Ein tiefes Geheimnis
Erstes Kapitel
Man nähert sich dem Abgrunde
Es war am 9. Mai gewesen, als Mr. und Mistreß Frankland auf ihrer Reise von London nach Porthgenna an der Station West Winston Halt gemacht hatten. Am 11. Juni verließen sie diesen Ort wieder, um ihre Reise nach Cornwall weiter fortzusetzen. Am 12. langten sie, nachdem sie unterwegs ein Nachtquartier gemacht, gegen Abend in Porthgenna Tower an.
Es hatte den ganzen Morgen gestürmt und geregnet. Im Laufe des Nachmittags war es ruhiger geworden, und als die Reisenden endlich das Schloß erreichten, hatte der Wind sich vollständig gelegt. Ein dichter, weißer Nebel entzog aber das Meer den Blicken und plötzliche Regenschauer fielen noch von Zeit zu Zeit.
Nicht einmal ein einsamer Müßiggänger aus dem Dorfe trieb sich an der westlichen Terrasse herum, als der Wagen mit dem jungen Ehepaar, dem Kinde und zwei Dienern an dem Hause vorfuhr.
Niemand wartete an der offenen Tür, um die Reisenden zu empfangen, denn alle Hoffnung, daß sie diesen Tag ankommen würden, war aufgegeben worden und das unaufhörliche Donnern der Brandung an der Küste übertäubte das Rollen der Wagenräder auf der nach der Terrasse führenden Straße.
Der Kutscher mußte von seinem Sitze heruntersteigen und die Türglocke ziehen. Es verging über eine Minute, ehe geöffnet ward.
Der Regen plätscherte eintönig und ununterbrochen auf das Dach des Wagens, die rauhe Feuchtigkeit der Atmosphäre drang durch alle Umhüllungen und Fugen, das Dröhnen der Brandung erklang in der dichten Dunkelheit des Nebels drohend nahe, und so warteten die jungen Eheleute auf den Einlaß in ihre eigene Heimat wie zu ungelegener Zeit kommende Fremdlinge.
Als das Tor endlich geöffnet ward, wurden Herr und Herrin, welche die Dienstleute bei jeder andern Gelegenheit mit geeigneten Glückwünschen bewillkommnet haben würden, jetzt dagegen mit den geeigneten Entschuldigungen empfangen. Mr. Munder, Mistreß Pentreath, Betsey und Mr. Franklands Lakai drängten sich alle in die Halle herbei und baten verlegen um Verzeihung, daß sie nicht an der Tür bereit gestanden, als der Wagen vorgefahren.
Das Erscheinen des Kleinen verwandelte die abgedroschenen Entschuldigungen der Haushälterin und der Magd in ebenso abgedroschene Ausdrücke der Bewunderung; die Männer aber blieben ernst und düster und sprachen von dem erbärmlichen Wetter in einem Tone, als ob sie daran schuld wären.
Der Grund, weshalb sie so hartnäckig bei diesem einen unerfreulichen Thema verweilten, trat zu Tage, als Mr. Frankland und seine junge Gattin die westliche Treppe hinauf geführt wurden. Der Sturm am Morgen war unheilvoll für drei der im Dorfe Porthgenna wohnenden Fischer gewesen. Alle drei waren mit ihren Booten verunglückt und ihr Tod hatte das ganze Dorf in Trauer versetzt.
Die Dienstleute des Schlosses hatten, seitdem sie zu einer frühen Stunde des Nachmittags Kunde von diesem Unglücksfall erhalten, nichts getan als davon gesprochen, und Mr. Munder hielt es nun für seine Pflicht, zu erklären, daß die Abwesenheit der Dorfbewohner bei Gelegenheit der Ankunft ihrer Gutsherrschaft ihren Grund einzig und allein in der traurigen Wirkung habe, welche durch den Untergang des Fischerboots auf die kleine Gemeinde hervorgebracht worden sei. Unter weniger beklagenswerten Umständen hätte die westliche Terrasse sicherlich von Menschen gewimmelt und das Erscheinen des Wagens wäre mit lautem Freudenrufe bewillkommnet worden.
