Armadale



Vierter Band

Erstes Kapitel.

Der Morgen, an dem die Unterredung zwischen Mrs. Milroy und ihrer Tochter im Parkhäuschen stattfand, war für den Squire im Herrenhause ein Morgen ernstlicher Ueberlegung.

Selbst Allan’s leichtherzige Natur war von dem beunruhigenden Einflusse der Ereignisse während der letzten drei Tage nicht unberührt geblieben. Midwinter’s unerwartete Abreise hatte ihn verdrossen, und die Art und Weise; wie Major Milroy seine Erkundigungen in Bezug auf Miß Gwilt aufgenommen hatte, erhöhte nur sein Unbehagen. Seit seinem Besuche im Parkhäuschen war er zum ersten Male in seinem Leben gegen Jeden, der mit ihm in Berührung kam, gereizt und verdrießlich gewesen; gereizt über den jungen Pedgift, der am vorigen Abend erschienen »war, um ihm seine folgenden Tags bevorstehende Abreise nach London zu melden und seinem Clienten seine Dienste zur Verfügung zu stellen; verdrießlich Miß Gwilt gegenüber bei einer geheimen Zusammenkunft, die er am Morgen mit ihr im Park gehabt hatte; Verdrießlich in seiner eigenen Gesellschaft, währender rauchend in seinem Zimmer allein saß. »Diese Art von Leben kann ich nicht lange mehr ertragen«, dachte Allan »Wenn mir Niemand behilflich sein will, Miß Gwilt diese unangenehme Frage vorzulegen, so muß ich irgend einen Weg ausfindig machen, wie ich es selber thun kann.«

Welchen Weg? Die Antwort auf diese Frage war so schwer wie nur je eine. Allan versuchte seine träge Phantasie durch einen Spaziergang im Zimmer aufzustacheln, in welchem er, als er zum ersten Male das Ende des letzteren erreicht hatte, durch das Eintreten des Dieners unterbrochen ward.

»Nun, was gibt’s?« fragte er ungeduldig.

»Ein Brief, Sir; der Ueberbringer wartet auf Antwort.«

Allan betrachtete die Adresse Sie war von fremder Hand. Er öffnete den Brief, und ein in denselben eingelegtes kleines Billet fiel auf den Boden. Das Billet war in derselben fremden Handschrift an »Mrs. Mandeville, 18 Kingsdown-Crescent, Bayswater. Durch Güte des Mr. Armadale« adressiert. In immer größerer Verwunderung suchte Allan nach der Unterschrift des Briefes. Sie lautete: »Anna Milroy.«

»Anna Milroy!« wiederholte er. »Das muß die Frau des Majors sein. Was in aller Welt kann sie von mir wollen?«

Um sich darüber aufzuklären, that Allan schließlich, was er gleich zu Anfange hätte thun können. Er setzte sich hin, den Brief zu lesen.

»Parkhäuschen. Montag.
( Privatim.)

Geehrter Herr! Der Name am Schlusse dieser Zeilen wird Sie, wie ich fürchte, an eine große Unhöflichkeit erinnern, mit der ich vor kurzem eine große Freundlichkeit Ihrerseits zurückwies. Ich kann zu meiner Entschuldigung nur sagen, daß ich schwer leidend bin und, wenn ich unter dem Einflusse heftiger Schmerzen in einem Augenblicke von Gereiztheit und übler Laune Ihr gütiges Obstgeschenk zurücksandte, dies seitdem von Herzen bereut habe. Ich bitte Sie, diesen Brief meinem aufrichtigen Wunsche zuzuschreiben, jene Unhöflichkeit wieder gut zu machen und womöglich unserm geschätzten Freunde und Hauswirthe einen Dienst zu leisten.

Ich weiß, welche Frage Sie vorgestern hinsichtlich Miß Gwilt’s an meinen Gatten gerichtet haben. Nach Allem, was mir von Ihnen bekannt ist, bin ich fest überzeugt, daß Ihr Verlangen, etwas Näheres über diese anziehende Person zu erfahren, als Sie bis jetzt von ihr wissen, nur den ehrenvollsten Beweggründen zugeschrieben werden muß. In dieser Ueberzeugung fühle ich ein frauenhaftes Interesse —— wiewohl ich eine unheilbare Kranke bin —— Ihnen behilflich zu sein. Wenn Sie Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten kennen lernen wollen, ohne sich deshalb direct an sie selbst zu wenden, so liegt es nur an Ihnen, sich diese Auskunft zu verschaffen, und ich will Ihnen sagen, wie Sie dabei zu Werke gehen müssen.

Der Zufall hat es gefügt, daß ich vor wenigen Tagen über diesen selben Gegenstand an die Dame geschrieben, die Miß Gwilt empfohlen hatte. Ich hatte längst die Bemerkung gemacht, daß Miß Gwilt ein eigenthümliches Widerstreben verrieth, von ihrer Familie und ihren Angehörigen zu sprechen, und ohne ihr Schweigen etwas Anderem als den schicklichsten Beweggründen zuzuschreiben, hielt ich es doch meiner Tochter gegenüber für meine Pflicht, einige fernere Erkundigungen darüber einzuziehen. Die Antwort, die ich erhalten, ist so weit befriedigend. Meine Correspondentin unterrichtet mich, daß Miß Gwilt’s Geschichte eine sehr traurige und ihr Benehmen bei all ihrem Mißgeschick im höchsten Grade lobenswerth gewesen sei. Die Umstände —— häuslicher Art, wie ich entnehme —— seien sämtlich in einer Reihe von Briefen auseinandergesetzt, die sich augenblicklich im Besitze der Dame befanden, welche Miß Gwilt empfohlen. Diese Dame sei vollkommen bereit, mir die Briefe zu zeigen, doch da sie keine Abschriften derselben besitze und für die Sicherheit der Documente persönlich verantwortlich sei, würde sie dieselben nur ungern der Post anvertrauen, und sie bittet mich deshalb zu warten, bis entweder sie oder ich eine zuverlässige Person finden könne, welche das Paket aus ihren Händen empfange, um es in die meinigen zu geben.

Unter diesen Umständen ist mir der Gedanke gekommen, daß Sie, bei Ihrem persönlichen Interesse an der Sache, vielleicht bereit sein würden, die Papiere für mich in Empfang zu nehmen. Sollte ich mich in dieser meiner Annahme täuschen und Sie nach dem, was ich Ihnen mitgetheilt, nicht geneigt sein, sich der Mühe und den Kosten einer Reise nach London zu unterziehen, so brauchen Sie nur meinen Brief und dessen Einlage zu verbrennen und nicht weiter an die Sache zu denken. Entschließen Sie sich aber, als mein Abgesandter zu handeln, so versehe ich Sie mit Vergnügen mit dem nothwendigen Einführungsbillet für Mrs. Mandeville. Sie haben nichts weiter zu thun, als die Briefe in einem versiegelten Paket entgegenzunehmen, dies bei Ihrer Rückkehr nach Thorpe-Ambrose mir zu übersenden und dann einer baldigen Mittheilung von mir über das Ergebniß gewärtig zu sein.

Zum Schlusse will ich nur noch hinzufügen, daß ich in dem Verfahren, welches ich Ihnen vorschlage, nichts erblicke, was Ihnen als unschicklich ausgelegt werden könnte. Die Art und Weise, in der Miß Gwilt Winke aufgenommen, wie ich sie hinsichtlich ihrer Familienverhältnisse habe fallen lassen, hat es mir peinlich gemacht und würde es Ihnen geradezu unmöglich machen, die Auskunft zuerst bei ihr selbst zu suchen. Gewiß bin ich gerechtfertigt, wenn ich mich an die Dame wende, die sie empfohlen hat, und sicherlich kann es Ihnen nicht zum Vorwurf gereichen, wenn Sie die Beförderung einer versiegelten Correspondenz von einer Dame zur andern vermitteln. Finde ich in dieser Correspondenz Familiengeheimnisse, die ehrenhaftenweise keiner dritten Person mitgetheilt werden können, so werde ich Sie natürlich warten lassen müßten, bis ich zuvor mit Miß Gwilt gesprochen habe. Entdecke ich dagegen nichts Anderes darin, als was ihr Ehre macht und sie in Ihrer Achtung nur noch höher stellen kann, so erzeige ich ihr unzweifelhaft einen Dienst, wenn ich Sie in mein Vertrauen ziehe. Dies ist meine Ansicht von der Sache, doch bitte ich Sie, sich nicht von mir beeinflussen zu lassen.

Jedenfalls muß ich eine Bedingung stellen, die Sie, wie ich überzeugt bin, als unerläßlich betrachten werden. Die harmlosesten Handlungen sind in dieser bösen Welt oft den übelsten Auslegungen ausgesetzt. Ich muß Sie deshalb ersuchen, diese Mittheilung als eine ganz vertrauliche ansehen zu wollen. Was ich Ihnen geschrieben, muß durchaus unter uns bleiben, bis die Umstände nach meinem Dafürhalten ein weiteres Bekanntmachen desselben rechtfertigen.

Aufrichtig die Ihre
Anna Milroy.«

Das war die verlockende Form, in welcher die Gattin des Majors ihre Falle gelegt hatte. Wie gewöhnlich, folgte Allan, ohne einen Augenblick zu zögern, seinem Impulse, indem er gerade auf die Sache losging und sofort seine Antwort schrieb, wobei er sich in höchst charakteristischer Aufregung seinen eigenen Gedanken überließ.

»Beim Jupiter, das ist außerordentlich freundlich von Mrs. Milroy!« (»Verehrte Frau!«) »Gerade, was mir noth that und zwar in dem Augenblicke, wo mir am meisten. daran gelegen wart« (»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre Güte ausdrücken soll, wenn nicht durch die Versicherung, daß ich mit dem größten Vergnügen nach London reisen werde, um die Briefe zu holen.«) »Sie soll den ganzen Sommer hindurch regelmäßig jeden Tag einen Korb mit frischem Obst haben« (»Ich werde sofort abreisen, verehrte Frau, und morgen wieder hier sein.«) »Ah, nichts wie die Frauen, wenn man verliebt ist und der Hilfe bedarf! Genau so würde meine liebe Mutter an Mrs. Milroy’s Stelle gehandelt haben.« (»Ich gebe Ihnen mein feierliches Ehrenwort, daß ich hinsichtlich der Briefe mit der größten Vorsicht zu Werke gehen Und die Sache streng geheim halten werde, wie Sie es wünschen.«) »Mit Vergnügen hätte ich Jedem, der mir den rechten Weg gezeigt, wie ich mit Miß Gwilt zu sprechen habe, fünfhundert Pfund gegeben, und diese liebe herrliche Frau hier thut es umsonst.« (»Ich verbleibe, verehrte Frau, dankbarst der Ihre, Allan Armadale.«)

Nachdem er seine Antwort Mrs. Milroy’s Boten hatte behändigen lassen, blieb Allan in momentaner Verlegenheit stehen. Er hatte mit Miß Gwilt verabredet, sie andern Morgens im Park zu treffen. Es war also durchaus nothwendig, sie wissen zu lassen, daß er abgehalten sei, sich einzustellen; sie hatte ihm zu schreiben verboten und er keine Aussicht, sie an diesem Tage noch allein zu sprechen. In dieser Verlegenheit beschloß er, sie auf indirectem Wege, durch ein Billet an den Major, von dieser Abhaltung in Kenntniß zu setzen, indem er diesem seine in Geschäften beabsichtigte Reise nach London meldete und anfragte, ob irgend ein Mitglied seiner Familie ihm Aufträge für die Stadt zu geben habe. Sowie er in dieser Weise das einzige Hinderniß aus dem Wege geräumt, das sich seiner Abreise entgegenstellte, zog Allan den Eisenbahnfahrplan zu Rathe und fand zu seinem Verdrusse, daß er bis zum Abgang des nächsten Zuges noch eine gute Stunde übrig habe. In seiner augenblicklichen Gemüthsverfassung würde er es bei weitem vorgezogen haben, schleunigst nach London aufzubrechen.

Als der Augenblick endlich kam, trommelte Allan, an dem Verwaltungsbureau vorbeikommend, an die Thür desselben und rief Mr. Bashwood zu: »Reise nach London —— komme morgen zurück.« Keine Antwort erfolgte drinnen und der Diener theilte seinem Herrn mit, daß Mr. Bashwood, da er heute nichts Besonderes daselbst zu thun gehabt, das Bureau geschlossen habe und schon vor einigen Stunden fortgegangen sei.

Als Allan auf dem Bahnhof anlangte, war die erste Person, die er hier traf, der junge Pedgift, der, wie er am vorigen Abend im Herrenhause gemeldet, in Geschäftsangelegenheiten nach London reiste. Nach gegenseitigem Austausch der nothwendigen Erklärungen beschlossen beide zusammen zu reisen. Allan war froh, einen Gefährten zu haben, und Pedgift, wie immer entzückt, sich seinem Clienten nützlich machen zu können, eilte, die Billets zu nehmen und das Gepäck zu besorgen. Auf dem Perron auf und ab gehend und die Rückkunft seines getreuen Anhängers abwartend, stieß Allan plötzlich auf keine geringere Person als Mr. Bashwood, der in einem Winkel dem Schaffner des Zuges heimlich einen Brief übergab, welchem er, allem Anscheine nach, ein Geldgeschenk beifügte.

»Hollah!« rief Allan in seiner herzlichen Art und Weise. »Etwas Wichtiges da, nicht wahr, Mr. Bashwood?«

Wäre Mr. Bashwood bei einem Mord ertappt worden, so hätte er kaum eine größere Bestürzung verrathen können, als er jetzt über Allan’s Entdeckung an den Tag legte. Seinen abgetragenen alten Hut vom Kopfe ziehend, verbeugte er sich tief, wobei er an allen Gliedern zitterte. »Nein, Sir, nein; nichts als ein kleiner Brief —— ein kleiner Brief —— ein kleiner Brief«, sagte der Mann, hinter der Wiederholung seiner Worte seine Verlegenheit verbergend und eiligst rückwärts aus der Nähe seines Herrn retirirend.

Allan wandte sich gleichgültig um. »Ich wollte, ich könnte den Menschen leiden«, dachte er, »aber ich kanns nicht; er ist ein gar zu serviles Geschöpf! Weshalb, zum Henker, brauchte er so zu zittern? Glaubt er etwa, ich wolle mich in seine Gheimnisse eindrängen?«

Mr. Bashwoods Geheimniß berührte Allan diesmal näher, als dieser es ahnte. Der Brief, den er so eben dem Schaffner übergeben hatte, war nichts Anderes als eine Warnung für Mrs. Oldershaw, geschrieben von Miß Gwilt.

»Wenn Du Dein Geschäft beschleunigen kannst«, schrieb die Erzieherin des Majors, »so thue dies und kehre augenblicklich nach London zurück. Die Sachen gehen hier nicht, wie sie sollten, und Miß Milroy ist die Urheberin des Unheils. Sie bestand heute Morgen darauf, ihrer Mutter das Frühstück selbst hinaufzutragen, das sonst stets von der Wärterin gebracht wird. Dann hatten sie eine lange geheime Unterredung mit einander, und eine halbe Stunde später sah ich die Pflegerin mit einem Briefe hinausschlüpfen und den Weg nach dem Herrenhause einschlagen. Der Uebersendung dieses Schreibens folgte Mr. Armadale’s plötzliche Abreise nach London trotz einer verabredeten Zusammenkunft, die er morgen mit mir im Park haben wollte. Das sieht ernsthaft aus. Das Mädchen ist offenbar verwegen genug, für die Stellung der Mrs. Armadale auf Thorpe-Anibrose einen Kampf zu wagen, und hat irgend ein Mittel ausfindig gemacht, um sich den Beistand ihrer Mutter zu verschaffen. Denke nicht etwa, daß ich im mindesten ängstlich oder entmuthigt bin, und nimm nichts eher vor, als bis Du wieder von mir gehört hast. Kehre nur nach London zurück, denn es kann wohl kommen, daß ich im Verlauf der nächsten Tage Deines Beistandes ernstlich bedarf.

