig von den Strapazen des Tages zu erholen, schrieb Rosamunde auf Geheiß ihres Gatten zwei Briefe.
Der erste war an Mr. Buschmann gerichtet und meldete diesem einfach ihre Ankunft und ihren angelegentlichsten Wunsch, ihn den nächsten Morgen so zeitig als möglich in ihrem Hotel zu sehen. Zum Schlusse ward er dringend ersucht, ihre Gegenwart in London seiner Nichte so lange zu verschweigen, bis er mit ihnen gesprochen habe.
Der zweite Brief war an den Anwalt der Familie, Mr. Nixon, gerichtet, denselben Gentleman, der vor länger als einem Jahre auf Mistreß Franklands Wunsch den Brief geschrieben, welcher Andrew Treverton von seines Bruders Tod und von den Umständen, unter welchen derselbe erfolgt war, in Kenntnis setzte. Jetzt schrieb Rosamunde in ihres Gatten und in ihrem eigenen Namen an Mr. Nixon weiter nichts, als daß er es möglich machen möchte, nächsten Morgen auf dem Wege nach seinem Bureau in ihrem Hotel mit vorzusprechen und seine Meinung über eine Privatsache von großer Wichtigkeit hören zu lassen, die sie genötigt habe, die Reise von Porthgenna nach London zu unternehmen.
Dieser Brief und der an Onkel Joseph wurden noch an demselben Abend, wo sie geschrieben worden, durch einen Boten an ihre Adresse befördert.
Der erste Besuch, welcher sich am nächsten Morgen einfand, war der Anwalt – ein kluger, geschmeidiger, höflicher alter Herr, welcher Kapitän Treverton und auch schon dessen Vater gekannt hatte. Er kam in der bestimmten Erwartung, in Bezug auf gewisse mit der Herrschaft Porthgenna zusammenhängende Schwierigkeiten befragt zu werden, welche der dortige Geschäftsagent nicht im Stande sei, zu schlichten und die vielleicht von zu verwickelter und verworrener Art seien, um mit leichter Mühe schriftlich dargelegt zu werden.
Als er hörte, worin die Anlegenheit eigentlich bestand und als ihm der in dem Myrtenzimmer gefundene Brief vorgelegt ward, sah er sich zum ersten Male im Laufe eines langen Lebens und einer mannichfaltigen Praxis unter allen möglichen Klienten so überrascht, daß seine Denkkraft auf einige Augenblicke geradezu gelähmt und er nicht im Stande war, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.
Als jedoch Mr. Frankland, nachdem er diese Mitteilung gemacht, den Entschluß zu erkennen gab, die Kaufsumme für Porthgenna Tower, sobald die Echtheit des Briefes genügend dargetan sei, wieder herauszuzahlen, erlangte der alte Jurist den Gebrauch seiner Zunge sofort wieder und protestierte gegen diese Absicht seines Klienten mit der aufrichtigen Wärme eines Mannes, welcher die Vorzüge des Reichtums gründlich zu schätzen und recht wohl wußte, was es heißt, ein Vermögen von vierzigtausend Pfund zu gewinnen oder zu verlieren.
Leonard hörte geduldig und aufmerksam zu, während Mr. Nixon von juristischem Standpunkte aus dagegen sprach, den Brief an und für sich als ein gültiges Dokument zu betrachten und Mistreß Jazephs Aussage in Verbindung damit in Bezug auf Mistreß Franklands wirkliche Herkunft als entscheidend gelten zu lassen. Er verbreitete sich über die Unwahrscheinlichkeit, daß Mistreß Trevertons vorgeblicher Betrug an ihrem Gatten begangen worden sei, ohne daß andere Personen, außer ihrer Zofe und ihr selbst, in das Geheimnis eingeweiht gewesen wären. Er erklärte es für übereinstimmend mit aller Erfahrung der menschlichen Natur, daß eine oder mehrere dieser Personen entweder aus Bosheit oder aus Mangel an Vorsicht von diesem Geheimnis gesprochen hätten und daß die daraus hervorgehende Bloßstellung der Wahrheit im Laufe einer so langen Zeit von zweiundzwanzig Jahren zur Kenntnis einiger der vielen Leute im Westen von England sowohl als in London, welche die Familie Treverton persönlich oder dem Rufe nach kannten, hätte kommen müssen.
Von diesem Einwand ging er auf einen zweiten über, welcher die mögliche Echtheit des Briefes als eines schriftlichen Dokuments zugab, aber zugleich die Wahrscheinlichkeit behauptete, daß es unter dem Einflusse einer Geistesstörung auf Mistreß Trevertons Seite zu Stand gekommen, welche die Zofe damals ein Interesse gehabt zu begünstigen, obschon sie vielleicht nach dem Tode ihrer Herrin gezögert, es bei einem Versuch, von dem Betruge Nutzen zu ziehen, auf die möglichen Folgen ankommen zu lassen.
Nachdem Mr. Nixon diese Ansicht, durch welche nicht bloß das Schreiben des Briefes, sondern auch das Verbergen desselben erklärt ward, geltend gemacht, bemerkte er in Bezug auf Mistreß Jazeph weiter, daß jede Aussage, die sie tun würde, in juristischer Beziehung von geringem oder gar keinem Werte sein würde und zwar wegen der Schwierigkeit, oder – wie er lieber sagen möchte – der Unmöglichkeit – die Identität des in dem Briefe erwähnten Kindes mit der Dame festzustellen, welche er jetzt die Ehre hätte als Mistreß Frankland anzureden und welche kein nicht mit voller gesetzlicher Glaubwürdigkeit begabtes Dokument in der ganzen Welt ihn veranlassen könnte, für eine andere Person als die Tochter seines alten Freundes und Klienten Kapitän Treverton zu halten.
Nachdem Leonard die Einwendungen des Juristen angehört, räumte er die Scharfsinnigkeit derselben ein, gestand aber gleichzeitig, daß sie in seiner Ansicht über den Inhalt des Briefes oder in seiner Überzeugung hinsichtlich des Verfahrens, welches er einzuschlagen für seine Pflicht halte, keine Änderung hervorgebracht hätten. Er wollte, sagte er, Mistreß Jazephs Aussage abwarten, ehe er einen entscheidenden Schritt täte; wäre diese Aussage aber von der Art und würde sie auf eine Weise gegeben, welche ihn überzeugte, daß seine Gattin kein moralisches Recht auf das Vermögen, welches sie jetzt besäße, habe, so würde er es der Person, welcher dieses Recht zustünde – nämlich Mr. Andrew Treverton – sofort zurückerstatten.
Als Mr. Nixon fand, daß keinerlei neue Argumente oder sonstige Vorstellungen Mr. Franklands Entschluß wankend machen und daß keine besondere Ansprache an Rosamunde sie im mindesten anstacheln konnte, ihren Einfluß zu benutzen, um ihren Gatten zu einer Änderung seines Entschlusses zu bewegen, da er ferner nach allem, was er gehört, überzeugt war, daß Mr. Frankland, wenn ihm noch viele weitere Einwendungen entgegengestellt würden, entweder einen andern Juristen zu Rate ziehen, oder es auf die Gefahr ankommen lassen würde, einen verhängnisvollen juristischen Irrtum dadurch zu begehen, daß er in der Sache hinsichtlich der Wiedererstattung des Geldes auf eigene Faust handle, so verstand er sich endlich – obschon unter Protest – dazu, seinem Klienten den Beistand, dessen er bedurfte, zu leisten, im Fall es notwendig ward, mit Andrew Treverton in Mitteilung zu treten.
Mit höflicher Resignation hörte er Leonards kurze Aufzählung der Fragen an, welche er Mistreß Jazeph vorzulegen gedachte, und sagte, als die Reihe des Sprechens an ihn kam, mit dem möglichst geringsten Anflug von Sarkasmus, daß dies vom moralischen Gesichtspunkt aus betrachtet ganz vortreffliche Fragen seien und ohne Zweifel Antworten zur Folge haben würden, die ein höchst romantisches Interesse besitzen müßten.
„Aber“, setzte er hinzu, „da Sie schon ein Kind haben, Mr. Frankland, und da Sie – wenn ich mir erlauben darf, in dieser Beziehung eine Vermutung auszusprechen – im Laufe der Jahre deren mehrere bekommen können und da diese Kinder, wenn sie heranwachsen, von dem Verlust Ihres mütterlichen Vermögens hören und zu wissen wünschen werden, warum es geopfert ward, so möchte ich – indem ich die Sache bloß auf Familienrücksichten basiere und von dem juristischen Standpunkt ganz absehe – empfehlen, daß Sie sich von Mistreß Jazeph außer der mündlichen Aussage, welche Sie ihr abzufragen gedenken – und gegen deren Zulässigkeit ich in diesem Falle nochmals protestiere – auch eine schriftliche Erklärung verschaffen, welche Sie einmal nach ihrem Tode zurücklassen und durch welche Sie in den Augen Ihrer Kinder gerechtfertigt werden können, im Fall die Notwendigkeit einer solchen Rechtfertigung sich in der Zukunft herausstellen sollte.“
Der Wert dieses Rats war zu einleuchtend, als daß derselbe hätte verschmäht werden können. Auf Leonards Wunsch setzte Mr. Nixon sofort das Schema einer Erklärung auf, in welcher die Echtheit des von der verstorbenen Mistreß Treverton auf ihrem Sterbebett an ihren Gatten gerichteten Briefes bestätigt und die Wahrheit der darin enthaltenen Angaben sowohl in Bezug auf den an Kapitän Treverton verübten Betrug, als auf die behauptete Herkunft des Kindes bezeugt ward.
Mr. Nixon sagte Mr. Frankland, daß er wohltun würde, Mistreß Jazephs Unterschrift dieses Dokument durch die Namen zweier gesetzlich gültigen Zeugen attestieren zu lassen, überreichte dann die Erklärung Rosamunde, damit diese sie ihrem Gatten vorläse, und als er fand, daß keine Einwendung gegen irgend einen Teil der Schrift gemacht ward und daß er in dem gegenwärtigen ersten Stadium der Maßnahmen von keinem weitern Nutzen sein könne, erhob er sich, um sich zu entfernen.
Leonard behielt sich, da nötig, eine weitere Besprechung im Laufe des Tages vor und Mr. Nixon beurlaubte sich, indem er bis zum letzten Augenblick sienen Protest wiederholte und erklärte, daß ihm im ganzen Laufe seiner Praxis noch nie ein so außerordentlicher Fall und ein so starrköpfiger Klient vorgekommen sei.
Beinahe eine Stunde verging nach der Entfernung des Juristen, ehe ein zweiter Besuch gemeldet ward. Nach Verlauf dieser Zeit hörte man das willkommene Geräusch von Fußtritten sich der Tür nähern und Onkel Joseph trat in das Zimmer.
Rosamundes durch Besorgnis und Unruhe geschärfte Beobachtungsgabe entdeckte gleich in dem Augenblicke, wo er erschien, eine Veränderung in seinem Aussehen und Benehmen. Sein Gesicht war abgezehrt und abgespannt und sein Gang hatte, als er weiter in das Zimmer hereinschritt, jene Munterkeit und Flinkheit verloren, die ihn auf so komische Weise kennzeichnete, als Rosamunde ihn in Porthgenna Tower zum ersten Male sah. Er versuchte seinen ersten begrüßenden Worten eine Entschuldigung wegen seines Spätkommens hinzuzufügen, Rosamunde aber unterbrach ihn in ihrer Begier, die erste wichtige Frage zu tun.
„Daß Sie die Adresse Ihrer Nichte ermittelt haben, wissen wir“, sagte sie hastig, „aber weiter wissen wir nichts. Ist es mit ihr wie Sie fürchteten? Ist sie krank?“
Der Alte schüttelte wehmütig den Kopf.
„Was sagte ich Ihnen, als ich Ihnen die Briefe zeigte?“ entgegnete er. „Sie ist so krank, Madame, daß nicht einmal die Botschaft, die Sie mir in Ihrer Güte an Sie auftrugen, ihr etwas nützen konnte.“
Diese wenigen einfachen Worte erfüllten Rosamundes Herz mit einer seltsamen Furcht, welche sie gegen ihren eigenen Willen, als sie wieder zu sprechen versuchte, zum Schweigen brachte. Onkel Joseph verstand den besorgten Blick, den sie auf ihn heftete und die rasche Gebärde, die sie nach dem Stuhle machte, der dem Sofa, auf welchem sie mit ihrem Gatten saß, zunächst stand.
Onkel Joseph nahm auf dem Stuhle Platz und vertraute ihnen nun alles, was er zu sagen hatte.
Seine erste Frage, sagte er, als er die Wohnung seines Landsmanns, des deutschen Zuckerbäckers, erreicht hatte, bezog sich auf die Örtlichkeit des Postbüros, an welches die Briefe seiner Nichte adressiert waren, und er erfuhr, daß es kaum zehn Minuten Weges von dem Hause seines Freundes entfernt sei. Das Gespräch, welches in Bezug auf den Zweck seiner Reise nach London und die Hoffnungen und Befürchtungen, womit er sie unternommnen, folgte, führte zu weitern Fragen und Antworten, welche mit der Entdeckung endeten, daß der Bäcker unter seinen anderen Kunden auch die Wirtin eines Logishauses in der Nähe mit gewissen leichten Zwiebacken versorgt, wegen welcher sein Laden berühmt war. Diese Zwiebacke wurden zum Gebrauche einer kranken Frau gekauft, welche in dem Logishause wohnte und die Wirtin gab bei einer der vielen Gelegenheiten, wo sie in den Laden kam und über ihre eigenen Angelegenheiten plauderte, ihre Verwunderung zu erkennen, daß eine so augenscheinlich achtbare und in allen ihren Zahlungen so pünktliche Person wie ihre Mitbewohnerin von keinem Freunde oder Bekannten besucht würde und daß sie unter dem Namen „Mistreß James“ lebte, während ihre Wäsche mit „S. Jazeph“ gezeichnet sei. Als man zu diesem außerordentlichen Ergebnis einer Konversation gelangte, die von dem einfachsten Beginn, den man ich denken konnte, ausgegangen war, hatte Onkel Joseph sich sofort die Adresse des Logishauses notiert und sich am nächsten Morgen zu einer frühen Stunde hinbegeben.
Während der Nacht hatte ihn die Bestätigung seiner Befürchtungen in Bezug auf seine Nichte sehr traurig gestimmt und als er sie am darauffolgenden Morgen sah, erschrak er über die heftige Aufregung ihres Nervensystems, welche sie kund gab, als er sich ihrem Bett näherte. Dennoch aber gab er den Mut und die Hoffnung nicht eher auf, als bis er Mistreß Franklands Botschaft mitgeteilt hatte und nun fand, daß dieselbe durchaus nicht die beruhigende Wirkung äußerte, welche er fast mit Gewißheit davon erwartet hatte.
Anstatt die Kranke zu beschwichtigen, schien er dieselbe vielmehr von neuem aufzuregen und zu beunruhigen. Außer einer Menge genauer Erkundigungen über Mistreß Franklands Aussehen, über ihr Benehmen gegen ihn, über die genauen Worte, die sie gesprochen, welche Erkundigungen er alle mehr oder weniger zu ihrer Zufriedenheit beantworten im Stande war, hatte sie zwei Fragen an ihn gerichtet, die er gar nicht beantworten konnte.
Die erste dieser Frage war: Ob Mistreß Frankland etwas in Bezug auf das Geheimnis gesagt hätte? Die zweite war: Ob sie zufällig ein Wort fallen gelassen, welches zu der Vermutung berechtige, daß sie die Lage des Myrtenzimmers ausfindig gemacht?
Während Onkel Joseph noch am Bett seiner Nichte gesessen und sich, wiewohl vergebens, bemüht hatte, die freundlichen und beruhigenden Worte von Mistreß Franklands Botschaft als eine genügende Antwort auf die Fragen zu betrachten, die er selbst nicht im Stande war auf eine direktere und überzeugendere Weise zu erledigen, war der die Kranke behandelnde Arzt eingetreten. Nachdem dieser die nötigen Fragen über ihr Befinden getan und noch eine Weile über gleichgültige Dinge gesprochen, hatte er Onkel Joseph verstohlen beiseite genommen und ihm mitgeteilt, daß der Schmerz in der Gegend des Herzens und die Schwierigkeit des Atmens, worüber seine Nichte klagte, von ernsterer Bedeutung wären, als ein in dergleichen Dingen nicht Eingeweihter vielleicht geneigt wäre zu glauben. Deshalb bäte er ihn, ihr keine Botschaften von irgend jemand mehr zu überbringen, wenn er nicht im voraus vollkommen überzeugt wäre, daß dadurch ihr Gemüt sofort und für immer von der geheimen Unruhe, die es jetzt peinigte, befreit würde – einer Unruhe, durch die ihre Krankheit mit jedem Tage verschlimmert und alle ärztliche Hilfe fast vollständig unnütz gemacht werde.
Nachdem Onkel Joseph noch eine Weile bei seiner Nichte gesessen und mit sich selbst zu Rate gegangen, hatte er beschlossen, diesen Abend, nachdem er in die Wohnung seines Freundes zurückgekehrt wäre, privatim an Mistreß Frankland zu schreiben. Das Abfassen dieses Briefes hatte ihm mehr Zeit gekostet, als jemand, der ans Schreiben gewöhnt ist, glauben würde.
Endlich, nachdem er mit vielem Zeitaufwand eine Reinschrift von vielen Konzepten gemacht und dabei durch öftere Besuche bei seiner Nichte unterbrochen worden, hatte er einen Brief zu Stande gebracht, in welchem er das, was seit seiner Ankunft in London geschehen war, in einer Sprache erzählte, von der er hoffte, daß sie verstanden werden würde. Aus einer Vergleichung der Daten ergab sich, daß dieser Brief Mr. und Mistreß Frankland auf ihrer Reise gekreuzt haben mußte.
Der Brief enthielt weiter nichts, als was er selbst soeben mündlich erzählte, ausgenommen, daß er auch – als Beweis, daß die Entfernung die Furcht, welche das Gemüt seiner Nichte quälte, nicht vermindert hatte – die Erklärung mitteilte, welche sie ihm wegen des Verschweigens ihres wahren Namens gegeben, so wie des Grundes, aus welchem sie ihren Aufenthalt bei fremden Personen genommen, während sie doch Freunde in London hatte, zu denen sie gehen konnte.
Diese Erklärung hätte vielleicht nicht den Brief zu verlängern gebraucht, denn sie enthielt der Hauptsache nach ganz dasselbe, was Onkel Joseph schon gesagt, als er von dem Beweggrund sprach, welcher Sara veranlaßt, sich in Truro von ihm zu trennen.
Mit diesen letzten Worten war die traurige und einfache Geschichte des alten Mannes zu Ende.
Nachdem Rosamunde eine Weile gewartet, um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, berührte sie ihren Gatten, um dessen Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, und flüsterte ihm zu:
„Nun kann ich wohl alles sagen, was ich in Porthgenna zu sagen wünschte?“
„Ja, alles“, antwortete er. „Wenn du die nötige Standhaftigkeit zu besitzen glaubst, Rosamunde, so ist es am angemessensten, daß er es von dir selbst höre.“
Nachdem der erste natürliche Ausdruck von Erstaunen vorüber war, bot die Wirkung, welche die Enthüllung des Geheimnisses auf Onkel Joseph äußerte, den auffallendsten Gegensatz, den man sich denken kann, zu der, welche sie auf Mr. Nixon geäußert. Kein Schatten von einem Zweifel verdunkelte das Gesicht des alten Mannes, kein Wort eines Widerspruchs entfiel seinen Lippen. Die einzige Gemütsbewegung, die in ihm erregt ward, war einfache, ungetrübte Freude. Er sprang mit seiner ganzen natürlichen Behendigkeit auf seine Füße, seine Augen funkelten wieder von all ihrem natürlichen Glanze – in dem einen Augenblick klatschte er in die Hände wie ein Kind, im nächsten warf er seinen Hut in die Höhe und bat Rosamunde, sich von ihm sofort an das Bett seiner Nichte führen zu lassen.
„Wenn sie Sara erzählen, was Sie soeben mir erzählt haben“, rief er, indem er über das Zimmer eilte, um die Tür zu öffnen, „so geben Sie ihr den Mut zurück, richten sie von ihrem Krankenlager auf und machen sie gesund, ehe noch der Tag um ist.“
Ein mahnendes Wort von Mr. Frankland verschloß ihm plötzlich den Mund und er ließ sich schweigend und aufmerksam wieder auf den Stuhl nieder, von welchem er den Augenblick zuvor aufgesprungen war.
„Bedenken Sie, was der Arzt Ihnen gesagt hat“, sagte Leonard. „Die plötzliche Überraschung, welche Sie so glücklich gemacht hat, könnte für Ihre Nichte sehr verderblich sein. Ehe wir die Verantwortlichkeit auf uns nehmen, mir ihr über einen Gegenstand zu sprechen, der sie ganz gewiß heftig aufregen wird – wie sorgfältig wier auch dabei zu Werke gehen mögen – müssen wir, glaube ich doch, um der Sicherheit willen erst ihren Arzt um Rat fragen.“
Rosamunde unterstützte den Vorschlag ihres Gatten mit Wärme und meinte mit der ihr eigentümlichen Ungeduld, die nie von Aufschub etwas wissen wollte, man solle den Arzt sofort auffinden.