„Lenny, ich wünsche fast, daß wir noch ein wenig länger gewartet und uns jetzt noch nicht hierher begeben hätten“, flüsterte Rosamunde, indem sie sich ängstlich an den Arm ihres Gatten klammerte. „Es ist sehr schauerlich und entmutigend, an einem solchen Tage wie dieser in meine erste Heimat zurückkehren zu müssen. Die Geschichte von den armen Fischern ist eine traurige und kein freudiger Willkommen für mich an dem Orte meiner Geburt. Wir wollen gleich morgen früh hinschicken und sehen, was wir für die armen, hilflosen Frauen und Kinder tun können. Ich werde mich, nachdem ich diese Geschichte gehört, nicht eher wieder in meinem Gemüt ruhig fühlen, als bis wir etwas zum Troste dieser armen Leute getan haben.“
„Mit den Reparaturen werden Sie hoffentlich zufrieden sein“, sagte die Haushälterin, indem sie auf die nach der zweiten Etage führende Treppe zeigte.
„Mit den Reparaturen?“ wiederholte Rosamunde zerstreut. „Mit den Reparaturen! Ich höre dieses Wort jetzt nie, ohne an die nördlichen Zimmer und an die Pläne zu denken, die wir entworfen hatten, um meinen armen guten Vater zu bewegen, darin zu wohnen. Mistreß Pentreath, ich habe an Euch und Mr. Munder eine Menge Fragen in Bezug auf die außerordentlichen Dinge zu tun, die sich hier ereignet haben, als jene geheimnisvolle Frau und jener rätselhafte Ausländer hier gewesen sind, um das Haus in Augenschein zu nehmen. Aber erst sagt mir – dies hier ist die westliche Front – wie weit sind wir hier von den nördlichen Zimmern entfernt? Ich meine, wieviel Zeit würden wir brauchen, wenn wir jetzt nach diesem Teile des Hauses gehen wollten?“
„O, nicht fünf Minuten, Madame“ antwortete Mistreß Pentreath.
„Nicht fünf Minuten!“ wiederholte Rosamunde, wieder ihremGatten zuflüsternd. „Hörst du das, Lenny? In fünf Minuten könnten wir in dem Myrtenzimmer sein.“
„Und dennoch“, sagte Mr. Frankland lächelnd, „dennoch sind wir bei der Unwissenheit, in der wir uns gegenwärtig befinden, davon noch ebenso weit entfernt, als wenn wir noch in West Winston wären.“
„Das glaube ich nicht, Lenny. Es ist vielleicht bloß Einbildung von mir, aber jetzt, wo wir an Ort und Stelle sind, ist es mir, als hätten wir das Geheimnis bis in sein letztes Versteck getrieben. Wir sind nun wirklich in dem Hause, welches dieses Geheimnis in sich schließt, und ich lasse mir es nicht ausreden, daß wir auch schon halb auf dem Wege sind, es ausfindig zu machen. Doch wir wollen nicht auf diesem kalten Vorplatz stehen bleiben. Wohin haben wir jetzt zu gehen?“
„Hierhin, Madame“, sagte Mr. Munder, indem er die erste Gelegenheit benutzte, um sich vorzudrängen und bemerkbar zu machen. „Das Besuchzimmer ist geheizt. Wollen Sie mir die Ehre gestatten, Sir, Sie nach dem fraglichen Zimmer zu leiten und zu führen?“ setzte er hinzu, indem er Mr. Frankland dienstfertig die Hand entgegenstreckte.
„Nein, durchaus nicht!“ mischte Rosamunde sich sofort ein. Mit ihrer gewohnten scharfen Beobachtungsgabe hatte sie bemerkt, daß es Mr. Munder an dem Zartgefühl fehlte, welches ihn hätte abhalten sollen, seinen blinden Herrn in ihrer Gegenwart neugierig anzugaffen, und sie ward deshalb sehr zu seinen Ungunsten eingenommen. „Wo auch das fragliche Zimmer liegen mag“, fuhr sie mit satyrischem Nachdruck fort, „so werde ich Mr. Frankland dorthin führen, wenn Ihr mir es erlaubt. Wenn Ihr Euch nützlich machen wollt, so geht lieber voran und öffnet die Tür.“
Äußerlich demütig, in seinem Innern aber entrüstet, ging Mr. Munder nach dem Besuchzimmer voran. Das Feuer brannte hell, das altmodische Zimmergerät nahm sich sehr malerisch und vorteilhaft aus, die Tapeten an den Wänden sahen behaglich und warm und der Teppich, so verschossen er auch war, fühlte sich doch unter den Füßen weich und warm an.
