Armadale



Zweites Kapitel.

»London, den 19. November. Ich bin wieder allein in der großen Stadt, zum ersten Male allein seit unserer Verheirathung. Vor fast acht Tagen trat ich meine Heimreise an, Midwinter in Turin zurücklassend.

Seit Anfang dieses Monats sind die Tage so reich an Ereignissen und ich bin den größeren Theil der Zeit körperlich und geistig so abgehetzt gewesen, daß mein Tagebuch jämmerlich vernachlässigt worden ist. Wenige Notizen in solcher Eile und Verwirrung geschrieben, das; ich sie kaum selbst entziffern kann, sind Alles, was mich Schwarz auf Weiß an das erinnert, was seit Armadale’s Abreise von Neapel geschehen ist. Ich will versuchen, ob ich ohne weiteren Zeitverlust damit zu Stande kommen kann, versuchen, ob ich mir die Begebnisse in der Folge, wie sich vom Anfang dieses Monats an eins nach dem andern zugetragen hat, ins Gedächtniß zurückzurufen vermag.

Am dritten November —— wir waren damals noch in Neapel —— empfing Midwinter einen flüchtigen Brief von Armadale aus Messina. Das Wetter schrieb er, wäre prächtig gewesen und die Yacht hätte eine der schnellsten Fahrten gemacht, die man sich denken könne. Die Mannschaft wäre eine etwas rohe Bande, allein Kapitän Manuel und sein englischer Bootsmann —— der letztere der Schilderung nach der beste aller guten Kumpane —— hielte sie bewundernswerth in Zucht. Nach solchem glücklichen Anfang hatte Armadale als selbstverständlich eine Verlängerung der Fahrt angeordnet und auf des Kapitäns Rath sich entschlossen, einige Häfen des Adriatischen Meeres zu besuchen, die ihm Manuel als höchst charakteristisch und sehenswerth beschrieben hatte.

Eine Nachschrift folgte, die erklärte, daß Armadale sehr eilig geschrieben, um den nach Neapel gehenden Dampfer nicht zu versäumen, und den Brief rasch wieder geöffnet habe, um noch etwas zu bemerken, was er beinahe vergessen. Am Tage vor seiner Abfahrt sei er bei seinem Banquier gewesen, um sich noch etliche Hundert in Gold zu holen, und glaube daselbst seine Cigarrentasche liegen gelassen zu haben. Dieselbe sei ihm ein sehr werthes Andenken und Midwinter möge doch so gut sein, sie für ihn wiederzuerlangen und ihm bis zu ihrem Wiedersehen aufzuheben.

Als mich Midwinter allein gelassen hatte, dachte ich über den Inhalt des Briefes ernstlich nach. Mein Gedanke war und ist es noch, daß Manuel nicht umsonst Armadale überredet hat, in einem so wenig von Schiffen belebten Meere wie das Adriatische Meer zu kreuzen. Auch die Art und Weise, wie der geringfügige Verlust der Cigarrentasche erwähnt war, fiel mir als bedeutsam auf. Ich schloß, daß Armadale’s Creditbrief nicht durch seine eigene Vorsicht oder Geschäftskenntniß in die etlichen Hundert in Gold verwandelt worden war. Auch hierbei war Manuel’s Einfluß jedenfalls und nicht ohne Grund thätig gewesen. Die ganze schlaflose Nacht hindurch drängten sich mir in kurzen Pausen diese Erwägungen wieder und wieder auf und immer wiesen sie auf einen und denselben Weg, auf den Weg heimwärts nach England.

Wie dahin gelangen und insbesondere wie dahin ohne Midwinter’s Begleitung gelangen, das war mehr, als mein Verstand diese Nacht ausklügeln konnte. Ich versuchte und versuchte, der Schwierigkeit zu begegnen, und schlief, ohne daß mir es gelang, gegen Morgen erschöpft ein.

Ein paar Stunden später, sobald ich angekleidet war, kam Midwinter herein mit Briefen seiner Zeitungsverleger in London, die er diesen Morgen erhalten hatte. Der Redacteur hatte den Herren einen so günstigen Bericht über seinen Neapler Correspondenten abgestattet, daß sie diesen zu dem einträglicheren und bedeutenderen Posten in Turin befördern wollten. Seine neuen Inftructionen waren in dem Briefe enthalten und er sollte keine Zeit verlieren, Neapel mit seinem neuen Aufenthaltsorte zu vertauschen.