Um Zeit zu gewinnen, sende ich diesen Brief durch den Schaffner mit dem Mittagszuge ab. Da Du darauf bestehst, von jedem meiner Schritte in Thorpe-Ambrose unterrichtet zu werden, so will ich zugleich hinzufügen, daß mein Bote —— denn ich kann nicht selbst nach der Station gehen —— jenes merkwürdige alte Geschöpf ist, dessen ich in meinem ersten Briefe erwähnt habe. Er hat sich seitdem beständig hier herumgetrieben, um mich zu sehen. Ich weiß nicht gewiß, ob ich ihn ängstige oder bezaubere —— vielleicht thue ich Beides. Alles, was Du zu wissen brauchst, ist, daß ich ihm mit Sicherheit meine kleinen Aufträge und möglicherweise nach und nach sogar noch Weiteres anvertrauen kann.

L. G.«

Inzwischen hatte der Zug die Station Thorpe-Ambrose verlassen, und der Scuire befand sich mit seinem Gefährten auf dem Wege nach London.

Wohl Mancher, der sich unter den obwaltenden Umständen in Allan’s Gesellschaft gesehen, würde vielleicht neugierig gewesen sein, was denselben nach London führe. Pedgift junior in seiner Eigenschaft als Weltmann durchschaute mit untrüglichem Instinct das Geheimniß ohne die geringste Mühe. »Die alte Geschichte«, dachte das schlaue alte Haupt, sich still auf den rüstigen jungen Schultern wiegend »Wie immer handelt es sich um ein Weib. Jedes andere Geschäft wäre mir übertragen worden.« Mit dieser Schlußfolgerung vollkommen zufrieden, begann Mr. Pedgift, sein geschäftliches Interesse im Auge habend, sich, wie gewöhnlich, seinem Clienten angenehm zu machen. Er nahm sämtliche Reiseangelegenheiten auf sich, wie er schon die ganze Administration des Picknicks in den Breiten übernommen hatte. Auf dem Bahnhofe in London angelangt, war Allan bereit, nach jedwedem Hotel zu gehen, das man ihm empfehlen würde. Sein unschätzbarer Rechtsanwalt führte ihn unverzüglich nach einem Gasthofe, in dem die Familie Pedgift schon seit drei Generationen abgestiegen war.

»Sie haben doch keine Antipathie gegen Gemüse, Sir?« sagte der heitere Pedgift, als der Fiaker vor einem Hotel auf dem Covent-Garden-Markte hielt. »Sehr gut, das Uebrige dürfen Sie meinem Großvater, meinem Vater und mir überlassen. Ich weiß, welcher von den Dreien in diesem Hause am beliebtesten und geschätztesten ist. Wie geht’s, William? —— Unser Oberkellner, Mr. Armadale —— Ist Ihre Frau von ihrem Rheumatismus geheilt, und macht Ihr Kleiner Fortschritte in der Schule? Ihr Herr ist ausgegangen, nicht wahr? Thut nichts, Sie werden schon für uns sorgen. Das hier, William, ist Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose. Ich habe Mr. Armadale bewogen, es mit unserm Hause zu versuchen. Haben Sie das Schlafzimmer bereit, das ich bestellte? Sehr gut. Dann geben Sie es nicht mir, sondern Mr. Armadale. —— Das Lieblingszimmer meines Großvaters, Sir; Nummer fünf in der zweiten Etae. Bitte, nehmen Sie es; ich kann in jedem beliebigen Zimmer schlafen. Wünschen Sie die Matratze über dem Federbette? —— Hören Sie, William? Sagen Sie Mathilden, daß sie die Matratze oben aufs Federbett legt. Wie geht es Mathilden? Hat sie wie gewöhnlich Zahnschmerzen? —— Das Stubenmädchen oben, Mr. Armadale, und ein ganz außerordentliches Frauenzimmer; sie will sich durchaus nicht von einem hohlen Zahne in ihrer unteren Kinnlade trennen. Mein Großvater sagt ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen"; mein Vater sagt ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen; und ich sage ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen —— Mathilde ist taub gegen alle drei. —— Ja wohl, William, ja; wenn es Mr. Armadale genehm, so ist mir dies Wohnzimmer recht. —— Was das Diner betrifft, Sir, so möchten Sie Ihr Geschäft wohl erst abmachen und dann zum Speisen zurückkommen. Wollen wir also sagen: um halb acht Uhr? —— William, um halb acht Uhr. —— Durchaus nicht nöthig, etwas zu bestellen, Mr. Armadale. Der Oberkellner braucht nur dem Koche meine Empfehlung zu machen, und pünktlich auf die Minute wird unfehlbar das beste Diner in ganz London zu uns heraufgesandt werden. —— Bitte, sagen Sie: Mr. Pedgift junior, William. —— Sonst, Sir, dürfte man meines Großvaters oder meines Vaters Diner herrichten, und diese möchten für Sie und mich ein wenig zu schwer und altmodisch ausfallen —— Und den Wein anlangend, William, beim Essen Champagner und den Sherry, den mein Vater abscheulich findet. Zum Nachtisch den Rothwein mit dem blauen Siegel —— ein Wein, von dem mein unschuldiger Großvater behauptete, die Flasche sei keinen Sixpence werth. Ha, ha! der arme alte Junge! —— Sie werden wie gewöhnlich die Abendzeitungen und Theaterzettel herausschicken und —— das ist Alles, glaube ich, für jetzt, William. —— Ein unschätzbarer Diener, Mr. Armadale; die Diener in diesem Hause sind alle unschätzbar. Es ist hier vielleicht nicht vornehm, Sir, aber beim Lord Harry, es ist gemüthlich! Einen Fiaker? Sie wünschen einen Fiaker? Bemühen Sie sich nicht! Ich habe zweimal geschellt; das bedeutet: Schnell einen Fiaker. Darf ich fragen, Mr Armadale, nach welcher Richtung Ihr Geschäft sie führt? Nach Bayswater? Hatten Sie nichts dagegen, mich im Park abzusetzen? Ich Pflege jedes mal, wenn ich in London bin, unter der Aristokratie die frische Luft zu genießen. Ihr ergebener Diener versteht sich auf ein schönes Weib und ein schönes Pferd, und wenn er in Hyde-Park ist, befindet er sich in seinem Element.« In dieser Weise plauderte der gewandte Pedgift weiter und empfahl sich durch diese kleinen Künste der guten Meinung seines Clienten.

Als die Speisestunde die Reisegefährten wieder in ihrem Wohnzimmer im Hotel zusammengeführt, hätte ein weit minder scharfer Beobachter als der junge Pedgift die auffallende Veränderung wahrnehmen müssen, die sich in Allan’s Wesen zeigte. Er sah ärgerlich und consternirt aus und saß, mit den Fingern auf die Tafel trommelnd, ohne ein Wort zu sagen, da.

»Ich fürchte, es hat sich, seitdem wir im Parke von einander schieden, etwas ereignet, was Ihnen Verdruß verursacht, Sir? sagte Pedgift junior. »Verzeihen Sie die Frage; ich thue sie nur für den Fall, daß ich Ihnen irgendwie von Nutzen sein könnte.«

»Allerdings ist etwas passiert, was ich nicht im entferntesten erwartet habe«, erwiderte Allan; »ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Ich möchte gern Ihre Ansicht hören«, fügte er nach einigem Zögern hinzu, »das heißt, vorausgesetzt, Sie entschuldigten, wenn ich nicht in Einzelheiten eingehe?«

»Ganz gewiß!« erwiderte der junge Pedgift. »Skizzieren Sie mir die Sache nur in leichten Umrissen, Sir. Der kleinste Wink genügt; ich bin ja nicht von gestern.« Im Stillen aber sprach er zu sich! »O, diese Weiber!«

»Nun«, begann Allan, »Sie wissen, was ich sagte, als wir hier im Hotel anlangten; ich sagte; ich müsse nach Bayswater gehen« —— Pedgift machte sich im Geiste eine Notiz: Vorstadtfall Bayswater —— »und nach einer —— das heißt —— nein —— wie ich schon sagte, mich nach einer Person erkundigen.« Pedgift notierte den nächsten Punkt: Person in Frage. Weibliche oder männliche Person? Weibliche Person, sonder Zweifel. —— »Also, ich begab mich nach dem Hause, und als ich nach ihr fragte —— ich meine die Person —— war sie —— das heißt, die Person —— o zum Henker! ich werde noch verrückt und Sie ebenfalls, wenn ich die Geschichte so weitschweifig erzähle. Da haben Sie die Sache mit zwei Worten. Ich fuhr nach Nummer 18 Kingsdown-Crescent, um dort eine Dame Namens Mandeville aufzusuchen, und als ich nach ihr fragte, sagte mir das Mädchen, Mrs. Mandeville sei ausgegangen, ohne irgend Jemand zu sagen, wohin, und ohne selbst nur eine Adresse zu hinterlassen, unter welcher ihr Briefe nachgesandt werden könnten. So, jetzt ist es endlich heraus. Was meinen Sie dazu?«

»Sagen Sie mir zuvor, Sir«, antwortete der kluge Pedgift, »welche Fragen Sie thaten, als Sie fanden, daß die bewußte Dame verschwunden war?«

»Fragen?« wiederholte Allan. »Ich war gänzlich consternirt; ich sagte gar nichts. Welche Fragen hätte ich thun sollen?«

Der junge Pedgift räusperte sich und schlug vollkommen geschäftsmäßig die Beine über einander.

»Ich will durchaus nicht Ihre Angelegenheit bei Mrs. Mandeville ausforschen, Mr. Armadale«, begann er.

»Nein«, unterbrach ihn Allan ohne alle Umstände, »ich hoffe, Sie werden dies nicht versuchen. Meine Angelegenheit bei Mrs. Mandeville muß ein Geheimniß bleiben.«

»Aber«, fuhr Pedgift fort, indem er in richterlicher Weise den Zeigefinger der einen in die ausgestreckte Fläche der andern Hand legte, »Sie werden mir vielleicht im Allgemeinen zu fragen gestatten, ob Ihre Angelegenheit bei Mrs. Mandeville der Art ist, daß Sie es der Mühe werth erachten, ihre Spur von Kingsdow-Crescent nach ihrem gegenwärtigen Aufenthalte zu verfolgen?«

»Gewiß!« sagte Allan. »Ich habe ganz besondere Gründe, sie sehen zu wollen.«

»Ja dem Falle, Sir«, erwiderte Pedgift junior, »waren es zwei bestimmte Fragen, die Sie hätten thun sollen, nämlich, an welchem Tage Mrs. Mandeville abreiste, und wie. Hiervon unterrichtet, hätten Sie sich zunächst erkundigen sollen, in welchen häuslichen Verhältnissen sie fortging, ob sie mit irgend Jemand eine Differenz gehabt, etwa eine Differenz is Geldsachen; ferner, ob sie allein oder in Begleitung irgend einer andern Person abreiste; sodann, ob das Haus ihr eigenes war, oder ob sie nur dort wohnte. In letzterem Falle ——«

»Halt! Halt! Sie machen mir den Kopf schwindeln«, rief Allan. »Ich verstehe mich nicht auf alle diese Mittel und Wege, mit dergleichen bin ich nicht vertraut.«

»Ich meinerseits bin seit meiner Kindheit damit vertraut, Sir«, bemerkte Pedgift »Und wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, so bitte ich Sie nur, es zu sagen.«

»Sie sind sehr freundlich«, erwiderte Allan, »Wenn Sie mir helfen könnten, Mrs. Mandeville zu finden, und wenn es Ihnen nichts ausmacht« die Sache dann gänzlich in smeinen Händen zu lassen ——«

»Mit dem größten Vergnügen von der Welt werde ich sie in Ihren Händen lassen, Sir«, sagte Pedgift junior, zu selbst aber: »Und ich Will fünf gegen eins wetten, daß Du, wenn der Augenblick kommt, sie in den meinigen lassen wirst! —— Wir wollen morgen früh zusammen nach Bayswater fahren, Mr. Armadale. Inzwischen —— kommt hier die Suppe. Der Fall, der augenblicklich vor Gericht schwebt, ist: Vergnügen gegen Geschäft. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Sir, aber ich gebe mein Urtheil, ohne nur einen Augenblick zu zögern, zu Gunsten des Klägers ab. Lassen Sie uns die Rosen pflücken, eh’ sie verblühen. Entschuldigen Sie meine Heiterkeit, Mr. Armadale Obgleich in der Provinz begraben, ward ich doch zum Londoner Leben geschaffen.« Mit diesem Bekenntnisse reichte der unwiderstehliche Pedgift seinem Gönner einen Stuhl und ertheilte munter seine Befehle an seinen Vicekönig, den Oberkellner »Punsch in Eis, William, nach der Suppe. —— Ich bürge für den Punsch, Mr. Armadale; er wird nach einem Recept meines Großonkels gebraut. Er hielt eine Taverne und war der Gründer des Glücks unserer Familie. Ich mache mir nichts daraus, Ihnen zu sagen, daß die Pedgifts einen Schenkwirth in ihrer Familie gehabt haben; es ist keine Spur von falschem Stolze an mir. Der Werth macht den Mann, wie Pope sagt. Ich cultivire die Poesie sowohl als die Musik, Sir, in meinen Mußestunden; in der That, ich stehe mit allen neun Musen auf mehr oder minder vertraulichem Fuße. Aha! Da ist der Punsch! Das Andenken meines Großonkels, des Schenkwirths, Mr. Armadale —— ein Toast, den wir in feierlicher Stille trinken wollen!«

Allan gab sich alle Mühe, der Heiterkeit und guten Laune seines Gefährten nachzueifern, jedoch nur mit mittelmäßigem Erfolge. Während der ganzen Mahlzeit und während all der Ergötzlichkeiten, zu denen ihn sein Gefährte später am Abend hinführte, kam ihm fortwährend sein Besuch in Kingsdown-Crescent ins Gedächtniß zurück. Als Pedgift junior in der Nacht sein Licht auslöschte, schüttelte er sein kluges Haupt und apostrophierte zum zweiten Male bedauernd die Weiber.

Andern Morgens um zehn Uhr befand sich der unermüdliche Pedgift bereits auf dem Schauplatze. Zu Allan’s großer Erleichterung schlug er vor, die Erkundigungen in Kingsdown-Crescent in eigener Person einzuziehen, während sein Client in der Droschke, die sie vom Hotel gebracht, in der Nähe wartete. In wenig mehr als fünf Minuten war er im Besitz aller erreichbaren Einzelheiten wieder bei Allan. Das Erste, was er that, war, daß er Allan ersuchte, auszusteigen und den Kutscher zu bezahlen. Dann bot er ihm höflich den Arm und führte ihn um die Ecke des Crescent über einen Square und in eine kleine Nebengasse, die durch eine Fiakerstation ausnahmsweise belebt wurde. Hier blieb er stehen und fragte scherzend, ob Mr. Armadale jetzt seinen Weg vor sich sehe, oder ob es nothwendig sein werde, seine Geduld durch eine Erörterung auf die Probe zu stellen.