Rosamunde führte ihren Gatten an einen Lehnstuhl am Kamin und begann sich nun zum ersten Male heimisch zu fühlen.
„Hier sieht es wirklich recht behaglich aus“, sagte sie. „Wenn wir diese schauerlichen weißen Nebel nicht mehr sehen, wenn die Lichter angezündet sind und der Tee auf dem Tische steht, werden wir uns über nichts mehr in der Welt zu beklagen haben. Diese warme Atmosphäre ist dir angenehm, Lenny, nicht wahr? Es steht ein Piano hier im Zimmer; da kann ich dir also des Abends in Porthgenna vorspielen, gerade so wie ich in London zu tun pflegte. – Wärterin, setzt Euch nieder und macht es Euch mit dem Kleinen so bequem als Ihr könnt. Ehe wir unsere Hüte absetzen, muß ich mit Mistreß Pentreath fortgehen und nach dem Schlafzimmer sehen. Wie heißt du, mein Mädchen, mit dem gutmütigen, rotbäckigen Gesicht? – Betsey? Wohlan denn, Betsey, gehe jetzt hinunter und hole den Tee und wenn du uns auch etwas kaltes Fleisch mit heraufbringen kannst, so soll es uns um so lieber sein.“
Nachdem Rosamunde in diesen gutgelaunten Ausdrücken ihre Befehle erteilt, ohne darauf zu achten, daß ihr Gatte eine etwas unbehagliche Miene machte, daß sie so vertraulich zu einer Dienerin sprach, verließ sie in Mistreß Pentreaths Begleitung das Zimmer.
Als sie zurückkam, war ihr Gesicht und ihr Wesen verändert. Sie sah und sprach ernst und ruhig:
„Ich hoffe, ich habe alles so angeordnet, wie es am besten ist, Lenny“, sagte sie. „Das luftigste und größte Zimmer ist, wie Mistreß Pentreath mir sagt, das, in welchem meine Mutter gestorben ist. Ich glaubte aber, wir täten wohl, von deisem keinen Gebrauch zu machen; es war mir, als äußerte schon sein Anblick eine erkältende und traurig stimmende Wirkung auf mich. Weiterhin auf dem Korridor befindet sich das Zimmer, welches meine Kinderstube war. Als Mistreß Pentreath mir sagte, sie habe gehört, daß ich darin geschlafen, war es mir fast, als besönne ich mich auf den hübschen kleinen Türbogen, der in das zweite Zimmer führte – in die Nachtkinderstube, wie man sie früher nannte. Ich habe befohlen, hier einzuheizen und die Betten zu machen. Es ist auch noch ein Zimmer rechter Hand da, welches mit der Tagkinderstube zusammenhängt. Ich glaube, in diesen drei Zimmern könnten wir uns sehr bequem und behaglich einrichten – wenn du nämlich nichts dagegen zu erinnern hast – obschon sie weder groß, noch so elegant eingerichtet sind wie die Fremdenzimmer. Wenn du es wünschest, kann ich die Sache auch anders arrangieren. Das Haus sieht auf den ersten Blick etwas einsam und öde aus – mein Herz zieht mich zu der alten Kinderstube hin und ich glaube, wir könnten es wenigstens zum Anfange dort versuchen, Lenny?“
Mr. Frankland war ganz der Meinung wie seine junge Gattin und bereit, allen häuslichen Arrangements, die sie angemessen fände, beizutreten.
Während er ihr dies versicherte, ward der Tee gebracht und der Anblick desselben half Rosamunden ihre gewohnte Heiterkeit wiedergewinnen.
Als der Tee getrunken war, beschäftigte sie sich damit, daß sie ihrem Kleinen ein bequemes Unterkommen für die Nacht in dem Zimmer rechter Hand bereitete, welches mit der Tagkinderstube zusammenhing.
Nachdem sie diese mütterliche Pflicht erfüllt, kam sie zu ihrem Gatten in das Besuchszimmer zurück und die Unterhaltung zwischen ihnen drehte sich, wie jetzt, wenn sie allein waren, fast stets der Fall war – um die beiden rätselhaften Themata – Mistreß Jazeph und das Myrtenzimmer.