Ehe er mich noch darum fragen konnte, befreite ich ihn von aller Angst hinsichtlich meiner Zustimmung zu dem Tausche Turin besaß in meinen Augen die große Anziehung, daß es auf dem Wege nach England lag. Ich versicherte ihm sofort, daß ich, sobald er es wünsche, zur Reise bereit sei.

Er dankte mir für meine Bereitwilligkeit, mich seinen Plänen zu fügen, mit fast der alten Freundlichkeit und Herzlichkeit, wie ich sie die letzte Zeit von ihm nicht erfahren hatte. Die tags vorher von Armadales eingelaufenen guten Nachrichten schienen ihn etwas aus der dumpfen Verzweiflung aufgerüttelt zu haben, in welche er seit der Abfahrt der Yacht versunken war. Und jetzt hatte die Aussicht einer Beförderung in seinem Berufe und mehr noch, die Aussicht, den verhängnißvollen Ort verlassen zu dürfen, wo sein drittes Traumgesicht in Erfüllung gegangen war, seinem eigenen Geständnisse nach ihn noch mehr erheitert und erleichtert. Ehe er wegging, um die nöthigen Vorbereitungen zu unserer Abreise zu treffen, fragte er, ob ich vielleicht Nachrichten von meiner Familie in England erwarte und ob er Anweisung ertheilen solle, daß meine Briefe mir mit den seinigen poste restante nach Turin nachgesandt würden. Dankend nahm ich das Anerbieten an. Augenblicklich stieg mir bei seinem Antrag der Gedanke auf, daß meine fingierten Familienverhältnisse von neuem bestens verwerthet werden könnten als Grund einer unerwarteten Heimberufung nach England.

Den neunten des Monats waren wir in Turin installiert. Am dreizehnten sagte mir Midwinter, der sehr beschäftigt war, es würde ihm ein großer Zeitgewinn sein, wenn ich so gut sein wollte, auf der Post für ihn nach Briefen zu fragen, die uns etwa von Neapel nachgesandt wären. Auf die mir jetzt gebotene Gelegenheit hatte ich gewartet und war rasch entschlossen, sie ohne Säumen zu ergreifen. Weder für ihn noch für mich waren poste-restante-Briefe da; ich sagte ihm indeß bei meiner Heimkehr, daß ich einen mit sehr beunruhigenden Nachrichten von Hause erhalten habe. Meine Mutter wäre gefährlich erkrankt und man ersuche mich, unverzüglich nach England zu kommen, wenn ich sie noch sehen wolle.

Jetzt, wo ich fern von ihm bin, scheint es mir ganz unerklärlich, es ist aber nichtsdestoweniger wahr, daß ich selbst jetzt noch nicht ihm direct und absichtlich ins Gesicht lügen konnte, ohne ein Gefühl von Angst und Scham zu empfinden, was die Meisten und ich selbst auch mit einem Charakter wie der meinige für ganz unvereinbar halten dürften. Unvereinbar oder nicht, ich empfand es. Und was noch Wunderbarer, vielleicht richtiger ausgedrückt, verrückter ist, ich bin fest überzeugt, hätte er auf seinem ersten Entschlusse bestanden, mich nicht allein nach England reisen zu lassen, sondern mich selbst nach England zu begleiten, zum zweiten Male hätte ich der Versuchung den Rücken gekehrt und mich noch einmal in den alten Traum eines glücklichen und harmlosen Lebens an der Seite und in der Liebe meines Mannes einlullen lassen.

Täusche ich mich selbst hierin? Ich glaube annehmen zu müssen, daß ich’s thue; es kommt ja nichts darauf an. Was hätte geschehen können, ist gleichgültig. Was geschehen ist, das allein ist jetzt von Bedeutung.