»Ob ich meinen Weg vor mir sehe?« wiederholte Allan. »Ich sehe nichts als die Fiakerstation.«

Pedgift der Jüngere lächelte mitleidsvoll und begann seine Erklärung. Er müsse zuerst bemerken, daß das Haus in Kingsdon-Crescent ein Kosthaus sei. Er habe darauf bestanden, die Hauswirthin selbst zu sprechen. Eine charmante Person, mit allen Anzeichen, daß sie vor fünfzig Jahren ein hübsches Mädchen gewesen; ganz Pedgift’s Genre Aber Mr. Armadale ziehe vielleicht vor, etwas über Mrs. Mandeville zu hören. Unglücklicherweise gebe es nichts zu erzählen. Keine Differenz habe stattgefunden und kein Heller sei unbezahlt geblieben. Die Dame sei fortgegangen, ohne daß sich nur ein Schatten von Erklärung dafür finden lasse. Entweder sei es Mrs. Mandevilles Art und Weise zu verschwinden, oder etwas für jetzt noch völlig Unentdeckbares sei dabei mit im Spiele. Pedgift hatte sich von Datum, Tageszeit und der Art und Weise ihrer Abreise in Kenntniß gesetzt. Möglicherweise könne diese letztere ihnen auf die Spur helfen. Sie war in einem Cab fortgefahren, welches dass Mädchen von der nächsten Station geholt hatte. Diese Station liege eben vor ihren Augen, und der Wassermann sei die erste Person, an die sie sich wenden müßten; sie gingen —— Mr. Armadale möge ihm den Scherz verzeihen —— damit direct an die Quelle. In dieser lustigen Weise behandelte Pedgift die Geschichte, sagte Allan, er wolle in einem Augenblicke wieder bei ihm sein, schlenderte nachlässig die Straße hinunter und winkte den Wassermann vertraulich in die nächste Restauration.

In einer kleinen Weile kamen beide wieder heraus, und der Wassermann führte Pedgift der Reihe nach zu dem ersten, zweiten, dritten, vierten und sechsten Fiakerkutscher, deren Wagen sich auf der Station befanden. Die längste Unterredung fand mit dem sechsten Manne statt und endete damit, daß der Fiaker plötzlich der Stelle zufuhr, wo Allan wartete.

»Steigen Sie ein, Sir«, sagte Pedgift, die Wagenthür öffnend. »Ich habe den Mann gefunden. Er erinnert sich der Dame, und obgleich er den Namen der Straße vergessen, glaubter doch das Haus, nach dem er sie gefahren, wiederfinden zu können, sowie er in dessen Nachbarschaft kommt. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß wir bis hierher vom Glück begünstigt gewesen sind, Mr. Armadale Ich bat den Wassermann, mir die regelmäßigen Droschkenkutscher der Station anzugeben, und es zeigte sich, daß eines derselben Mrs. Mandeville gefahren hatte. Der Wassermann steht für ihn; er ist eine Ausnahme von der Regel, ein respectabler Fiakerkutscher, fährt mit seinem eigenen Pferd und ist nie in Ungelegenheiten gewesen. Das ist der Schlag von Leuten, Sir, der unsern Glauben an die menschliche Natur lebendig erhält. Ich habe mir unsern Freund angesehen und bin mit dem Wassermanne einverstanden —— ich denke, wir dürfen ihm trauen.«

Die Nachforschungen erforderten anfangs einige Geduld. Erst nachdem die Strecke zwischen Bayswater und Pimlico zurückgelegt war, begann der Kutscher langsamer zu fahren und sich umzublicken. Nachdem er ein- oder zweimal wieder umgekehrt, bog er in eine stille Nebenstraße ein, an deren Ende sich eine blinde Mauer mit einer Thür befand, und hielt dann vor dem letzten Hause auf der linken Seite still, das der Mauer zunächst stand.

»Hier ist’s, meine Herren«, sagte der Mann, die Wagenthür öffnend.

Allan und sein Rathgeber stiegen aus und betrachteten beide mit demselben Gefühle des Mißtrauens das Haus. Häuser haben ihre Physiognomie, namentlich Häuser in großen Städten, und das Gesicht dieses Hauses hatte in seinem Ausdruck etwas wesentlich Verstohlenes. Die Fenster der Fronte waren sämtlich geschlossen und die Jalousien heruntergelassen. Von vorn gesehen, erschien es nicht größer als alle andern Häuser der Straße, aber es zog sich arglistig nach der Hinterseite hinaus und gewann durch seine Tiefe an räumlicher Bequemlichkeit. Es that so, als sei es im Erdgeschoß ein Laden, allein es zeigte durchaus gar nichts in dem Zwischenraume vom Fenster bis zu einem rothen Vorhange, der das ganze Innere den Blicken entzog. Auf der einen Seite befand sich die Ladenthür, deren Glasfenster aus der Hinterseite ebenfalls mit rothen Vorhängen versehen war und auf deren Holzwerk ein Messingschild mit der Inschrift: Mrs. Oldershaw angebracht war. Auf der andern Seite war die Thür des Privateingangs mit einer Klingel, unter der geschrieben stand: Geschäftlich und noch ein Messingschild welches anzeigte, daß diese Seite des Hauses von einem Arzte bewohnt werde, denn der Name auf demselben lautete: Doktor Downward. Haben jemals Ziegel und Mörtel gesprochen, so sagten Ziegel und Mörtel hier deutlich: »Wir haben drinnen unsere Geheimnisse und wollen sie für uns behalten.«

»Dies kann nicht das Haus sein«, sagte Allan. »Hier muß ein Irrthum obwalten.«

»Sie wissen es am besten, Sir«, versetzte Pedgift mit seiner sardonischen Gemessenheit. »Sie kennen Mrs. Mandeville’s Gewohnheiten.«

»Ich!« rief Allan »Sie werden es vielleicht mit Erstaunen hören, aber Mrs. Mandeville ist mir durchaus fremd.«

»Das überrascht mich nicht im geringsten, Sir; die Wirthin in Kingsdown-Crescent theilte mir mit, daß Mrs. Mandeville eine alte Frau sei. Ich denke, wir erkundigen uns«, setzte der unerschütterliche Pedgift hinzu, während er die rothen Vorhänge mit dem starken Argwohn betrachtete, Mrs. Mandeville’s Enkelin möge hinter denselben versteckt sein.

Zuerst ward die Ladenthür versucht. Sie war verschlossen. Man klingelte. Ein hageres und gelbliches junges Frauenzimmer, mit einem zerlesenen französischen Romane in der Hand, öffnete.

»Guten Morgen, Miß«, sagte der junge Pedgift. »Ist Mrs. Mandeville zu Hause?«

Das gelbe junge Frauenzimmer stierte ihn verwundert an. »Hier wohnt keine Person dieses Namens«, antwortete sie mit fremdem Accent.

»Man kennt sie vielleicht am Privateingange«, meinte Pedgift Junior.

»Kann sein«, sagte die gelbe Person und schlug ihm die Thür vor der Nase zu.

»Ein etwas reizbares junges Wesen das, Sir«, sagte Pedgift. »Ich wünsche Mrs. Mandeville Glück, daß sie nicht mit ihr bekannt ist.« Mit diesen Worten ging er Allan voran nach Doctor Downwards Seite des Hauses und klingelte.«

Diesmal ward die Thür von einem Manne in einer schäbigen Livree geöffnet. Auch er stierte, als Mrs. Mandeville’s Name genannt wurde, und auch er wußte von keiner solchen Person im Hause.

»Seht merkwürdig«, sagte Pedgift zu Allan.

»Was ist merkwürdig?« fragte ein leise austretender, leise sprechender Herr in Schwarz, der plötzlich aus der Schwelle der Stubenthür erschien.

Pedgift junior erklärte höflich, um was es sich handle, und bat um die Erlaubniß, fragen zu dürfen, ob er das Vergnügen habe, mit Doctor Downward zu sprechen.

Der Doctor verbeugte sich. Er war —— wenn man den Ausdruck verzeihen will —— einer von jenen sorgsam construirten Aerzten, in welche das Publikum —— namentlich das weibliche —— ein unbedingtes Zutrauen zu setzen pflegt. Er hatte den erforderlichen kahlen Kopf, die erforderliche doppelte Lorgnette, den erforderlichen schwarzen Anzug und das erforderliche freundliche Benehmen. Seine Stimme war einnehmend, sein Wesen ruhig und sein Lächeln vertraulich. Welchem besonderen Zweige seines Berufs Doctor Downward sich widmete, war auf dem Messingschilde nicht angegeben; war er aber kein Damenarzt, so hatte er seinen Beruf ganz verfehlt.

»Sind Sie ganz sicher, daß Sie sich nicht im Namen irren?« fragte der Doctor mit lauernder Besorgniß in seinem Wesen. »Ich habe sehr ernstliche Unannehmlichkeiten aus Irrthümern in Namen entstehen sehen. Also wirklich kein Versehen? In dem Falle, meine Herren, kann ich nur wiederholen, was mein Diener Ihnen bereits gesagt. Bitte, keine Entschuldigung. Guten Morgen.« Der Doctor verschwand ebenso geräuschlos wieder, wie er erschienen war; der Mann in der schäbigen Livree öffnete schweigend die Thür, und Allan und sein Gefährte sahen sich wieder auf der Straße.

»Mr. Armadale«, sagte Pedgift, »ich weiß nicht, was Sie fühlen. Ich fühle mich consternirt.«

»Das ist sehr fatal«, sagte Allan. »Eben wollte ich Sie fragen, was wir nun anfangen sollen.«

»Mir gefällt weder das Aussehen des Hauses, noch das der Ladenmamsell, noch das des Doctors«, fuhr der Andere fort. »Und dennoch kann ich nicht sagen, daß ich glaube, sie hintergehen uns; ich kann nicht sagen, daß ich glaube, sie kennen dennoch Mrs. Mandevilles Namen.«

Pedgift’s Eindrücke täuschten ihn selten, und auch diesmal hatten sie ihn nicht irre geleitet. Die Vorsicht, welche Mrs. Oldershaw zu ihrem spurlosen Verschwinden aus Bayswater bestimmt, war der Art, die sich meistens selbst beträgt. Dieselbe hatte sie bewogen, Niemand in Pimlico den Namen anzuvertrauen, unter dem sie Miß Gwilt empfohlen, ohne sie im geringsten auf die Eventualität vorzubereiten, welche nun wirklich eingetreten war. Mit einem Worte, Mrs. Oldershaw hatte für Alles ihre Maßregeln getroffen, nur, nicht für die rein undenkbare Möglichkeit einer späteren Erkundigung über Miß Gwilt’s Charakter.

»Irgend etwas muß geschehen«, sagte Allan; »es scheint mir nutzlos, hier noch länger zu warten.«

Noch Niemand hatte Pedgift’s Auskunftsmittel erschöpft gesehen, auch Allan sah ihn jetzt noch nicht am Ende derselben. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Sir«, sagte er. »Wir müssen etwas thun. Wir wollen den Kutscher ins Kreuzverhör nehmen.«

Der Kutscher erwies sich unerschütterlich. Da man ihn beschuldigte, sich im Hause geirrt zu haben, deutete er auf das leere Ladenfenster. »Ich weiß nicht, was Sie vielleicht gesehen haben, meine Herren«, bemerkte er, »aber das ist das einzige Ladenfenster, das ich je gesehen habe, worin nichts zur Schau gestellt war. Dieser Umstand prägte mir das Haus fest ins Gedächtniß, und ich erkenne es daher wieder, so wie ich es sehe.« Eines Irrthums betreffs der Person oder des Tags oder des Hauses beschuldigt, aus dem er erstere abgeholt, zeigte der Mann sich abermals unangreifbar. Das Dienstmädchen, das ihn geholt, war eine auf der Fiakerstation wohlbekannte Person. Der Tag war ihm als der unglücklichste Arbeitstag im ganzen Jahre erinnerlich und die Dame durch den Umstand, daß sie zu rechter Zeit seinen Fahrlohn bereit gehabt, was unter Hunderten kaum eine ältliche Dame gewöhnlich habe, und nicht mit ihm über denselben gestritten, was ebenfalls unter Hunderten kaum eine ältliche Dame unterlasse. »Nehmen Sie meine Nummer, meine Herren«, schloß der Kutscher, »und bezahlen Sie mir meine Zeit, dann will ich, was ich angegeben, beschwören, wo Sie wollen.«

Pedgift notierte sich die Nummer des Mannes in seinem Taschenbuche. Nachdem er zu derselben noch den Namen der Straße und die Namen auf den beiden Messingplatten hinzugefügt, öffnete er ruhig den Wagenschlag. »So weit befinden wir uns völlig im Dunkeln«, sagte er. »Wollen wir nach dem Hotel zurückkehren?«

Er sprach und sah ernster aus als gewöhnlich. Der bloße Umstand, daß Mrs. Mandeville ihre Wohnung verändert, ohne eine Adresse zu hinterlassen, nach der man ihr etwaige Briefe nachsenden könne —— ein Umstand, den Mrs. Milroy’s eifersüchtige Bosheit als an sich unzweifelhaft verdächtig ausgelegt —— hatte auf das unparteilichere Urtheil von Allan’s Rechtsfreund keinen großen Eindruck gemacht. Gar manche Leute verlassen ihre Wohnungen ganz ebenso und zwar mit völlig triftigen Gründen dafür. Aber das Aussehen des Hauses, nach dem der Kutscher Mrs. Mandeville gefahren zu haben beharrlich behauptete, ließ den Charakter und das Benehmen dieser geheimnißvollen Dame für Pedgift in einem neuen Lichte erscheinen. Sein persönliches Interesse an den Nachforschungen wuchs plötzlich, und er begann hinsichtlich der wirklichen Natur von Allan’s Angelegenheit eine Neugierde zu fühlen, von der er bisher unberührt geblieben.

»Es ist mir gar nicht klar, Mr. Armadale«, sagte er, während sie nach dem Hotel zurückführen, »was unser nächster Schritt sein muß. Denken Sie, daß Sie mir noch einige weitere Einzelheiten anvertrauen könnten?«

Allan zögerte, und Pedgift junior sah, daß er etwas zu weit gegangen sei. »Ich darf es nicht erzwingen«, dachte er; »ich muß ihm Zeit und ihn von selbst damit herauskommen lassen. —— Was meinen Sie dazu, Sir, wenn ich in Ermangelung anderer Auskunft einige Nachforschung über jenen merkwürdigen Laden und über die Namen auf den Thürschildern anstellte? Mein Geschäft in London ist juristischer Art und führt mich, wenn ich Sie verlassen werde, in das rechte Viertel für derlei Nachforschungen, wenn diese überhaupt thunlich sind.«

»Es kann wohl kein Arg darin liegen, wenn wir weiter nachforschen«, erwiderte Allan.