„Ich wollte, es wäre nicht schon Nacht“, sagte Rosamunde. „Ich möchte mit meinen Nachforschungen lieber sofort beginnen. Vergiß nicht, Lenny, daß du mich auf denselben begleiten mußt. Ich leihe dir meine Augen und du gibst mir deinen Rat. Du darfst nicht die Geduld verlieren und mir niemals sagen, daß du mir von keinem Nutzen sein könntest. Du wirst sowohl meinen Mut aufrecht erhalten, asl mir auch mit deinen Ratschlägen zur Seite stehen. Wie wünschte ich, daß wir unsere Entdeckungsreise noch diesen Augenblick antreten könnten! Jedenfalls aber können wir Erkundigungen einziehen“, fuhr sie fort, indem sie die Klingel zog. „Wir wollen die Haushälterin und den Kastellan heraufkommen lassen und versuchen, ob wir ihnen nicht etwas mehr abfragen können als sie uns in ihrem Briefe mitgeteilt haben.“
Betsey erschien auf den Ruf der Klingel. Rosamunde trug ihr auf, Mr. Munder und Mistreß Pentreath heraufzuschicken. Betsey, welche Mistreß Frankland die Absicht ausdrücken hörte, die Haushälterin und den Kastellan zu befragen, erriet, warum diese beiden Personen jetzt verlangt wurden, und lächelte geheimnisvoll.
„Hast du vielleicht auch etwas von jenen seltsamen fremden Leuten gesehen, die sich so sonderbar hier benommen haben?“ fragte Rosamunde, das Lächeln bemerkend. „Ganz gewiß ist es so. Sage uns, was du sahst. Wir wünschen, alles zu hören, was geschehen ist – alles, bis auf die geringste Kleinigkeit.“
In dieser direkten Weise aufgefordert, bemühte Betsey sich mit vielen Umschweifen zu erzählen, was sie von dem Tun und Treiben der rätselhaften Frau und ihres ausländischen Begleiters selbst mit angesehen und gehört hatte. Als sie fertig war und dann gehen wollte, hielt Rosamunde sie mit der Frage zurück:
„Du sagst, die Frau sei ohnmächtig oben an der Treppe liegend gefunden worden. Weißt du vielleicht, Betsey, weshalb sie ohnmächtig geworden war?“
Die Magd zögerte.
„Na“, sagte Rosamunde, „du weißt etwas davon, ich sehe es dir an. Sag es uns.“
„Ich fürchte, Sie werden mir böse sein, Madame“, sagte Betsey, indem sie ihre Verlegenheit dadurch ausdrückte, daß sie mit ihrem Zeigefinger langsam Linien auf einem neben ihr stehenden Tisch zog.
„Durchaus nicht; ich werde dir bloß bös sein, wenn du nicht sprichst. Also weshalb glaubst du, daß die fremde Frau ohnmächtig geworden war?“
Betsey zog mit ihrem verlegenen Zeigefinger eine sehr lange Linie, wischte sie dann mit ihrer Schürze wieder weg und antwortete:
„Ich glaube, sie ward ohnmächtig, weil sie das Gespenst gesehen hatte.“
„Das Gespenst! Was! Ist ein Gespenst hier im Hause? Lenny, da werden wir eine romantische Geschichte zu hören bekommen, die wir nicht erwartet hätten! Was für ein Gespenst ist es denn? Erzähle uns die ganze Geschichte!“
Die ganze Geschichte, wie Betsey dieselbe erzählte, war nicht geeignet, ihren Zuhörern außerordentliche Aufschlüsse zu gewähren, oder sie lange in Ungewißheit zu erhalten. Das Gespenst war eine Dame, die vor langer Zeit die Gattin eines der Besitzer von Porthgenna Tower gewesen und sich eines Betrugs gegen ihren Gatten schuldig gemacht hatte. Deshalb war sie verdammt worden, in den nördlichen Zimmern umherzugehen, so lange die Mauern derselben zusammenhielten. Sie hatte langes, gekräuseltes, hellbraunes Haar, sehr weiße Zähne, und ein Grübchen in jeder Wange und war mit einem Worte ganz „fürchterlich schön“ anzusehen. Ihre Annäherung ward jedem Sterblichen, der so unglücklich war, ihr in den Weg zu kommen, durch das Wehen eines kalten Windes verkündet und niemand, der jemals diesen Wind gefühlt, hatte Aussicht, wieder warm zu werden.
Dies war alles, was Betsey von dem Gespenst wußte, und es war nach ihrer Meinung genug, um schon bei dem Gedanken daran das Blut eines jeden Menschen in den Adern erstarren zu machen.