Onkel Joseph erklärte – ein wenig widerstrebend wie es schien – zur Antwort auf die an ihn gerichteten Fragen, er wisse die Wohnung des Doktors und derselbe sei in der Regel kurz vor ein Uhr nachmittags zu Hause anzutreffen.
Es war jetzt gerade halb eins und Rosamunde zog mit Zustimmung ihres Gatten sofort die Klingel, um eine Droschke holen zu lassen. Schon stand sie, nachdem sie diesen Befehl erteilt, im Begriff ihren hut aufzusetzen, als der alte Mann ihr Einhalt tat, indem er mit einem gewissen Anschein von Zögern und Verlegenheit fragte, ob man es für nötig hielte, daß er Mr. und Mistreß Frankland zu dem Arzte begleite. Ehe man noch diese Frage beantworten konnte, setzte er hinzu, wenn man nichts dagegen hätte, so wäre es ihm weit lieber wenn er im Hotel zurückbleiben und warten dürfte, um dann, wenn sie zurückkämen, die Instruktionen zu empfangen, welche sie ihm vielleicht zu geben hätten.
Leonard war mit diesem Wunsche sofort einverstanden, ohne sich nach den Gründen desselben zu erkundigen; Rosamunde dagegen war neugieriger und fragte, warum er lieber allein in dem Hotel zurückbleiben, als mit ihnen zu dem Doktor gehen wolle.
„Ich kann den Mann nicht leiden“, sagte Onkel Joseph. „Wenn er von Sara spricht, so macht er ein Gesicht, als ob er glaubte, sie werde nie wieder von ihrem Bett aufstehen.“
Mit dieser kurzen Antwort ging er mit halb verlegener Miene fort ans Fenster, als ob er nicht gern weiter etwas sagen wollte.
Die Wohnung des Doktors war nicht ganz in der Nähe gelegen, doch kamen Mr. und Mistreß Frankland noch vor ein Uhr dort an und trafen ihn zu Hause.
Es war ein junger Mann mit einem sanften, ernsten Gesicht und von ruhigem, stillen Wesen. Tägliche Berührung mit Leiden und Kummer hatten seinen Charakter vielleicht vor der Zeit ernst und wehmütig gestimmt.
Rosamunde stellte sich und ihren Gatten ihm als Personen vor, welche sich für seine Patientin in dem Logishause lebhaft interessierten, und überließ es dann Leonard, die ersten Fragen in Bezug auf den Gesundheitszustand ihrer Mutter zu tun.
Die Antwort des Arztes begann mit einigen höflichen Worten, welche augenscheinlich den Zweck hatten, seine Zuhörer auf eine weniger hoffnungsvolle Mitteilung vorzubereiten, als sie vielleicht zu empfangen erwarteten. Indem er alle rein technischen Bemerkungen vermied, sagte er ihnne, daß seine Patientin unzweifelhaft an einer ernsten Herzkrankheit leide. Von welcher Beschaffenheit diese Krankheit eigentlich sei, dies war, wie er offen gestand, eine zweifelhafte Sache, die von verschiedenen Ärzten auf verschiedene Weise erklärt ward. Nach der Meinung, die er sich selbst nach den Symptomen gebildet, glaubte er, die Krankheit seiner Patientin hinge mit derArterie zusammen, welche das Blut unmittelbar aus dem Herzen udrch das ganze System führt. Da er gefunden, daß sie sehr abgeneigt war, Fragen in Bezug auf die Art und Weise ihres frühern Lebens zu beantworten, so könne er nur erraten, daß die Krankheit schon alt und durch eine gewaltige Gemütserschütterung in Verbindung mit darauf gefolgter langer nagender Gemütsunruhe – von welcher ihr Gesicht unverkennbare Spuren zeigte – entstanden und daß dieselbe noch durch die Anstrengung einer Reise nach Londn verschlimmert worden sei, welche sie, wie sie gestanden, zu einer Zeit unternommen, wo große Erschöpfung des Nervensystems sie eigentlich zum Reisen ganz unfähig gemacht hätte. Nach seiner Ansicht sei es seine schmerzliche Pflicht, ihren Freunden zu sagen, daß jede heftige Gemütsbewegung ihr Leben unbestreitbar in Gefahr bringen würde. Könnte dagegen die Gemütsunruhe, an welcher sie gegenwärtig litte, gehoben und die Kranke in ein ruhiges bequemes Landhaus unter Leute gebracht werden, welche unablässig bedacht wären, sie still und ungestört zu halten und dafür zu sorgen, daß es ihr an nichts fehle, so sei Grund zu hoffen, daß das weitere Vorschreiten der Krankheit gehemmt und ihr Leben noch um einige Jahre gefristet werden könne.
Rosamundes Herz hüpfte vor Freude bei dem Bild der Zukunft, welches ihre Phantasie nach den Andeutungen entwarf, welche in den letzten Worten des Doktors lagen.
„Es steht ihr alles, was Sie erwähnten, zu Gebote und mehr noch wenn es nötig ist!“ entgegnete sie eifrig, ehe noch ihr Gatte sprechen konnte. „O, Sir, wenn Ruhe unter gütigen Freunden alles ist, was das arme Herz Ihrer Patientin bedarf, dann können wir, Gott sei Dank, es geben.“
„Ja, wir können es geben“, sagte Lenny, an die letzten Worte seiner Gattin anknüpfend, „wenn der Doktor uns ermächtigt, seiner Patientin eine Mitteilung zu machen, welche geeignet ist, sie aller Unruhe zu überheben, die sie aber, wie ich bemerken muß, gegenwärtig durchaus nicht vorbereitet ist, zu empfangen.“
„Darf ich fragen“, sagte der Arzt, „wer mit der Mitteilung, von welcher Sie sprechen, beauftragt werden soll?“
„Es gibt zwei Personen, welche damit beauftragt werden können“, antwortete Leonard. „Die eine ist der alte Mann, den Sie am Bett Ihrer Patientin getroffen haben. Die andere ist meine Frau.“
„In diesem Falle“, entgegnete der Doktor, indem er Rosamunde ansah, „kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß diese Dame die geeignetste Person ist, diese Aufgabe zu übernehmen.“
Er schwieg, dachte einen Augenblick nach und sagte dann:
„Darf ich jedoch fragen, ehe ich Sie veranlasse, sich nach einer oder der andern Seite hin zu entscheiden, ob diese Dame meiner Patientin ebenso genau bekannt ist und auf demselben vertrauten Fuße mit ihr steht wie der alte Mann?“
„Ich fürchte, ich muß diese beiden Fragen mit Nein beantworten“, entgegnete Leonard. „Vielleicht muß ich Ihnen auch gleichzeitig sagen, daß Ihre Patientin meine Frau jetzt in Cornwall glaubt. Ihr erstes Erscheinen in dem Krankenzimmer würde daher, fürchte ich, die Leidende in hohem Grade überraschen und möglicherweise ein wenig erschrecken.“
„Unter diesen Umständen“, sagte der Arzt, „scheint es am rätlichsten, den alten Mann, so schlicht er auch ist, mit der Mitteilung zu beauftragen und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sein Erscheinen für die Kranke nichts Überraschendes haben kann. Wie ungeschickt er ihr auch diese Eröffnung machen möge, so wird er doch vor dieser Dame den großen Vorteil voraus haben, daß er an dem Bett der Kranken nicht unerwartet erscheint. Wenn das gewagte Experiment einmal gemacht werden muß – und nach dem, was Sie mir mitgeteilt, glaube ich, muß es geschehen – so haben Sie, glaube ich, keine Wahl als es mit der gehörigen Vorsicht und Anleitung dem alten Mann zu übertragen.“
Nachdem man zu diesem Schlusse gekommen war, gab es weder auf der einen noch auf der andern Seite weiter etwas zu sagen. Die Unterredung endete und Rosamunde und ihr Gatte eilten zurück von dem Hotel, um Onkel Joseph zu instruieren.
Als sie sich der Tür ihres Wohnzimmers näherten, waren sie überrascht, Musik darin zu hören. Als sie eintraten, sahen sie den alten Mann zusammengeduckt auf einem Stuhl sitzen und einer alten kleinen Spieluhr zuhören, welche dicht auf einem Tische neben ihm stand und ein Stück spielte, in welchem Rosamunde sofort die Arie „Schlage, schlage, lieber Junge“, aus Mozarts Don Juan erkannte.
„Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, daß ich mir zum Zeitvertreibe, während Sie nicht da waren, etwas habe vormusizieren lassen“, sagte Onkel Joseph, indem er verlegen in die Höhe fuhr und die Hemmfeder der Spieluhr berührte. „Dies ist von allen meinen Freunden und Gefährten der letzte, welcher mir geblieben ist. Der göttliche Mozart, der König aller Komponisten, die jemals gelebt, schenkte diese Spieluhr meinem Bruder Max, als derselbe Zögling der Musikschule in Wien war, mit eigener Hand. Seit meine Nichte mich in Cornwall verlassen, habe ich nicht den Mut gehabt, mir von Mozart aus diesem kleinen Kästchen heraus etwas vorsingen zu lassen, bis heute. Jetzt aber, wo Sie mich wegen Sara wieder froh und glücklich gemacht haben, sehnten meine Ohren sich wieder nach dem himmlischen Geklimper, welches, mag ich sein wo ich will, für mein Herz stets denselben freundlichen Klang hat. Doch genug damit“, sagte der alte Mann, indem er das Kästchen wieder in das an seiner Seite hängende Lederfutteral steckte, welches Rosamunde schon bemerkt, als sie ihn in Porthgenna zum ersten Male gesehen. „Ich will meinen Singvogel wieder in seinen Käfig stecken und nachdem dies geschehen ist, fragen, ob Sie mir gefälligst mitteilen wollen, was der Doktor zu Ihnen gesagt hat.“
Rosamunde beantwortete seine Frage, indem sie ihm den Hauptinhalt der Unterredung erzählte, welche zwischen ihrem Gatten und dem Doktor stattgefunden hatte. Dann begann sie unter vielen vorbereitenden Ermahnungen den alten Mann zu instruieren, wie er seine Nichte von der Entdeckung des Geheimnisses unterrichten sollte. Sie sagte ihm, daß die im Zusammenhange damit stehenden Umstände erst nicht als Ereignisse, welche wirklich geschehen wären, sondern als Ereignisse, die geschehen könnten, erzählt werden müßten. Sie legte ihm die Worte, die er zu diesem Zwecke zu sprechen hatte, in den Mund, indem sie die wenigsten und die einfachsten wählte, welche dieser Absicht entsprachen. Sie zeigte ihm, daß er beinahe unbemerkbar von der Entdeckung als einer Sache, welche geschehen sein könnte, auf die Entdeckugn als eine Sache, die wirklich geschehen wäre, übergehen könnte und prägte ihm als das wichtigste von allem ein, dem Gemüt seiner Nichte fortwährend die Tatsache vorzuhalten, daß die Entdeckung des Geheimnisses in den beiden Personen, die ein so großes Interesse daran gehabt, es ausfindig zu machen, nicht einen einzigen unfreundlichen Gedanken oder ein einziges bitteres Gefühl gegen sie erweckt habe.
Onkel Joseph hörte mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit zu bis Rosamunde fertig war, dann erhob er sich von seinem Sitz, heftete seine Augen aufmerksam auf ihr Gesicht und entdeckte darin einen Ausdruck von Unruhe und Zweifel, den er ganz richtig auf sich selbst bezog.
„Soll ich, ehe ich fortgehe, Ihnen die Überzeugung geben, daß ich nichts vergessen werde?“ fragte er eindringlich. „Ich besitze allerdings keine große Erfindungsgabe, wohl aber ein gutes Gedächtnis, ganz besonders wenn es sich um etwas handelt, was Sara betrifft. Haben Sie daher die Güte und sehen Sie zu, ob ich Ihnen alles wiederhersagen kann, was Sie mir soeben einstudiert haben.“
Vor Rosamunde stehend und während er in seinem Blick und Wesen in seltsamer und rührender Weise an die längstvergangenen Tage seiner Kindheit erinnerte, wo er am Knie seiner Mutter seine ersten Aufgaben hergesagt, wiederholte er jetzt vom ersten bis zum letzten Worte die ihm erteilten Instruktionen mit einer Genauigkeit und mit einer Treue des Gedächtnisses, welches bei einem Mann von seinem Alter geradezu Erstaunen erregen mußte.
„Nun, habe ich mir alles ordentlich gemerkt?“ fragte er einfach, als er fertig war. „Und kann ich nun meiner Wege gehen und der armen Sara die gute Botschaft bringen?“
Er mußte immer noch eine Weile warten, während Rosamunde und ihr Gatte miteinander über das beste und sicherste Mittel berieten, dem Bekenntnis, daß das Geheimnis entdeckt war, die Kunde von ihrer eigenen Anwesenheit in London folgen zu lassen.
Nach einiger Überlegung forderte Leonard seine Gattin auf, das von dem Anwalt an diesem Morgen aufgesetzte Dokument zur Hand zu nehmen und auf die leere Seite des Papiers einige von ihm zu diktierende Zeilen zu schreiben, durch welche Mistreß Jazeph ersucht ward, die Erklärungsformel zu lesen und mit ihrem Namen zu unterzeichnen, sobald sie überzeugt wäre, daß dieselbe in keiner Beziehung von ihr etwas anderes verlange als die Bestätigung der genauesten Wahrheit.
Als sie hiermit fertig und das Blatt, auf welches Mistreß Frankland geschrieben, so zusammengebrochen worden, daß das von ihr Geschriebene die erste, zunächst in die Augen fallende Seite bildete, ersuchte Leonard seine Gattin, das Papier dem alten Manne zu geben und erklärte ihm, was er damit machen solle, mit folgenden Worten:
„Wenn Sie die Nachricht wegen des Geheimnisses Ihrer Nichte beigebracht und ihr vollauf Zeit gelassen haben, sich zu fassen, wenn sie Fragen in Bezug auf meine Gattin und mich selbst tut – was, wie ich glaube, geschehen wird – so händigen Sie ihr dieses Papier ein und ersuchen Sie sie, dasselbe zu lesen. Mag sie nun geneigt sein, es zu unterzeichnen oder nicht, so wird sie ganz gewiß fragen, wie Sie dazu gekommen sind. Dann sagen Sie ihr, Sie hätten es von Mistreß Frankland erhalten – bedienen Sie sich des Wortes ‚erhalten’, damit sie anfangs glaube, es sei Ihnen von Porthgenna mit der Post zugesendet worden. Wenn Sie finden, daß sie die Erklärung unterzeichnet und daß sie, nachdem sie dies getan, nicht sehr aufgeregt ist, so erzählen Sie ihr auf dieselbe allmälige Weise, auf welcher sie ihr die Wahrheit in Bezug auf die Entdeckung des Geheimnisses mitteilen, meine Frau habe Ihnen das Papier mit eigenen Händen gegeben und befinde sich jetzt in London –“
„Und hoffe und sehne sich, sie zu sehen“, sagte Rosamunde hinzu. „Sie, der Sie nichts vergessen werden, werden, wie ich überzeugt bin, auch dies nicht vergessen zu sagen, nicht wahr nicht?“
Bei diesem kleinen Kompliment, welches seinem guten Gedächtnis gemacht ward, errötete Onkel Joseph vor Freude, als ob er wieder ein Knabe wäre. Nachdem er versprochen, sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig zu zeigen und ehe noch der Tag um wäre, wiederzukommen und Mistreß Frankland von aller Ungewißheit zu befreien, nahm er Abschied und entfernte sich hoffnungsvoll und getrost, um sich seines wichtigen Auftrags zu entledigen.
Rosamunde sah ihm aus dem Fenster nach, wie er
sich unter
der wimmelnden Masse der Fußgänger auf dem Trottoirs rechts
und links
ausweichend den Weg bahnte, bis er ihren Augen entschwand. Wie flink
bewegte
sich die kleine zierliche Gestalt! Wie heiter strömte das
unumwölkte
Sonnenlicht auf das muntere Treiben in der Straße herab! Das
ganze Sein der
großen Stadt sonnte sich in der Sommerpracht des Tages, alle ihre
gewaltigen
Pulse schlugen höher und alle ihre Myriaden Stimmen
flüsterten von Hoffnung.
Siebentes Kapitel
Die Geschichte der Vergangenheit
Der Vormittag verging und der Abend kam, aber immer noch war von Onkel Josephs Rückkunft nichts zu bemerken. Gegen sieben Uhr ward Rosamunde von der Wärterin gerufen, welche meldete, daß das Kind wach und unruhig sei. Nachdem sie es beschwichtigt und zur Ruhe gebracht, nahm sie es mit in das Wohnzimmer, und schickte mit ihrer gewohnten Rücksicht auf das Wohlbefinden jedes Dienstboten, der für sie tätig war, die Wärterin hinunter, damit sie sich nach der Arbeit des Tages eine Stunde der Erholung gönne.
„Ich möchte mich in diesen Augenblicken der Erwartung nicht gern von dir entfernen, Lenny“, sagte sie, als sie wieder zu ihrem Gatten kam; „deshalb habe ich den Kleinen mit hierhergebracht. Er werde wahrscheinlich nicht gleich wieder ruhig werden und seine Abwartng dient mir in unserm gegenwärtigen Zustande von Ungewißheit zur Zerstreuung und Herzenserleichertung.“
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug halb acht. Die Wagen rollten rascher auf der Straße hintereinander her und waren besetzt mit elegant gekleideten Leuten, die entweder zum Diner oder in die Oper fuhren. Die Kolporteure schrien auf dem benachbarten Platze ihre Neuigkeiten aus und hatten die zweiten Ausgaben der Abendjournale unter den Armen. Leute, welche den ganzen Tag hinter dem Ladentisch tätig gewesen waren, standen an den Türen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Arbeiter zogen heimwärts, bald einzeln, bald in müden schlurfenden Trupps, Müßiggänger, die vom Diner kamen, zündeten an Straßenecken ihre Zigarren an und sahen sich um, unentschlossen, nach welcher Richtung sie ihre Schritte zunächst lenken sollten.
Es war gerade jene Übergangsperiode des Abends, zu welcher das Straßenleben des Tages beinahe vorüber ist und das Straßenleben der Nacht noch nicht recht begonnen hat – ebenso auch die Zeit, wo Rosamunde, nachdem sie vergebens versucht, sich die Langweiligkeit des Wartens dadurch zu erleichtern, daß sie zum Fenster hinausschaute, immer tiefer und tiefer in ihre eigenen unruhigen Betrachtungen versank, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich zu den Ereignissen der sie umgebenden kleinen Welt durch das Öffnen der Zimmertür zuückgerufen ward.
Sie blickte sofort von dem Kinde, welches schlafend auf ihrem Schoße lag, auf und sah, daß Onkel Joseph endlich wieder da war.
Der alte Mann trat schweigend ein und hielt die schriftliche Erklärung, die er auf Mr. Franklands Wunsch mitgenommen, aufgeschlagen in der Hand. Während er sich dem Fenster näherte, bemerkte Rosamunde, daß sein Gesicht aussah, als ob er während der wenigen Stunden seiner Abwesenheit seltsam gealtert hätte. Er trat dicht an sie heran, hielt ohne ein Wort zu sprechen seinen zitternden Zeigefinger tief unten auf das aufgeschlagene Blatt und zwar so, daß Rosamunde die auf diese Weise angedeutete Stelle sehen konnte, ohne von ihrem Stuhle aufzustehen.
Sein Schweigen und die Veränderung in seinem Gesicht erfüllte sie mit einer plötzlichen Furcht, welche sie bewog zu zögern, ehe sie ihn anredete.
„Haben Sie ihr alles gesagt?“ fragte sie, nachdem sie noch einen Augenblick gewartet, indem sie die Frage in leisem, flüsterndem Tone stellte und ohne auf das Papier zu achten.
„Dies ist der Beweis“, sagte er, immer noch auf das Blatt zeigend. „Sehen Sie, hier steht der Name an der dazu offen gelassenen Stelle – von ihrer eigenen Hand unterzeichnet.“
Rosamunde blickte auf das Papier. Hier stand wirklich die Unterschrift „S. Jazeph“ und darunter in mit matter, unsicherer Hand gezeichneten Klammern der Zusatz: „Geborene Sara Leeson.“
„Warum sprechen Sie nicht?“ rief Rosamunde, ihn mit steigender Unruhe betrachtend; „warum sagen Sie uns nicht, wie sie die Nachricht aufnahm?“
„Ach, fragen Sie mich nicht! Fragen Sie mich nicht“, antwortete er vor ihrer Hand zurückweichend, als sie dieselbe in ihrem Eifer auf seinen Arm zu legen suchte.
„Ich vergaß nichts. Ich sagte die Worte, wie Sie mich dieselben gelehrt hatten. Ich machte mit meiner Zunge einen Umweg, um zur Wahrheit zu gelangen, mein Gesicht aber schlug den Querweg ein und kam zuerst ans Ziel. Ich bitte Sie bei der Güte, die Sie mir bewiesen haben, fragen Sie mich nicht. Begnügen Sie sich zu wissen, daß sie sich jetzt besser, ruhiger und glücklicher fühlt. Das Schlimme ist vorüber und vergangen und das Gute soll nun alles kommen. Wenn ich Ihnen erzähle, wie sie aussah, wenn ich Ihnen erzähle, was sie sagte, wenn ich Ihnen alles erzähle, was geschah, nachdem sie die Wahrheit erfahren, so wird der Schrecken wieder mein Herz packen und alles Schluchzen und Weinen, welches ich mit Gewalt unterdrückt, wird wieder aufsteigen und mich ersticken. Ich muß meinen Kopf klar und meine Augen trocken erhalten – o wie könnte ich Ihnen alle die Dinge sagen, die ich Sara hoch und teuer versprochen zu berichten, ehe ich mich diese Nacht zur Ruhe niederlege?“
Er schwieg, zog ein grobes, kleines baumwollenes Taschentuch mit einem grell leuchtenden weißen Muster auf dunkelblauem Boden heraus und trocknete sich einige Tränen, welche ihm in die Augen gestiegen waren, während er sprach.