Midwinter ließ sich endlich überzeugen, daß ich alt genug wäre, auf einer Reise nach England allein fortkommen zu können, und daß er es seinem Redacteur, der ihm seine Interessen anvertraut habe, schuldig sei, Turin nicht zu verlassen, wo er sich eben erst etabliert. Der Abschied von mir ging ihm nicht so nahe wie der Abschied von seinem Freunde. Endlich habe ich nun meine Schwäche für ihn vollkommen überwunden. Kein Mann, der mich wahrhaft liebte, würde die Pflichten gegen ein paar Zeitungseigenthümer den Pflichten gegen seine Frau vorangestellt haben. Ich hasse ihn, daß er sich von mir überzeugen ließ! Ich glaube, er war froh, mich los zu werden, ich glaube, er hat in Turin ein Weib kennen gelernt, das er liebt. Nun, mag er seiner Phantasie folgen, wenn es ihm Vergnügen macht! Ehe noch viele Tage vergehen, werde ich die Wittwe Mr. Armadale’s auf Thorpe-Ambrose sein, und was frage ich dann nach seinen Zu- und Abneigungen?

Meine Reisebegebnisse sind nicht bemerkenswerth und meine Ankunft in London steht schon auf der ersten Zeile einer neuen Seite berichtet.

Heute ist das Einzige von einiger Wichtigkeit, was ich, seitdem ich in diesem billigen und stillen Hotel hier wohne, gethan, daß ich nach dem Wirth geschickt und ihn gebeten habe, mir eine Reihe älterer Nummern der Times zur Durchsicht zu verschaffen. Höflich bot er mir an, ihn morgen früh nach einem Lokale in der City zu begleiten, wo alle Zeitungen, wie ersagte, der Reihe nach aufbewahrt werden. Bis morgen also muß ich meine Ungeduld nach Nachrichten von Armadale, so gut ich kann, bezähmen Gute Nacht denn dem hübschen Spiegelbild meiner selbst, das auf diesen Seiten erscheint!

Den 20. November. Noch kein Wort der bewußten Nachricht, weder unter den Todesanzeigen noch sonst wo in der Zeitung. Ich habe Nummer für Nummer sorgfältig durchgesehen von: Tage an, an welchem Armadale’s Brief aus Messina geschrieben war, bis auf heute, und was sich auch ereignet hat, in England ist noch nichts davon bekannt, dessen bin ich sicher. Geduld! Bis aus weiteres werde ich jeden Morgen beim Frühstück die Zeitung finden und jeder Tag kann mir zeigen, was ich vor allem sehen möchte.

Den 21. November. Wieder keine Nachricht. Um den Schein zu wahren, habe ich heute an Midwinter geschrieben.

Als ich mit dem Briefe fertig war, fühlte ich mich, ich weiß nicht warum, so jämmerlich verstimmt und niedergedrückt und hatte eine solche Sehnsucht nach etwas Gesellschaft, daß ich, weil ich sonst nicht wußte wohin, in Verzweiflung wirklich nach Pimlico ging, auf die Möglichkeit hin, Mutter Oldershaw könnte vielleicht in ihre alte Wohnung zurückgekehrt sein. Seit ich während meines früheren Londoner Aufenthalts den Ort zum letzten Male gesehen hatte, waren dort Veränderungen vorgegangen. Doctor Downward’s Seite des Hauses war noch immer unbewohnt, aber der Laden wurde für den Einzug einer Putz- und Modehändlerin hergerichtet. Als ich hineinging, um Erkundigungen einzuziehen, fand ich nur unbekannte Leute darin. Sie hatten jedoch kein Bedenken, mir auf meine Anfrage Mrs. Oldershaw’s Adresse zu geben, woraus ich schließe, daß die kleine Verlegenheit, welche sie im letzten August zwang, sich zu verbergen, inzwischen, wenigstens soweit sie davon berührt wurde, ihr Ende gefunden. Hinsichtlich des Doctors waren die Leute, oder behaupteten dies mindestens, außer Stande, mir zu sagen, was aus ihm geworden sei.

Ich weiß nicht, war es der Anblick des Platzes in Pimlico oder meine eigene Schlechtigkeit oder was sonst, was mich traurig machte. Sowie ich aber Mrs. Oldershaw’s Adresse bekommen hatte, empfand ich, daß sie die allerletzte Person in der Welt war, nach deren Wiedersehen ich Verlangen trug. Ich nahm ein Cab und fuhr nach dem Hotel zurück. Jede Stunde wächst meine Ungeduld, von Armadale zu erfahren, ich weiß kaum mehr, was ich in meiner Unruhe beginnen soll. Wann wird mir die Zukunft etwas minder dunkel erscheinen? Morgen ist Sonnabend. Wird das Sonnabendblatt den Schleier lüften?