Auch er sprach ernster als gewöhnlich, auch er begann eine Alles üherwältigende Neugier, mehr zu erfahren, zu empfinden. Eine unbestimmte Verbindung, deren Spur er nicht zu folgen vermochte, zwischen der Schwierigkeit, sich über Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten zu unterrichten, und der Schwierigkeit, der Dame zu nahen, die sich für Miß Gwilt verbürgt hatte, schien ihm obzuwalten. »Ich will aussteigen und zu Fuße weiter gehen und Sie Ihren Geschäften überlassen«, sagte er. »Ich muß mir die Sache ein wenig überlegen, und ein Spaziergang und eine Cigarre werden mir dabei behilflich sein.«

»Mein Geschäft wird zwischen ein und zwei Uhr abgemacht sein, Sir«, sagte Pedgift, als das Cab gehalten hatte und Allan ausgestiegen war. »Wollen wir um zwei Uhr wieder im Hotel zusammentreffen?«

Allan nickte und der Wagen fuhr von dannen.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Zwei Uhr kam heran und Pedgift junior stellte sich pünktlich ein. Seine Lebhaftigkeit vom Morgen hatte sich gänzlich verloren; er begrüßte Allan mit seiner gewohnten Höflichkeit, doch ohne sein gewohntes Lächeln, und als der Oberkellner erschien, sich seine Instructionen zu erbitten, ward er augenblicklich mit Worten entlassen, wie sie in diesem Hotel noch nie von Pedgift’s Lippen gehört worden: »Nichts für jetzt.«

»Sie scheinen nicht bei Laune zu sein«, sagte Allan »Können wir keine Auskunft erlangen? Kann Ihnen Niemand etwas über das Haus in Pimlico mittheilen?«

»Drei verschiedene Personen haben mir darüber Mittheilungen gemacht, Mr. Armadale, und alle drei haben sie dasselbe gesagt«

Allan schob begierig seinen Sessel näher an den seines Gefährten heran. Die Reflexionen, die er seit seinem Scheiben von Pedgift gemacht, hatten nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Jene seltsame Verbindung, so leicht fühlbar und so schwer zu verfolgen, zwischen der Schwierigkeit, sich von Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten zu unterrichten, und der Schwierigkeit, die Dame aufzufinden, die sich für Miß Gwilt verbürgt, welche bereits seine Gedanken beschäftigt, hatte sich nach und nach darin immer fester gesetzt. Er fühlte sich von Zweifeln gequält, die er weder zu begreifen noch auszudrücken im Stande war. Eine Neugier erfüllte ihn, welche zu befriedigen er sich halb sehnte, halb fürchtete.

»Ich muß Sie leider mit ein paar Fragen behelligen, Sir, ehe ich zur Sache kommen kann«, sagte Pedgift junior. »Ich möchte mich nicht in Ihr Vertrauen eindrängen, ich möchte nur in einer scheinbar sehr unangenehmen Sache den Weg klar vor mir sehen. Haben Sie nichts dawider, mir zu sagen, ob außer Ihnen noch Andere bei diesen Nachfragen betheiligt sind?«

»In der That sind noch Andere dabei betheiligt«, erwiderte Allan. »Ich sehe keinen Grund, Ihnen dies zu verhehlen.«

»Ist außer dieser Mrs. Mandeville noch eine andere Person Gegenstand Ihrer Nachforschungen?« fuhr Mr. Pedgift fort, sich noch etwas tiefer in das Geheimniß einschleichend.

»Ja; dieselben betreffen allerdings noch eine andere Person«, antwortete Allan mit einigem Widerstreben.

»Ist diese Person eine junge Dame, Mr. Armadale?«

Allan erschrak. »Wie kommen Sie dazu, das zu errathen?« begann er; dann schwieg er plötzlich, als es bereits zu spät war. »Legen Sie mir keine weiteren Fragen vor«, sagte er dann. »Ich verstehe mich schlecht darauf, einem schlauen Menschen, wie Sie, auszumachen, und ich bin gegen Andere in Ehren verpflichtet, die Einzelheiten der Sache für mich zu behalten«

Pedgift junior hatte offenbar für seinen Zweck´genug gehört. Er zog seinerseits seinen Sessel näher zu Allan heran. Er war sichtlich aufgeregt und verlegen, aber die Macht der Gewohnheit ließ sein geschäftsmäßiges Wesen bald wieder die Oberhand gewinnen. »Ich bin mit meinen Fragen zu Ende, Sir, und habe jetzt meinerseits etwas zu sagen. In Abwesenheit meines Vaters sind Sie vielleicht freundlichst geneigt, mich als Ihren rechtlichen Rathgeber zu betrachten. Wenn Sie meinem Rathe folgen wollen, so thun Sie keinen Schritt weiter in diesen Nachforschungen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« unterbrach ihn Allan.

»Es ist wohl möglich, Mr. Armadale, daß der Fiakerkutscher trotz seiner entschiedenen Behauptung sich geirrt hat. Ich empfehle Ihnen sehr, diesen Irrthum als ausgemacht anzunehmen und damit die Sache fallen zu lassen.«

Diese Warnung war gut gemeint, kam aber zu spät. Allan that dasselbe, was an seiner Stelle neunundneunzig von hundert Leuten gethan haben würden —— er wies den Rath von der Hand.

»Nun, Sir«, sagte Pedgift junior; »wenn Sie darauf bestehen, so müssen Sie es hören.«

Er beugte sich zu Allan hin und flüsterte ihm das, was er von dem Hause in Pimlico und den darin wohnenden Leuten gehört, ins Ohr.

»Machen Sie mir keinen Vorwurf, Mr. Armadale«, setzte er, nachdem die Worte gesprochen worden,«hinzu. »Ich wollte Sie schonen.«

Allan ertrug den Schlag, wie alle großen Schläge ertragen werden —— stillschweigend. Sein erster Impuls hätte ihn seine Zuflucht zu der Ansicht über die Aussage des Kutschers nehmen lassen, die ihm so eben anempfohlen worden war, wenn ihm nicht ein erschwerender Umstand unerbittlich in den Weg getreten wäre. Miß Gwilt’s unzweifelhaftes Widerstreben, sich über ihr vergangenes Leben auszulassen, stieg unabweislich in seiner Erinnerung auf, als indirecte, aber fürchterliche Bestätigung des Zeugnisses, welches die Person, die sich für Miß Gwilt verbürgt, mit dem Hause in Pimlico in Verbindung brachte. Nur ein Schluß drängte sich seinem Geiste auf, der Schluß, zu dem Jeder hätte kommen müssen, nachdem er gehört, was Allan so eben vernommen, und wenn er nicht mehr wußte, als Allan bekannt war. Ein elendes gefallenes Weib, das in seiner äußersten Noth nach der Hilfe von schändlichen Geschöpfen gegriffen hat, die in verbrecherischen Heimlichkeiten bewandert sind, das sich vermittelst einer gefälschten Empfehlung wieder in anständige Gesellschaft und eine achtbare Beschäftigung eingeschmuggelt hat und dessen Stellung ihm jetzt die fürchterliche Nothwendigkeit beständiger Verheimlichung und beständigen Betrugs hinsichtlich seiner Vergangenheit auferlegte —— so stellte sich die schöne Erzieherin zu Thorpe-Ambrose Allan’s Augen dar.

Falsch oder wahr? Hatte sie sich durch gefälschte Empfehlung wieder in anständige Gesellschaft und achtbare Beschäftigung eingeschmuggelt? Ja. Legte ihre. Stellung ihr die fürchterliche Nothwendigkeit beständiger Verheimlichung und beständigen Betrugs hinsichtlich ihres frühem Lebens auf? Ja. War sie das beklagenswerthe Opfer eines unbekannten Mannes, für das Allan sie hielt? Nein, ein solches beklagenswerthes Opfer war sie nicht. Der Schluß, den Allan zog, der Schluß, der sich ihm nach den ihm vorliegenden Thatsachen aufdrängte, war nichtsdestoweniger von allen Schlüssen derjenige, welcher der Wahrheit am fernsten lag. Die wahre Geschichte von Miß Gwilt’s Beziehungen zu dem Hause in Pimlico und den Leuten, die dasselbe bewohnten, einem Hause, von dem ganz richtig angegeben worden, daß es schändliche Geheimnisse barg, und Leuten, die mit Recht als solche bezeichnet waren, welche sich in beständiger Gefahr befinden, den Arm des Gesetzes zu fühlen, war eine Geschichte, die erst durch die bevorstehenden Ereignisse an den Tag kommen sollte, eine Geschichte, bei weitem weniger empörend und dennoch bei weitem entsetzlicher, als Allan oder Allan? Gefährte sich träumen ließ.

»Ich wollte Sie gern schonen, Mr. Armadale«, wiederholte Pedgift. »Vor allem lag mir daran, Ihnen, wenn es irgendwie zu vermeiden sei, nicht weh zu thun.«

Allan sah auf und machte eine Anstrengung, sich zu fassen. »Sie haben mir entsetzlich weh gethan«, sagte er. »Sie haben mich förmlich zu Boden geschmettert. Aber das ist nicht Ihre Schuld. Ich sollte vielmehr fühlen, daß Sie mir einen Dienst geleistet haben, und ich werde es fühlen, sobald ich mich wieder etwas erholt habe. Doch eins«, fügte er nach einem kurzen schmerzlichen Nachsinnen hinzu, »muß sofort zwischen uns abgemacht werden. Der Rath, den Sie mir so eben ertheilten, war sehr freundlich gemeint, und es war der beste, den Sie mir geben konnten. Ich will denselben dankbar annehmen. Wenn Sie mir die Liebe erzeigen wollen, reden wir nie wieder davon, und ich bitte Sie, auch nie irgend einer andern Person davon zu sagen. Wollen Sie mir das versprechen?«

Pedgift gab das Versprechen mit ersichtlicher Aufrichtigkeit, doch ohne seine gewohnte Sicherheit. Die Bekümmerniß in Allan’s Gesicht schien ihm zu Herzen zu gehen. Nach einem Augenblicke ihm sonst sehr wenig eigenthümlichen Zögerns verließ er rücksichtsvoll das Zimmer.

Als sich Allan allein sah, ließ er sich Schreibmaterialien bringen und nahm den von der Majorin erhaltenen verhängnißvollen Empfehlungsbrief an Mrs. Mandeville aus seinem Taschenbuche.

Ein Mann, der die Folgen zu bedenken und mit Ueberlegung zu handeln gewohnt gewesen, hätte sich in Allan’s gegenwärtiger Lage gewiß einigermaßen im Unklaren befunden, welches Verfahren jetzt das für ihn mindeste, schwierige und gefährliche sein möchte. Doch Allan, der sich bei jeder Gelegenheit vom Impulse des Moments leiten ließ, handelte auch in dieser kritischen Lage nach demselben. Obgleich seine Zuneigung zu Miß Gwilt nichts mit dem tiefen Gefühle gemein hatte, für das er sie in aller Ehrlichkeit gehalten, so hatte jene doch in ungewöhnlichem Grade seine Bewunderung gewonnen, und es war kein gewöhnlicher Kummer, mit dem er ihrer jetzt gedachte. Sein einziger alles Andere überwiegender Wunsch in diesem kritischen Augenblicke war der männliche, barmherzige Wunsch, die unglückliche, die seine Achtung verloren, ohne darum ihre Ansprüche auf schonende Nachsicht und schützendes Mitleid einzubüßen, vor Bloßstellung und Untergang zu bewahren.

»Ich kann nicht nach Thorpe-Ambrose zurückkehren; ich getraue mich nicht, sie wiederzusehen oder zu sprechen. Aber ich kann ihr trauriges Geheimniß, bewahren, und ich will’s!« Mit diesem Gedanken im Herzen machte Allan sich an die erste Pflicht, die ihm jetzt oblag, die Pflicht, an Mrs. Milroy zu schreiben. Hätte er eine höhere geistige Begabung und einen klarem Blick besessen, so würde dieser Brief ihm nicht leicht geworden sein. So aber berechnete er die Folgen nicht und sah deshalb keine Schwierigkeiten. Sein Instinct mahnte ihn, sofort die Stellung aufzugeben, die er augenblicklich der Majorin gegenüber einnahm, und was dieser Instinkt ihm unter den obwaltenden Umständen eingab, schrieb er so schnell nieder, als seine Feder es nur auf dass Papier zu tragen vermochte.

»Dunn’s Hotel, Convent-Garden.
Dienstag.

Verehrte Frau! Entschuldigen Sie mich, wenn ich nicht, wie ich versprach, schon heute nach Thorpes-Ambrose zurückkehre. Unvorhergesehene Umstände nöthigen mich, noch in London zu bleiben. Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß es mir nicht gelungen, Mrs. Mandeville zu sehen, aus welchem Grunde ich Ihren Auftrag nicht auszuführen im Stande bin; deshalb stelle ich Ihnen mit vielen Entschuldigungen den mir gegebenen Empfehlungsbrief wieder zu. Ich hoffe, Sie werden mir zum Schlusse zu sagen gestatten, daß ich Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden bin und diese nicht weiter in Anspruch zu nehmen wage.

Aufrichtig der Ihre

Allan Armadale.«

Mit diesen arglosen Worten gab Allan der Frau, in welche er noch immer kein Mißtrauen setzte, die Waffe in die Hand, die sie gesucht.

Sobald der Brief mit seiner Einlage einmal versiegelt und adressiert war, hatte Allan volle Muße, an sich selbst und seine Zukunft zu denken. Während er müßig dasaß und mit seiner Feder auf dem Löschpapier zeichnete, füllten sich seine Augen zum ersten Male mit Thränen, Thränen, an denen das Weib, das ihn hintergangen, keinen Antheil hatte. Sein Herz war zu seiner verstorbenen Mutter zurückgekehrt. »Wäre sie am Leben gewesen«, dachte er, »ihr hätte ich vertrauen können und sie würde mich getröstet haben.« Es war nutzlos, bei dem Gedanken zu verweilen; er wischte sich also die Thränen aus den Augen und wandte seine Gedanken mit der krankhaften Resignation, die wir alle kennen, lebenden und gegenwärtigen Dingen zu.

Mit ein paar Zeilen setzte er Mr. Bashwood in Kenntniß, daß seine Abwesenheit von Thorpe-Ambrose wahrscheinlich etwas länger dauern werde und daß er alle etwaigen Instructionen, die unter den gegenwärtigen Umständen nothwendig sein dürften, durch den älteren Pedgift erhalten solle. Als dies geschehen und die Briefe zur Post gegeben waren, kehrten seine Gedanken nochmals zu ihm selbst zurück. Die Zukunft lag abermals leer vor ihm und harrte der Ausfüllung, und sein Herz wandte sich abermals widerstrebend von ihr ab und suchte seine Zuflucht in der Vergangenheit.

Diesmal tauchten außer dem Bilde seiner Mutter noch andere in seinem Geiste auf. Lebendig und heftig erwachte das eine prädominirende Interesse seiner ersten Jugendzeit in ihm: er dachte ans Meer; er dachte an seine Yacht, welche müßig in dem Fischerhafen seiner westlichen Heimat lag. Die alte Sehnsucht erfaßte ihn, wieder das Plätschern der Wellen zu hören, das Schwellen der Segel zu sehen und das Schiff, das er mit eigenen Händen erbaut, wieder unter sich schaukeln zu fühlen. Mit seinem gewohnten Ungestüm erhob er sich, um sich den Eisenbahnfahrplan bringen zu lassen und mit dem nächsten Zuge nach Sommersetshire abzureisen, als die Furcht vor den Fragen, die Mr. Brock ihm verlegen, und die Ahnung von der Veränderung, die dieser an ihm wahrnehmen dürfte, ihn wieder auf seinen Sessel zwang. »Ich will schreiben«, dachte er, »und die Yacht neu auftakeln und herrichten lassen, und dann warten, bis Midwinter mit mir kommen kann« Er seufzte, indem er seines abwesenden Freundes gedachte. Noch nie hatte er die Leere, die Midwinters Abwesenheit in sein Leben gebracht, so schmerzlich empfunden wie jetzt in der trostlosesten aller menschlichen Einsamkeiten, der Einsamkeit eines Fremden in London, der in einem Hotel allein sitzt.