Rosamunde lächelte, dann machte sie wieder ein ernstes Gesicht.
„Ich wollte, du hättest uns noch etwas mehr erzählen können“, sagte sie. „Da du dies aber nicht kannst, so müssen wir es zunächst mit Mistreß Pentreath und Mr. Munder versuchen. Schicke die beiden daher herauf, Betsey, sobald du hinunterkommst.“
Das Verhör der Haushälterin und des Kastellans führte durchaus zu keinem Resultat. Es war aus ihnen weiter nichts herauszubekommen, als was sie schon in ihrem Briefe an Mistreß Frankland mitgeteilt hatten.
Mr. Munders vorherrschende Idee war, daß der Ausländer das Schloß Porthgenna mit verbrecherischen Absichten auf das silberne Tafelgeschirr betreten habe.
Mistreß Pentreath stimmte dieser Meinung bei und erwähnte in Verbindung damit ihre eigene persönliche Vermutung, daß die Frau in der dunkeln saubern Kleidung eine kurz vorher aus einem Irrenhause entsprungene Unglückliche sei.
Was einen guten Rat oder den Vorschlag eines Weges zur Lösung des Geheimnisses betraf, so schien weder die Haushälterin noch der Kastellan zu glauben, daß die Leistung eines Beistandes dieser Art überhaupt in ihr Departement gehöre. Sie hatten ihre eigene praktische Ansicht von der Handlungsweise der beiden Fremden, und keine menschliche Macht konnte sie vermögen, einen Zoll darüber hinauszublicken.
„O, die Dummheit, die unüberwindliche, anmaßende Dummheit dieser beiden Menschen“, rief Rosamunde, als sie mit ihrem Gatten wieder allein war. „Von diesen ist keine Hilfe zu erwarten. Wir haben nun auf nichts zu hoffen als auf die Untersuchung des Hauses morgen, und diese Hoffnung kann uns ebenso täuschen wie alle übrigen. Wie muß es mit Doktor Chennery stehen? Warum hörten wir nicht von ihm, ehe wir gestern West Winston verließen?“
„Geduld, Rosamunde, Geduld! Wir werden sehen, was die Post morgen bringt.“
„Ach, spricht nicht von Geduld! Mein Vorrat an dieser Tugend war niemals ein sehr bedeutender und ist seit wenigstens zehn Tagen schon völlig erschöpft. O, wie viele Wochen habe ich mir vergebens diese eine Frage vorgelegt: Warum warnte Mistreß Jazeph mich, in das Myrtenzimmer zu gehen? Fürchtet sie, daß ich ein Verbrechen entdecken oder daß ich durch den Fußboden brechen werde? Was wollte sie in dem Zimmer tun, als sie hineinzugelangen versuchte? Warum ins Himmels Namen weiß sie etwas von diesem Hause, was ich niemals wußte und was mein Vater ebenso wenig wußte als jemand anders?“
„Rosamunde“, rief Mr. Frankland, indem er plötzlich die Farbe wechselte und in seinem Stuhle zusammenfuhr. „Ich glaube, ich kann erraten, wer Mistreß Jazeph ist.“
„Mein Gott, Lenny, was meinst du?“
„Etwas in diesen deinen letzten Worten brachte mich auf den Gedanken in dem Augenblick, wo du sprachst. Weißt du noch, als wir im Seebad waren und miteinander darüber sprachen, ob es uns wohl möglich sein würde, deinen Vater zu bewegen, hier bei uns zu wohnen, weißt du noch, Rosamunde, daß du mir damals von gewissen unangenehmen Erinnerungen erzähltest, welche dieses Haus für ihn hätte und daß du unter diesen auch das geheimnisvolle Verschwinden einer Dienerin am Morgen des Todes deiner Mutter erwähntest?“
Rosamunde ward bleich bei dieser Frage.
„Wie kommt es, daß wir nicht schon früher daran gedacht haben?“ sagte sie.