Den 22. November. Das Sonnabendblatt hat den Schleier gelüftet! Worte sind außer Stande, mein Erstaunen, die entsetzliche Aufregung zu schildern, in der ich schreibe. Was nun geschehen ist, hatte ich mir nie gedacht, ich kann es nicht glauben, kann es mir auch nicht Vergegenwärtigen. Winde und Wogen selbst sind meine Mitschuldigen geworden! Die Yacht hat Schiffbruch erlitten und jede Seele an Bord ist umgekommen!

Das ist der Bericht, wie ich ihn aus der Zeitung von heute Morgen herausgeschnitten habe:

»Unglück auf der See. Dem königlichen Yachtgeschwader und den Versicherern ist Kunde geworden, welche zu unserm Bedauern keinem vernünftigen Zweifel mehr Raum gibt, daß am 5. des laufenden Monats die Yacht Dorothea mit Allem, was an Bord war, untergegangen ist. Die Einzelheiten der Katastrophe sind folgende: Am 6. d. stieß mit Tagesanbruch die von Venedig nach Marfala segelnde italienische Brigg Speranza beim Cap Spartivento —— an der südlichsten Spitze Italiens —— auf verschiedene im Meere schwimmende Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der Mannschaft erregten. Der vorhergehende Tag war durch einen jener plötzlichen und heftigen Stürme bezeichnet gewesen, welche diesen südlichen Meeren eigenthümlich sind, einen so heftigen, wie man seit Jahren sich nicht zu erinnern weiß. Da die Speranza selbst während des Sturms sich in höchster Gefahr befunden hatte, so schloß der Kapitän, die schwimmenden Gegenstände möchten auf die Spur eines Wracks leiten, und ein Boot ward hinabgelassen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Ein Hühnerstall, ein paar zertrümmerte Sparren und Bruchstücke einer zerbrochenen Planke waren die ersten Anzeichen von dem furchtbaren Unglück, das sich begeben hatte. Später wurden noch einige von den leichtern Stücken des Kajütenmobiliars zerrissen und beschädigt gefunden, und endlich traf man auf ein Andenken von schmerzlichem Interesse ein Life.Buoy mit einer daran befestigten verkorkten Flasche. Diese letzteren Gegenstände sowie das Kajütenmobiliar wurden an Bord der Speranza gebracht. Auf dem Buoy war der Name des Schiffs folgendermaßen angeschrieben: Dorothea, R. Y.-S. (Königl. Yacht-Geschwader). Als man die Flasche entstöpselte, fand man darin einen Streifen starken Papiers, worauf flüchtig mit Bleistift bemerkt war: »Cap Sparttivento vorüber; zwei Tage von Messina abgegangen. 5. November 4 Uhr nachmittags (die Stunde, wo nach dem Schiffsbruche der Brigg der Sturm am stärksten war). Unsere beiden Boote treiben auf der See. Das Ruder ist fort und wir haben ein Leck am Hinterdeck, so groß, daß wir’s nicht mehr verstopfen können. Gott stehe uns bei —— wir sinken. John Mitchenden, Bootsmann.« Bei seiner Ankunft in Marsala erstattete der Kapitän der Brigg dem englischen Consul seinen Bericht und übergab ihm die gefundenen Gegenstände. In Messina eingezogene Erkundigungen thaten dar, daß das unglückliche Fahrzeug dort von Neapel eingelaufen war. In Neapel stellte es sich heraus, daß die Dorothea durch den Agenten ihres Besitzers an einen englischen Gentleman, Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose in Norfolk, vermiethet worden war. Ob Mr. Armadale einige Freunde mit sich an Bord hatte, ist nicht aufzuklären gewesen. Leider unterliegt es aber keinem Zweifel, daß der unglückliche Gentleman selbst von Neapel aus an Bord der Yacht war und sich auch darauf befand, als sie Messina verließ.«

Das die Geschichte des Schiffbruchs, wie ihn die Zeitungen in den bündigsten und deutlichsten Worten erzählen. Der Kopf schwindelt mir; meine Verwirrung ist so groß, daß ich, wenn ich an einen bestimmten Gegenstand zu denken suche, an fünfzig verschiedene Dinge zugleich denke. Ich muß warten —— auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an —— ich muß warten, bis ich meiner neuen Situation ins Gesicht sehen kann, ohne daß mich der Gedanke daran schwindeln macht.