Nach einer Weile sah Pedgift herein, sich wegen der Störung entschuldigend. Allan fühlte sich zu verlassen und zu freundlos, um die Rückkunft seines Gefährten nicht dankbar willkommen zu heißen. »Ich werde nicht sogleich nach Thorpe-Ambrose heimreisen«, sagte er. »Ich denke eine kleine Weile in London zu bleiben. Hoffentlich werden Sie bei mir bleiben können?« Pedgift war, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, durch die vereinsamte Lage, in welcher der Besitzer der großen Güter von Thorpe-Ambrose in diesem Augenblicke vor ihm erschien, gerührt. Während seines ganzen Verkehrs mit Allan hatte er seine Geschäftsinteressen noch nie so sehr aus den Augen verloren wie jetzt.

»Sie thun vollkommen recht, Sir, hier zu bleiben. London ist der rechte Ort, Sie zu zerstreuen«, sagte Pedgift heiter. »Alle Geschäftssachen sind mehr oder weniger elastisch, Mr. Armadale; ich werde die meinigen etwas ausdehnen und Ihnen mit dem größten Vergnügen Gesellschaft leisten. Wir befinden uns beide auf der richtigen Seite der Dreißig, Sir —— lassen Sie uns davon profitieren. Was meinen Sie dazu, wenn wir zeitig zu Mittag speisten, dann ins Theater gingen und uns morgen nach dem Frühstück die große Industrieausstellung im Hyde-Park ansehen? Wenn wir nur wie Kampfhähne leben und uns unausgesetzt den öffentlichen Ergötzlichkeiten widmen, werden wir in größter Geschwindigkeit das mens sanna in corpore sano der Alten erreichen. Erschrecken Sie nicht über das Citat, Sir. Nach den Geschäftsstunden schäkere ich gern ein wenig mit meinem Latein und erhöhe meine Sympathien dafür durch gelegentliches Studium der heidnischen Schriftsteller unter dem Beistande eines Lehrers. —— William, wir speisen um fünf Uhr, und da die Sache heute besonders wichtig, so will ich selber mit dem Koch reden.«

Der Abend verging, der folgende Tag verging, der Donnerstag kam und brachte Allan einen Brief. Die Aufschrift zeigte Mrs. Milroy’s Handschrift, und schon die Form der Anrede ließ Allan ahnen, daß etwas nicht war, wie es sein sollte.

»Parkhäuschen, Thorpe-Ambrose.
Mittwoch.

»Sir, so eben habe ich Ihr geheimnißvolles Schreiben erhalten. Dasselbe hat mich nicht nur überrascht, es hat mich wirklich beunruhigt Nachdem ich Ihnen in der freundschaftlichsten Weise entgegengekommen, sehe ich mich plötzlich aus das unbgreiflichste und, wie ich hinzufügen muß, aus das unhöflichste von Ihrem Vertrauen ausgeschlossen. Es ist mir völlig unmöglich, die Sache da ruhen zu lassen, wo Sie dieselbe haben fallen lassen. Der einzige Schluß, den ich aus Ihrem Briefe zu ziehen vermag, ist der, daß irgendwie mein Vertrauen mißbraucht worden ist und daß Sie weit mehr wissen, als Sie mir mitzutheilen geneigt sind. Im Interesse meiner Tochter ersuche ich Sie, mich von den Umständen in Kenntniß zu setzen, die Sie verhindert, Mrs. Mandeville zu sehen, und Sie bewogen haben, das unbedingte Versprechen Ihres Beistandes zurückzunehmen, welches Sie mir in Ihrem Briefe vom letzten Montag gaben.

Bei dem Zustande meiner Gesundheit ist es mir nicht möglich, mich in eine lange Correspondenz einzulassen. Ich muß jedem etwaigen Einwande von Ihrer Seite vorbeugen und Alles, was ich überhaupt zu sagen habe, in meinem gegenwärtigen Briefe sagen. Für den Fall, den ich nur höchst ungern in Betracht ziehe, daß Sie sich weigern sollten, die Bitte zu erfüllen, die ich so eben an Sie gerichtet habe, muß ich Sie benachrichtigen, daß ich es für meine Pflicht gegen meine Tochter halte, mir eine vollständige Aufklärung über diese unangenehme Geschichte zu verschaffen. Höre ich nicht mit umgehender Post und zu meiner völligen Befriedigung von Ihnen, so sehe ich mich genöthigt, meinem Gatten mitzutheilen, daß sich Dinge ereignet haben; die uns rechtfertigen, wenn wir die Achtbarkeit der Person, die uns Miß Gwilt empfohlen hat, einer sofortigen Prüfung unterwerfen. Und wenn er mich nach meiner Quelle fragt, werde ich ihn an Sie beweisen.

Ihre gehorsame Dienerin

Anne Milroy.«

Also ließ die Majorin die Maske fallen und ihr Opfer mit Muße die Schlinge betrachten, in der sie es gefangen hatte. Allan hatte so unbedingt und aufrichtig an Mrs. Milroy’s Ehrlichkeit geglaubt, daß ihr Brief ihn einfach verblüffte. Er hatte das vage Bewußtsein, daß man ihn in irgend einer Weise hintergangen habe und daß Mrs. Milroy’s nachbarliches Interesse an ihm durchaus nicht das gewesen sei, als was es auf seiner Oberfläche erschienen war; weiter sah er nichts. Die Drohung, sich an den Major zu wenden, von der Mrs. Milroy in frauenhafter Unkenntniß der Männernatur den größten Effect erwartet hatte, war die einzige Stelle des Briefes, die Allan mit einiger Genugthuung laß anstatt Beunruhigung gewährte sie ihm Erleichterung. »Wenn es durchaus einen Streit geben muß«, dachte er, »so wird es jedenfalls ein Trost sein, ihn mit einem Manne auszufechten.«

Fest in seinem Entschlusse, die unglückliche zu schützen, deren Geheimnis er entdeckt zu haben wähnte, setzte Allan sich hin, um der Majorin seine Entschuldigungen zu machen. Nachdem er drei höfliche Erklärungen in dichter Marschordnung hinter einander aufgestellt hatte, zog er sich vom Schlachtfelde zurück.

»Er bedaure außerordentlich, Mrs. Milroy beleidigt zu haben. Jegliche Absicht, Mrs. Milroy beleidigen zu wollen, liege ihm ganz fern. Er habe die Ehre, Mrs. Milroy’s ergebenster Diener zu sein.« Allan’s übliche Kürze in der Briefstellerei hatte ihm noch nie bessere Dienste geleistet als bei dieser Gelegenheit. Hätte er im Gebrauch der Feder nur etwas größere Geschicklichkeit besessen, so würde er dem Feinde jedenfalls noch größere Macht gegen sich in die Hände gegeben haben, als derselbe bereits hatte.

Der Zwischentag verging, aber schon der folgende Morgen brachte die Verwirklichung von Mrs. Milroy’s Drohung in Gestalt eines Briefes von ihrem Gatten. Der Major schrieb weniger förmlich, als seine Gemahlin geschrieben hatte, doch waren seine Fragen unbarmherzig direct.

»Parkhäuschen. Thorpe-Ambrose.
Freitag, den 11. Juli 1851.

»Werther Herr! Als Sie mir vor einigen Tagen die Ehre Ihres Besuchs schenkten, richteten Sie hinsichtlich meiner Erzieherin, Miß Gwilt, eine Frage an mich, die mir damals etwas seltsam erschien und, wie Sie sich vielleicht erinnern, eine momentane Verlegenheit zwischen uns herbeiführte.

Heute Morgen bin ich an unser Gespräch über Miß Gwilt wieder in’ einer Weise erinnert worden, die mich in das größte Erstaunen versetzt hat. Um mich deutlich auszudrücken, Mrs. Milroy unterrichtet mich, daß Miß Gwilt verdächtig ist, uns durch eine gefälschte Empfehlung hintergangen zu haben. Als ich über eine so außerordentliche Mittheilung meine Verwunderung zu erkennen gab und um unverzügliche Beweise für dieselbe bat, vernahm ich zu meinem noch größeren Erstaunen, daß ich mich wegen aller Einzelheiten an Niemand anders als an Mr. Armadale zu wenden hätte. Vergebens habe ich Mrs. Milroy um weiteren Aufschluß ersucht; sie beharrt bei ihrem Schweigen und verweist mich an Sie.

Unter diesen außerordentlichen Umständen sehe ich mich, um allen Parteien gerecht zu werden, genöthigt, gewisse Fragen an Sie zu richten, die ich so klar wie möglich zu stellen suchen will und von denen ich nach meiner bisherigen Bekanntschaft mit Ihnen überzeugt bin, daß Sie dieselben Ihrerseits offen beantworten werden.

Ich bitte erstens um Erlaubniß, Sie fragen zu dürfen, ob Sie Mrs. Milroy’s Behauptung, daß Sie sich von gewissen Einzelheiten unterrichtet haben, die Miß Gwilt oder die Dame betreffen, welche Miß Gwilt empfahl, und über die ich in vollkommener Unwissenheit bin, als richtig anerkennen. Zweitens, wenn Sie die Wahrheit von Mrs. Milroy’s Angabe zugeben, ersuche ich Sie, mir mitzutheilen, wie Sie diese Einzelheiten erfahren haben. Zum Dritten und Letzten erlaube ich mir, Sie zu fragen, worin diese Einzelheiten bestehen.

Wenn es irgend einer Rechtfertigung für diese Fragen bedarf, was ich einzig und allein als eine Sache der Höflichkeit Ihnen gegenüber einräumen will, so muß ich Sie daran erinnern, daß das Kostbarste, was ich besitze, meine Tochter, Miß Gwilt’s Obhut anvertraut ist und daß Mrs. Milroy’s Angabe Sie allem Anscheine nach in die Lage setzt, mir sagen zu können, ob unser Vertrauen gerechtfertigt ist oder nicht.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich, da bis jetzt nichts geschehen ist, was den geringsten Argwohn in mir gegen Miß Gwilt oder die Dame begründet, die sie empfahl, warten werde, bis ich Ihre Antwort, der ich mit umgehender Post entgegensehe, erhalten, ehe ich gegen Miß Gwilt ein Wort von der Sache erwähne.

Getreu der Ihre

David Milroy.«

Dieser durchsichtig offene Brief machte sofort der Verwirrung, die bisher in Allan’s Geiste geherrscht, ein Ende; er erkannte die Schlinge, in der er gefangen worden, wie er sie bisher noch nicht erkannt hatte. Mrs. Milroy hatte ihn offenbar zwischen zwei Alternativen gestellt, die Alternative, sich in eine falsche Stellung zu bringen, wenn er sich weigerte, die Fragen ihres Gatten zu beantworten, und jene andere, feigerweise seine Verantwortlichkeit durch die eines Weibes zu decken, wenn er dem Major geradezu gestand, daß seine eigene Gattin ihn hintergangen habe. Wie immer handelte Allan auch in dieser heiklen Lage, ohne zu zögern. Sein Versprechen, die Correspondenz zwischen Mrs. Milroy und ihm geheim zu halten, band ihn noch immer, wie schmachvoll sie selbst dasselbe auch mißbraucht hatte. Und sein Entschluß, sich durch keine Rücksicht von der Welt dazu verleiten zu lassen, Miß Gwilt zu verrathen, stand so fest wie je. »Vielleicht habe ich wie ein Narr gehandelt«, dachte er, »aber mein Wort werde ich nicht brechen, und nicht die Ursache sein, daß das unglückliche Geschöpf wieder in die Welt hinausgestoßen wird.«

Er schrieb einen ebenso ungekünstelten und kurzen Brief an den Major, wie er schon an dessen Gattin geschrieben hatte. Er versicherte ihm, wie schwer es ihm ankomme, einem Freunde und Nachbar eine Enttäuschung zu bereiten. Doch bleibe ihm diesmal keine andere Wahl. Die Fragen, die der Major ihm vorlege, seien der Art, daß er sie nicht beantworten könne. Ersei nicht sehr gewandt in Erklärungen und hoffe, der Major werde ihn deshalb entschuldigen, wenn er sich solchergestalt ausdrücke und weiter nichts hinzufüge.

Die Post am Montag brachte die Erwiderung des Majorin welche die Correspondenz schloß.

»Parkhäuschen. Thorpe Ambrose.
Sonntag.

»Sir! Ihre Weigerung, auf meine Fragen zu antworten, die selbst nicht einmal von einem Schatten einer Entschuldigung für ein solches Benehmen begleitet ist, kann nur in einer Weise gedeutet werden. Sie ist nicht nur eine stillschweigende Anerkennung der Richtigkeit von Mrs. Milroy’s Angabe, sondern auch ein stillschweigender Vorwurf für den Charakter meiner Erzieherin. Aus Gerechtigkeit gegen eine Dame, die sich unter dem Schutze meines Daches befindet und die mir nicht die geringste Veranlassung zu einem Verdachte gegeben, werde ich jetzt Miß Gwilt unsern Briefwechsel zeigen und ihr die Unterhaltung, die ich über diesen Gegenstand mit Mrs. Milroy gehabt habe, in deren Gegenwart wiederholen.

Noch ein Wort hinsichtlich unserer zukünftigen gegenseitigen Beziehungen und ich bin zu Ende. Meine Ansichten über gewisse Dinge sind wahrscheinlich die Ansichten eines altmodischen Mannes. Zu meiner Zeit hatten wir ein Ehrengesetz, nach dem wir unsere Handlungen regulierten. Diesem Gesetz zufolge unterlag ein Mann, der heimliche Nachfragen über eine Dame anstellte, zu der er nicht in der Beziehung eines Vaters, Gatten oder Bruders stand, der Verpflichtung, sein Benehmen vor Andern zu rechtfertigen, und wenn er dieser Verpflichtung auswich, verzichtete er damit auf die Stellung eines Gentleman. Es ist sehr wohl möglich, daß diese alterthümliche Ansicht nicht mehr existiert, aber in meinen Jahren ist es zu spät, sich noch zu neumodischern Ansichten zu bekehren. Da wir in einem Lande und zu einer Zeit leben, wo das einzige Ehrengericht das Polizeigericht ist, so liegt mir ganz besonders daran, mich in diesem Punkte unseres Verkehrs mit der größten Mäßigung auszudrücken. Gestatten! Sie mir deshalb blos die Bemerkung, daß unsere Ansichten von dem Benehmen, das einem Gentleman geziemt, ernstlich von einander abweichen, und erlauben Sie mir deshalb noch die Bitte hinzuzufügen, daß Sie sich in Zukunft für mich und meine Familie als einen Fremden betrachten wollen.

Ihr gehorsamster Diener

David Milroy.«

Der Montagmorgen, an dem sein Client den Brief des Majors erhielt, war der schwärzeste, der noch in Pedgift’s Kalender vermerkt stand. Als Allan’s erster Zorn über den verächtlichen Ton verraucht war, in dem sein Freund und Nachbar ihn verurtheilt hatte, verharrte er dennoch in einem Zustande der Niedergeschlagenheit, aus dem keine Bemühungen seines Gefährten ihn für den Rest des Tages herauszureißen vermochten. Da er sich sehr natürlicherweise jetzt, wo seine Verbannung ausgesprochen, seinen frühem Verkehr mit den Bewohnern des Parkhäuschens vergegenwärtigte, so gedachte er Neelie’s schmerzlicher und reuiger, als er es bisher noch gethan. »Hätte sie, anstatt ihres Vaters, mir die Thür verschlossen«, war der bittere Gedanke, mit dem Allan jetzt in die Vergangenheit zurückblickte, »so hätte ich kein Wort dagegen sagen können; ich würde gefühlt haben, daß mir Recht geschehe.«

Der nächste Tag brachte abermals einen Brief, diesmal einen willkommenem und zwar von Mr. Brock.