„Du erzähltest mir“, fuhr Mr. Frankland fort, „diese Dienerin habe einen seltsamen Brief zurückgelassen, in welchem sie gestanden, daß deine Mutter ihr zur Pflicht gemacht, deinem Vater ein Geheimnis mitzuteilen – ein Geheimnis, welches sie sich scheute zu offenbaren und wegen dessen sie ausgefragt zu werden fürchtete. Habe ich Recht oder nicht, wenn ich diese zwei Gründe als diejenigen nenne, die sie für ihr Verschwinden angab?“
„Du hast vollkommen recht.“
„Und dein Vater hörte niemals wieder von ihr?“
„Nein, niemals.“
„Es ist ein kühner Schluß, den ich ziehe, Rosamunde, aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß an dem Tage, wo Mistreß Jazeph in West Winston in dein Zimmer kam, diese Frau keine andere war als jene Dienerin, und daß sie das auch wußte.“
„Und das Geheimnis, Lenny – das Geheimnis, welches sie sich scheute meinem Vater mitzuteilen?“
„Muß in irgendeiner Weise mit dem Myrtenzimmer zusammenhängen.“
Rosamunde gab keine Antwort. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und begann in großer Aufregung im Zimmer auf- und abzugehen. Als Leonard das Rascheln ihres Kleides hörte, rief er sie zu sich, ergriff sie bei der Hand, legte einen Finger an ihren Puls und dann einen Augenblick lang an ihre Wangen.
„Ich wollte, ich hätte bis morgen gewartet, ehe ich die meine Gedanken über Mistreß Jazeph mitgeteilt“, sagte er. „Ich habe dich ohne allen Zweck aufgeregt und dir die Aussicht auf eine gute Nachtruhe verdorben.“
„Nein, nein, durchaus nicht. O, Lenny, wie erhöht diese deine Vermutung das Interesse, das furchtbare, atemlose Interesse, welches wir daran haben, die Spur dieser Frau zu verfolgen und das Myrtenzimmer ausfindig zu machen. Denkst du –“
„Für heute abend bin ich mit dem Denken fertig, liebes Kind, und du mußt auch damit fertig sein. Wir haben über Mistreß Jazeph schon mehr als genug gesprochen. Gib ein anderes Thema an, und ich will mit dir sprechen, wovon du wünschest.“
„Es ist nicht so leicht, ein anderes Thema anzugeben“, sagte Rosamunde schmollend und indem sie sich von ihrem Gatten entfernte, um wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Dann laß uns den Ort wechseln und auf diese Weise uns die Aufgabe erleichtern. Ich glaube, du kennst mich als den hartnäckigsten Menschen von der Welt, aber es liegt Vernunft in meiner Hartnäckigkeit, und du wirst das zugeben, wenn du morgen, durch eine gute Nachruhe erfrischt, erwachst. Komm, wir wollen unserer Unruhe Ferien geben. Führe mich in eines der andern Zimmer und laß mich versuchen, ob ich durch Berührung der Möbel erraten kann, was es für eins ist.“
Die Hindeutung auf Leonards Blindheit, welche seine letzten Worte enthielten, führte Rosamunden sofort an seine Seite.
„Du weißt doch stets, was das beste ist“, sagte sie, indem sie ihren Arm um seinen Hals schlang und ihn küßte. „Ich sah vor einer Minute unfreundlich aus, Geliebter, aber die Woken sind nun alle wieder entschwunden. Wir wollen den Schauplatz wechseln und, wie du vorschlägst, ein anderes Zimmer explorieren.“
Sie schwieg. Ihre Augen funkelten plötzlich, ihre Wangen erröteten dunkler und sie lächelte bei sich selbst, als ob plötzlich eine neue Idee in ihr erwacht wäre.
„Lenny, ich will dich wohin führen, wo du wirklich ein ganz besonders merkwürdiges Möbel berühren sollst“, hob sie wieder an, indem sie ihn, während sie sprach, nach der Tür führte. „Wir wollen sehen, ob du mir sagen kannst, was es ist. Du darfst aber nicht ungeduldig sein, sondern mußt mir versprechen, nichts eher anzurühren, als bis du fühlst, daß ich deine Hand führe.“
Sie zog ihn hinter sich her den Korridor entlang, öffnete die Tür des Zimmers, in welchem der Kleine zu Bett gebracht worden, gab der Wärterin einen Wink, sich still zu verhalten, führte Leonard bis an die Wiege und dann sanft seine Hand so, daß die Spitzen seiner Finger die Wange des Kindes berührten.