„Mein Leben ist im Ganzen genommen ein so glückliches gewesen“, sagte er selbstvorwurfsvoll und indem er Rosamunde ansah, „daß mein Mut, wenn er für die Zeit der Not gebraucht wird, nicht leicht zu finden ist. Und dennoch bin ich ein Deutscher! Alle meine Landsleute sind Philosophen – wie kommt es, daß ich allein in meinem Kopf so weich und in meinem Herzen so schwach bin wie der liebliche Kleine, der hier schlafend in Ihrem Schoße liegt?“
„Sprechen Sie jetzt nicht wieder; erzählen Sie uns nicht eher etwas, als bis Sie sich gefaßter fühlen“, sagte Rosamunde. „Jetzt, wo wir wissen, daß Sie sie ruhiger und wohler verlassen haben, sind wir von unserer quälenden Ungewißheit befreit. Ich will keine Fragen weiter an Sie tun – wenigstens“, setzte sie nach einer Pause hinzu, „will ich bloß eine tun.“
Sie schwieg und ihre Augen schauten fragend auf Leonard. Er hatte bis jetzt mit stummer Teilnahme alles gehört, was gesprochen worden, jetzt aber mischte er in sanftem Tone sich ein und riet seinem Weibe, ein wenig zu warten, ehe sie wagte, etwas Weiteres zu sagen.
„Die Frage ist eine leicht zu beantwortende“, bemerkte Rosamunde in bittendem Tone. „Ich wünschte bloß zu hören, ob sie meine Botschaft erhalten – ob sie weiß, daß ich warte und mich sehne, sie zu sehen, sobald sie mich zu sich kommen lassen will.“
„Ja, ja“, sagte der alte Mann, indem er Rosamunde mit einem Ausdruck von Herzenserleichterung zunickte. „Diese Frage ist leicht, sogar noch leichter als Sie denken, denn sie führt mich stracks zu dem Anfange alles dessen, was ich zu sagen habe.“
Er war bis jetzt unruhig im Zimmer hin- und hergegangen, hatet sich bald niedergesetzt, bald war er wieder aufgestanden. Jetzt stellte er sich einen Stuhl mitten zwischen Rosamunden – die mit ihrem Kind in der Nähe des Fensters saß – und ihren Gatten, welcher das Sofa an dem andern Ende des Zimmers einnahm. In dieser Stellung, welche ihm erlaubte, sich ohne Mühe abwechselnd an Mr. und Mistreß Frankland zu wenden, erlangte er bald so viel Fassung, als er bedurfte, um sein Herz ohne Rückhalt dem Interesse seines Gegenstands zu widmen.
„Als das Schlimmste vorüber und vorbei war“, sagte er Rosamunden anredend, „als sie zuhören und ich sprechen konnte, waren die ersten Worte des Trostes, die ich zu ihr sagte, die, welche Sie mir aufgetragen hatten. Mit zweifelnden, fürchtsamen Blicken sah sie mich unverwandt an.“ ‚War ihr Gatte dabei und hörte er sie?’ fragte sie. ‚Verriet seine Miene Zorn? Verriet sie Kummer? Veränderte sie sich auch nur im mindesten, als seine Gattin dir diese Worte auftrug?’ und ich sagte: ‚Nein, sie veränderte sich nicht und sie verriet auch weder Zorn noch Kummer.’ Dann sagte sie wieder: ‚Ist dadurch kein Zerwürfnis zwischen den jungen Eheleuten entstanden?`Ist dadurch nicht die ganze Liebe und das Glück zertrümmert worden, welches sie aneinander fesselte?’ Und wieder antwortete ich hierauf: ‚Nein, kein Zerwürfnis, keine Zertrümmerung. Sieh, ich will jetzt sogleich zu der guten Frau gehen und sie hierherholen, damit sie mit eigenem Munde für ihren guten Gatten bürge.“ Während ich diese Worte spreche, fliegt über ihr ganzes Gesicht ein Blick – nein, nicht ein Blick – ein Licht, ein Sonnenstrahl. Bis ich eins zählen kann, dauert er; ehe ich zwei zählen kann, ist er verschwunden; das Gesicht ist wieder ganz finster, es wendet sich von dem Pfühle von mir ab und ich sehe wie die Hand, die auf der Bettdecke ruht, das Papier zu zerknittern beginnt. „Nun gut, ich will denn gehen und die gute Dame holen“, sage ich wieder. Aber sie sagte: „Nein, noch nicht. Ich darf sie nicht sehen. Ich wage nicht, sie eher zu sehen, als bis sie weiß – und hier stockt sie und die Hand zerknittert wieder das Papier und ganz leise sage ich zu ihr: „Was soll sie denn wissen?“ und sie antwortete mir: „Etwas, was ich, ihre Mutter, ihr vor Scham nicht ins Gesicht sagen kann.“ - und ich sage: „Nun denn, mein Kind! Dann sag es nicht – sag es gar nicht.“ – Sie schüttelt den Kopf und ringt die Hände auf der Bettdecke. „Ich muß es sagen“, hebt sie dann wieder an. „Ich muß mein Herz von allem befreien, was so lange daran genagt, und wie sollte ich übrigens auch das Glück, welches ihr Anblick mir bereiten wird, in seinem ganzen Umfange fühlen, wenn mein Gewissen nicht völlig rein wäre?“ – Dann schweigt sie eine Weile, hebt ihre beiden Hände auf und ruft laut: „O, wird Gottes Gnade mir nicht ein Mittel zeigen dies zu sagen, ohne daß ich mich vor meinen Kinde zu tief erniedrigen muß?“ Und ich sage: „Still, still – es gibt ein Mittel. Sag es Onkel Joseph, der ja so gut wie dein Vater ist. Sag es Onkel Joseph, dessen kleiner Sohn in deinen Armen starb, dessen Tränen in jener längstentschwundenen Zeit des Kummers und der Trauer deine Hand trocknete. Sag es mir und ich will die Gefahr und die Schmach – wenn von einer solchen die Rede sein kann – des Wiedererzählens auf mich nehmen. Obschon ich keinen Fürsprecher habe, als mein weißes Haar – obschon ich keinen Beistand besitze, als mein Herz, welches keinen bösen Gedanken kennt - so will ich doch zu dieser guten und wahrheitliebenden Dame gehen, um die Bürde des Kummers ihrer Mutter ihr zu Füßen zu legen und, in meiner innersten Seele bin ich davon überzeugt, sie wird sich nicht abwenden.“
Er schwieg und sah Rosamunde an. Ihr Gesicht war über ihr Kind herabgeneigt, ihre Tränen träufelten langsam eine nach der andern auf die Brust des kleinen weißen Kleidchens. Nachdem sie einen Augenblick gewartet, um sich zu sammeln, ehe sie sprach, reichte sie dem alten Manne ihre Hand und begegnete fest und dankbar dem Blick, den er auf sie heftete.
„O, fahren Sie fort!“ sagte sie. „Lassen Sie mich Ihnen beweisen, daß Ihr edelmütiges Vertrauen auf mich nicht am unrechten Orte ist.“
„Das wußte ich gleich von Anfang an, so gewiß als ich es jetzt weiß“, sagte Onkel Joseph. „Und Sara, als ich mit ihr gesprochen hatte, wußte es auch. Sie schwieg ein wenig, sie weinte ein wenig, sie bog sich von ihrem Pfühl herüber und küßte mich hier auf meine Wange, während ich an ihrem Bett saß, und dann schaute sie zurück, zurück, zurück in ihrer Erinnerung, in die ferne Vergangenheit und sehr ruhig, sehr langsam, während ihre Augen in meine Augen schauten und ihre Hand so in der meinigen ruhte, sprach sie die Worte zu mir, die ich nun wieder zu Ihnen sprechen muß, die Sie heute hier sitzen, als ihr Richter, ehe Sie morgen als ihr Kind zu ihr gehen.“
„Nicht als ihr Richter“, sagte Rosamunde. „Ich kann, ich darf Sie nicht dies sagen hören.“
„Ich spreche Saras Worte, nicht die meinigen“, entgegnete der alte Mann ernst. „Warten Sie, ehe Sie mich auffordern, dieselben gegen andere zu vertauschen – warten Sie, bis Sie das Ende wissen.“
Er zog seinen Stuhl ein wenig näher zu Rosamunden, schwieg ein paar Minuten, um seine Erinnerungen zu ordnen und voneinander zu trennen. Dann hob er wieder an:
„Ebenso wie Sara mit mir begann“, sagte er, „so muß ich für meinen Teil auch anfangen. Ich will damit sagen, daß ich jetzt durch die Jahre der Vergangenheit hindurch bis auf die Zeit zurückgehe, wo meine Nicht in ihren ersten Dienst trat. Sie wissen, daß der Seekapitän, der brave, gute Treverton, eine Bühnenkünstlerin, oder, wie man gewöhnlicher sagt, eine Schauspielerin geheiratet hatte. Es war eine große, schöne Frau, welche ein Leben, einen Geist und eine Willenskraft besaß, wie man nicht oft sieht – eine Frau von der Art, welche sagen kann: ‚Wir wollen dies oder das tun, wir wollen es tun trotz aller Bedenklichkeiten, trotz aller Hindernisse, trot alles Widerstandes in der Welt.’ Zu dieser Dame kommt also Sara, meine Nichte, als Zofe und war damals ein junges, hübsches, sanftes, freundliches und sehr schüchternes Mädchen. Aus der Zahl vieler andern, welche den Dienst begehren und dreistere, rüstigere und klügere Mädchen sind, wählt Mistreß Treverton nichtsdestoweniger meine Nichte Sara. Dies ist seltsam, noch seltsamer aber ist, daß Sara ihrerseits, nachdem sie ihre erste Furcht und Schüchternheit überwunden hat, von ganzem Herzen diese große, schöne Herrin lieben lernt, welche ein Leben, einen Geist und eine Willenskraft besitzt, wie man nicht oft sieht. Es ist das sonderbar, aber, da ich es aus Saras eigenem Munde weiß, wahr bis auf das letzte Wort.“
„Ohne Zweifel ist es wahr“, sagte Leonard. „Die meisten starken Zuneigungen in der Welt entstehen zwischen Personen, die einander unähnlich sind.“
„So begann das Leben, welche sie in jenem alten Hause Porthgenna führten, glücklich für alle“, fuhr der alte Mann fort. „Die Liebe, welche die Herrin für ihren Gemahl fühlte, war so groß, daß ihr Herz überfloß in Güte gegen jedermann, der in ihre Nähe kam und gegen Sara, ihre Zofe, mehr als gegen alle andern. Nur Sara durfte ihr vorlesen, für sie arbeiten, sie des Morgens und des Abends an- und des Nachts wieder auskleiden. Sie war gegen Sara, wenn die beiden in den langen Regentagen miteinander allein waren, vertraulich wie eine Schwester. Sie machte es sich in ihren vielen müßigen Stunden zum Vergnügen, das arme Landmädchen, welches noch niemals ein Theater gesehen, dadurch in Erstaunen zu setzen, daß sie schöne Kleider anzog, sich das Gesicht schminkte und alles sprach und tat, was sie in den Tagen vor ihrer Vermählung auf der Bühne gesagt und getan. Je größer Saras Erstaunen und Verwunderung über diese Deklamationen und Maskeraden war, desto mehr Vergnügen machte es ihr. – Ein Jahr lang hatte dieses ruhige, glückliche Leben in dem alten Schlosse seinen Fortgang; glücklich war es für alle Dienstleute, noch glücklicher für den Herrn und die Herrin, bis auf den Mangel eines einzigen Gegenstandes, welcher das Ganze vollständig gemacht haben würde, eines einzigen kleinen Segens, auf den immer gehofft ward und welcher niemals kam – ich meine denselben Segen wie den in dem langen weißen Kleidchen, mit dem runden zarten Gesicht und den winzigen Ärmchen, den ich hier vor mir sehe.“
Er schwieg, um seiner Anspielung dadurch Nachdruck zu geben, daß er dem in Rosamundes Schoß liegenden Kinde zunickte und es anlächelte; dann fuhr er wieder fort:
„Als das neue Jahr heran kommt, bemerkt Sara an ihrer Herrin eine Veränderung. Der gute Seekapitän ist ein Mann, welcher Kinder liebt, und er sieht die kleinen Knaben und Mädchen seiner Freunde und Nachbarn gern in seinem Hause versammelt. Er spielt mit ihnen, er küßt sie, er macht ihnen Geschenke – er ist der beste Freund, den die kleinen Knaben und Mädchen jemals gehabt haben. Die Herrin, welche auch ihre beste Freundin sein sollte, sieht zu und sagt nichts. Sie sieht zu – zuweilen rot, zuweilen bleich; sie geht in ihr Zimmer, wo Sara für sie arbeitet, und geht hin und her und tadelt, und eines Tages macht sie ihrer übeln Laune in Worten Luft und sagt: ‚Warum habe ich kein Kind, welches mein Gatte lieben könnte? Warum muß er fortwährend die Kinder anderer Frauen küssen und mit ihnen spielen? Sie rauben seine Liebe für etwas, was nicht mein ist. Ich hasse diese Kinder und ihre Mütter dazu.’ Es ist ihre Leidenschaft, welche jetzt spricht, aber sie spricht etwas, was trotzdem viel Wahres hat. Sie kann sich mit keiner dieser Mütter befreunden; die Damen, mit welchen sie freundschaftlichen Umgang pflegt, sind solche, die keine Kinder haben, oder solche, deren Kinder schon alle erwachsen sind. Sie meinen wohl, dies sei unrecht von der Herrin gewesen?“
Er stellte diese Frage an Rosamunde, welche nachdenklich mit der Hand des Knaben spielte, die in der ihren ruhte.
„Ich glaube, Mistreß Treverton war sehr zu bemitleiden“, antwortete sie, indem sie behutsam die Hand des Knaben an ihre Lippen drückte.
„Dann denke ich für meine Person dies auch“, sagte Onkel Joseph. „Zu bemitleiden? – Ja. Noch mehr zu bemitleiden ist sie einige Monate nachher, als immer noch kein Kind und auch keine Hoffnung auf ein solches da ist, und der gute Seekapitän eines Tages sagt: ‚Ich verroste hier, ich werde alt vor lauter Müßiggang; ich muß wieder zur See. Ich werde um ein Schiff ansuchen.’ Und er sucht um ein Schiff an und man gibt es ihm und er geht fort auf seine Kreuzfahrten – mit zärtlichem Abschied von seiner Gattin, aber dennoch geht er. Und als er fort ist, kommt die Herrin wieder hinein, wo Sara für sie an einem schönen, neuen Kleide arbeitet und reißt es ihr weg und wirft es auf die Diele und dann alle die schönen Juwelen und Schmucksachen, die sie auf ihrem Tische liegen hat, noch darauf und stampft mit den Füßen und ruft im Übermaße ihres Jammers und ihrer Leidenschaft: ‚Alle diese schönen Sachen wollte ich darum geben und mein ganzes noch übriges Leben lang in Lumpen einhergehen, wenn ich ein Kind hätte. Ich verliere die Liebe meines Gatten; er wäre nie von mir fortgegangen, wenn ich ihm ein Kind geboren hätte!’ Dann schaut sie in den Spiegel und sagt zwischen den Zähnen hindurch: ‚Ja, ja! Ich bin eine schöne Frau und mein Wuchs ist untadelhaft, aber dennoch wollte ich mit dem häßlichsten, verwachsensten Wesen der ganzen Schöpfung tauschen, wenn ich nur ein Kind hätte.’ Und dann erzählt sie Sara, daß der Bruder des Kapitäns die allerschändlichsten Dinge von ihr gesprochen, weil sie Schauspielerin gewesen, und sie sagt: ‚Wenn ich kein Kind bekomme, wer anders wird dann die ganze Habe des Kapitäns erben, als dieser Schuft, dieser Schurke, den ich umbringen könnte!’ Und dann weint und schreit sie wieder und sagt: ‚Ich verliere seine Liebe – ach, ich weiß es, ich weiß es – ich verliere seine Liebe!’ – Und nichts, was Sara sagen kann, ist im Stande, sie auf andere Gedanken zu bringen. Und die Monate vergehen und der Seekapitän kommt zurück und noch immer nagt derselbe geheime Kummer an dem Herzen der Herrin und nagt und nagt, bis es nun das dritte Jahr ist nach ihrer Vermählung. Noch immer ist keine Hoffnung auf ein Kind da und abermals wird der Seekapitän des Lebens am Lande überdrüssig und macht wieder eine Reise – eine sehr lange Reise – diesmal weit, weit fort bis ans andere Ende der Welt.“
Hier machte Onkel Joseph eine Pause und zögerte, wie es schien, weil er nicht recht wußte, wie er in seiner Erzählung fortfahren sollte. Bald jedoch schien sein Gemüt seiner Zweifel überhoben zu werden, sein Gesicht aber ward traurig und seine Stimme senkte sich tiefer, als er Rosamunden wieder anredete.
„Ich muß nun, wenn Sie erlauben“, sagte er, „von der Herrin hinweggehen und zu Sara meiner Nichte zurückkehren, und dabei auch ein Wort von einem Bergmann sprechen, der den cornischen Namen Polwheal führte. Es war dies ein junger Mann, der gut arbeitete und guten Lohn verdiente und in gutem Rufe stand. Er lebte mit seiner Mutter in dem kleinen Dorfe, welches in der Nähe des alten Schlosses liegt. Er sah Sara von Zeit zu Zeit und lernte großen Gefallen an ihr finden, ebenso wie sie an ihm. Das Ende davon war, daß sie einander die Ehe versprachen. Es geschah dies zufällig zu der Zeit, wo der Seekapitän von seiner ersten Reise wieder zurück war, und gerade, als er mit dem Gedanken umging, eine zweite anzutreten. Weder er noch seine Gattin hatten gegen Saras Heiratsprojekt das Mindeste einzuwenden, denn der Bergmann Polwheal verdiente schönes Geld und stand in gutem Rufe. Nur die Herrin sagte, daß Saras Verlust ihr sehr schmerzlich sein würde und Sara antwortete, es habe ja mit der Verwirklichung ihres Heiratsplans keine Eile. So vergehen die Wochen und der Seekapitän tritt wieder eine lange Reise an. Um dieselbe Zeit bemerkt die Herrin, daß Sara in ihrem Benehmen unruhig und verändert ist, und daß der Bergmann Polwheal fortwährend in der Nähe des Schlosses umherschleicht und sie sagt bei sich selbst: ‚So so; bin ich dieser Heirat zu sehr im Wege? Das soll um Saras willen nicht sein.’ Und sie ruft eines Abends beide und spricht freundlich mit ihnen und befiehlt dem jungen Mann Polwheal den nächsten Morgen das Aufgebot zu bestellen. An diesem Abend hat er in dem Bergwerk von Porthgenna die Nachtschicht, oder muß, mit andern Worten, anfahren, nachdem die Stunden des Tages vorüber sind. Mit leichtem, freudigem Herzen steigt er hinab in die dunkle Tiefe. Als er wieder auf die Oberwelt heraufkommt, ist er nur noch eine Leiche, welche heraufgezogen wird. Der Sturz einer Felsenwand hat seinem jungen Leben auf einmal ein Ende gemacht. Die Nachricht verbreitet sich blitzschnell überall. Ohne im mindesten darauf vorbereitet zu sein, muß auch meine Nichte sie hören. Als sie am Abend zuvor ihrem Bräutigam gute Nacht gesagt hatte, war sie ein junges, hübsches Mädchen; als sie sechs Wochen darauf von dem Krankenbett, auf welches die Todesbotschaft sie geworfen, wieder aufstand, war ihre Jugend dahin, ihr Haar war grau und in ihren Augen wohnte der scheue Blick, der sie seitdem nie wieder verlassen.“
Die einfachen Worte schilderten den Tod des Bergmanns und alles, was darauf gefolgt war, mit ergreifender Wahrheit. Rosamunde schauderte und sah ihren Gatten an.