Allan hatte vor einigen Tagen wegen der Neutakelung der Yacht nach Sommersetshire geschrieben. Beim Empfange des Briefes war der Pfarrer —— wie er sich in seiner Unschuld einbildete —— beschäftigt gewesen, seinen ehemaligen Zögling vor dem Weibe zu schützen, das er in London beobachtet hatte und das, wie erwähnte, ihm jetzt bis in seine Heimat gefolgt sei. Mrs. Oldershaw’s Stubenmädchen hatte, nach den ihr ertheilten Instructionen handelnd, Mr. Brock vollständig mystificirt. Alle fernere Besorgniß des Pfarrers hatte sie eingeschläfert, indem sie ihm —— als Miß Gwilt —— ein schriftliches Versprechen gegeben hatte, sich niemals, weder persönlich noch schriftlich, an Mr. Armadale zu wenden! Fest überzeugt, daß er endlich den Sieg errungen, beantwortete der arme Mr. Brock Allan’s Brief in der heitersten Stimmung, drückte einige begreifliche Verwunderung darüber aus, daß Allan Thorpe-Ambrose verlassen wolle, versprach jedoch mit größter Bereitwilligkeit die Neutakelung der Yacht anzuordnen und bot auf das herzlichste die Gastfreiheit seines Pfarrhauses an.

Dieser Brief heiterte Allan wunderbar auf. Er gab ihm ein neues Interesse, das mit seinem seitherigen Leben in Norfolk gar nichts gemein hatte. Schon begann Allan die Tage zu zählen, die bis zu der Rückkehr seines Freundes noch verstreichen mußten. Es war jetzt Dienstag. Kehrte Midwinter, wie er versprochen hatte, in vierzehn Tagen von seiner Fußreise zurück, so mußte er am Sonnabend in Thorpe-Ambrose anlangen. Wenn er dem Reisenden dorthin einen Brief entgegensandte, so konnte Midwinter noch an demselben Abend in London sein, und ging Alles gut, so waren sie schon, ehe noch eine Woche verlief, wieder zusammen in der Yacht auf dem Wasser.

Der folgende Tag verging, ohne, zu Allan’s Erleichterung, irgend welche Briefe zu bringen. Die Stimmung des jungen Pedgift verbesserte sich mit der seines Clienten. Um die Essenszeit spielte er auf das mens sana in corpore sano der Alten an und ertheilte dem Oberkellner königlichere Befehle denn je.

Der Donnerstag kam und mit ihm der unglückselige Briefträger mit ferneren Neuigkeiten aus Norfolk. Nunmehr erschien ein Correspondent auf dem Schauplatze, der sich bisher noch nicht darauf gezeigt hatte, und Allan’s Pläne wegen seines Besuche in Sommersetshire waren augenblicklich über den Haufen geworfen.

Zufällig war an diesem Morgen Pedgift junior zuerst am Frühstückstische. Als Allan hereintrat, verfiel er wieder in seine Geschäftsmanier und überreichte seinem Gönner mit einer in schauerlichem Schweigen ausgeführten Verbeugung einen Brief.

»Für mich?« fragte Allan, instinctmäßig vor einem neuen Correspondenten zurückweichend.

»Für Sie, Sir, von meinem Vater«, antwortete Pedgift, »einem Schreiben an mich eingelegt. Vielleicht gestatten Sie mir, um Sie auf etwas ein wenig Unangenehmes vorzubereiten, den Vorschlag zu machen, daß wir ein besonders gutes Diner bestellen und, wenn man nicht etwa heute Abend eine neue deutsche Oper gibt, den Abend melodiös in der Oper beschließen.«

»Ist in Thorpe-Ambrose etwas passiert?« fragte Allan.

»Ja, Mr. Armadale; es ist etwas in Thorpe-Ambrose passiert.«

Mit Ergebung setzte sich Allan nieder und las den Brief.

»Hochstraße, Thorpe-Ambrose.
Den 17. Juli 1851.

(In Ptivatsachen und im Vertrauen)

Geehrtester Herr! Ich kann es mit meiner Sorge für Ihre Interessen nicht vereinigen, wenn ich Sie noch länger in Unwissenheit lasse über gewisse in der Stadt und der Umgegend in Umlauf gesetzte Gerüchte, die, wie ich zu sagen bedaure, Sie betreffen.

Die erste Andeutung von einer Unannehmlichkeit drang am vorigen Montag zu mir. Es hieß in der ganzen Stadt, daß im Hause des Majors Milroy mit der neuen Gouvernante etwas passirt sei, worein Mr. Armadale verwickelt sei. Ich achtete nicht weiter darauf, weil ich es für eine jener Klätschereien hielt, an denen wir hier beständig Ueberfluß haben und die den Bewohnern dieses höchst respectabeln Ortes so unentbehrlich sind wie die Luft, welche sie athmen.

Am Dienstag aber erschien die Sache in einem neuen Lichte. Aus untrüglichster Quelle wurden die interessantesten Einzelheiten verbreitet. Am Mittwoch erfuhr die umwohnende Gentry die Sache und nahm allgemein die Ansicht an, welche die Stadt darüber ausgesprochen hatte. Heute hat die öffentliche Meinung ihren Höhepunkt erreicht, und ich sehe mich genöthigt, Sie von dem zu unterrichten, was sich zugetragen hat.

Um von vorn zu beginnen, so wird behauptet, daß vorige Woche zwischen Ihnen und Major Milroy eine Correspondenz stattgefunden, in der Sie einen starken Verdacht gegen Miß Gwilt’s Achtbarkeit ausgesprochen, ohne Ihre Beschuldigung deutlich zu erklären und, obschon dazu aufgefordert, Beweise für Ihre Beschuldigung beizubringen. Hierauf scheint es der Major für seine Pflicht erachtet zu haben, seiner Erzieherin unter Versicherung seiner eigenen festen Ueberzeugung von ihrer Achtbarkeit von dem Geschehenen Mittheilung zu machen, damit sie sich in Zukunft nicht beklagen könne, daß er ihr in einer ihren Ruf betreffenden Sache irgend etwas verheimlicht habe. Sehr großmüthig von dem Major; aber Sie werden sogleich sehen, daß Miß Gwilt noch großmüthiger war. Nachdem sie dem Major in der bescheidensten Weise ihren Dank ausgedrückt, bat sie ihn um die Erlaubniß, seinen Dienst verlassen zu dürfen.

Ueber die Gründe, welche die Gouvernante zu diesem Schritte hatte, erzählt man sich Verschiedenes.

Die autorisierte, von den umwohnenden Honoratioren angenommene Version ist die, daß Miß Gwilt erklärt habe, sie könne aus Gerechtigkeit gegen sich selbst und gegen die höchst achtbare Dame, die sie empfohlen, sich nicht herablassen, ihren Ruf wider die vagen Verunglimpfungen eines Mannes zu vertheidigen, der ihr verhältnißmäßig fremd sei. Zu gleicher Zeit könne sie unmöglich so verfahren, wenn sie nicht eine Freiheit ihres Thuns und Lassens besitze, wie diese mit ihrer abhängigen Stellung als Erzieherin völlig unvereinbar sei. Aus diesem Grunde fühle sie sich gezwungen, ihre Stelle aufzugeben. Indem sie dies thue, sei sie indeß ebenso entschlossen, nicht etwa durch ein Fortgehen aus der Gegend zu Mißdeutungen ihrer Beweggründe Anlaß zu geben. Wie unbequem ihr dies immer sein möge, sie wolle so lange in Thorpe-Ambrose bleiben, bis die Beschuldigungen ihres Charakters klarer ausgesprochen worden seien, und diese dann, sowie sie eine deutliche Gestalt angenommen, öffentlich zu widerlegen.

Dies die Haltung, welche die hochherzige Dame mit vortrefflichem Effect auf die öffentliche Meinung unserer Gegend angenommen hat. Offenbar liegt es aus irgend einem Grunde in ihrem Interesse, aus ihrer Stellung, nicht aber aus der Gegend hier zu scheiden. Am vorigen Montag hat sie ein billiges Logis in der Vorstadt bezogen und am selben Tage schrieb sie vermuthlich an die Dame, die sich für sie verbürgt hat, denn gestern lief von dieser ein Brief an den Major ein, der voll tugendhafter Entrüstung war und die umständlichsten Nachforschungen forderte. Dieser Brief ist öffentlich gezeigt worden und hat Miß Gwilt’s Stellung außerordentlich befestigt. Sie wird jetzt als eine wahre Heldin betrachtet. Der »Mercur von Thorpe-Ambrose" hat einen Leitartikel über sie, worin er sie mit der Jungfrau von Orleans vergleicht. Man hält es für wahrscheinlich, daß ihrer am nächsten Sonntag in der Predigt Erwähnung geschieht. Wir zählen fünf starkgeistige Damen in der Umgegend und alle fünf haben ihr ihren Besuch gemacht. Ein Ehrenzeugniß ward vorgeschlagen, auf Miß Gwilt’s eigenes Ersuchen indeß wieder aufgegeben, und jetzt werden allseitige Versuche gemacht, ihr Beschäftigung als Musiklehrerin zu verschaffen. Schließlich habe ich die Ehre eines Besuchs von der Dame selbst genossen, bei welcher Gelegenheit sie mir mit dem lieblichsten Wesen von der Welt zu wissen that, daß sie Mr. Armadale nicht tadle und ihn nur als unschuldiges Werkzeug in den Händen übelwollender Leute betrachte. Ich war ihr gegenüber wohl auf meiner Hut, denn ich traue Miß Gwilt nicht besonders und ich habe meinen Advocatenverdacht über den Beweggrund, der ihrem augenblicklichen Verhalten zu Grunde liegt.

Bis hierher habe ich ohne Anstand, ohne Verlegenheit geschrieben, mein lieber Herr. Die Sache hat aber unglücklicherweise sowohl eine ernste als eine lächerliche Seite, und ich muß, ehe ich meinen Brief schließe, so ungern ich es thue, von jener reden.

Es scheint mir ganz unmöglich zu sein, daß Sie in einer Weise von sich reden lassen, wie man jetzt von Ihnen spricht, ohne persönlich etwas in der Sache zu thun. Leider haben Sie sich hier zahlreiche Feinde gemacht, und unter diesen steht mein College Mr. Darch obenan. Ueberall hat er einen von Ihnen etwas unvorsichtig abgefaßten Brief in Betreff der Vermiethung des Parkhäuschens an Major Milroy, anstatt an ihn selbst, umhergezeigt, und dieser Brief hat dazu beigetragen, die öffentliche Meinung noch mehr gegen Sie zu stimmen. Es wird geradezu behauptet, daß Sie aus den unehrenhaftesten Beweggründen nach Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten spioniert, daß Sie aus einem Ihnen nicht zum Lobe gereichenden Zwecke ihren Ruf zu beflecken und ihr den Schutz zu entziehen gesucht hätten, den sie unter Major Milroy’s Dache genossen, und daß Sie, aufgefordert, den Verdacht, den Sie auf den Ruf eines schutzlosen Weibes geworfen, durch Beweise zu rechtfertigen, ein Schweigen beobachtet hätten, das Sie in der Achtung aller Ehrenmänner verdamme.

Ich hoffe, es bedarf durchaus keiner Versicherung von meiner Seite, daß ich diesen schändlichen Gerüchten nicht den mindesten Glauben schenke. Doch sind dieselben zu weit verbreitet und werden zu allgemein als wahr angenommen, als daß wir sie mit Verachtung behandeln dürften. Ich ersuche Sie deshalb dringend, unverzüglich hierher zurückzukehren und mit mir, als Ihrem Rechtsfreunde, die nothwendigen Maßregeln zur Vertheidigung Ihres guten Namens zu treffen. Ich habe mir seit meiner Unterredung mit Miß Gwilt über diese Dame meine eigene Ansicht gebildet, die ich nicht dem Papiere anvertrauen will. Es genüge, wenn ich sage, daß ich zur Beschwichtigung der verleumderischen Zungen Ihrer Nachbarn ein Mittel vorzuschlagen habe, für dessen Erfolg ich mit meinem Rufe als Sachwalter einzustehen bereit bin, wenn Sie mich nur durch Ihre Anwesenheit und Ihre Autorität unterstützen wollen.

Vielleicht trägt es dazu bei, Ihnen die Nothwendigkeit Ihrer Rückkehr darzuthun, wenn ich erwähne, was von Jedermann über Sie gesagt wird. Ihre Abwesenheit wird —— ich erröthe, es auszusprechen —— dem niedrigsten aller Beweggründe zugeschrieben. Es heißt, Sie blieben in London, weil Sie in Thorpe-Ambrose sich zu zeigen fürchteten.
Ich verbleibe,

mein werther Herr,
Ihr ergebenster Diener

A. Pedgift Senior.

Allan war alt genug, um den Stachel zu fühlen, der in dem letzten Satze des Briefes lag. In einem Grade von Entrüstung der Pedgift junior einen ganz neuen Einblick in seinen Charakter verschaffte, sprang er auf.

»Wo ist der Fahrplan?« schrie er. »Mit dem nächsten Zuge muß ich nach Thorpe-Ambrose zurück! Geht dieser nicht sogleich ab, so werde ich einen Extrazug nehmen. Ich muß und will zurückfahren und frage nicht nach den Kosten!«

»Gesetzt, wir schickten meinem Vater eine telegraphische Depesche, Sir?« sagte der verständige Pedgift. »Das ist die schnellste Art und Weise, Ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, und zugleich die wohlfeilste.«

»Das ist wahrt« sagte Allan. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnert. Telegraphiren Sie! Sagen Sie Ihrem Vater, er möge Jeden in Thorpe-Ambrose in meinem Namen einen Lügner heißen. Mit großen Buchstaben, Pedgift, schreiben Sie’s mit großen Buchstaben!«

Pedgift lächelte und schüttelte den Kopf. Wäre er auch mit keiner andern Sorte der menschlichen Natur bekannt gewesen, mit der, welche in kleinen Provinzialstädten wohnt, war er vollkommen vertraut.

»Das wird nicht den geringsten Eindruck auf sie machen, Mr. Armadale«, bemerkte er ruhig. »Sie werden darum nur noch ärger lügen. Wenn Sie die ganze Stadt in Aufruhr bringen wollen, so wird eine einzige Zeile dazu genügen. Für fünf Schillinge menschlicher Arbeit und elektrischen Fluidums —— ich beschäftige mich nach den Geschäftsstunden ein wenig mit den Wissenschaften —— soll eine Bombe in Thorpe-Ambrose platzen!« Er zeigte die Bombe bei diesen Worten auf einem Streifen Papier: »A. Pedgift junior an A. Pedgift Senior. — Verbreite im ganzen Orte das Gerücht, daß Mr. Armadale mit dem nächsten Zuge kommt!«

»Mehr Worte«, sagte Allan, ihm über die Schulter blickend. »Machen Sie’s stärker.«

»Ueberlassen Sie das meinem Vater, Sir«, entgegnete der kluge Pedgift »Mein Vater ist am Orte, und die Gewalt seiner Rede ist etwas ganz Erstaunliches.« Er klingelte und sandte die Depesche ab.

Jetzt, da etwas gethan war, begann Allan allmälig seine Fassung wiederzugewinnen. Nochmals durchlief er Mr. Pedgift’s Brief und überreichte ihn dann dessen Sohne.

»Können Sie errathen, wie mich Ihr Vater in den Augen der Nachbarschaft zu rechtfertigen gedenkt?« fragte er.

Pedgift der Jüngere schüttelte sein weises Haupt. »Mir scheint, daß sein Plan so oder so mit seiner Meinung von Miß Gwilt zusammenhängt, Sir.«

»Ich möchte wissen, wie er von ihr denkt«,sagte Allan.