„Nun!“ rief sie, während ihr Gesicht von Glück strahlte, als sie die plötzliche Glut von Überraschung und Freude sah, welche den sonst so ruhigen, gedämpften Ausdruck der Züge ihres Gatten veränderte. „Was sagst du zu diesem Möbel? Ist es ein Stuhl oder ein Tisch? Oder ist es der kostbarste Gegenstand im ganzen Hause, in ganz Cornwall, in ganz England, in der ganzen Welt? Küsse ihn und siehe, was es ist – die von einem Bildhauer gemeißelte Büste eines Kindes, o, ein lebendiger Cherub, dessen Mutter dein Weib ist.“
Sie drehte sich lachend herum und sagte zu der Wärterin:
„Hannah, Ihr sehet so ernsthaft aus, daß ich überzeugt bin, Ihr müsst hungrig sein. Habt Ihr noch nicht Euer Abendessen bekommen?“
Die Wärterin lächelte und antwortete, sie habe besprochen, hinunter zum Essen zu gehen, sobald eine der Dienerinnen heraufkäme, um sie bei dem Kleinen abzulösen.
„Nun, so geht“, sagte Rosamunde. „Ich will hier bleiben und den Kleinen hüten. Geht hinunter, eßt Euer Abendbrot und kommt in einer halben Stunde wieder.“
Als die Wärterin das Zimmer verlassen hatte, stellte Rosamunde für Leonard einen Stuhl neben die Wiege und setzte sich auf einen niedrigen Schemel zu seinen Füßen.
Ihre veränderliche Laune schien abermals zu wechseln, als sie dies tat. Ihr Gesicht ward nachdenklich, ihre Augen wurden feucht, indem sie sich bald auf ihren Gatten, bald auf das Bett hefteten, in welchem der Knabe neben ihm schlief. Nachdem sie einige Minuten geschwiegen, ergriff sie eine seiner Hände, legte sie auf sein Knie und ihre Wange sanft darauf.
„Lenny“, sagte sie fast traurig, „ich möchte wissen, ob wir eins wie das andere fähig sind, in dieser Welt vollkommenes Glück zu empfinden.“
„Was veranlaßt dich zu dieser Frage, liebes Kind?“
„Mir ist es, als könnte ich mich vollkommen glücklich fühlen und dennoch –“
„Und dennoch –?“
„Und dennoch scheint es, als ob bei allen Gütern, mit welchen ich gesegnet bin, doch dieses eine mir niemals gewährt werden sollte. Ich würde mich jetzt vollkommen glücklich fühlen, wenn nicht ein einziger kleiner Umstand wäre. Du kannst wohl nicht erraten, was es für einer ist?“
„Es wäre mir lieber, wenn du es mir sagtest, Rosamunde.“
„Seitdem unser Kind geboren ist, Geliebter, empfinde ich einen kleinen Schmerz im Herzen, besonders wenn wir alle Drei beisammen sind, so wie jetzt – einen kleinen Kummer deinetwegen, dessen ich mich nie entschlagen kann.“
„Meinetwegen? Richte deinen Kopf empor, Rosamunde, und rücke näher an mich heran. Ich fühlte etwas auf meiner Hand, was mir verrät, daß du weinst.“
Sie erhob sich sofort und legte ihr Gesicht dicht an das seinige.
„Mein Geliebter“, sagte sie, indem sie ihn mit ihren Armen fest umschlang. „Geliebter meines Herzens, du hast unser Kind nie gesehen!“
„Doch, Rosamunde – ich sehe es ja mit deinen Augen.“
„O, Lenny! Ich sage dir alles, was ich kann – ich tue mein Möglichstes, um die grausame Finsternis zu erhellen, welche das liebliche kleine Antlitz, das so nahe neben dir liegt, vor dir verbirgt. Aber kann ich dir wohl sagen, wie der Knabe aussieht, wenn er anfängt, auf etwas zu achten? Gott ist sehr barmherzig gegen uns gewesen. Aber o, wie weit schwerer lastet das Gefühl deines Gebrechens auf mir jetzt, wo ich mehr bin als dein Weib, wo ich die Mutter deines Kindes bin!“
„Und dennoch sollte dieses Gebrechen leicht auf deinem Gemüt lasten, Rosamunde, denn du hast es mir selbst leicht gemacht.“
„Habe ich das? Habe ich das wirklich und wahrhaftig? Es ist etwas Erhabenes, dafür zu leben, Lenny, wenn ich dafür leben kann. Es ist ein Trost, dich sagen zu hören, wie du soeben sagtest, daß du mit meinen Augen siehst. Sie werden dir stets dienen – o stets! Stets! – so treulich, als ob es deine eigenen wären. Die geringste Kleinigkeit von einem sichtbaren Dinge, welches ich mit Interesse betrachte, sollst auch du sehen. Mit einem andern Manne zum Gatten hätte ich vielleicht meine kleinen, harmlosen Geheimnisse gehabt, mit dir aber auch nur einen einzigen geheimen Gedanken zu haben wäre mir, als zöge ich den niedrigsten und grausamsten Vorteil von deiner Blindheit. Ich liebe dich so innig, Lenny! Ich liebe dich jetzt weit mehr, als da wir vermählt wurden – ich dachte nie, daß dies der Fall sein könnte, und doch ist es so. Du erscheinst mir in jeder Beziehung viel schöner, viel klüger, viel kostbarer. Aber das sage ich dir ja fortwährend, nicht wahr? Wirst du müde, mich zu hören? Nein? Weißt du das gewiß? Ganz, ganz gewiß?“
Sie schwieg und sah ihn mit einem Lächeln auf ihrer Lippe, und während noch die Tränen in ihren Augen schlummerten, mit innigem Blick an.