Den 23. November, acht Uhr früh. Vor einer Stunde bin ich aufgestanden und habe klar vor mir gesehen, was ich unter den gegenwärtigen Umständen zuerst zu thun habe.

Zu erfahren, was jetzt in Thorpe-Ambrose vorgeht, ist von der höchsten Wichtigkeit für mich, aber solange ich darüber im Unklaren bin, mich selbst dahin zu wagen, würde mehr als unbesonnen sein. Nur die Alternative, Jemand an Ort und Stelle um Nachricht zu bitten, bleibt mir übrig, und der Einzige, an den ich schreiben kann, ist —— Bashwood.

Eben bin ich mit dem Briefe fertig geworden. Ich habe oben darüber »Privatim und confidentiell« und unten darunter »Lydia Armadale« gesetzt. Fühlt sich der alte Narr von meinem Betragen gegen ihn tödtlich gekränkt und zeigt in seiner Erbitterung meinen Brief herum, so steht nichts darin, was mich compromittiren kann. Doch ich glaube nicht, daß er es thun wird. Ein Mann in seinem Alter verzeiht einem Weibe Alles, wenn dies ihm nur entgegenkommt. Als eine mir zu erzeigende persönliche Gunst habe ich ihn ersucht, unsere Correspondenz streng geheim zu halten. Ferner habe ich darauf angespielt, daß meine Ehe mit meinem nun verstorbenen Manne keine glückliche gewesen sei und daß ich die Thorheit, einen jungen Mann geheirathet zu haben, schmerzlich empfinde. In der Nachschrift gehe ich noch weiter und riskiere kühn diese Trostesworte: »Wenn Sie mir dazu Gelegenheit geben, mein lieber Mr. Bashwood, so kann ich Ihnen mündlich erklären, was Ihnen in meinem Verhalten gegen Sie falsch und hinterlistig erschienen sein mag.« Stände er noch diesseits der Sechzig, so wäre mir’s zweifelhaft, ob ich damit reüssirte. Allein er steht schon jenseits derselben und ich glaube, er wird mir die Gelegenheit zu mündlicher Erörterung nicht vorenthalten.

Zehn Uhr.Ich habe mir meinen Trauschein angesehen, den ich mir vorsorglich an unserm Hochzeitstage verschaffte, und zu meinem unaussprechlichen Unbehagen ein Hinderniß entdeckt, das sich meinem Auftreten als Armadale’s Wittwe entgegenstellt und das ich jetzt zum ersten Male erblicke.

Die Personalbeschreibung Midwinter’s unter seinem wahren Namen, wie sie der Trauschein gibt, entspricht in jeder wichtigen Beziehung der Person Armadales von Thorpe-Ambrose, hätte ich diesen wirklich geheirathet Name und Vorname: Allan Armadale. Alter: einundzwanzig, anstatt zweiundzwanzig, was leicht als Irrthum gelten kann. Stellung und Beruf: Junggeselle und Gentleman. Wohnung zur Zeit der Verheirathung: Franks Hotel, Darley-Street. Name und Vorname des Vaters: Allan Armadale. Stellung oder Beruf des Vaters: Gentleman. Jeder dieser einzelnen Punkte —— den kleinen Unterschied in ihrem beiderseitigen Alter ausgenommen —— paßt auf einen so gut wie auf den andern. Wie aber, wenn ich meinen Trauschein producire und ein pedantischer Rechtsanwalt darauf besteht, die Kirchenbücher selbst einzusehen? Midwinters Handschrift ist von der seines verstorbenen Freundes so total verschieden! Die Hand, in welcher er sein »Allan Armadale« in das Buch eingeschrieben hat, kann nun und nimmermehr für die Hand passieren, in der Armadale von ThorpesAmbrose seinen Namen zu unterzeichnen pflegt!