»Es sollte mich nicht überraschen, Mr. Armadale«, erwiderte Pedgift junior, »wenn seine Ansicht, sobald Sie dieselbe hören, Sie einigermaßen in Erstaunen setzte. Mein Vater hat große juristische Erfahrungen bezüglich der Schattenseiten des weiblichen Geschlechts und seinen Beruf in Old-Bailey studirt.«

Allan fragte nicht weiter. Er schien dem Gegenstande, nachdem er ihn selbst zur Sprache gebracht, jetzt auszuweichen. »Lassen Sie uns etwas thun, um die Zeit zu tödten«, sagte er. »Wir wollen einpacken und die Rechnung bezahlen.«

Sie packten ein und bezahlten die Rechnung. Die Stunde kam und der Zug, fuhr endlich nach Norfolk ab.

Während die Reisenden sich auf der Rückfahrt befanden, ward ein etwas längeres Telegramm als das Allan’s in der entgegengesetzten Richtung auf den Drähten an ihnen vorbei von Thorpe-Ambrose nach London geblitzt. Es war in Chiffern abgefaßt und lautete verdolmetscht folgendermaßen:

»Lydia Gwilt an Maria Oldershaw.

Gute Nachrichten! Er kommt zurück. Ich denke eine Zusammenkunft mit ihm zu haben. Alles läßt sich vortrefflich an. Liegt, da ich das Parkhäuschen verlassen, habe ich keine spionierenden Frauenaugen zu fürchten und kann gehen und kommen, wie mir’s beliebt. Glücklicherweise ist Mr. Midwinter aus dem Wege. Noch verzweifle ich nicht daran, Mrs. Armadale zu werden. Was sich immer ereignen mag, verlaß Dich darauf, daß ich mich von London fern halten werde, bis ich die Gewißheit habe, nicht von Spionen bis zu Deinem Hause verfolgt zu werden. Ich habe durchaus keine Eile, Thorpe-Ambrose zu verlassen. Zuvor will ich an Miß Milroy Vergeltung üben.«

Bald nachdem diese Depesche in London in Empfang genommen war, langte Allan wieder zu Hause an. Es war Abend. Pedgift junior hatte ihn soeben verlassen, und Pedgift Senior sollte in einer halben Stunde in Geschäften bei ihm erscheinen.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Nachdem er die Ankunft seines Sohnes abgewartet, um eine vorläufige Besprechung mit ihm zu halten, verfügte sich Mr. Pedgift der Aeltere zu einer Unterredung mit Allan nach dem Herrenhause.

Den Unterschied im Alter abgerechnet, war der Sohn so genau das Abbild des Vaters, daß eine Bekanntschaft mit einem der beiden Pedgifts fast so gut war wie die Bekanntschaft mit beiden. Wenn man der Größe des jüngeren Pedgift etwas hinzusetzte, seinem Humor etwas mehr Breite und Entschiedenheit und seinem Selbstvertrauen etwas mehr Solidität und Ruhe gab, so hatte man im Großen und Ganzen die Persönlichkeit und den Charakter des älteren Pedgift vor sich.

Das Vehikel, welches den Advocaten nach Thorpe-Ambrose brachte, war sein eigenes nettes Gig, das von seinem berühmten, schnell trabenden Pferde gezogen ward. Es war übrigens seine Gewohnheit, selbst zu fahren. Eine der unbedeutenden äußern Eigenthümlichkeiten, in denen Vater und Sohn sich von einander unterschieden, bestand in der Vorliebe des ersteren für einen Anflug vom Sportsmann in seiner Kleidung. Die gelblich-grauen Beinkleider des älteren Pedgift lagen eng an; seine Stiefeln hatten bei trockenem oder nassem Wetter stets dieselben dicken Sohlen; sein Rock war auf den Hüften mit großen Taschen versehen und seine Lieblings-Sommercravatte von hellem geflecktem Musselin, die er in die zierlichste und kleinste Schleife band. Gleich seinem Sohne war ihm der Tabak, jedoch in einer andern Form, Bedürfniß Während der jüngere Mann rauchte, nahm der ältere seine Prise und zwar in reichlichem Maße, und seine vertrauteren Bekannten bemerkten, daß er, wenn er im Begriff stand, ein gutes Geschäft zu machen oder etwas Gutes zu sagen, die Prise immer zögernd zwischen Dose und Nase hielt.

Wer in den niederen Zweigen der Rechtsgelehrsamkeit reussiren will, muß ein gut Stück Diplomat sein. Mr. Pedgift’s Diplomatie war sein ganzes Leben lang die nämliche gewesen, überall, wo er gefunden, daß seine Ueberredungskunst bei einer persönlichen Besprechung mit Andern erforderlich war. Sein stärkstes Argument oder seinen kühnsten Vorschlag sparte er stets bis zuletzt auf und erinnerte sich desselben immer erst nach bereits geschehener Verabschiedung an der Thür, als wäre es ein ganz zufälliger Gedanke, der ihm so eben erst eingefallen sei. Scherzhafte Freunde, die diese Gewohnheit aus Erfahrung kannten, hatten sie Pedgift’s Postscriptum getauft. In ganz Thorpe-Ambrose gab es Wenige, die nicht wußten, was es zu bedeuten hatte, wenn der Advocat plötzlich an der geöffneten Thür stehen blieb, sachte zu seinem Platze zurückging und, seine Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe haltend, sagte: »Beiläufig, es fällt mir eben ein ——« und damit die Sache abmachte, die er vor einer Minute noch als eine hoffnungslose aufgegeben hatte.

So war der Mann, den der Lauf der Ereignisse in Thorpe-Ambrose jetzt launenhafterweise in erste Linie gestellt hatte. Er war der einzige Freund, an den Allan sich in der Stunde seiner Noth und in seiner gesellschaftlichen Vereinsamung um Rath und Beistand wenden konnte.

»Guten Abend, Mr. Armadale. Besten Dank für Ihre schnelle Berücksichtigung meines sehr unangenehmen Briefes«, sagte Pedgift Senior, heiter die Unterhaltung eröffnend, sowie er in das Haus seines Clienten eintrat. »Ich hoffe, Sie sehen ein, Sir, daß mir unter den Verhältnissen nichts Anderes übrig blieb, als zu schreiben, wie ich geschrieben habe.«

»Ich habe sehr wenige Freunde, Mr. Pedgift,« erwiderte Allan einfach, »und ich bin überzeugt, daß Sie einer dieser wenigen sind.«

»Sehr verbunden, Mr. Armadale. Ich habe stets gesucht, mich Ihrer guten Meinung würdig zu machen, und denke sie, wenn es mir möglich, auch jetzt zu verdienen. Sie befanden sich doch behaglich in Ihrem Hotel in London, Sir? Wir nennen es unser Hotel. Man hat dort einen seltenen alten Wein im Keller, den ich Ihnen hätte vorsetzen lassen, wenn ich die Ehre genossen, in Ihrer Gesellschaft dort zu sein. Mein Sohn ist leider ganz und gar kein Weinkenner.«

Allan fühlte seine falsche Stellung in der Umgegend viel zu tief, um zu irgend etwas Anderem als dem Hauptgeschäfte des Abends aufgelegt zu sein. Die höflich umständliche Manier, in der sein Advocat sich dem peinlichen Gegenstande näherte, trug eher dazu bei, ihn zu reizen, als zu beruhigen. In der ihm eigenen unumwundenen Art und Weise ging er sofort auf die Sache los.

»Das Hotel war sehr comfortabel, Mr. Pedgift, und Ihr Sohn sehr freundlich und aufmerksam gegen mich. Aber wir sind jetzt nicht in London, und ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wie ich am besten den Lügen begegnen soll, die man hier über mich ausstreut. Nennen Sie mir nur einen Menschen«, rief Allan mit erhobener Stimme und erglühendem Gesicht, »nur einen einzigen Menschen, der behauptet, ich fürchte mich, mich sehen zu lassen, und ich will ihn, ehe noch ein Tag über seinem Haupte verstreicht, öffentlich auspeitschen!«

Pedgift Senior nahm eine Prise und hielt sie auf halbem Wege zwischen Dose und Nase ruhig in der Schwebe.

»Sie können wohl einen Menschen auspeitschen, Sir, nicht aber eine ganze Nachbarschaft«, sagte der Advocat in seiner höflich epigrammatischen Weise. »Wenn es Ihnen beliebt, wollen wir unsern Kampf kämpfen, doch unter keiner Bedingung unsere Waffen vom Kutscher entlehnen.«

»Aber wie sollen wir’s anfangen?« fragte Allan ungeduldig. »Wie soll ich die Schändlichkeiten, die man von mir spricht, widerlegen?«

»Es gibt zwei Wege, Sir, auf denen Sie aus Ihrer gegenwärtigen unangenehmen Lage herauskommen können, einen langen Weg und einen kurzen«, erwiderte Pedgift Senior. »Der kurze Weg, immer der beste, ist mir eingefallen, seitdem ich durch meinen Sohn von Ihrem Verhalten in London erfuhr. Ich höre, daß Sie ihm nach Empfang meines Briefes gestattet haben, mich ins Vertrauen zu ziehen. Aus dem, was er mir mitgetheilt, habe ich nun verschiedene Schlüsse gezogen, mit denen ich Sie binnen kurzem werde behelligen müssen. Inzwischen möchte ich wissen, unter was für Umständen Sie nach London gereist sind, um diese unglückseligen Erkundigungen über Miß Gwilt einzuziehen. War der Besuch bei Mrs. Mandeville Ihre eigene Idee, oder handelten Sie unter dem Einflusse irgend einer andern Person?«

Allan zögerte. »Ich kann Ihnen nicht in Wahrheit sagen, daß es mein eigener Gedanke war«, erwiderte er und sagte weiter nichts.

»Das habe ich mir wohl gedacht!« bemerkte Pedgift senior triumphierend. »Der kurze Weg aus dieser Verlegenheit, Mr. Armadale, führt gerade durch jene Person, unter deren Einflusse Sie handelten. Jene andere Person muß sofort vor die Oeffentlichkeit gebracht werden und ihre richtige Stellung einnehmen. Zuerst also gefälligst den Namen, Sir; dann wollen wir von den Umständen reden.«

»Ich bedaure, sagen zu müssen, Mr. Pedgift, daß wir, wenn Sie nichts dawider haben, den langen Weg versuchen wollen«, erwiderte AlIan ruhig. »Denn der kurze Weg ist zufällig derjenige, den ich diesmal nicht einschlagen darf.«

Der geschäftsgewandte Jurist läßt sich mit keinem Nein abfertigen. Mr. Pedgift senior war ein solcher und ließ sich diesmal mit keinem Nein abfertigen. Aber alle Hartnäckigkeit, selbst die des Juristen nicht ausgenommen, findet früher oder später ihre Grenzen, und Mr. Pedgift fand diese, trotz seiner doppelten Stärke vermöge langer Erfahrung und zahlreicher Prisen, schon beim Beginne der Unterredung. Unmöglich konnte Allan das Zutrauen ehren, das Mrs. Milroy ihm zu schenken so arglistig geheuchelt hatte, aber als redlicher Mann achtete er sein eigenes gegebenes Wort, und Mr. Pedgifts äußerste Hartnäckigkeit vermochte ihn nicht um ein Haarbreit aus dieser Position zu vertreiben. »Nein« ist das kräftigste Wort der englischen Sprache im Munde eines Mannes, der hinreichenden Muth besitzt, um es oft genug zu wiederholen, und diesen Muth hatte Allan bei der gegenwärtigen Gelegenheit.

»Sehr gut, Sir«, sagte der Advocat, ohne sich durch diese Niederlage im geringsten aufbringen zu lassen. »Sie haben die Wahl, und Sie haben gewählt. Schlagen wir den langen Weg ein. Er geht, ich muß es Ihnen sagen, von meiner Expedition aus und führt, wie ich stark vermuthe auf einer sehr schmutzigen Straße zu Miß Gwilt.«

Allan sah seinen Rechtsanwalt in sprachlosem Erstaunen an.

»Wenn Sie die Person nicht bloßstellen wollen, die eigentlich für die Nachforschungen verantwortlich ist, zu denen Sie sich unglücklicherweise hergegeben haben, Sir«, fuhr Pedgift Senior fort, »so bleibt in Ihrer gegenwärtigen Lage nichts weiter übrig, als diese Nachforschungen selbst zu rechtfertigen.«

»Und wie kann dies geschehen» fragte Allan.

»Dadurch daß wir der ganzen Nachbarschaft beweisen, Mr. Armadale, was ich entschieden für die Wahrheit halte, daß nämlich die Person, die den Lieblingsgegenstand der öffentlichen Protection bildet, eine Abenteurerin von der schlechtesten Sorte, ein unzweifelhaft verworfenes, gefährliches Frauenzimmer ist. Um noch deutlicher zu sprechen, Sir —— dadurch daß wir Zeit und Geld genug daran wenden, die Wahrheit über Miß Gwilt zu entdecken.«

Ehe Allan noch ein Wort erwidern konnte, wurden sie gestört. Es klopfte und gleich darauf erschien ein Diener.

»Ich habe Euch doch gesagt, daß ich nicht gestört sein wolle«, sprach Allan ärgerlich. »Mein Himmel! Soll ich denn noch immer nicht genug davon haben! Noch ein Brief!«

»Ja, Sir«, sagte der Mann, denselben überreichend. »Und«, fügte er mit Worten böser Vorbedeutung für das Ohr seines Herrn hinzu, »man wartet auf Antwort.«

In der begreiflichen Erwartung, den Schriftzügen der Majorin zu begegnen, sah Allan die Adresse an. Er hatte sich getäuscht Offenbar war es die Handschrift einer Dame, doch nicht die Mrs. Milroy.

»Wer kann es sein?« sagte er, indem er, das Couvert erbrechend, mechanisch Pedgift Senior anblickte.

Pedgift Senior klopfte leise auf seine Schnupftabaksdose und sagte, ohne einen Augenblick zu zögern: »Miß Gwilt.«

Allan öffnete den Brief. Die beiden ersten Worte darin waren ein Echo der beiden Worte, die der Advocat so eben ausgesprochen. Es war in der That Miß Gwilt!

Allan sah seinen Rechtsanwalt in sprachlosem Erstaunen an.

»Ich habe ihrer in meinem Leben eine ziemliche Menge kennen gelernt, Sir«, erklärte Pedgift Senior mit einer Bescheidenheit, wie sie bei einem Manne in seinem Alter ebenso selten wie wohlanständig ist. »Nicht so schön wie Miß Gwilt, das gebe ich zu, aber wahrscheinlich ganz ebenso schlecht. Lesen Sie Ihren Brief, Mr. Armadale, lesen Sie Ihren Brief!«

Allan las folgende Zeilen:

»Miß Gwilt’s Empfehlungen an Mr. Armadale und sie ersucht ihn, sie zu benachrichtigen, ob es ihm convenirt, ihr entweder heute Abend oder morgen früh eine Unterredung zu gestatten. Miß Gwilt will sich wegen dieses Gesuchs nicht entschuldigen. Sie ist überzeugt, Mr. Armadale werde die Erfüllung desselben als einen Art der Gerechtigkeit gegen ein freundloses Weib betrachten, das er unbewußterweise mit verletzt hat und dem ernstlich daran gelegen ist, sich in seinen Augen zu rechtfertigen.«

In schweigender Bestürzung und Bekümmerniß reichte Allan seinem Advocaten den Brief hin.