„O Lenny“, murmelte sie, „die erste Nachricht von deiner Blindheit war für mich eine schwere Prüfung, aber was war sie gegen dies!“
„Schenken Sie ihr Ihr Mitleid“, sagte der alte Mann. „Schenken Sie ihr Ihr Mitleid um dessen willen, was sie damals litt. Schenken Sie ihr Ihr Mitleid wegen dessen, was später kam und was noch viel schlimmer war. – Es vergehen nach dem Tode des Bergmanns fünf, sechs, sieben Wochen und Sara leidet jetzt am Körper weniger, am Geiste aber desto mehr. Die Herrin, welche gegen sie gut und freundlich ist wie eine Schwester, findet allmälig in ihrem Gesicht etwas, was weder Schmerz, noch Furcht, noch Kummer verrät, etwas, was das Auge sehen, die Zunge aber nicht in Worte fassen kann. Sie sieht sie an und denkt nach und dann stiehlt sich in ihr Gemüt ein Zweifel, der sie vor sich selbst zittern macht, der sie endlich stracks in Saras Zimmer treibt, der sie veranlaßt, Sara durch und durch schauen zu wollen, bis in das innerste Herz hinein. ‚Du hast außer deinem Kummer um deinen verstorbenen Bräutigam noch etwas anderes auf dem Herzen’, sagt sie und faßt Sara, ehe diese sich abwenden kann, bei beiden Armen und schaut ihr Stirn gegen Stirn mit neugierigen Augen, die sie prüfend zu durchbohren scheinen, ins Gesicht. ‚Der Bergmann Polwheal’, sagt sie; ‚ich ahne etwas wegen dieses Bergmanns Polwheal! Sara, ich bin dir stets mehr Freundin gewesen als Herrin. Als deine Freundin frage ich dich jetzt – sage mir die ganze Wahrheit.’
Die Frage wartet, aber es erfolgt keine Antwort! Sara sträubt sich bloß und will sich losmachen, aber ihre Herrin hält sie nur um so fester und sagt: ‚Ich weiß, daß ihr, du und der Bergmann Polwheal, einander die Ehe versprochen hattet. Ich weiß, daß er ein ehrlicher Mann war wie nur einer; ich weiß, daß er aus diesem Hause hier fortging, um das kirchliche Aufgebot für euch beide zu bestellen. Verschweige deine Geheimnisse vor der ganzen Welt, Sara, aber nur vor mir nicht. Sage mir die Wahrheit – sage sie mir in dieser Minute. Es gibt in dieser großen, weiten Welt so Manchen, der sich ein Mal vergessen hat und du –’. Ehe die Herrin weiter sprechen konnte, wirft Sara sich auf die Knie nieder und ruft, man solle sie gehen lassen, sie wolle sich irgendwo verbergen und sterben und man solle nie wieder etwas von ihr hören! Das war die ganze Antwort, die sie gab. Es war damals genug, um die Wahrheit zu erraten, es ist auch jetzt genug dazu.“
Er seufzte bitterlich und hörte eine kleine Wile auf zu sprechen. Keine Stimme brach das ehrerbietige Schweigen, welches auf seine letzten Worte folgte. Das einzige lebende Geräusch, welches sich in der Stille des Zimmers regte, war der leichte Atemzug des Kindes, welches schlafend in den Armen seiner Mutter lag.
„Das war die ganze Antwort“, wiederholte der alte Mann, „und die Herrin, welche dieselbe hörte, sagte eine Weile darauf nichts, schaut aber immer noch unverwandt in Saras Gesicht und wird dabei immer bleicher und bleicher – bleicher und bleicher, bis sie plötzlich zusammenfährt und mit einem Male und blitzschnell die röte in ihr Gesicht zurückkehrt. ‚Nein’, sagte sie flüsternd und nach der Türe schauend, ‚einmal deine Freundin, Sara, bleibe ich stets deine Freundin. Bleibe ruhig hier bei mir, sei verschwiegen, tue, was ich dir sage, und überlaß das Übrige mir.’ Und nachdem sie dies gesagt, dreht sie sich herum und fängt an, im Zimmer auf- und abzugehen – schneller, schneller, immer schneller, bis sie außer Atem ist. Dann reißt sie zornig in die Klingel und ruft laut zur Tür hinaus: ‚Mein Pferd – ich will ausreiten!’ Dann wendet sie sich zu Sara und sagt: ‚Mein Reitkleid! – Fasse Mut, armes Wesen. Bei meinem Leben, bei meiner Ehre, ich rette dich! Mein Reitkleid, mein Reitkleid also! Ich muß einen wilden Ritt durchs Freie machen.’ Und sie geht in fieberhafter Aufregung hinaus und galoppiert und galoppiert bis das Pferd dampft und der Reitknecht, der hinter ihr herreitet, sich im Stillen fragt, ob sie den Verstand verloren habe. Als sie zurückkommt, ist sie, trotz dieses wütenden Rittes nicht müde. Den ganzen Abend darauf geht sie bald im Zimmer auf und ab, bald spielt sie wilde Melodien auf dem Piano. Als die Schlafenszeit kommt, hat sie keine Ruhe. Zwei, drei Mal in der Nacht erschreckt sie Sara, indem sie zu ihr in ihr Zimmer kommt, um zu sehen, wie sie sich befindet und indem sie immer und immer dieselben Worte sagt: ‚Bewahre dein Geheimnis, tue wie ich dir sage, und überlaß das Übrige mir.’ Am Morgen bleibt sie lange liegen, schläft, steht sehr bleich und ruhig auf und sagt zu Sara: ‚Kein Wort mehr zwischen und beiden über das, was gestern geschehen ist. Kein Wort, bis die Zeit kommt, wo du die Augen eines jeden Fremden fürchtest, der dich ansieht. Dann werde ich wieder sprechen. Bis dahin laß uns sein wie wir waren, ehe ich dir gestern die Frage vorlegte und ehe du die Wahrheit sagtest.’“
Hier machte der Onkel in seiner Erzählung abermals eine Pause und bemerkte erläuternd, sein Gedächtnis sei hier in Bezug auf eine Frage der Zeit nicht klar, während er doch in Bezug auf die Reihenfolge der Ereignisse, die er nun zu erzählen hätte, mit völliger Genauigkeit zu Werke zu gehen wünschte.
„Ach“, sagte er den Kopf schüttelnd, nachdem er sich vergebens bemüht, die verlorene Erinnerung zu verfolgen, „in diesem einen Falle muß ich gestehen, daß ich meiner Sache nicht ganz gewiß bin. Ob es zwei oder ob es drei Monate waren, nachdem die Herrin diese letzten Worte zu Sara gesprochen, weiß ich nicht – aber nach Verlauf dieser Zeit befiehlt sie eines Morgens ihren Wagen und fährt allein nach Truro. Am Abend kommt sie mit zwei großen flachen Körben zurück. Auf dem Deckel des einen befindet sich eine Karte und auf dieser stehen die Buchstaben ‚S.L.’. Auf dem Deckel des andern befindet sich ebenfalls eine Karte und auf dieser stehen die Buchstaben ‚R.T.’. Die Körbe werden in das Zimmer der Herrin getragen und dann wird Sara gerufen und die Herrin sagt zu ihr: ‚Öffne den Korb, auf welchem die Buchstaben S.L. stehen, denn dies sind die Anfangsbuchstaben deines Namens und die Sachen darin sind dein.’ In diesem Korbe nun befindet sich erstens eine Schachtel mit einem prachtvollen schwarzen Spitzenhut, dann ein schöner dunkler Shawl, dann schwarzes Seidenzeug von der besten Art, soviel als zu einem Kleide nötig ist, dann Leinwand und Stoff zu Unterkleidern – alles von der feinsten Art. ‚Mache dir diese Kleider fertig’, sagte die Herrin. ‚Du bist viel kleiner als ich und neue Kleider für dich zu fertigen wird weniger mühsam sein, als alte Kleider von mir so umzuändern, daß sie dir passen.’ – Sara sagt auf alles dies ganz erstaunt: ‚Was soll das?’ – Und die Herrin antwortet: ‚Ich mag keine Fragen mehr. Bedenke, was ich sagte. Bewahre dein Geheimnis und überlaß das Übrige mir!’ – Und somit geht sie aus und läßt Sara bei ihrer Arbeit und das Nächste, was sie tut, ist, daß sie den Arzt holen läßt. Er fragt, was ihr fehle und bekommt zur Antwort, es sei ihr so sonderbar zu Mute, daß sie es selbst nicht schildern könne und sie glaube, die weiche Luft von Cornwall mache sie schwach und kraftlos. Die Tage vergehen und der Arzt kommt und geht und mag er sagen was er will, so sind die beiden Antworten die einzigen, die er bekommen kann. Während dieser ganzen Zeit sitzt Sara fleißig über ihrer Arbeit und als sie fertig ist, sagt die Herrin: ‚Nun zu dem andern Korbe, auf dem die Buchstaben R.T. stehen, denn dies sind die Anfangsbuchstaben meines Namens und die Sachen in diesem Korbe sind mein!’ Es befindet sich darin erstens eine Schachtel mit einem gewöhnlichen schwarzen Strohhut, dann ein grober dunkler Shawl, dann ein Kleid von gutem, aber gewöhnlichem schwarzem Stoff, dann Leinwand und Stoffe zu Unterkleidern, ebenfalls von nur ordinärer Gattung. ‚Alles dies mach für mich fertig. Frage nicht. Du hast stets getan was ich dir gesagt – tue es auch jetzt – oder du bist verloren.’
Als die Kleider fertig sind, probiert sie dieselben an, betrachtet sich im Spiegel und lacht auf eine Weise, welche ganz seltsam und unheimlich anzuhören ist. – ‚Sehe ich nicht aus wie eine hübsche, dralle, muntere Zofe?’ sagte sie. ‚Ha, wie oft habe ich die Rolle einer solchen auf dem Theater gespielt!’ – Und dann zieht sie die Kleider wieder aus und befiehlt Sara, sie sofort in einen Koffer und dann die Sachen, die sie für sich selbst gefertigt, in einem zweiten zusammenzupacken. ‚Der Doktor befiehlt mir, dieses feuchte Klima von Cornwall zu verlassen und an einen Ort zu gehen, wo die Luft frisch, trocken und belebend ist’, sagt sie und lacht so laut, daß das Zimmer davon widerhallt. Gleichzeitig beginnt Sara einzupacken, und nimmt einige Nippsächelchen vom Tische und unter denselben auch eine Brosche, auf welcher sich das Bildnis des Seekapitäns befindet. Die Herrin sieht dies, wird leichenblaß, zittert an allen Gliedern, reißt ihr die Brosche aus den Händen und schließt sie rasch in ein Schränkchen, als ob der Anblick dieses Gegenstandes sie beunruhigte. ‚Das werde ich dalassen’, sagt sie, dreht sich auf dem Absatz herum und verläßt rasch das Zimmer. – Sie erraten wohl nun was für ein Plan es war, den Mistreß Treverton in Ausführung zu bringen gedachte?“
Diese Frage richtete Onkel Joseph erst an Rosamunde und dann nochmals an Leonard. Beide antworteten bejahend und ersuchten ihn, weiter zu erzählen.
„Sie erraten es?“ sagte er. „Sara erriet es damals nicht. Der Jammer, der ihr eigenes Herz erfüllte, und die seltsamen Worte ihrer Herrin verwirrten alle ihre Gedanken. Nichtsdestoweniger tat sie, wie immer, alles, was ihre Herrin ihr befahl, und nach einigen Tagen fuhren die beiden ganz allein miteinander von dem Schloß Porthgenna fort. – Die Herrin sagt kein Wort, bis sie an das Ziel der ersten Tagesreise gelangt sind und unter fremden Leuten in einem Gasthause übernachten. Dann endlich sagt sie: ‚Morgen früh, Sara, legst du die gute Wäsche und die guten Kleider an, behältst aber den ordinären Hut und Shawl, bis wir wieder im Wagen sitzen. Ich werde die grobe Wäsche und das grobe Kleid anlegen und den guten Hut und Shawl behalten. So werden wir an den Leuten des Gasthauses vorbei nach unserm Wagen gehen ohne Gefahr zu laufen, durhc den Wechsel unserer Kleider große Verwunderung zu erregen. Wenn wir wieder draußen unterwegs sind, können wir die Hüte und Shawls im Wagen wechseln und dann – ist die Sache gemacht. Du bist die verheiratete Dame Mistreß Treverton und ich bin Sara Leeson, die Zofe, die dich bedient!’ Bei diesen Worten fängt Sara endlich an zu ahnen, was dies alles bedeuten soll. Sie zittert vor Furcht und Angst und kann weiter nichts sagen, als: ‚O Herrin, ums Himmels willen, was wollen Sie tun?’ – ‚Ich will’, antwortete die Herrin, ‚dich, meine treue Dienerin, vor Schande und Verderben retten; ich will verhindern, daß das Vermögen des Kapitäns jenem nichtswürdigen Schurken, seinem Bruder, der mich so verleumdet hat, zufalle, und drittens und hauptsächlich will ich meinen Gatten abhalten, wieder zur See zu gehen, indem ich ihm Grund gebe, mich zu lieben, wie er mich noch nie geliebt. Muß ich noch mehr sagen, du armes gebeugtes, ängstliches Geschöpf – oder ist es genug so?’ – Sara kann weiter nichts antworten, asl daß sie bittere Tränen weint und mit matter Stimme ‚Ja’ sagt. – ‚Zweifelst du’, sagt die Herrin und packt sie beim Arme und schaut ihr mit ihren wilden Augen ins Gesicht, ‚zweifelst du, was besser ist, dich verlassen, entehrt und ruiniert in der Welt dastehen zu sehen, oder dich vor Schande zu retten und mich dir für dein ganzes Leben zur Freundin zu machen? Du schwaches, kindisches Geschöpf, wenn du zu keinem Entschluß kommen kannst, so muß es durch mich geschehen. Wie ich will, so soll es werden. Morgen und übermorgen und die folgenden Tage reisen wir immer weiter und weiter dahin, wo, wie mein guter Narr von Doktor sagt, die Luft erfrischend und belebend ist – immer weiter nach Norden, wo niemand mich kennt oder meinen Namen gehört hat. Ich, die Zofe, werde das Gerücht verbreiten, du, die Herrin seiest von schwächlicher Gesundheit. Kein fremdes Auge soll dich sehen, als das des Arztes und der Wärterin, wenn die Zeit, sie zu rufen, da sein wird. Wer dieselben sein werden, weiß ich nicht, wohl aber weiß ich, daß beide unserm Zwecke dienen werden, ohne denselben zu ahnen, und wenn wir nach Cornwall zurückkommen, wird das Geheimnis zwischen und beiden keiner dritten Person anvertraut worden sein, sondern ein totes, tiefes Geheimnis bleiben bis ans Ende der Welt.’ – Mit der ganzen Kraft ihres Willens, in der Stille der Nacht und in dem Hause von Fremdlingen spricht sie diese Worte zu dem furchtsamsten, hülflosesten, gebeugtetsten Wesen. Was brauchte ich weiter zu sagen. In dieser Nacht beugte Sara ihre Schultern zum ersten Male under die Last, die mit jedem Jahre immer drückender und schwerer ward.“
„Wie viele Tage waren sie unterwegs nach dem Norden?“ fragte Rosamunde begierig. „Wo endete die Reise? In England oder in Schottland?“
„In England“, antwortete Onkel Joseph. „Der Name des Ortes ist mir jedoch wieder entfallen – meine deutsche Zunge vermochte ihn nicht gut auszusprechen. Es war eine kleine Stadt an der Küste des Meeres – des Meeres, welches zwischen meinem Vaterlande und dem Ihrigen wogt. Hier machten sie Halt und hier warteten sie, bis es Zeit ward, den Arzt und die Wärterin herbeizurufen. Und wie Mistreß Treverton gesagt hatte, daß es sein sollte, so war es auch vom Ersten bis zum Letzten. Der Arzt und die Wärterin und die Leute des Hauses waren alle fremd und glauben bis auf den heutigen Tag, wenn sie noch leben, Sara sei die Gattin des Seekapitäns und Mistreß Treverton ihre Dienerin gewesen. Erst als sie mit dem Kinde den größten Teil des Heimwegs zurückgelegt hatten, wechselten die Beiden wieder die Kleider und nahmen jede die ihr gebührende Stelle ein. Der erste Freund in Porthgenna, den die Herrin rufen läßt, um ihm das Kind zu zeigen, ist der andere Arzt, der dort wohnt. - ‚Wußten Sie, was mir fehlte, als Sie mich fortschickten, um andere Luft zu atmen?’ sagt sie und lacht. – Und der Doktor lacht auch und sagt: ‚Ei, versteht sich! Ich war jedoch zu vorsichtig, um mich deutlicher auszusprechen, denn in einer so frühen Periode dieses Zustandes kann man sich sehr leicht irren. Und Sie fanden also, daß die trockene Luft Ihnen gut bekam und blieben dort?’ sagt er. ‚Das haben Sie recht gemacht, denn es ist gut für Sie gewesen und auch für das Kind.’ Und der Doktor lacht wieder und die Herrin mit ihm und Sara, welche daneben steht und alles mit anhört, glaubt, es müsse ihr vor Jammer, Entsetzen und Scham über diesen Betrug das Herz brechen. Als der Doktor fort ist, sinkt sie auf die Knie nieder und bittet ihre Herrin mit heißen Tränen, zu bereuen und sie mit dem Kinde von Porthgenna fortzuschicken, damit man nie wieder von ihr höre. Die Herrin mit ihrem tyrannischen Willen antwortet nur vier Worte: ‚Es ist zu spät!’ – Fünf Wochen darauf kommt der Seekapitän zurück und das ‚zu spät’ ist eine Wahrheit, welche durch keine Reue mehr geändert werden kann. Die schlaue Hand der Herrin, welche den Betrug von Anfang an geleitet, leitet ihn auch bis ans Ende – leitet ihn so, daß der Kapitän aus Liebe zu ihr und dem Kinde nicht wieder zur See geht – leitet ihn bis zu der Zeit, wo sie sich auf ihr Bett niederlegt, um zu sterben, und die ganze Last des Geheimnisses und die ganze Schuld des Geständnisses Sara überläßt – Sara, welche unter der Tyrannei dieses Willens fünf lange Jahre als Fremde für ihr eigenes Kind in dem Hause gelebt hat.“
„Fünf Jahre!“ murmelte Rosamunde, indem sie ihren Kleinen sanft in ihren Armen emporhob, bis sein Gesicht das ihrige berührte. „O mein Gott, fünf lange Jahre war sie ein Fremdling für das Blut ihres Blutes, für das Herz ihres Herzens!“
„Und auch alle Jahre nachher“, sagte der alte Mann. „Die so einsamen Jahre unter Fremdlingen, ohne daß sie das Kind, welches heranwuchs, ein einziges Mal zu sehen bekommen hätte, ohne ein Herz, welchem sie die Geschichte ihres Kummers hätte anvertrauen können – selbst dem meinigen konnte sie es nicht. ‚Es wäre aber’, sagte ich zu ihr, als sie nicht mehr sprechen konnte und ihr Gesicht wieder auf dem Pfühle herumdrehte, ‚es wäre aber tausend Mal besser gewesen, mein Kind, wenn du das Geheimnis gestanden hättest.’ – ‚Wie konnte ich es gestehen?’ sagte sie. ‚Sollte ich es dem Herrn erzählen, der mir so viel Vertrauen geschenkt? Sollte ich es später der Tochter erzählen, deren Geburt schon ein Vorwurf für mich war? Konnte sie die Geschichte der Schande ihrer Mutter von den Lippen ihrer Mutter erzählen hören? Wie wird sie dieselbe jetzt anhören, Onkel Joseph, wenn sie dieselbe von dir hört? Bedenke den hohen Rang, den sie bis jetzt im Leben eingenommen! Wie kann sie mir verzeihen? Wie kann sie jemals mit Güte und Liebe auf mich herabblicken?’“
„Aber“, rief Rosamunde ihn unterbrechend, „Sie haben sie doch nicht mit diesen Gedanken in ihrem Herzen verlassen?“
Onkel Josephs Haupt sank auf seine Brust herab.
„Was hätte ich wohl dagegen sagen können?“ fragte er traurig.
„O, Lenny, hörst du das? Ich muß dich verlassen! Ich muß unsern Kleinen verlassen! Ich muß zu ihr gehen, oder diese letzten Worte brechen mir das Herz.“
Unaufhaltsame Tränen entströmten, indem sie dies sagte, ihren Augen und sie erhob sich mit dem Kind auf den Armen hastig von ihrem Sitz.
„Heute Abend nicht“, sagte Onkel Joseph. „Als ich von ihr fortging, sagte sie zu mir: ‚Heute Abend kann ich nichts mehr ertragen. Laß mir Zeit bis morgen, um so viel Kräfte zu sammeln als möglich.’“
„Nun, dann gehen Sie selbst wieder hin“, rief
Rosamunde;
„gehen Sie, um Gottes willen, ohne einen Augenblick zu versäumen
und reden Sie
ihr zu, damit sie von mir denke, wie sie soll. Erzählen Sie ihr
wie ich Ihnen
zugehört habe, während mein Kind schlafend an meiner Brust
gelegen – erzählen
Sie ihr – doch nein, Worte sind zu kalt! – Kommen Sie her, kommen Sie
her,
Onkel Joseph! – ich werde Sie nun stets so nennen – kommen Sie her und
küssen
Sie mein Kind – ihren Enkel! Küssen Sie ihn auf diese
Wange, weil
dieselbe meinem Herzen am nächsten gelegen. Und gehen Sie wieder
zu ihr,
freundlicher und lieber alter Mann- gehen Sie wieder an ihr Bett und
sagen Sie
weiter nichts, dals daß ich ihr diesen Kuß sende!“
Achtes Kapitel
Das Ende des Tages
Die Nacht verging endlich mit ihren schlaflosen, unruhigen Stunden und der Morgen tagte hoffnungsvoll, denn er versprach, Rosamundes Ungewißheit ein Ende zu machen.