Gerade in diesem Augenblick rührte sich der Kleine ein wenig in seiner Wiege und lenkte ihre Aufmerksamkeit nach einer andern Richtung. Sie deckte ihn warm zu, betrachtete ihn eine Weile schweigend und setzte sich dann wieder auf den Schemel zu Leonards Füßen.
„Der Kleine hat sein Gesicht jetzt ganz nach dir herumgedreht“, sagte sie. „Soll ich dir genau sagen, wie er aussieht und wie sein Bett aussieht und wie das Zimmer möbliert ist?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann sie das Aussehen und die Lage des Kindes mit der wunderbaren Genauigkeit der Beobachtung eines Weibes zu beschreiben. Während sie dies tat, erholte sich ihr elastischer Sinn wieder und der von Natur heitere, fröhliche Ausdruck erschien wieder auf ihrem Gesicht.
Als die Wärterin wieder auf ihren Posten zurückkam, plauderte Rosamunde mit all ihrer gewohnten Lebhaftigkeit und ergötzte ihren Gatten mit all ihrem gewohnten Erfolg.
Als sie in das Besuchszimmer zurückkehrte, öffnete sie das Piano und setzte sich, um zu spielen.
„Ich muß dir dein gewohntes Abendkonzert geben, Lenny“, sagte sie; „oder ich spreche wieder über das verbotene Thema – das Myrtenzimmer.“
Sie spielte eine von Mr. Franklands Lieblingspiècen mit einer Einheit des Gefühls und der Phantasie, welche den Zauber ihres eigenen Gemüts mit dem Zauber der Melodien zu verschmelzen schien, die unter ihrer Berührung zum Leben erwachten.
Nachdem sie alles gespielt, dessen sie sich am leichtesten erinnerte, schloß sie mit dem „letzten Walzer“ von Weber. Es war Leonards Lieblingsstück und ward deshalb immer zum würdigen Schluß der musikalischen Abendunterhaltung aufgespart.
Sie verweilte bei den letzten klagenden Tönen des Walzers länger als gewöhnlich, erhob sich dann plötzlich vom Piano und eilte über das Zimmer hinüber nach dem Kamin.
„Es muß seit den letztvergangenen Minuten viel kälter geworden sein“, sagte sie, indem sie auf den Herdteppich niederkniete und ihr Gesicht und ihre Hände über das Feuer hielt.
„Wirklich?“ entgegnete Leonard. „Ich fühle keine Veränderung.“
„Vielleicht habe ich mich erkältet“, sagte Rosamunde. „Oder vielleicht“, setzte sie etwas gezwungen lachend hinzu, „Vielleicht hat der Wind mich angeweht, welcher der gespenstischen Dame der nördlichen Zimmer vorangeht. Ich fühlte ganz gewiß etwas wie plötzlichen Frost, Lenny, während ich die letzten Takte des Weber’schen Walzers spielte.“
„Ach, Unsinn, Rosamunde! Du bist zu müde und zu aufgeregt. Sage der Zofe, sie solle dir heißen Wein mit Wasser bereiten und verliere keine Zeit, dich zu Bett zu begeben.“
Rosamunde schmiegte sich dichter an das Feuer.
„Es ist gut, daß ich nicht abergläubisch bin“, sagte sie, „sonst könnte ich mir einbilden, ich wäre bestimmt, das Gespenst zu sehen.“