Solch einen Abgrund unter meinen Füßen, kann ich da mit Sicherheit in der Sache vorgehen? Wie kann ich davon sprechen? Wo einen erfahrenen Mann finden, an den ich mich um die nöthige Auskunft wenden dürfte? Ich muß mein Tagebuch zumachen und nachdenken.

Sieben Uhr. Meine Prospecte sind inzwischen andere geworden. Ich habe eine Warnung erhalten, die mich nicht umsonst zur Vorsicht für die Zukunft gemahnt haben soll, und bin so glücklich gewesen, mir, wie ich glaube, den erforderlichen Rath und Beistand zu verschaffen.

Umsonst suchte ich mir eine geeignetere Persönlichkeit auszudenken, an die ich mich in meiner großen Verlegenheit wenden könnte; ich mußte mithin aus der Noth eine Tugend machen und ohne Verzug Mrs. Oldershaw mit einem Besuche von ihrer theuern Lydia überraschen. Es ist wohl überflüssig hinzuzusetzen, daß ich beschlossen hatte, sie gründlich zu sondieren und mir kein Geheimniß von Wichtigkeit entschlüpfen zu lassen.

Eine mürrische und feierliche alte Dienerin ließ mich in das Haus ein. Als ich nach ihrer Herrin fragte, wurde mir mit bitterstem Nachdruckes bedeutet, welche Unschicklichkeit ich begangen habe, an einem Sonntage zukommen. Mrs. Oldershaw war zu Hause, aber lediglich, weil sie sich zu unwohl befand, um in die Kirche gehen zu können! Die Dienerin hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß ihre Herrin mich vorlassen werde. Ich hielt es im Gegentheil für sehr wahrscheinlich daß sie mich in ihrem eigenen Interesse mit einer Unterredung beehren würde, wenn ich ihr meine Karte mit ihrem »Miß Gwilt« darauf schickte, und der Erfolg bewies, daß ich Recht hatte. Nach ein paar Minuten Wartens ward ich in den Salon geführt.

Da saß, mit dem Aussehen eines Weibes, das auf der Heerstraße zum Himmel ausruht, unsere Mutter Jesabel, in einem schiefergrauen Kleide mit grauen Halbhandschuhen an den Händen, einer sehr einfachen Haube auf dem Kopfe und einem Predigtbuche auf ihrem Schooße. Himmelnd zeigte sie das Weiße ihrer Augen, als sie meiner ansichtig wurde, und die ersten Worte, welche sie sagte, waren: «.O Lydia, Lydia, warum bist Du nicht in der Kirche?«

Wäre ich weniger in Sorgen gewesen, das plötzliche Auftreten Mutter Oldershaw’s in einer ganz neuen Rolle würde mich ergötzt haben. Ich war jedoch nicht in der Stimmung zu lachen und, nachdem meine Wechsel sämtlich bezahlt, ohne alle Verbindlichkeit, die mir und meinen Worten hätte einen Zwang auflegen können. Dammes Zeug!« sagte ich. »Stecke Dein Sonntagsgesicht in die Tasche! Seit ich zuletzt von Thorpe-Ambrose schrieb, habe ich allerhand Neuigkeiten für Dich.«

Sowie ich Thorpe-Ambrose erwähnte, kam das Weiße der heuchlerischen alten Augen wieder zum Vorschein und sie weigerte sich entschieden, von meinem Thun und Treiben in Norfolk etwas Weiteres zu hören. Ich drang in sie, doch ganz umsonst. Mutter Oldershaw schüttelte blos den Kopf und stöhnte und sagte mir, ihre Beziehungen zu dem Gepränge und den Eitelkeiten der Welt seien für immer abgebrochen. »Ich bin neu geboren worden, Lydia«, sprach die unverschämte alte Hexe, während sie sich die Augen wischte. »Nichts in der Welt kann mich vermögen, von Deiner sündhaften Speculation auf die Thorheit eines reichen jungen Mannes noch etwas zu hören.«

Nach diesen Worten wäre ich auf der Stelle gegangen, hätte mich nicht noch eine Erwägung einen Augenblick länger zurückgehalten.