Das erste Ereignis des Tages war die Ankunft des Anwalts, Mr. Nixon, welcher am Abend vorher ein auf Leonards Wunsch geschriebenes Briefchen erhalten, durch welches er zum Frühstück eingeladen ward. Ehe der Anwalt sich wieder entfernte, hatte er mit Mr. und Mistreß Frankland alle vorläufigen Arrangements besprochen, welche notwendig waren, um die Rückerstattung der Kaufsumme für Porthgenna Tower zu bewirken, und einen Boten mit einem Briefe nach Bayswater abgesendet, in welchem er seine Absicht meldete, Andrew Treverton diesen Nachmittag zu besuchen, um mit ihm in einer wichtigen Angelegenheit hinsichtlich des persönlichen Besitztums seines verstorbenen Bruders zu sprechen.
Gegen Mittag fand Onkel Joseph sich wieder in dem Hotel ein, um Rosamunde abzuholen und nach dem Hause zu führen, in welchem ihre kranke Mutter lag.
Er kam in der heitersten Laune und erzählte von der wunderbaren Besserung, die in Folge der liebevollen Botschaft, welche er seiner Nichte am vorigen Abend überbracht, in dem Befinden derselben eingetreten sei. Er erklärte, sie sähe mit einem Male glücklicher, kräftiger und jünger aus. Sie habe seit langen Jahren wieder einmal die ganze Nacht ruhig und fest geschlafen, und die wohltätige Einwirkung dieses Umstandes sei vor kaum einer Stunde durch den Arzt selbst anerkannt worden.
Rosamunde hörte dies nachdenklich an, aber ihre Aufmerksamkeit war zerstreut, ihr Gemüt unruhig.
Als sie von ihrem Gatten Abschied genommen und sich mit Onkel Joseph draußen auf der Straße befand, hatte die Aussicht auf die bevorstehende Begegnung mit ihrer Mutter etwas, was trotz ihrer Bemühungen, diesem Gefühle zu widerstreben, sie fast verzagt machte.
Wäre es ihnen möglich gewesen, einander zu begegnen und sich zu erkennen, ohne Zeit gehabt zu haben, was auf einer oder der andern Seite zuerst gesagt oder getan werden müsse, so wäre dann die Zusammenkunft nichts weiter gewesen als die natürliche Folge der Entdeckung des Geheimnisses.
So aber äußerte die zweifelnde, traurige Geschichte der Vergangenheit, welche die Leere des Tages der Ungewißheit ausgefüllt, auf Rosamundes sanguinisches Temperament eine ungemein niederdrückende Wirkung. Ohne in ihrem Herzen gegen ihre Mutter einen Gedanken zu haben, der nicht zärtlich, mitleidig und aufrichtig gewesen wäre, fühlte sie jetzt nichtsdestoweniger ein unbestimmtes Gefühl von Verlegenheit, welches, je näher sie und der alte Mann dem Ziele ihrer kurzen Wanderung kamen, bis zu wirklicher Unbehaglichkeit anstieg.
Als sie endlich an der Tür des Hauses standen, war sie sich zu ihrem eigenen Abscheu bewußt, daß sie überlegte, welche Worte sie wohl zuerst zu sprechen, was sie wohl zuerst zu tun habe – gerade als ob sie in Begriff gestanden hätte, eine gänzlich fremde Person zu besuchen, deren günstige Meinung sie zu gewinnen wünsche und deren Bereitwilligkeit, ihr einen herzlichen Empfang angedeihen zu lassen, ein Gegenstand des Zweifels sei.
Die erste Person, welche sie, nachdem die Tür geöffnet wordne, sahen, war der Arzt. Er kam aus einem kleinen leeren Zimmer am Ende der Hausflur auf sie zu und bat um Erlaubnis, mit Mistreß Frankland einige Minuten zu sprechen.
Onkel Joseph ließ Rosamunde demgemäß bei dem Arzt und ging mit einer Flinkheit, um welche ihn Mancher, der halb so alt gewesen wäre wie er, beneidet haben würde, die Treppe hinauf, um seiner Nichte die Ankunft ihrer Tochter zu melden.
„Geht es schlimmer mit ihr? Kann mein Anblick ihr Gefahr bringen?“ fragte Rosamunde, während der Arzt sie in das leere Zimmer führte.
„Ganz im Gegenteil“, entgegnete er. „Sie ist diesen Morgen um vieles besser und diese Besserung hat, wie ich finde, ihren Grund hauptsächlich in dem beruhigenden und erheiternden Einfluß, den die Botschaft auf sie geäußert, welche sie gestern Abend von Ihnen erhalten hat. Diese Entdeckung ließ mich eben wünschen, mit Ihnen über ein gewisses Symptom des geistigen Zustandes meiner Patientin zu sprechen, ein Symptom, welches mich, als ich es zuerst entdeckte, überraschte und beunruhigte und mir seit dieser Zeit fortwährend großes Kopfzerbrechens verursacht hat. Meine Patientin leidet – um die Sache kurz und in den einfachsten Worten klar zu machen – an einer Sinnestäuschung von sehr außerordentlicher Art und welche, so weit meine Beobachtung reicht, sie gewöhnlich gegen das Ende des Tages bei Eintritt der Dämmerung heimsucht. Es ist dann in ihren Augen ein Ausdruck wahrzunehmen, als ob sie glaubte, es sei plötzlich jemand ins Zimmer getreten. Sie blickt und spricht dann in den leeren Raum hinein, gerade wie wir jemanden ansehen und anreden würden, der wirklich vor uns stünde und uns zuhörte. Der alte Mann, ihr Onkel, erzählt mir, er habe dies zuerst bemerkt, als sie vor einiger Zeit ihn besucht habe – ich glaube, er sagte, es sei in Cornwall gewesen. Sie sprach damals mit ihm über ihre Privatangelegenheiten, als sie plötzlich – es war in der Dämmerung – schwieg, dann eine Frage über das alte Thema des Aberglaubens hinsichtlich des Wiedererscheinens verstorbener Personen aufwarf, nach einer dunkeln Ecke des Zimmers blickte und nach dieser hin zu sprechen begann, gerade so wie ich sie hier in ihrem Zimmer blicken gesehen und sprechen gehört habe. Ob sie sich einbildet, daß sie von einer gespenstischen Erscheinung verfolgt werde, oder daß eine lebende Person zu gewissen Zeiten ihr Zimmer betrete – dies weiß ich nicht und der alte Mann, ihr Onkel, kann mir auch nichts sagen, was mir die Wahrheit erraten helfen könnte. Könnten Sie mir vielleicht einigen Aufschluß hierüber geben?“
„Nein, denn ich höre es zum ersten Male“, antwortete Rosamunde, indem sie den Arzt mit einem Blick des Erstaunens und der Unruhe ansah.
„Vielleicht“, fuhr er fort, „ist sie gegen Sie mitteilsamer als gegen mich. Wenn Sie es vielleicht einrichten können, daß Sie heute oder morgen zur Zeit der Abenddämmerung an ihrem Bett sind und wenn Sie glauben, daß Sie nicht selbst dadurch erschreckt werden, so wäre es mir sehr erwünscht, wenn Sie sie sehen und hören könnten, während sie sich unter dem Einfluß dieser Sinnestäuschung befindet. Vergebens habe ich mich bemüht, während dieser Zeit ihre Aufmerksamkeit davon abzulenken oder sie zu bewegen, später davon zu sprechen. Sie besitzen augenscheinlich eine bedeutende Einwirkung auf sie und deshalb wäre es leicht möglich, daß Ihnen etwas gelänge, was mir bis jetzt nicht hat gelingen wollen. Bei dem Zustande der Kranken lege ich großes Gewicht darauf, daß ihr Gemüt von allem befreit werde, was dasselbe umwölkt und bedrückt, ganz besonders aber von einer so ernsten Störung, wie die von mir soeben beschriebene ist. Gelänge es Ihnen, dieselbe zu bekämpfen, so würden Sie der Kranken den größten Dienst leisten und meine Bemühungen, ihrer Gesundheit wieder aufzuhelfen, wesentlich unterstützen. Sind Sie vielleicht geneigt, einen derartigen Versuch zu machen?“
Rosamunde versprach sowohl dies, als auch alles Andere zu tun, was zum Wohle der Patientin dienen könne.
Der Arzt dankte ihr und ging dann voran wieder in die Hausflur. Onkel Joseph kam, eben als sie aus dem Zimmer traten, die Treppe herunter.
„Sie ist bereit und sehnt sich, Sie zu sehen“, flüsterte er Rosamunden ins Ohr.
„Ich brauche Ihnen wohl nicht erst nochmals zu sagen, wie dringend notwendig es ist, die Kranke bei möglichst ruhiger Gemütsstimmung zu erhalten“, sagte der Arzt, indem er sich verabschiedete. „Es ist – wie ich Ihnen auf mein Wort versichere – keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ihr Leben davon abhängt.“
Rosamunde verneigte sich schweigend und folgte dann ebenso schweigend dem alten Mann die Treppe hinauf.
An der Tür eines Hinterzimmers der zweiten Etage blieb Onkel Joseph stehen.
„Hier ist sie“, flüsterte er hastig. „Ich will Sie allein hineingehen lassen, denn es ist am besten, wenn in dem ersten Augenblick niemand weiter zugegen ist. Ich werde mittlerweile ein wenig in dem schönen warmen Sonnenschein auf der Straße hin und her gehen, an Sie beide denken und nach einer Weile wiederkommen. Gehen Sie hinein und der Segen und die Gnade Gottes seien mit Ihnen.“
Er drückte ihre Hand an seine Lippen und ging dann rasch wieder die Treppe hinunter.
Rosamunde stand nun allein vor der Tür. Ein augenblickliches Zitter schüttelte sie an allen Gliedern, als sie die Hand ausstreckte, um anzupochen. Dieselbe sanfte, wohlklingende Stimme, welche sie das letzte Mal in ihrem Schlafzimmer zu West Winston gehört, antwortete ihr jetzt.
So wie dieser Ton an Rosamundes Ohr schlug, stahl sich ein Gedanke an ihr Kind in ihr Herz und beschwichtigte das stürmische Pulsieren desselben. Sie öffnete nun ohne Weiteres die Tür und ging.
Weder das Aussehen des Zimmers im Innern, noch die Aussicht vom Fenster, weder die charakteristischen Zierden des Zimmers, noch die hauptsächlichsten Möbels desselben – mit einem Worte, keiner der Gegenstände, der zu andern Zeiten ihren raschen Beobachtungssinn gefesselt haben würde, machte jetzt irgend welchen Eindruck darauf.
Von dem Augenblick an, wo sie die Tür öffnete, sah sie nichts als die Pfühle des Betts, das darauf liegende Haupt und das ihr zugewendete Gesicht. Als sie die Schwelle überschritt, änderte sich der Ausdruck dieses Gesichts. Die Augenlider senkten sich ein wenig und die bleichen Wangen wurden plötzlich von brennender Röte übergossen.
Schämte sich ihre Mutter, sie anzusehen?
Schon dieser Zweifel reichte hin, um Rosamunden augenblicklich von dem Selbstmißtrauen, der Verlegenheit und dem Zögern in Bezug auf die Wahl ihrer Worte, welches ihren edelmütigen Impuls bis zu diesem Moment gefesselt, zu befreien. Sie eilte an das Bett, hob die abgezehrte, zurückbebende Gestalt in ihren Armen empor und legte das arme müde Haupt sanft an ihre warme junge Brust.
„Endlich komme ich, Mutter, um nun Deine Wärterin zu sein“, sagte sie. Das Herz ward ihr zu voll, so wie ihr Mund diese einfachen Worte stammelte – ihre Augen flossen über – sie konnte nichts weiter sagen.
„Weine nicht!“ murmelte die schwache, wohllautende Stimme schüchtern. „Ich habe nicht das Recht, dich hierher zu rufen und dir das Herz schwer zu machen. Weine nicht! Weine nicht!“
„O still! Still! Wenn du so zu mir sprichst, so kann ich weiter nichts tun als weinen”, sagte Rosamunde. „Laß uns vergessen, daß wir jemals getrennt gewesen sind – nenne mich bei meinem Namen – sprich mit mir, wie ich mit meinem eigenen Kinde sprechen werde, wenn Gott mir die Gnade schenkt, es heranwachsen zu sehen. Nenne mich Rosamunde und – bitte, bitte – sage mir, daß ich etwas für dich tun soll.“
Mit diesen Worten riß sie leidenschaftlich die Bänder ihres Hutes auseinander und warf ihn von sich auf den nächsten Stuhl.
„Sieh“, fuhr sie fort, „da steht ein Glas Limonade auf dem Tische. Sag: ‚Rosamunde, bring mir meine Limonade!’ Sag es in ganz gewöhnlichem Ton, Mutter. Sag, als ob du wüßtest, daß ich verbunden bin, dir zu gehorchen.“
Die Kranke sprach die Worte nach, obschon noch in etwas unsicherm Tone – sie sprach sie mit einem wehmütigen, verwunderten Lächeln und mit einem Verweilen der Stimme auf dem Namen Rosamunde, als ob es ihr einen Hochgenuß gewähre, denselben auszusprechen.
„Du hast mich durch jene Botschaft und durch den Kuß, den du mir von deinem Kinde schicktest, so glücklich gemacht“, sagte sie, als Rosamunde ihr die Limonade gegeben und wieder ruhig an dem Bett Platz genommen hatte. „Es war dies eine so freundliche Art und Weise, mir zu sagen, daß du mir verziehest! Es gab mir den Mut, dessen ich bedurfte, um mit dir so zu sprechen, wie ich jetzt spreche. Es ist möglich, daß meine Krankheit mich verändert hat, aber ich fühle mich jetzt nicht furchtsam und fremd in deiner Nähe, wie ich glaubte, daß es bei unserer ersten Begegnung, nachdem du das Geheimnis erfahren, der Fall sein würde. Ich glaube, ich werde bald wohl genug sein, um deinen Kleinen zu sehen. Sieht er dir ähnlich? Wenn dem so ist, so muß er –“
Sie stockte.
„Doch“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „das kann ich wohl denken, aber ich tue besser, wenn ich nicht davon spreche, sonst weine ich auch, und ich möchte nun gern mit Gram und Kummer fertig sein.“
Während sie diese Worte sprach, ruhten ihre Augen mit liebender Innigkeit auf den Zügen ihrer Tochter, der alte Instinkt der Sauberkeit war aber in ihren schwachen, abgezehrten Fingern immer noch unwillkürlich tätig. Rosamunde hatte nur erst die Minute zuvor ihre Handschuhe vor sich auf das Bett geworfen und schon hatte ihre Mutter dieselben ergriffen, strich sie sorgfältig glatt und faltete sie, während sie sprach, zierlich zusammen.
„Nenne mich noch einmal Mutter“, sagte sie, als Rosamunde ihr die Handschuhe abnahm und ihr durch einen Kuß für das Zusammenfalten derselben dankte.
„Noch niemals habe ich dich Mutter nennen hören bis jetzt – niemals von dem Tage an, wo du geboren wurdest, bis jetzt.“
Rosamunde unterdrückte die Tränen, welche ihr in die Augen traten, und wiederholte das Wort.
„Ich begehre kein größeres Glück als hier zu liegen und dich anzusehen und dich dies sagen zu hören. Gibt es wohl noch ein weibliches Wesen in der Welt, welches ein so schönes und gutes Gesicht hat wie das deinige?“
Sie schwieg und lächelte matt.
„Ich kann“, fuhr sie dann fort, „diese holden rosigen Lippen jetzt nicht ansehen, ohne daran zu denken, wie viel Küsse sie mir schuldig sind.“
„Hättest du doch diese Schuld schon längst bezahlen lassen“, sagte Rosamunde, indem sie die Hand ihrer Mutter ergriff, wie sie die ihre Kindes ergriff und sie auf ihren Hals legte. „Hättest du doch gleich das erste Mal, als wir uns sahen und du kamst um mich zu pflegen, alles gesagt. Mit welchem Kummer habe ich oft an jenen Tag gedacht! O, Mutter, habe ich dich in meiner Unwissenheit bekümmert? Hast du weinen müssen, wenn du später an mich dachtest?“
„Bekümmert, sagst du, Rosamunde? Mein ganzer Kummer ist nur durch mich selbst, aber nicht durch dich herbeigeführt worden. ‚Sei nicht hart gegen sie’ – erinnerst du dich noch dieser Worte? Als ich verdientermaßen fortgeschickt werden sollte, weil ich dich erschreckt hatte, sagtest du zu deinem Gatten: ‚Sei nicht hart gegen sie.’ Nur fünf Worte waren es – aber o, welch ein Trost war es später für mich, zu bedenken, daß du dies gesagt hattest! Ich wollte dich gern küssen, Rosamunde, als ich dir das Haar bürstete; es kostete mir einen so schweren Kampf, nicht laut zu schluchzen, als ich dich hinter den Bettvorhängen deinem Kleinen gute Nacht wünschen hörte. Das Herz trat mir gleichsam in den Munde und erstickte meine Worte. Ich nahm deine Partie, als ich später zu meiner Herrin zurückkehrte. Ich wollte nicht zugeben, daß sie auch nur ein einziges unfreundliches Wort über dich äußerte. Ich hätte hundert Herrinnen ins Gesicht schauen und ihnen allen widersprechen können. O nein, nein! Du hast mich niemals bekümmert. Meinen bittersten Trennungskummer erfuhr ich vor vielen Jahren, ehe ich in West Winston zu dir kam, um dich zu pflegen. Es war dies damals, als ich meinen Dienst in Porthgenna verließ – als ich mich an jenem furchtbaren Morgen in die Kinderstube stahl und dich mit deinen kleinen Armen den Hals meines Herrn umschlungen halten sah. In einer deiner Hände hieltst du die Puppe, welche du mit zu Bett genommen hattest, und dein Kopf ruhte an der Brust des Kapitäns, gerade so wie der meinige jetzt – o welch ein Glück, Rosamunde! – an der deinigen ruht. Ich hörte die letzten Worte, die er zu dir sprach, Worte, die du damals noch zu jung warst zu verstehen und zu behalten. ‚Still, liebe Rose’, sagte er. ‚Weine nicht mehr um die arme Mama, denke an den armen Papa und bemühe dich, ihn zu trösten.’ Dies, liebes Kind, war der bitterste und schwerste Kummer, den ich jemals zu tragen gehabt. Ich, deine eigene Mutter, stand dabei wie ein Spion und hörte ihn dies zu dem Kinde sagen, welches ich nicht als das meinige anzuerkennen wagte. ‚Denke an den armen Papa.’ Meine gute Rosamunde, jetzt weißt du, an welchen Vater ich dachte, als er diese letzten Worte sagte. Wie konnte ich ihm das Geheimnis mitteilen? Wie konnte ich ihm den Brief geben, während er niemand hatte, der ihn getröstet, als dich – während die furchtbare Wahrheit bei jedem Wort, welches er sprach, mein Herz zermalmte wie die Felsenwand, die den Vater erschlug, den du niemals gekannt.“
„Sprich jetzt nicht davon“, sagte Rosamunde. „Laß uns nicht wieder auf die Vergangenheit zurückkommen. Ich weiß davon alles, was ich wissen soll – alles, was ich davon zu wissen wünsche. Wir wollen von der Zukunft sprechen, Mutter, und von künftigen glücklichen Zeiten. Laß mich dir von meinem Gatten erzählen. Wenn Worte ihn loben können, wie er gelobt zu werden verdient – wenn Worte ihm danken können, wie ihm gedankt zu werden gebührt, dann geschieht es durch die meinigen, dann wird es, wie ich überzeugt bin, auch durch die deinigen geschehen. Laß mich dir erzählen, was er sagte und was er tat, als ich ihm den Brief vorlas, den ich in dem Myrtenzimmer gefunden. Ja, ja – laß mich dir dies erzählen.“
Der letzten Worte des Doktors eingedenk und heimlich zitternd, als sie das mühsame, unregelmäßige Puliseren des Herzens ihrer Mutter unter ihrer Hand fühlte, während sie zugleich den raschen Wechsel ihrer bald blassen, bald roten Gesichtsfarbe sah, beschloß sie, keine Worte mehr zwischen ihnen gesprochen werden zu lassen, welche geeignet wären, an den Kummer und die Leiden der Vergangenheit auf peinliche Weise zu erinnern.
Nachdem sie daher die Unterredung zwischen ihrem Gatten und ihr, welche mit der Enthüllung des Geheimnisses geschlossen, erzählt, veranlaßte sie ihre Mutter, von der Zukunft zu sprechen, von der Zeit, wo sie im Stande sein würde, wieder zu reisen, von dem Glück, miteinander nach Cornwall zurückzukehren, von dem kleinen Fest, welches sie bei ihrer Ankunft in Onkel Josephs Hause in Truro feiern könnten, und von der Zeit, wo sie weiter nach Porthgenna oder vielleicht irgend einem andern Orte gingen, wo neue Umgebungen und neue Gesichter ihnen alle trübe Erinnerungen, an welche es am besten sei nicht mehr zu denken, vergessen helfen würden.
Rosamunde sprach noch über diese Dinge und ihre Mutter hörte ihr noch mit steigendem Interesse an jedem Wort, welches sie sprach, zu, als Onkel Joseph zurückkam.
Er brachte einen Korb Blumen und einen Korb Obst mit, welche er triumphierend am Fuß des Bettes seiner Nichte emporhielt.
„Ich bin in dem schönen hellen Sonnenschein umhergewandelt, mein Kind“, sagte er, „um deinem Gesicht Zeit zu lassen, fröhlich auszusehen, damit ich es so wiedersehen möchte, wie ich es während meines noch übrigen Lebens stets zu sehen wünsche. Ja, Sara, ich habe dir endlich den rechten Doktor gebracht“, setzte er Rosamunden ansehend, in heiterm Tone hinzu. „Sie hat dir schon ein wenig geholfen. Warte noch ein wenig und sie wird dich ganz wieder auf die Füße bringen – deine Wangen werden so rot sein wie die meinigen, dein Herz ebenso leicht wie das meinige und deine Zunge wird ebenso schnell plappern wie die meinige. Sieh, die schönen Blumen und Früchte, die ich gekauft, sind wohltätig für deine Augen, angenehm für deine Nase, am allerangenehmsten aber werden die letztern dir sein, wenn du sie in den Mund steckst. Heute ist ein Festtag für uns und wir müssen das Zimmer schön und blank machen. Übrigens wird auch bald dein Essen kommen – ich habe es schon unten auf dem Anrichtetisch in der Küche gesehen – es ist ein wahrer Cherub unter Hühnern! Und dann folgt dein fester, wohltätiger Schlaf und Mozart wird das Wiegenlied singen und ich werde dasitzen und Wache halten und sobald du aufwachst, hinuntergehen und dir deine Tasse Tee holen. Ach, mein Kind, mein Kind! Welche Freude, daß wir endlich diesen Feiertag erlebt haben!“
Mit einem strahlenden Blick auf Rosmaunden und beide Hände voll Blumen nehmend, wendete er sich von seiner Nichte ab und begann das Zimmer zu dekorieren.
Mit Ausnahme des Augenblicks, wo sie dem alten Mann für die Geschenke dankte, die er mitgebracht, war ihre Aufmerksamkeit während der ganzen Zeit, wo er gesprochen, unverwandt dem Gesicht ihrer Tochter zugewendet gewesen, und ihre ersten Worte, als er schwieg, waren an Rosamunden allein gerichtet.
„Während ich mich über mein Kind freue“, sagte sie, „halte ich dich von dem deinigen fern. Ich aber sollte weniger als jeder andere Mensch euch so lange voneinander getrennt halten. Geh nun wieder nach Hause, liebe Tochter, zu deinem Gatten und deinem Kind, und überlaß mich meinen dankbaren Gedanken und meinen Träumen von bessern Zeiten.“
„Um Ihrer Mutter willen sagen Sie ja“, mischte Onkel Joseph sich ein, ehe Rosamunde antworten konnte. „Der Doktor sagt, sie müsse am Tage überhaupt ihre Ruhe haben wie in der Nacht. Und wie soll ich sie bewegen, die Augen zu schließen, solange sie die Versuchung hat, dieselben offen zu halten und auf Sie zu heften?“
Rosamunde sah die Wahrheit dieser letzten Worte ein und verstand sich dazu, auf einige Stunden nach dem Hotel zurückzukehren, jedoch in der Voraussetzung, daß sie am Abend wieder ihren Platz am Bett der Kranken einnähme.
Nachdem man diese Verabredung getroffen, wartete Rosamunde noch so lange im Zimmer, bis die Mahlzeit heraufgebracht ward, von welcher Onkel Joseph gesprochen, wo sie dann dem alten Manne beistand, um ihre Mutter zu überreden, dieses Mahl zu sich zu nehmen.
Als das Geschirr wieder fortgetragen war, und Rosamunde mit eigener Hand das Bett zurecht gemacht, vermochte sie endlich sich zu entfernen.
Die Arme ihrer Mutter hielten sie umschlungen und die Wange der Kranken schmiegte sich liebend an die ihrige.
„Geh nun, meine Tochter, oder ich kann es zuletzt nicht über mich gewinnen, mich auch nur einige Stunden von dir zu trennen“, murmelte die sanfte Stimme in ihrem leisestem, mildesten Tone. „Meine teure Rosamunde! Ich habe keine Worte, welche gut genug wären, dich zu segnen; keine Worte, die dir so zu danken vermöchten, wie ich es wünsche. Das Glück hat lange Zeit gebraucht, ehe es mich erreicht hat – aber o wie barmherzig hat die himmlische Vorsehung es mir doch noch gesendet!“
Ehe Rosamunde die Schwelle überschritt, blieb sie noch einmal stehen und blickte zurück in das Zimmer. Der Tisch, der Kaminsims, die kleinen eingerahmten Bilder an den Wänden waren mit Blumen bekränzt; die Spieluhr spielte eben die ersten Takte der herrlichen Arie Mozarts; Onkel Joseph saß schon auf seinem gewohnten Platz an dem Bett mit dem Fruchtkorbe auf den Knien. Das bleiche, abgezehrte Gesicht auf dem Pfühl ward mild durch ein Lächeln verklärt – Friede, Behaglichkeit und Ruhe – alles mischte sich in dem Krankenzimmer, alles vereinigte sich, um Rosamundes Gedanken friedlich bei der Hoffnung auf eine glücklichere Zeit verweilen zu lassen.
Drei Stunden vergingen. Die letzten Strahlen der Sonne leuchteten dem langen Sommertage am westlichen Himmel zur Ruhe, als Rosamunde an das Bett ihrer Mutter zurückkehrte. Leise trat sie in das Zimmer. Das einzige Fenster desselben hatte die Aussicht nach Westen, und auf dieser Seite des Bettes stand der Stuhl, welchen Onkel Joseph eingenommen, als sie ihn verlassen, und auf welchem sie ihn jetzt bei ihrer Rückkehr noch sitzend antraf. Er legte den Finger an den Mund und schaute nach dem Bett, als sie die Tür öffnete. Ihre Mutter schlief, mit ihrer Hand in der des alten Mannes ruhend.
Als Rosamunde sich geräuschlos näherte, sah sie, daß Onkel Josephs Augen trüb und müde aussahen. Die gezwungene Stellung, welche er einnahm, und die es ihm unmöglich machte, sich zu bewegen, ohne Gefahr zu laufen seine Nichte aufzuwecken, schien ihn allmälig zu ermüden.
Rosamunde legte Hut und Shawl ab und winkte ihm aufzustehen und sie seine Stelle einnehmen zu lassen.
„Ja, ja“, flüsterte sie, als sie ihn durch ein Kopfschütteln antworten sah. „Lassen Sie mich nun Ihren Posten einnehmen, während Sie ein wenig ausgehen und die kühle Abendluft genießen. Es steht nicht zu fürchten, daß sie erwachen werde; ihre Hand hält die Ihrige nicht umschlossen, sondern ruht bloß darin. Lassen Sie mich die meinige behutsam gegen die Ihrige vertauschen und wir werden sie nicht stören.“
Sie schob, während sie dies sagte, ihre Hand unter die ihrer Mutter. Onkel Joseph lächelte, während er sich von seinem Stuhl erhob und ihr seinen Platz überließ.
„Sie wollen es einmal so“, sagte er; „Sie sind für einen alten Mann, wie ich, viel zu rasch und zu gewitzt.“
„Schläft sie schon lange?“ fragte Rosamunde.
„Beinahe zwei Stunden“, antwortete Onkel Joseph. „Aber es ist nicht der gute Schlaf gewesen, den ich ihr gewünscht hätte, sondern ein träumender, sprechender, unruhiger Schlaf. Erst seit etwa zehn Minuten liegt sie so ruhig da, wie Sie sie jetzt sehen.“
„Haben Sie nicht vielleicht zu viel Licht hereingelassen?“ flüsterte Rosamunde, indem sie nach dem Fenster herumschaute, durch welches die Glut des Abendhimmels warm in das Zimmer fiel.
„Nein, nein!“ entgegnete er hastig. „Mag sie schlafen oder wachen, so will sie stets Licht haben. Wenn ich jetzt, wie Sie wünschen, auf eine Weile fortgehe und es dämmerig wird, ehe ich wiederkomme, so zünden Sie diese beiden Lichter auf dem Kaminsims an. Ich werde mich bemühen, noch eher wieder da zu sein, wenn aber die Zeit zu rasch vergehen sollte und Sara vielleicht aufwacht und seltsame Reden beginnt und oft von Ihnen hinweg in jene ferne Ecke des Zimmers schaut, so vergessen Sie nicht, daß die Zündhölzchen und die Lichter nebeneinander auf dem Kaminsims stehen und daß es am besten ist, wenn Sie die Lichter recht bald gleich nach Eintritt des ersten Zwielichts anzünden.“
Mit diesen Worten stahl er sich auf den Zehen nach der Tür und ging hinaus.
Seine letzten Worte erinnerten Rosamunden wieder an das, was diesen Morgen zwischen dem Doktor und ihr besprochen worden. Sie schaute wieder ruhig nach dem Fenster. Die Sonne sank eben hinter den fernen Dächern hoher Häuser hinab. Das Ende des Tages war nicht mehr fern.
Als sie ihr Gesicht wieder nach dem Bett wendete, fühlte sie, wie sie von einem augenblicklichen Frösteln beschlichen ward. Sie zitterte ein wenig, teils über das Gefühl selbst, teils über die Erinnerung, die dabei an jenes andere Frösteln erwachte, von welchem sie in der Einsamkeit des Myrtenzimmers befallen worden.
Angeregt durch die geheimnisvollen Sympathien der Berührung, bewegte sie die Hand ihrer Mutter in diesem Augenblick in der ihigen und über die wehmütige Friedlichkeit des müden Angesichts zuckte eine augenblickliche Unruhe – der fliegende Schatten eines Traums. Die bleichen, getrennten Lippen öffneten sich, schlossen sich, zitterten und öffneten sich wieder, die leisen Atemzüge kamen und gingen immer rascher und rascher; der Kopf bewegte sich unruhig auf dem Pfühl; die Augenlider öffneten sich halb; leise, schwache, stöhnende Töne entrangen sich rasch den Lippen – verwandelten sich bald in halb artikulierte Redesätze – und gingen dann allmälig in verständliche Worte über.
„Schwöre“, stammelte sie, „daß du dieses Papier nicht vernichten willst! Schwöre, daß du es nicht mit fortnehmen willst, wenn du das Haus verlässest.“
Die Worte, welche auf diese folgten, wurden so rasch und leise geflüstert, daß Rosamundes Ohr sie nicht zu erhaschen vermochte. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sprach die träumerische Stimme plötzlich wieder und lauter.
„Wo? Wo? Wo?“ rief sie. „In dem Bücherschrank? In dem Tischkasten? – Halt! Halt! In dem Bilder der gespenstigen Frau –“
Bei diesen letzten Worten ging es Rosamunden eiskalt durchs Herz. Sie fuhr mit einer Bewegung des Schreckens plötzlich zurück – bemeisterte sich jedoch sofort wieder und neigte sich über das Bett.
Es war aber zu spät. Ihr Hand hatte, als sie zurückfuhr, eine hastige Bewegung gemacht, und die Kranke erwachte zusammenfahrend und mit einem leisen Schrei. Ihre Augen blickten stier mit dem Ausdruck der größten Angst vor sich hin und der Schweiß stand ihr in dichten Perlen auf der Stirn.
„Mutter!“ rief Rosamunde, indem sie sich auf dem Pfühl emporrichtete. „Ich bin wieder da. Kennst du mich nicht?“
„Mutter?“ wiederholte sie in traurigem, fragendem Tone, „Mutter?“
Bei der zweiten Wiederholung dieses Wortes ward ihr Gesicht von einer hellen Röte der Freude und Überraschung übergossen und sie schlang plötzlich beide Arme um den Hals ihrer Tochter.
„O, meine Rosamunde!” sagte sie. „Wäre ich jemals gewohnt gewesen, zu erwachen und dann dein teures Antlitz auf mich gerichtet zu sehen, dann würde ich dich trotz meines Traumes eher wiedererkannt haben. Hattest du mich geweckt, liebe Tochter? Oder erwachte ich von selbst?“
„Ich fürchte, ich hatte dich geweckt, Mutter.“
„Sage nicht: ‚Ich fürchte.’ Mit Freuden würde ich aus dem süßesten Schlaf, den je ein Mensch genossen, erwachen, um dein Gesicht zu sehen und dich ‚Mutter’ zu mir sagen zu hören. Du hast mich von der Angst eines meiner schrecklichen Träume befreit. O, Rosamunde, ich glaube, ich könnte glücklich leben in deiner Liebe, wenn ich nur Porthgenna Tower aus den Gedanken bringen könnte – wenn ich nicht mehr an das Schlafzimmer dächte, in welchem meine Herrin starb, und an das Zimmer, worin ich den Brief versteckte.“
„Wir wollen nun Porthgenna Tower zu vergessen suchen“, sagte Rosamunde. „Wollen wir vielleicht von andern Orten sprechen, wo ich gelebt und die du noch niemals gesehen? Oder soll ich dir vorlesen? Hast du vielleicht ein Buch hier, welches du gern liesest?“
Rosamunde blickte über das Bett hinüber nach dem Tisch auf der andern Seite. Es war auf demselben nichts zu sehen als einige Flaschen Arzenei, einige von Onkel Josephs Blumen in einem Glas Wasser und ein kleines längliches Arbeitskästchen. Dann schaute sies ich nach der Kommode um, die hinter ihr stand, aber auch hier waren keine Bücher zu sehen. Ehe sie ihre Augen wieder nach dem Bett wendete, schweiften dieselben seitwärts nach dem Fenster. Die Sonne war hinter den Dächern der Häuser hinabgesunken – das Ende des Tages stand nahe bevor.
„Wenn ich nur vergessen könnte! O, wenn ich nur vergessen könnte!“ sagte ihre Mutter seufzend, indem sie mit der Hand auf die Bettdecke schlug.
„Bist vielleicht wohl genug, liebe Mutter, um dir die Zeit ein wenig mit Arbeit zu vertreiben?“ fragte Rosamunde, indem sie auf das kleine längliche Arbeitskästchen zeigte und das Gespräch auf ein harmloses alltägliches Thema zu leiten suchte. „Was für Arbeiten machst du? Darf ich einmal hineinsehen?“
Saras Gesicht verlor den müden, leidenden Ausdruck und ward abermals durch ein Lächeln verklärt.
„Es ist keine Arbeit darin“, sagte sie. „Alle Schätze, die ich auf dieser Welt hatte, ehe du zu mir kamst, sind in dieses eine kleine Kästchen eingeschlossen. Öffne es, meien Liebe, und schaue hinein.“
Rosamunde gehorchte, indem sie das Kästchen auf das Bett stellte, sodaß ihre Mutter es mit leichter Mühe sehen konnte. Der erste Gegenstand, den sie darin entdeckte, war ein kleines Buch in schwarzem, abgenutztem Einband. Es war ein altes Gesangbuch. Einige vertrocknete Grashalme lagen zwischen den Blättern und auf einem der leeren Blätter stand geschrieben: „Dies Buch gehört Sara Leeson, welche es von Hugh Polwheal geschenkt erhalten.“
„Sieh es an, liebe Tochter“, sagte Sara. „Ich wünsche, daß du es wiedererkennen mögest. Wenn meine Zeit kommt, dich zu verlassen, Rosamunde, lege es mir mit deinen eigenen teuren Händen auf die Brust und eine Locke von deinem Haar dazu und begrabe mich auf dem Kirchhofe von Porthgenna, wo er schon so viele lange Jahre auf mich wartet. Die andern Sachen in dem Kästchen gehören dein, Rosamunde. Es sind gestohlene Andenken, welche mich an mein Kind erinnerten, als ich allein in der Welt stand. Vielleicht wirst du nach Jahren, wenn dein Haar ebenso zu ergrauen beginnt wie das meinige, diese armseligen Kleinigkeiten deinen Kindern zeigen, wenn du ihnen von mir erzählst. Trage kein Bedenken, Rosamunde, ihnen zu sagen, wie deine Mutter gefehlt und wie sie gelitten – zuletzt kannst du allemal diese Kleinigkeiten für sie sprechen lassen. Die geringste davon wird zeigen, daß sie dich stets geliebt hat.“
Sie nahm aus dem Kästchen ein Stück sauber zusammengefaltetes weißes Papier, welches unter dem Gesangbuche gelegen, öffnete es und zeigte ihrer Tochter einige darinliegende verwelkte Geiskleeblätter.
„Diese Blätter nahm ich mit von deinem Bett hinweg, Rosamunde, als ich nach West Winston kam, um dich zu pflegen. Als ich hörte, wer die Dame in dem Gasthause sei, konnte ich nicht der Versuchung widerstehen, alles zu wagen, um dich und mein Enkelkind zu sehen. Ich versuchte, nachdem ich die Blumen genommen, auch noch ein Band aus deinem Koffer zu nehmen – ein Band, von dem ich wußte, daß du es um den Hals getragen. Der Arzt aber kam mir zu nahe und erschreckte mich.“
Sie faltete das Papier wieder zusammen, legte es neben sich auf den Tisch und nahm dann aus dem Kästchen einen kleinen Kupferstich, welcher früher zu den Illustrationen eines Taschenbuchs gehört hatte. Das Bild stellte ein kleines Mädchen vor, welches mit einem Zigeunerhut auf dem Kopfe am Rande eines Flusses saß und eine Kette von Maßlieben flocht. Als Zeichnung hatte es durchaus keinen Wert, als Kupferstich hatte es nicht einmal das mechanische Verdienst, ein guter Abdruck zu sein. Darunter standen mit Bleistift die Worte geschrieben: „Rosamunde, als ich sie das letzte Mal sah.“
„Es war nicht hübsch genug, um dich darzustellen“, sagte Sara. „Dennoch aber lag etwas darin, was meine Erinnerung an dich unterstützte, als du noch ein kleines Mädchen warst.“
Sie legte den Kupferstich mit den Geiskleeblättern auf die Seite und nahm dann aus dem Kästchen ein aus einem Schreibebuch geschnittenes, zusammengefaltetes Blatt Papier, aus welchem ein schmaler, mit kleinen Buchstaben bedruckter Streifen fiel. Diesen Streifen sah sie zuerst an.
„Es ist die öffentliche Bekanntmachung deiner Verheiratung, Rosamunde“, sagte sie. „Ich pflegte sie immer und immer wieder zu lesen, wenn ich allein war, und versuchte mir zu denken, wie du dabei ausgesehen und was für ein Kleid du getragen. Hätte ich Zeit und Stunde deiner Vermählung gekannt, so hätte ich mich in die Kirche gewagt, um dich und deinen Bräutigam zu sehen. Das sollte aber nicht sein – und vielleicht war es so auch am besten, denn hätte ich dich auf diese verstohlene Weise gesehen, so wären mir meine Prüfungen später vielleicht nur um so schwerer zu ertragen gewesen. Ich hatte kein anderes Andenken an dich, Rosamunde, als dieses Blatt aus deinem ersten Schreibebuch. Das Kindermädchen in Porthgenna zerriß das Buch eines Tages, um Feuer damit anzuzünden, und ich nahm dieses Blatt weg, als sie zufällig anderswohin sah. Siehe, du warst damals noch gar nicht bis zu Worten gekommen – du konntest bloß Haar- und Grundstriche machen. O, wie oft habe ich dieses eine Blatt Papier betrachtet und mir zu denken versucht, daß ich deine kleine Kinderhand mit der Feder fest zwischen den rosigen Fingern sich darüber hinbewegen sähe. Ich glaube, ich habe über diesem deinem ersten Schreibversuche öfter geweint als über allen andern Andenken an dich zusammengenommen.“
Rosamunde wendete ihr Gesicht seitwärts nach dem Fenster, um die Tränen zu verbergen, die sie nicht länger unterdrücken konnte. Als sie dieselben hinwegwischte, verkündete ihr der erste Anblick des dunkler werdenden Himmels, daß bald die Abenddämmerung hereinbrechen würde.
Wie matt und eintönig sah jetzt die Röte am westlichen Himmel! Wie nahe war der Schluß des Tages herangerückt!
Als sie sich wieder nach dem Bett wendete, betrachtete ihre Mutter immer noch das Blatt aus dem Schreibebuche.
„Jenes Kindermädchen, welches das ganze übrige Buch zerriß, um Feuer damit anzuzünden“, sagte sie, „war in jenen frühen Tagen in Porthgenna eine sehr gute und liebevolle Freundin von mir. Sie erlaubte mir zuweilen, dich zu Bett zu bringen zu dürfen, Rosamunde, und quälte mich niemals mit Fragen oder dergleichen, wie die andern Dienstleute zu tun pflegten. Sie setzte sich dadurch, daß sie so freundlich gegen mich war, der Gefahr aus, ihren Dienst zu verlieren. Meine Herrin fürchtete, daß ich mich und sie verraten würde, wenn ich zu viel in der Kinderstube wäre, und verbot mir daher, dorthin zu gehen, denn es sei einmal nicht mein Platz. Keiner der andern Dienerinnen ward so oft verwehrt, mit dir zu spielen und dich zu küssen, Rosamunde, wie mir. Das Kindermädchen aber – Gott schenke ihr Segen und Gedeihen dafür! – stand mir als Freundin zur Seite. Oft hob ich dich in deinem kleinen Bett empor, liebes Kind, und wünschte dir gute Nacht, wenn meine Herrin glaubte, ich säße in ihrem Zimmer und arbeitete. Du pflegtest zu sagen, du hättest deine Wärterin lieber als mich, aber du sagtest mir dies niemals in unfreundlichem Tone, sondern botest mir deine lachenden Lippen so oft als ich dich um einen Kuß bat.“
Rosamunde legte ihr Haupt sanft auf den Pfühl neben das ihrer Mutter.