Man konnte leicht erkennen, daß die Umstände, welcher Art sie auch gewesen, die während meines letzten Besuchs in London Mutter Oldershaw zu einem Verstecke gezwungen hatten, ernst genug gewesen sein mochten, um sie, wenigstens scheinbar, zur Aufgabe ihres früheren Geschäfts zu veranlassen. Ebenso war es klar, daß sie es vortheilhaft gefunden hatte, wie so Viele in England, die weiche Maske heuchlicher Frömmigkeit vorzunehmen. Das ging mich indessen nichts an, und ich würde diese Betrachtungen außerhalb, nicht innerhalb des Hauses angestellt haben, hätte es nicht in meinem Interesse gelegen, die Aufrichtigkeit von Mutter Oldershaw auf die Probe zu stellen, soweit unsere frühere Verbindung davon berührt wurde. Als sie mich zu unserm unternehmen ausgerüstet, hatte ich, wie ich mich entsann, ein gewisses Document unterzeichnen müssen, welches sie an meinem Erfolge wesentlich interessierte und ihr, sobald ich Mrs. Armadale wäre, ein gut Stück Geld sicherte. Dies Papier jetzt zu einem Prüfstein für sie zu machen, war zu verführerisch, als daß ich der Verlockung hätte widerstehen können. Ich bat denn meine fromme Freundin, mir ein letztes Wort zu gestatten, ehe ich mich verabschiedete.

»Da Du jetzt an meiner sündhaften Speculation auf Thorpe-Ambrose kein Interesse mehr hast«, sagte ich, »so gibst Du mir vielleicht die Urkunde zurück, die ich unterzeichnete, als Du und ich noch nicht ganz so musterhafte Personen waren, wie Du es jetzt bist.«

Die schamlose alte Heuchlerin schloß alsbald ihre Augen und schauderte.

»Heißt das Ja oder Nein?« fragte ich.

»Aus moralischen und religiösen Gründen, Lydia, heißt es Nein«, sagte Mrs. Oldershaw.

»Aus bösen und weltlichen Gründen«, versetzte ich, »danke ich Dir, daß Du mir Deine wahre Farbe gezeigt hast?

In der That konnte jetzt kein Zweifel mehr obwalten über das Verhalten, welches sie einzuschlagen gedachte. Sie wollte keine Gefahr weiter laufen und kein Geld mehr borgen, sie wollte Sieg oder Niederlage lediglich meinen eigenen Händen überlassen. Siegte ich, so producirte sie das von mir unterzeichnete Papier und steckte ihr Geld ohne Gewissensbisse ein. In meiner gegenwärtigen Lage wäre es reine Wort- und Zeitverschwendung gewesen, hätte ich unsere Unterredung durch nutzlose Beschuldigungen meinerseits in die Länge ziehen wollen. Ich ließ mir die Sache im Stillen zur Warnung dienen und schickte mich an zu gehen.

Im Augenblick, wo ich mich aus meinem Stuhle erhob, ließ sich ein lauter Doppelschlag an der Hausthür vernehmen. Offenbar wußte Mrs. Oldershaw, was er zu bedeuten hatte. Sie stand in ungestümer Hast auf und zog die Klingel. »Ich bin zu unwohl, um irgendwen empfangen zu können«, sagte sie zu dem Dienstmädchen. »Warte noch einen Augenblick«, wandte sie sich an mich, als die Dienerin wieder die Treppe hinabgegangen war.

Es war eine kleine, sehr kleine Rache von meiner Seite, das weiß ich, allein die Genugthuung, Mutter Jesabel selbst in einer Kleinigkeit in die Quere zu kommen, konnte ich mir nicht versagen. »Ich kann nicht warten«, erwiderte ich; »Du selbst hast mich eben daran erinnert, daß ich eigentlich in der Kirche sein sollte.« Bevor sie antworten konnte, war ich schon aus dem Zimmer hinaus.

Als ich meinen Fuß aus die Stufe setzte, stand die Hausthür offen und die Stimme eines Mannes erkundigte sich, ob Mrs. Oldershaw zu Hause wäre.

Auf der Stelle erkannte ich die Stimme Doctor Downwards!«


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