„Versuche weniger an die Vergangenheit und mehr an die Zukunft zu denken, liebe Mutter“, flüsterte sie bittend. „Versuche an die Zeit zu denken, wo mein Kind dir diese vergangenen Tage ohne deren Bitterkeit und Kummer zurückrufen wird – die Zeit, wo du es lehren wirst, seine Lippen den deinen zu bieten, wie ich dir die meinigen zu bieten pflegte.“
„Ich will es versuchen, Rosamunde – meine einzigen Gedanken an die Zukunft sind seit langen Jahren nur dem Wiedersehen im Himmel zugewendet gewesen. Wenn meine Sünden mir verziehen werden, wie werden wir uns dann dort wiedersehen? Wirst du mir sein, wie mein kleines Töchterchen – das Kind, welches ich nicht wiedergesehen, seitdem es fünf Jahre alt war. Ich möchte wissen, ob Gottes Gnade mich für unsere lange Trennung auf Erden entschädigen wird. Ich möchte wissen, ob du mir in jener Welt mit deinem kindlichen Antlitz erscheinen und das sein wirst, was du mir auf Erden hättest sein sollen – mein kleiner Engel, den ich auf meinen Armen tragen kann. Wenn wir im Himmel beten, werde ich dich dann dort dein Gebet lehren zum Trost dafür, daß ich es dich niemals hienieden lehren gekonnt?“
Sie schwieg, lächelte wehmütig, schloß die Augen und überließ sich schweigend den träumerischen Gedanken, welche noch ihr Gemüt bewegten. In der Meinung, daß sie wieder einschlummern würde, wenn man sie ungestört ließe, vermied Rosamunde, sich zu bewegen oder zu sprechen. Nachdem sie das friedliche Antlitz eine Zeit lang betrachtet, ward sie sich bewußt, daß das Licht auf demselben immer mehr hinwegschwand.
So wie diese Überzeugung sich ihr aufdrängte, schaute sie wieder nach dem Fenster herum. Die westlichen Wolken trugen bereits ihre ruhigen Zwielichtfarben – das Ende des Tages war da.
In dem Augenblick, wo sie sich auf dem Stuhl bewegte, fühlte sie die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. Als sie sich wieder nach dem Bett herumdrehte, sah sie die Augen der Kranken offen und auf sie geheftet.
Der Ausdruck dieser Augen kam ihr verändert vor – er war stier und unheimlich.
„Warum spreche ich vom Himmel?“ sagte sie, indem sie ihr Gesicht plötzlich dem dunkler werdenden westlichen Horizont zuwendete und in leisem murmelnden Tone sprach: „Woher weiß ich, daß ich würdig bin, in den Himmel einzugehen? Und dennoch, Rosamunde, habe ich mich keiens Eidbruchs gegen meine Herrin schuldig gemacht. Du kannst mir bezeugen, daß ich den Brief nicht vernichtet und daß ich ihn ebenso wenig mitgenommen, als ich das Haus verließ.“
„Es wird bald dunkel werden, Mutter. Laß mich einen Augenblick aufstehen, um die Lichter anzuzünden.“
Saras Hand bewegte sich langsam aufwärts und klammerte sich fest um Rosamundes Hals.
„Ich hatte nicht geschworen, ihm den Brief zu geben“, sagte sie. „Es war kein Verbrechen, ihn zu verbergen. Du fandest ihn in einem Bilde, Rosamunde, nicht wahr? Man pflegte es das Bild des Gespenstes von Porthgenna zu nennen. Niemand wußte, wie alt es war oder wenn es in das Haus gekommen. Meine Herrin haßte es, weil das gemalte Gesicht eine seltsame Ähnlichkeit mit dem ihrigen hatte. Eines Tages befahl sie mir, es von der Wand zu nehmen und zu vernichten. Ich scheute mich, es zu tun; deshalb versteckte ich es – es geschah dies noch, ehe du geboren warst – in dem Myrtenzimmer. Du fandest den Brief auf der Hinterseite des Bildes, nicht wahr, Rosamunde? Und dennoch war dies ein guter Ort, um ihn zu verbergen. Niemand würde jemals das Bild gefunden haben. Warum sollte jemand den Brief finden, der darin verborgen war?“
„Laß mich Licht anzünden, Mutter! Nicht wahr, du möchtest gern Licht haben?“
„Nein, jetzt noch nicht. Laß die Dunkelheit sich erst dort in dem Winkel des Zimmers sammeln. Richte mich auf und laß mich flüstern.“
Der umschlingende Arm hielt sich fester an, während Rosamunde ihre Mutter im Bett aufrichtete. Das entschwindende Licht fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren starr vor sich hinblickenden Augen.
„Ich warte auf etwas, was sich allemal in der Dämmerung einfindet, ehe die Lichter angezündet werden“, flüsterte sie leise und atemlos. „Dort unten!“
Und sie zeigte auf die entfernteste Ecke des Zimmers neben der Tür.
„Mutter, um Gottes willen, was ist es! Was hat dich so verändert?“
„So ist es recht! Sag Mutter! Wenn sie auch wirklich kommt, so kann sie doch nicht bleiben, wenn sie hört, daß du mich Mutter nennst, wenn sie uns endlich beisammen sieht, trotz ihrer Ränke einander liebend und kennend. O, mein gutes, sanftes, mitleidiges Kind, wenn du mich nur von ihr befreiest, wie lange kann ich dann noch leben! – Wie glücklich können wir beide noch sein.“
„Sprich nicht so! Blicke nicht so! Sage mir ruhig – liebe, liebe Mutter – sage mir ruhig –“
„Still, still! Ich will es dir sagen. Sie drohte mir auf ihrem Sterbebett – wenn ich ihre Absicht vereitelte, so würde sie aus der andern Welt mich heimsuchen. Rosamunde, ich habe ihre Absicht vereitelt und sie hat ihr Versprechen gehalten – mein ganzes Leben lang seit jener Zeit hat sie ihr Wort gehalten. Schau! Dort unten!“
Ihr linker Arm hielt immer noch Rosamundes Hals umschlungen. Ihren rechten streckte sie nach der fernen Ecke des Zimmers aus und hob ihre Hand wie drohend gegen die leere Luft.
„Schau!“ sagte sie. „Dort ist sie, wie sie immer zu mir kommt, wenn der Tag sich neigt – in dem groben, schwarzen Anzuge, den meine verbrecherischen Hände für sie fertigten – mit dem Lächeln, welches auf ihrem Gesicht schwebte, als sie mich fragte, ob sie wohl aussähe wie eine Zofe. Herrin! Herrin! O, ruhe endlich! Das Geheimnis gehört nicht mehr unser. Ruhe endlich! Mein Kind ist wieder mein. Ruhe endlich und tritt nicht wieder zwischen uns.“
Sie schwieg, nach Atem keuchend und legte ihre heiße, pulsierende Wange an die Wange ihrer Tochter.
„Nenne mich noch einmal Mutter!“ flüsterte sie. „Sag es laut und banne sie damit hinweg für immer!“
Rosamunde bemeisterte die Angst, vor welcher sie an allen Gliedern erzitterte, und sprach das Wort.
Ihre Mutter beugte sich ein wenig vorwärts, immer noch nach Atem keuchend, und blickte mit angestrengter Sehkraft in die ruhige Dämmerung an dem untern Ende des Zimmers.
„Sie ist weg!!!“ rief sie plötzlich, vor Frohlocken und Freude laut aufschreiend. „O barmherziger Gott, sie ist endlich weg!“
Im nächsten Augenblick sprang sie in ihrem Bett auf und sank auf die Knie nieder. Einen einzigen Augenblick lang schimmerten ihre Augen in dem grauen Zwielicht mit strahlender, überirdischer Schönheit, während sie einen letzten Blick der Liebe auf das Gesicht ihrer Tochter heftete.
„O, meine Liebe, mein Engel“, murmelte sie, „wie glücklich werden wir nun miteinander sein!“
Indem sie diese Worte sprach, schlang sie ihre Arme um Rosamundes Hals und drückte ihre Lippen entzückt auf die Lippen ihres Kindes.
Der Kuß zögerte, bis ihr Haupt sanft
vorwärts sank, an
Rosamundes Brust – zögerte, bis der Augenblick der göttlichen
Barmherzigkeit
kam und das müde Herz endlich Ruhe fand.
Neuntes Kapitel
Vierzigtausend Pfund
Kein volkstümlicher Ausspruch ist weiter verbreitet als die Maxime, welche behauptet, die Zeit sei die große Trösterin, aber wahrscheinlich drückt kein volkstümlicher Ausspruch die Wahrheit unvollkommener aus. Die Arbeit, die wir verrichten, die Verantwortlichkeiten, die wir übernehmen, das Beispiel, welches wir Andern geben müssen – dies sind die großen Tröster, denn diese bringen gegen die Krankheit des Grams die ersten Heilmittel in Anwendung.
Die Zeit besitzt bloß die negative Eigenschaft, den Gram sich abzehren und abstumpfen zu lassen. Wer, der überhaupt beobachtet, hat nicht bemerkt, daß die von uns, welche sich am frühesten von dem Schlage eines großen Kummers über Todesfälle erholen, die sind, welche die meisten Pflichten gegen die Lebenden zu erfüllen haben? Wenn der Schatten des Unglücks auf unsern Häusern ruht, dann ist die Frage für uns nicht, wie viel Zeit hinreichen wird, um den Sonnenschein wieder zu uns zurückzubringen, sondern wie viel Beschäftigung wir haben, die uns vorwärts an den Platz bringt, wo der Sonnenschein auf uns wartet. Die Zeit kann viele Siege für sich beanspruchen, aber nicht den Sieg über den Gram. Der Haupttrost über den Verlust teurer Angehöriger, welche in das Jenseits eingegangen, ist in der großen Notwendigkeit, an die Lebenden, welche noch da sind, denken zu müssen, zu finden.
Die Geschichte von Rosamundes täglichem Leben, jetzt, wo das Dunkel eines schweren Herzenskummers sich darauf niedergesenkt hatte, war an und für sich ein genügender Beleg für die Wahrheit dieser Behauptung. Als die ganze Kraft, selbst ihres starken Charakters, durch den unaussprechlichen, furchtbaren Schlag des plötzlichen Todes ihrer Mutter niedergeworfen worden, war es nicht der langsame Verlauf der Zeit, der sie wieder aufrichten half, sondern die Notwendigkeit, welche nicht auf die Zeit wartete – die Notwendigkeit, welche sie an das erinnerte, was sie ihrem Gatten schuldig war, der ihren Kummer teilte, dem Kinde, dessen junges Leben mit dem ihrigen zusammenhing, und dem alten Manne, dessen hülfloser Schmerz keinen andern Trost fand, als den, welchen sie ihm geben konnte und dessen Resignation nur ein Vorbild in der ihrigen fand.
Gleich vom Anfang an war die Aufgabe, ihn aufrecht zu erhalten, bloß ihr zugefallen. Ehe noch die erste Stunde der Nacht auf das Ende des Tages folgte, ward Rosamunde von dem Bett ihrer Mutter durch die Notwendigkeit hinweggerissen, ihm bis an die Tür entgegenzugehen und ihn darauf vorzubereiten, daß er das Zimmer des Todes beträte.
Diese furchtbare Wahrheit ihm allmälig und behutsam vorzuführen, bis sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, ihn den unvermeidlichen Schlag tragen und überwinden zu helfen – dies waren die heiligen Pflichten, welche alle Hingebung Rosamundes in Anspruch nahmen und ihrem Herzen wehrten, allzu egoistisch bei dem eigenen Kummer zu verweilen.
Es war nicht die kleinste der Prüfungen, welchen sie jetzt gegenüberzutreten hatte, den Zustand von Hülflosigkeit zu sehen, in welchen der alte Mann durch die Last eines Kummers versetzt war, den er für sich allein nicht die Kraft hatte zu tragen.
Er sah aus wie ein Mensch, dessen Geisteskräfte in eine Betäubung versenkt sind, aus welcher sie sich nie wieder emporrichten können. Stundenlang saß er neben seiner Spieluhr, streichelte und liebkoste sie von Zeit zu Zeit und flüsterte mit sich selbst, während er sie ansah, versuchte aber nie, sie spielen zu lassen. Es war das noch einzige Andenken, welches ihn an die Freuden und Leiden, die einfachen Familieninteressen und Neigungen seines vergangenen Lebens erinnerte.
Als Rosamunde sich das erste Mal neben ihn setzte und ihn bei der Hand ergriff, um ihn zu trösten, ließ er seine Blicke zwischen ihrem mitleidigen Gesicht und der Spieluhr hin- und herschweifen und wiederholte wie geistesabwesend immer und immer wieder dieselben Worte: „Sie sind alle fort – mein Bruder Max, mein Weib, mein kleiner Joseph, meine Schwester Agathe, Sara, meine Nichte. Ich und meine kleine Spieluhr sind nun noch allein miteinander in der Welt. Mozart kann nicht mehr singen. Er hat nun sein letztes Lied gesungen.“
Am zweiten Tage war keine Veränderung an ihm zu bemerken. Am dritten legte Rosamunde das Gesangbuch ehrerbietig auf die Brust ihrer Mutter, eine Locke von ihrem eigenen Haar um das Buch herum und küßte das wehmütige, friedliche Antlitz zum letzten Male.
Der alte Mann war bei diesem stummen Abschiede bei ihr und folgte ihr nach als Alles vorüber war. Neben dem Sarge und später, als Rosamunde ihn wieder mit zu ihrem Gatten nahm, war er noch in dieselbe Apathie des Grams versunken, die sich seiner gleich von Anfang an bemächtigt hatte. Als man jedoch davon zu sprechen begann, daß die sterbliche Hülle den nächstfolgenden Tag nach dem Kirchhofe von Porthgenna gebracht werden sollte, bemerkte man, daß seine trüben Augen plötzlich hell wurden, und daß seine bis jetzt so zerstreute Aufmerksamkeit jedem hierauf bezüglichen Worte folgte.
Nach einer Weile erhob er sich von seinem Stuhl, näherte sich Rosamunden und sah sie schüchtern an.
„Ich glaube, ich könnte meinen Schmerz besser ertragen, wenn Sie mich Sara begleiten ließen“, sagte er. „Wäre sie am Leben geblieben, so wären wir zwei miteinander nach Cornwall zurückgekehrt. Wollen Sie nun, da sie gestorben ist, mich auch noch mit ihr dahin zurückkehren lassen?“
Rosamunde machte sanfte Gegenvorstellungen und versuchte ihm zu zeigen, daß es am besten sei, die Leiche unter der Aufsicht ihres Dieners transportieren zu lassen, auf dessen Treue man sich verlassen könne und dessen Stellung ihn als die geeignetste Person erscheinen lasse, um mit Verrichtungen und Verantwortlichkeiten beauftragt zu werden, welche nahe Verwandte nicht im Stande wären, mit hinreichender Fassung zu übernehmen. Sie sagte ihm ferner, ihr Gatte beabsichtige noch einen Tag in London zu bleiben, um ihr Zeit zu der Erholung und Ruhe zu gönnen, deren sie unbedingt bedürfte, und daß sie dann nach Cornwall zurückkehren und wieder in Porthgenna zu sein gedächten, ehe das Begräbnis stattfände.
Deshalb bat Rosamunde den alten Mann inständig, sich jetzt in diese Stunden der Trauer, wo sie alle drei durch die Bande der Sympathie und des Kummers aneinander gefesselt wären, nicht von ihnen zu trennen.
Schweigend und unterwürfig hörte er zu, während Rosamunde sprach; als sie aber fertig war, wiederholte er dennoch seine Bitte. Er hatte jetzt einmal weiter keinen Gedanken, als mit den sterblichen Überresten des Kindes seiner Schwester nach Cornwall zurückzukehren.
Leonard und Rosamunde sahen beide, daß es vergeblich sein würde, sich ihm länger zu widersetzen; beide fühlten, daß es grausam wäre, ihn zwingen zu wollen, bei ihnen zu bleiben, und daß man ihm dagegen keine größere Freundlichkeit beweisen könnte, als wenn man ihm erlaubte, die Leiche zu begleiten.
Nachdem die beiden jungen Ehegatten daher ihren Diener instruiert, dem alten Mann soviel als möglich alle Belästigung und Mühe zu ersparen, auf seine Wünsche, so weit er sie zu erkennen geben würde, einzugehen und ihm allen möglichen Schutz und Beistand angedeihen zu lassen, ohne sich jedoch seiner Aufmerksamkeit allzusehr aufzudrängen, stellten sie es ihm frei, das einzige Vorhaben auszuführen, welches ihn noch mit den Ereignissen und Interessen des vorübergehenden Tages verknüpfte.
„Ich werde Ihnen“, sagte er, als er Abschied nahm, „bald noch besser dafür danken, daß Sie mich mit Allem, was mir von Sara, meiner Nichte, übriggeblieben, aus diesem Lärm und Getöse Londons fortgehen lassen. Ich will meine Tränen trocknen so gut ich kann und mich bemühen, mehr Mut zu besitzen, wenn wir uns wiedersehen.“
Am nächstfolgenden Tage, als Rosamunde und ihr Gatte miteinander allein waren, suchten sie Zuflucht vor dem Drucke der Gegenwart, indem sie miteinander vor der Zukunft und von dem Einflusse sprachen, welchen die Veränderung in ihren Vermögensumständen auf ihre künftigen Pläne und Projekte ausüben müßte.
Nachdem sie dieses Thema erschöpft, kam das Gespräch auf ihre Freunde und auf die Notwendigkeit, einigen der ältesten ihrer Bekannten die Ereignisse mitzuteilen, welche auf die Entdeckung im Myrtenzimmer gefolgt waren. Der erste Name, den sie, während sie diese Frage erwogen, nannten, war der des Doktor Chennery, und Rosamunde, welche eine nachteilige Wirkung auf ihr Gemüt befürchtete, wenn sie ihre Gedanken unbeschäftigt ließe, erbot sich sofort, an den Vikar zu schreiben, kurz zu erzählen, was, seitdem sie das letzte Mal mit ihm Briefe gewechselt, geschehen, und ihn zu bitten, in diesem Jahre ein ihr und ihrem Gatten schon lange gegebenes Versprechen zu lösen, nämlich seine Herbstferien bei ihnen in Porthgenna Tower zu verleben. Rosamundes Herz sehnte sich nach dem Anblick des alten Freundes und sie kannte ihn genau genug, um versichert zu sein, daß ein Wink über die Trübsal, von welcher sie heimgesucht worden, und über die schwere Prüfung, die sie zu bestehen gehabt, hinreichen würde, Doktor Chennery unverweilt, sobald es mit seinen amtlichen und häuslichen Pflichten vereinbar wäre, zu ihnen zu führen.
Das Schreiben dieses Briefes erweckte zugleich die Erinnerung an einen zweiten Freund, dessen Bekanntschaft mit Leonard und Rosamunde allerdings erst aus neuer Zeit datierte, dessen Zusammenhang mit der Kette von Umständen aber, welche zur Entdeckung des Geheimnisses geführt, ihn zu einem gewissen Anteil an ihrem Vertrauen berechtigte.
Dieser Freund war Doktor Orridge, der Arzt in West Winston, welcher zufällig die Veranlassung gewesen, Rosamundes Mutter an das Bett ihrer Tochter zu führen.
An diesen schrieb Rosamunde jetzt, indem sie sich auf das Versprechen bezog, welches sie ihm bei ihrer Abreise von West Winston gegeben und welchem zufolge er Nachricht von dem Resultat ihrer Nachforschungen in dem Myrtenzimmer erhalten sollte.
Sie teilte ihm mit, daß diese Nachforschungen zur Entdeckung einiger sehr betrübenden Familienereignisse geführt, die aber nun zu den Ereignissen der Vergangenheit zu rechnen seien. Mehr als dies war einem Freund, der eine solche Stellung ihnen gegenüber einnahm wie Doktor Orridge, nicht nötig zu sagen.
Rosamunde hatte eben die Adresse dieses zweiten Briefes geschrieben und zog zerstreut mit ihrer Feder Linien auf dem Löschpapier, als sie zu ihrer Verwunderung zornig streitende Stimmen auf dem Korridor draußen vernahm. Fast ehe sie noch Zeit hatte, Vermutungen darüber anzustellen, was dieser Lärm wohl zu bedeuten habe, ward die Tür heftig aufgestoßen und ein langer, schäbig gekleideter, ältlicher Mann mit einem mürrischen, hagern Gesicht und zottigen, grauen Bart kam hereingestiegen, während der Oberkellner des Hotels in großer Entrüstung ihm auf dem Fuße folgte.
„Ich habe diesem Menschen“, begann der Kellner, das letzte Wort nachdrücklich betonend, „ich habe diesem Menschen dreimal gesagt, daß Mr. und Mistreß Frankland –“
„Nicht zu Hause wären“, unterbrach ihn der schäbig gekleidete Mann, den Redesatz vollendend. „Ja, das sagtet Ihr mir und ich sagte Euch, daß der Mensch die Gabe der Rede bloß benutze, um Lügen zu sagen und daß ich Euch deshalb nicht glaubte. Ihr habt mir auch wirklich eine Lüge gesagt. Hier sind Mr. und Mistreß Frankland beide zu Hause. Ich komme in Geschäften und beabsichtige, ungefähr fünf Minuten lang mit Ihnen zu sprechen. Ich setze mich, obschon man mich noch nicht dazu eingeladen hat, und nenne meinen Namen – Andrew Treverton.“
Mit diesen Worten setzte der Sonderling sich kaltblütig auf den nächsten Stuhl.
Leonards Wangen erröteten vor Zorn, während er sprach, Rosamunde aber mischte sich ein, ehe ihr Gatte ein Wort sprechen konnte.
„Es wäre zwecklos, Lenny, sich über diesen Mann zu erzürnen“, flüsterte sie. „Es wird am besten sein, wenn wir ihm gegenüber ganz ruhig bleiben.“
Sie gab dem Kellner einen Wink und damit die Erlaubnis, das Zimmer zu verlassen – dann wendete sie sich zu Mr. Treverton.
„Sie dringen uns“, sagte sie ganz ruhig, „Ihre Gegenwart zu einer Zeit auf, wo ein tief betrübender Trauerfall uns zu Streitigkeiten aller Art völlig unfähig macht. Wir sind jedoch bereit, Ihrem Alter mehr Rücksicht zu schenken als Sie unserm Kummer angedeihen lassen. Wenn Sie meinem Gatten etwas zu sagen haben, so ist er um meinetwillen bereit, sich Gewalt anzutun und Sie ruhig anzuhören.“
„Und ich werde um meiner selbst willen mit ihm wie mit Ihnen die Sache kurz machen“, entgegnete Mr. Treverton. „Noch niemals hat ein Weib Gelegenheit gehabt, lange an mir die Zunge zu wetzen, und dies soll auch nimmermehr der Fall sein. Ich bin hierhergekommen, um Ihnen dreierlei zu sagen. Erstens hat Ihr Anwalt mir die ganze Geschichte der Entdeckung in dem Myrtenzimmer, und wie sie dieselbe gemacht, erzählt. Zweitens habe ich Ihr Geld bekommen. Drittens gedenke ich es zu behalten. Was meinen Sie dazu?“
„Ich meine, daß Sie sich nicht die Mühe zu nehmen brauchen, länger in diesem Zimmer zu verweilen, wenn Sie weiter nichts wollen als uns sagen, was wir schon wissen“, entgegnete Leonard. „Daß Sie das Geld bekommen haben, ist uns bekannt, und daß Sie es zu behalten gedenken, daran haben wir nie gezweifelt.“
„Dann sind Sie also wohl fest überzeugt davon?“ sagte Mr. Treverton. „Sie hegen wohl keinerlei versteckte Hoffnung, daß künftige Flausen und Verdrehungen des Gesetzes dieses Geld wieder aus meiner Tasche herausangeln und in die Ihrige zurückführen werden? Die Ehrlichkeit verlangt, Ihnen zu sagen, daß auch nicht der Schatten einer Möglichkeit vorhanden ist, es werde jemals so etwas geschehen, oder ich jemals großmütig werden und Sie auf eigenen Antrieb für das Opfer belohnen, welches Sie gebracht haben. Ich bin bei der betreffenden Gerichtsbehörde gewesen, ich habe die ganze Geschichte zu Protokoll nehmen lassen, das Geld ist mir in aller Form ausgezahlt worden, ich habe es bereits sicher bei meinem Bankier untergebracht und für Sie so lange ich danken kann nie ein einziges wohlwollendes Gefühl in meinem Herzen gehegt. So lautet wenigstens das Zeugnis, welches mein Bruder mir ausstellte, und dieser kannte meinen Charakter natürlich besser als irgend jemand anderss. Noch einmal sage ich Ihnen beiden: Sie bekommen von diesem ganzen bedeutenden Vermögen auch keinen roten Heller wiederzusehen.“
„Und ich sage Ihnen nochmals“, entgegnete Leonard, „daß wir durchaus nicht zu hören wünschen, was wir bereits wissen. Es ist eine Beruhigung für mein Gewissen und das meines Weibes, auf ein Vermögen verzichtet zu haben, welches wir nicht das Recht hatten zu besitzen, und ich spreche sowohl meine als Rosamundes Meinung aus, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Versuch, unserer Verzichtleistung auf dieses Geld einen eigennützigen Beweggrund unterzuschieben, eine Beleidiung gegen uns beide ist, deren Sie sich schämen sollten.“
„Ist das wirklich Ihre Meinung?“ sagte Mr. Treverton. „Sie, der Sie das Geld verloren haben, sprechen zu mir, der ich es gewonnen habe, auf diese Weise? Und“, fuhr er sich plötzlich zu Rosamunde wendend fort, „billigen Sie es, daß Ihr Gatte einen reichen Mann, der Sie beide glücklich machen könnte, auf diese Weise behandelt?“
„Ja wohl billige ich es“, antwortete sie. „In meinem ganzen Leben bin ich nie herzlicher mit ihm einverstanden gewesen, als eben jetzt in diesem Augenblick.“
„Oho“, sagte Mr. Treverton, “dann amchen Sie sich aus dem Verluste des Geldes wohl ebensowenig als er?“
„Er hat Ihnen schon erklärt“, sagte Rosamunde, „daß es für mein Gewissen eine ebenso große Beruhigung ist wie für das seine, darauf verzichtet zu haben.“
Mr. Treverton stellte den dicken Stock, den er führte, sorgfältig aufrecht zwischen seine Knie, legte kreuzweise die Hände darauf, stemmte auf diese das Kinn und stierte in dieser Haltung Rosamunde unverwandt und forschend an.
„Ich wollte, ich hätte Shrowl mitgebracht“, sagte er bei sich selbst. „Ich wollte, er sähe dies. Es verblüfft mich und ich glaube, es würde auch ihn verblüfft haben. Diese beiden Leute“, fuhr er fort, indem er wie verlegen von Rosamunde auf Leonard und von Leonard wieder zurück auf Rosamunde blickte, „sind allem äußern Anscheine nach menschliche Wesen. Sie gehen auf den Hinterbeinen, sie sprechen ganz geläufig durch artikulierte Laute ihre Gedanken aus, sie haben die gewöhnliche Anzahl von Gliedmaßen und scheinen mir nach Größe und Gewicht ganz gewöhnliche menschliche Wesen von der gewöhnlichen zivilisierten Sort zu sein. Und dennoch sitzen sie da und nehmen den Verlust eines Vermögens von vierzigtausend Pfund so gleichmütig hin wie Krösus, der König von Lydien, den Verlust eines halben Penny hingenommen haben würde.“
Er erhob sich, setzte seinen Hut auf, nahm den dicken Stock unter den Arm und trat Rosamunde einige Schritt näher.
„Ich gehe jetzt“, sagte er. „Wollen Sie mir die Hand drücken?“
Rosamunde kehrte ihm verächtlich den Rücken.
Mr. Treverton kicherte mit der Miene unendlichen Wohlbehagens in sich hinein.
Mittlerweile hatte Leonard, der in der Nähe des Kamins saß und dem wieder die Zornesröte ins Gesicht stieg, nach der Klingelschnur getastet und eben war es ihm gelungen, dieselbe in die Hand zu bekommen, als Mr. Treverton sich der Tür näherte.
„Klingle nicht, Lenny“, sagte Rosamunde. „Er geht von selbst.“
Mr. Treverton stieg über die Schwelle und warf dann einen Blick zurück in das Zimmer mit einem Ausdruck von Verwunderung und Neugier, als ob er in einen Käfig blickte, welcher zwei Tiere von einer ihm bis jetzt noch gänzlich unbekannt gebliebenen Gattung enthielte.
„Ich habe in meinem Leben allerhand wunderliches Zeug gesehen“, sagte er bei sich selbst. „Ich habe auf unserm erbärmlichen kleinen Planeten und unter den Geschöpfen, die ihn bewohnen, mancherlei Erfahrungen gemacht, aber niemals sind mir derartige menschliche Phänomene vorgekommen wie diese beiden.“
Ohne weiter ein Wort zu sagen, schloß er die Tür und Rosamunde hörte ihn wieder in sich hineinkichern, während er den Korridor entlang ging.
Zehn Minuten später brachte der Kellner einen an Mistreß Frankland adressierten versiegelten Brief. Derselbe war, wie er sagte, in dem Gastzimmer des Hotels von dem „Menschen“ geschrieben worden, der sich fast mit Gewalt in Mr. und Mistreß Franklands Zimmer gedrängt. Nachdem er dem Kellner den Brief zur Bestellung übergeben, war er, lustig seinen dicken Stock schwenkend und vor sich hinlachend, eiligst fortgegangen.
Rosamunde öffnete den Brief.
Die eine Seite desselben enthielt eine auf ihren Namen ausgestellte, durchkreuzte Anweisung auf vierzigtausend Pfund.
Auf der andern Seite standen folgende erläuternde Zeilen:
„Nehmen Sie dies – erstens weil Sie und Ihr Gatte die einzigen Menschen sind, die ich je kennengelernt, von welchen sich nicht erwarten läßt, daß der Reichtum sie zu Schurken machen werde – zweitens weil Sie die Wahrheit gesprochen und dadurch ein Vermögen verloren haben, während Sie es durch Verschweigen der Wahrheit sich hätten sichern können – drittens weil Sie nicht das Kind der Komödiantin sind – viertens weil Sie es nehmen müssen, denn wenn Sie es jetzt nicht nehmen, so vermache ich es Ihnen in meinem Testament. Leben Sie wohl. Kommen Sie nicht etwa, um mich zu besuchen, schreiben Sie mir auch keine Danksagungsbriefe, laden Sie mich nicht ein, zu Ihnen aufs Land zu kommen, loben Sie nicht meine Großmut und vor allen Dingen hüten Sie sich, wieder etwas mit Shrowl zu tun zu haben.
Andrew Treverton.“
Das Erste, was Rosamunde, nachdem sie und ihr Gatte sich ein wenig von ihrem Erstaunen erholt hatten, tat, war, daß sie der Weisung, die ihr verbot, einen Danksagungsbrief an Mr. Treverton zu schreiben, ungehorsam ward. Der Bote, den man mit diesem Briefe nach Bayswater sendete, kam ohne Antwort zurück und meldete bloß, ein unsichtbarer Mann mit einer heisern, rauhen Stimme habe ihm zugerufen, den Brief über die Gartenmauer zu werfen und sich dann schleunigst wieder zu entfernen, wenn er nicht den Schädel eingeschlagen haben wollte.
Mr. Nixon, welchen Leonard sofort von dem Vorgefallenen benachrichtigte, erbot sich freiwillig, noch denselben Abend nach Bayswater zu gehen und einen Versuch zu machen, ob er mit Mr. Treverton im Auftrage des jungen Ehepaares sprechen könnte.
Er fand Timon von London zugänglicher als er gedacht. Der Menschenfeind war wenigstens für diesmal auf guter Laune. Diese außerordentliche Veränderung war durch das Gefühl von Befriedigung hervorgerufen worden, welches er darüber empfand, daß er soeben Shrowl den Abschied gegeben, und zwar aus dem Grunde, weil sein Herr, nachdem er die Torheit begangen, Mistreß Frankland ihre vierzigtausend Pfund zurückzugeben, keine passende Gesellschaft mehr für ihn sei.
„Ich sagte ihm“, sagte Mr. Treverton, bei der Erinnerung an den Abschied zwischen seinem Diener und ihm wieder in sich hineinkichernd, „ich sagte ihm, ich könnte nach dem, was ich getan, unmöglich erwarten, daß ich seinen fortgesetzten Beifall erwürbe und daß es mir deshalb nicht einfallen könne, ihn unter diesen Umständen länger auf seinem Posten zurückzuhalten. Ich bat ihn, meine Handlungsweise so schonend und nachsichtig als möglich zu beurteilen, besonders da die erste Ursache, welche dazu geführt, der Umstand sei, daß er den Plan des Schlosses Porthgenna kopiert, wodurch Mistreß Frankland zu der Entdeckung in dem Myrtenzimmer geführt worden. Ich wünschte ihm Glück, eine Belohnung von fünf Pfund dafür bekommen zu haben, daß er die Ursache zur Rückgabe eines Vermögens von vierzigtausend Pfund geworden, und dekomplimentierte ihn dann mit einer höflichen Demut, die ihn halb wahnsinnig machte, zum Hause hinaus. Wir haben in der Zeit unseres Beisammenseins so manche Lanze miteinander gebrochen; bis auf den heutigen Tag gelang es mir nie, ihn aus dem Sattel zu heben, aber nun habe ich ihn endlich doch noch auf den Sand gesetzt.“
Obschon Mr. Treverton bereit war, von Shrowls Niederlage und Entlassung so lange zu sprechen als der Anwalt ihm zuhören wollte, so ließ er doch in Bezug auf Mistreß Frankland, als Mr. Nixon das Gespräch auf diese bringen wollte, durchaus nichts mit sich anfangen. Er wollte keine Botschaft anhören und ebensowenig irgend ein Versprechen in Bezug auf die Zukunft geben.
Über sich selbst und seine eigenen Projekte war ebenfalls weiter nichts aus ihm herauszubringen, als daß er die Absicht hatte, das Haus in Bayswater zu verkaufen und wieder auf Reisen zu gehen, um die menschliche Natur in verschiedenen Ländern nach einer Methode zu studieren, die er noch nicht versucht – nämlich mit dem Bemühen, nicht bloß das Schlechte, was in dem Menschen ist, sondern auch das Gute ausfindig zu machen. Er sagte, diese Idee wäre in ihm durch den Wunsch erweckt worden, zu ermitteln, ob Mr. und Mistreß Frankland vollkommen ausnahmsweise menschliche Wesen wären oder nicht. Gegenwärtig sei er geneigt zu glauben, daß sei es wären und daß seine Reisen wahrscheinlich zu keinem bemerkenswert genügenden Resultate führen würden.
Mr. Nixon bat ihn dringend, ihm eine freundliche Botschaft an seine Klienten aufzutragen, damit er diese davon zugleich mit der Nachricht von seiner beabsichtigten Abreise in Kenntnis setzen könnte.
Diese Bitte brachte jedoch weiter nichts hervor als ein sardonisches Kichern, auf welches dann eine am Gartentore an den Anwalt gerichtete Abschiedsrede folgte.
„Sagen Sie diesen beiden sonderbaren Menschen“, sagte Timon von London, „daß ich meine Reisen aus Überdruß vielleicht aufgebe, wenn sie es am wenigsten erwarten, und daß ich möglicherweise dann zu ihnen komme und mir sie noch einmal ansehe, um von dem beklagenswerten Schauspiel, welches die Menschheit im Allgemeinen bietet, wenigstens noch ein befriedigendes Gefühl zu haben, ehe ich sterbe.“
Zehntes Kapitel
Die Morgenröte eines neuen Lebens
Vier Tage später standen Rosamunde, Leonard und Onkel Joseph zusammen auf dem Kirchhofe von Porthgenna.
Die Erde, zu welcher wir alle zurückkehren, hatte sich über einer sterblichen Hülle geschlossen. Sara Leesons mühevolle Pilgerschaft hatte endlich ihr stilles Ende erreicht. Das Grab des Bergmanns, von welchem sie zwei Mal heimlich zum Andenken einige Grashalme gepflückt, hatte ihr nun im Tode die Heimat gewährt, welche sie im Leben niemals kennen gelernt. Das Tosen der Meeresbrandung verhallte zu einem leisen Gemurmel, ehe es ihren Ruheplatz erreichte, und der Wind, welcher freudig über das offene Meer hinfegte, zögerte ein wenig, wenn er den alten Bäumen begegnete, welche an den Gräbern Wache hielten, und wehete dann sanft weiter durch die Myrtendecke, welche alle in ihren glänzend grünen Ring eingeschlossen hielt.
Einige Stunden waren vergangen, seitdem die letzten Worte des Gebets nach dem Einsenken des Sarges gesprochen worden. Der frische Rasen lag schon auf den Erschollen und der alte Leichenstein, auf welchem die Grabschrift des Bergmanns stand, war wieder an seinem frühern Platze zu den Häupten des Grabes augerichtet worden.
Rosamunde las ihrem Gatten die Inschrift leise vor.
Onkel Joseph war ein wenig von ihnen hinweggegangen, während Rosamunde auf diese Weise beschäftigt war, und allein an dem Fuße des Grabhügels niedergekniet. Mit liebender Hand streichelte und klopfte er den frisch aufgelegten Rasen – wie er oft Saras Haar in den längstvergangenen Tagen ihrer Jugend gestreichelt – wie er später oft ihre Hand geklopft, als ihr Herz entmutigt und ihr Haar ergraut war.
„Sollen wir den alten verwitterten Buchstaben, wie sie jetzt dastehen, noch einige neue Worte beifügen?“ fragte Rosamunde, als sie die Inschrift zu Ende gelesen hatte. „Es ist noch leerer Raum auf dem Steine übrig. Sollen wir ihn vielleicht mit den Anfangsbuchstaben des Namens meiner Mutter und dem Datum ihres Todestages ausfüllen? Ich fühle etwas in meinem Herzen, was mir zu sagen scheint, daß ich dies tun soll, aber nicht mehr.“
„So möge es auch sein, Rosamunde“, sagte ihr Gatte. „Diese kurze und einfache Inschrift ist die angemessenste und beste.“
Rosamunde blickte, während Leonard diese Antwort gab, nach dem Fußende des Grabes und verließ ihn auf einen Augenblick, um sich dem alten Manne zu nähern.
„Nehmen Sie meine Hand, Onkel Joseph“, sagte sie, indem sie ihn sanft an der Schulter berührte. „Nehmen Sie meine Hand und lassen Sie uns miteinander nach Hause zurückkehren.“
Er erhob sich, während sie noch sprach, und sah sie zweifelhaft an. Die Spieluhr lag in ihrem abgenutzten Lederfutteral auf dem Grabe nahe an der Stelle, wo er gekniet hatte. Rosamunde hob sie vom Grase auf und hing sie ihm um, wie er sie stets zu tragen pflegte, wenn er auf der Reise war. Er seufzte ein wenig, indem er Rosamunden dankte.
„Mozart kann nun nicht mehr singen“, sagte er. „Er hat nun sein Lied der letzten aller meiner teuern Angehörigen vorgesungen.“
„Sagen Sie nicht der letzten“, entgegnete Rosamunde, „sagen Sie nicht der letzten, Onkel Joseph, so lange ich noch lebe. Wird Mozart um meiner Mutter willen nicht auch mir vorsingen?“
Ein Lächeln – das erste, welches sie seit der Zeit ihrer Trauer gesehen – umspielte zitternd seine Lippen.
„Das ist ein Trost“, sagte er; „ja fürwahr, es ist ein Trost für Onkel Joseph, das zu hören.“
„Fassen Sie meine Hand“, wiederholte sie in sanftem Tone; „kommen Sie nun mit uns nach Hause.“
Er blickte sehnsüchtig auf das Grab herab.
„Ja, ich will Ihnen folgen, wenn Sie mir immer nach dem Tore vorangehen wollen.“
Rosamunde faßte den Arm ihres Gatten und führte ihn nach dem Wege, der aus dem Kirchhof hinausführte.
Als beide nicht mehr sichtbar waren, kniete Onkel Joseph wiederum am Fuße des Grabes nieder und drückte seine Lippen auf den frischen Rasen.
„Leb wohl, mein Kind“, flüsterte er und legte seine Wange einen Augenblick auf das Gras, ehe er sich wieder erhob.
Am Tore stand Rosamunde und wartete auf ihn. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Arm ihres Gatten; ihre linke Hand streckte sie nach Onkel Joseph aus.
„Wie kühl die Luft ist“, sagte Leonard. „Wie angenehm klingt das Rauschen des Meeres! In der Tat, es ist heut ein schöner Sommertag.“
„Der herrlichste und freundlichste des ganzen Jahres“, sagte Rosamunde. „Die einzigen Wolken am Himmel sind glänzend und weiß; die einzigen Schatten auf dem Moor liegen leicht wie Eiderdaunen auf dem Heidekraut. Die Sonne strahlt in ihrer goldenen Pracht und das Meer wirft ihr Bild aus seiner blauen Tiefe zurück. O, Lenny, wie ein ganz anderer Tag ist es als jener schwüle, drückende und nebelige, wo wir den Brief in dem Myrtenzimmer fanden! Selbst der schwarze Turm unseres alten Hauses da drüben gewinnt neue Schönheit in der hellen Luft und scheint sich mit seiner schönsten Erscheinung angetan zu haben, um uns bei dem Beginn eines neuen Lebens willkommen zu heißen. Ich will es für dich und Onkel Joseph, wenn ich kann, zu einem glücklichen Leben machen – so glücklich wie der Sonnenschein, in welchem wir jetzt alle drei wandeln. Du sollst, so viel an mir liegt, Geliebter, niemals bereuen, eine Frau geheiratet zu haben, welche keinen persönlichen Anspruch auf die Ehre eines alten Familiennamens hat.“
„Ich kann meine Vermählung niemals bereuen, Geliebte“, sagte Leonard, „denn ich kann niemals die Lehre vergessen, welche mein Weib mir gegeben.“
„Was für eine Lehre, Lenny?“
„Eine sehr alte Lehre, Geliebte, die wir aber nie oft genug beherzigen können. Die höchsten Ehren, Rosamunde, sind die, welche kein Zufall uns rauben kann – die Ehren, welche Liebe und Wahrheit uns verleihen!“