Das Gesicht des Rechtsgelehrten, nachdem er den Brief gelesen und dann dem Empfänger wieder eingehändigt hatte, drückte nur ein Gefühl aus, ein Gefühl der tiefsten Bewunderung. »Welch ein Advocat hätte sie sein können«, rief er aus, »wäre sie ein Mann gewesen.«

»Ich kann es nicht so leicht nehmen wie Sie, Mr. Pedgift«, sagte Allan. »Die Sache ist mir im höchsten Grade unangenehm. Ich hatte sie so lieb«, setzte er mit leiserer Stimme hinzu. »Ich hatte sie einst so lieb.«

Mr. Pedgift Senior ward seinerseits plötzlich ernst.

»Wollen Sie etwa sagen, Sir, daß Sie wirklich daran denken, Miß Gwilt zu sehen?« fragte er mit einem Ausdrucke wahrer Bestürzung.

»Ich kann sie nicht grausam behandeln«, erwiderte Allan. »Ich bin, ohne es zu wollen, das weiß Gott! das Mittel gewesen, ihr zu schaden, darum kann ich sie nicht grausam behandeln!«

»Mr. Armadale«, sagte der Advocat, »vor einer kleinen Weile erzeigten Sie mir die Ehre, mich Ihren Freund zu nennen. Ich darf mir in dieser Stellung anmaßen, Ihnen ein paar Fragen vorzulegen, ehe ich Sie gerade in Ihr Verderben rennen lasse?«

»So viele Fragen, wie Sie wollen«, versetzte Allan, die Blicke wieder auf den Brief werfend, den einzigen, den er von Miß Gwilt erhalten hatte.

»Man hat Ihnen schon eine Schlinge gelegt, Sir, und Sie sind in dieselbe gefallen. Wollen Sie sich nochmals in einer Schlinge fangen lassen?«

»Sie wissen die Antwort auf diese Frage eben so gut wie ich, Mr. Pedgift.«

»Ich will’s noch einmal versuchen, Mr. Armadale; wir Advocaten lassen uns nicht leicht entmuthigen. Glauben Sie nach dem, was Sie und mein Sohn in London entdeckt haben, daß irgend eine Angabe, die Miß Gwilt Ihnen macht, als zuverlässig zu betrachten sein dürfte?«

»Sie könnte das, was wir in London entdeckt, erklären«, meinte Allan, noch immer den Brief betrachtend und an die Hand denkend die denselben geschrieben hatte.

»Könnte es erklären! Mein bester Herr, sie wird es ganz sicherlich erklären! Ich will ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: ich halte sie für fähig, einen Fall zu erdichten, an dem von Anfang bis zu Ende nichts Unrechtes zu entdecken sein würde.«

Diese letztere Antwort zog Allan’s Aufmerksamkeit gewaltsam von dem Briefe ab. Der unerbittliche gesunde Menschenverstand des Rechtsanwalts zeigte kein Erbarmen.

»Wenn Sie das Frauenzimmer wiedersehen, Sir«, fuhr Pedgift senior fort, »so begehen Sie damit die thörichtste Uebereilung, die mir noch in meiner gesamten Praxis vorgekommen ist. Wenn sie hierher kommt, kann sie nur einen Zweck im Auge haben, nämlich Ihre Schwäche für sie zu benutzen. Es ist gar nicht zu berechnen, zu welchem falschen Schritte Sie die Person verleiten kann, wenn Sie ihr die Gelegenheit dazu geben. Sie räumen selbst ein, daß Sie ihr zugethan gewesen sind, Ihre Aufmerksamkeiten gegen sie haben in der That den Gegenstand allgemeiner Beobachtung gebildet, wenn Sie ihr nicht wirklich die Aussicht eröffnet haben, Mrs. Armadale zu werden, so sind Sie doch sehr nahe daran gewesen —— und obschon Sie alles dies wissen, denken Sie doch noch daran, sie zu sehen und sich der Macht ihrer teuflischen Schönheit und ihrer teuflischen Schlauheit auszusetzen, wenn sie in der Rolle Ihres interessanten Opfers zu Ihnen kommt! Sie, der Sie eine der besten Partien in England sind! Sie, die natürliche Beute aller hungrigen unverheiratheten Weiber in der ganzen Umgegend. So etwas habe ich nie gehört; während meiner ganzen langjährigen Praxis habe ich so etwas nie gehört! Wenn Sie durchaus darauf bestehen, sich in Gefahr zu begeben, Mr. Armadale«, schloß Pedgift Senior, die ewige Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe haltend, »so kommt nächste Woche eine Menagerie in unsern Ort. Lassen Sie die Tigerin zu sich herein, Sir, aber nicht Miß Gwilt!«

Zum dritten Male sah Allan seinen Rathgeber an, und dieser erwiderte den Blick zum dritten Male, ohne die geringste Verlegenheit zu verrathen.

»Sie scheinen eine sehr schlechte Meinung von Miß Gwilt zu haben«, sagte Allan.

»Die allerschlechteste Meinung von der Welt«, entgegnete Pedgift Senior trocken. »Wir wollen darauf zurückkommen, sobald wir den Boten abgefertigt haben werden. Wollen Sie meinen Rath befolgen? Wollen Sie ablehnen, sie zu sehen?«

»Ich möchte es sehr gern ablehnen, es würde für uns beide so unendlich peinlich sein«, sagte Allan. »Sehr gern würde ich ablehnen, wenn ich nur wüßte wie.«

»Du mein Himmel, Mr. Armadale, das ist leicht genug! Compromittiren Sie sich nicht durch etwas Geschriebenes. Lassen Sie dem Ueberbringer sagen, es sei keine Antwort.«

Dieses kurze Verfahren einzuschlagen, weigerte sich Allan entschieden. »Das hieße sie ganz brutal behandeln«, sagte er, »und das kann und will ich nicht.«

Die Beharrlichkeit Pedgift des Aeltern fand abermals ihre Schranken und der weise Mann ließ sich wiederum auf das liebenswürdigste zu einem Vergleiche bereit finden. Da ihm sein Client versprochen hatte, Miß Gwilt nicht sehen zu wollen, so willigte er ein, daß Allan sich durch etwas Geschriebenes compromittire nach dem Dictate seines Rechtsanwalts. Der also fabricirte Brief war nach Allan’s eigenem Muster abgefaßt; er begann und endete in einem einzigen Satze: »Mr. Armadales Empfehlung an Miß Gwilt, und er bedauert, daß er nicht das Vergnügen haben kann, Miß Gwilt in Thorpe-Ambrose zu sehen.« Allan hatte flehentlich um einen zweiten Satz gebeten, indem er gern erklärt hätte, daß er Miß Gwilt’s Gesuch nur in der Ueberzeugung abschlage, daß die Unterredung für beide unnöthig peinlich sein würde. Aber sein Rechtsfreund verwarf diesen Zusatz mit Festigkeit. »Wenn Sie nein zu einem Weibe sagen, Sir«, bemerkte Pedgift Senior, »so sagen Sie es stets in einem einzigen Worte. Geben Sie ihm Gründe an, so glaubt es stets, Sie meinen ja.«

Nachdem er dieses kleine Weisheitsjuwel aus den reichen Schatzgruben seiner Praxis aufgetischt hatte, sandte Pedgift Senior die Antwort an Miß Gwilt zu deren Boten hinaus und empfahl dem Diener, dem Kerl, wer er immer sei, wohl aufzupassen, bis er sich aus der Nähe des Hauses entfernt habe.

»Jetzt, Sir«, sagte der Advocat, »wollen wir auf meine Ansicht von Miß Gwilt zurückkommen, wenn’s Ihnen beliebt. Dieselbe, fürchte ich, stimmt durchaus nicht mit der Ihrigen überein. Sie halten sie für einen Gegenstand des Mitleids —— bei Ihrem Alter ganz natürlich. Ich denke, sie wäre in der Zelle eines Gefängnisses ganz an ihrem rechten Platze —— in meinem Alter eine sehr natürliche Ansicht. Sie sollen sogleich hören, worauf ich meine Meinung gründe. Erlauben Sie mir, Ihnen zu beweisen, daß ich es ernstlich meine, indem ich zuvörderst diese Meinung selbst einer Prüfung unterwerfe. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Miß Gwilt nach der Antwort, die Sie ihr gesandt haben, noch darauf bestehen wird, Sie zu besuchen?«

»Ganz unmöglich!« rief Allan mit Wärme. »Miß Gwilt ist eine fein fühlende Dame; nach dem Briefe, den ich ihr gesandt habe, wird sie mir nie mehr zu nahe kommen.«

»Da weichen wir von einander ab, Sir«, rief Pedgift Senior. »Ich sage vielmehr, sie wird sich keinen Pfifferling um Ihren Brief kümmern, was einer meiner Gründe dafür war, daß ich wünschte, Sie sollten überhaupt nicht schreiben. Ich sage, sie erwartet in Ihren Anlagen oder in der Nähe derselben in diesem Augenblicke die Rückkehr ihres Boten. Ich sage, daß sie, noch ehe vierundzwanzig Stunden vergangen sind, sich mit Gewalt hier einzudrängen versuchen wird. Wahrhaftig, Sir,« fuhr Mr. Pedgift nach seiner Uhr sehend fort, »es ist jetzt erst sieben Uhr. Sie ist dreist und schlau genug, um Sie noch heute Abend zu überrumpeln. Erlauben Sie mir zu klingeln; gestatten Sie mir, Sie zu ersuchen, daß Sie augenblicklich den Befehl geben, zu sagen, Sie seien nicht zu Hause. Sie brauchen nicht zu zögern, Mir. Armadale Haben Sie hinsichtlich Miß Gwilt’s Recht, so ist es eben eine bloße Formel, habe ich dagegen Recht, so ist es eine weise Vorsichtsmaßregel. Handeln Sie nach Ihrer Meinung, Sir«, setzte Mr. Pedgift hinzu, indem er klingelte, »ich bleibe bei der Meinigen.«

Allan war, als er das Klingeln hörte, gehörig aufgestachelt, um zu dem Befehl bereit zu sein. Als aber der Diener kam, fühlte er sich von den Erinnerungen an die Vergangenheit überwältigt und die Worte blieben ihm im Halse stecken. »Geben Sie den Befehl«, sagte er zu Mr. Pedgift und trat schnell ans Fenster. »Du bist ein guter Junge!« dachte der alte Advocat, ihm nachsehend und augenblicklich seinen Beweggrund durchschauend. »Die Klauen jener Teufelin sollen Dich nicht kratzen, falls ich es verhindern kann.«

Der Diener wartete unerschütterlich auf seine Instructionen.

»Wenn Miß Gwilt, sei es heute Abend oder zu irgend einer andern Zeit, hierher kommt«, sagte Pedgift Senior, »so ist Mr. Armadale niemals zu Hause. Warten Sie! Fragt sie, wann Mr. Armadale zurückkehrt, so wissen Sie es nicht. Warten Sie! Will sie hereinkommen und warten, so haben Sie den Befehl, Niemand eintreten und warten zu lassen, der nicht auf vorhergegangene Verabredung mit Mr. Armadale kommt. So!« rief der alte Pedgift, sich froh die Hände reibend, sowie der Diener das Zimmer verlassen, »jetzt habe ich sie abgefertigt! Alle Befehle sind ertheilt, Mr. Armadale Wir können nun unsere Unterhaltung fortsetzen.«

Allan kam vom Fenster zurück. »Die Unterhaltung ist keine sehr angenehme«, sagte er. »Ohne Sie beleidigen zu wollen, ich wollte, sie wäre vorüber.«

»Wir wollen sie so schnell wie möglich zu Ende bringen, Sir«, sagte Pedgift Senior, indem er, wie dies nur Advocaten und Frauen können, noch immer darauf beharrte, sich allmälig seinem Ziele zu nähern. »Lassen Sie uns, wenns gefällig, auf den praktischen Vorschlag zurückkommen, den ich Ihnen machte, als der Diener mit Miß Gwilt’s Billet hereinkam. Wie ich Ihnen wiederholen muß, Mr. Armadale, gibt es nur einen Weg aus Ihrer gegenwärtigen unangenehmen Lage. Sie müssen Ihre Nachforschungen über dieses Frauenzimmer bis zum Schlusse fortsetzen, in der Aussicht, die ich fast für Gewißheit halte, daß dieser Schluß Sie in der Meinung der Nachbarschaft rechtfertigen wird.«

»Ich wollte, ich hätte überhaupt gar keine Nachforschungen angestellt!« sagte Allan. »Nichts soll mich bewegen, noch ferner weitere anzustellen, Mr. Pedgift.«

»Warum?«

»Können Sie mich, nachdem Ihr Sohn Ihnen mitgetheilt, was wir in London entdeckt haben, noch fragen, warum?« entgegnete Allan hitzig »Selbst wenn ich weniger Ursache hätte, Miß Gwilt zu —— zu bedauern, selbst wenn es sich um eine ganz andere Person handelte, glauben Sie, daß ich mich noch ferner in die Geheimnisse eines armen betrogenen Geschöpfes einzudrängen suchen oder gar es in der Nachbarschaft bloßzustellen im Stande sein würde? Könnte ich irgend etwas der Art thun, so würde ich mich für einen ebenso großen Schurken halten, wie es der Mann sein muß, der sie zuerst hilflos in die Welt hinausgestoßen hat. Es nimmt mich Wunder, daß Sie die Frage an mich richten können; auf Ehre, es nimmt mich Wunder, daß Sie die Frage an mich richten können.«

»Geben Sie mir Ihre Hand, Mr. Armadale!« rief Mr. Pedgift Senior mit Wärme; »ich ehre Sie dafür, daß Sie so zornig auf mich sind. Die Nachbarschaft mag sagen, was ihr beliebt; Sie sind ein Gentleman, Sir, und zwar im besten Sinne des Worts. Jetzt«, fuhr dann der Advocat fort, indem er Allan’s Hand losließ und augenblicklich vom Gefühl zum Geschäft zurückkehrte, »hören Sie an, was ich zu meiner Vertheidigung zu sagen habe. Gesetzt, Miß Gwilt’s wahre Lage ist weit entfernt, das zu sein, wofür Sie dieselbe so großmüthig zu halten entschlossen sind?«

»Wir haben keinen Grund, dies anzunehmen«, sagte Allan bestimmt.

»Das ist Ihre Ansicht, Sir«, erwiderte Mr. Pedgift. »Die meinige, die sich auf das gründet, was hier öffentlich von Miß Gwilt’s Benehmen bekannt ist, und auf das, was ich selbst von Miß Gwilt gesehen habe, ist die, daß sie alles Andere eher ist als das sentimentale Opfer, welches Sie gern aus ihr machen möchten. Gemach, Mr. Armadale! Erinnern Sie sich, daß ich meine Meinung einer praktischen Prüfung unterworfen habe, und warten Sie, ehe Sie dieselbe ohne weiteres verdammen, bis die Ereignisse Sie darin rechtfertigen. Lassen Sie mich meine Gründe vorbringen, Sir —— entschuldigen Sie mich als Advocaten, und lassen Sie mich meine Gründe vorbringen. Sie und mein Sohn sind junge Leute, und ich leugne nicht, daß die Umstände die Deutung zu rechtfertigen scheinen, die Sie, als junge Leute, denselben gegeben haben. Ich bin ein alter Mann; ich weiß, daß wir die Umstände nicht immer für das annehmen dürfen, als was sie uns auf der Oberfläche erscheinen, und ich habe den großen Vortheil vor Ihnen voraus, daß ich in meinem Berufe jahrelange Erfahrungen unter einigen der schlechtesten Weiber gemacht habe, die es je auf dieser Erde gab.«

Allan öffnete die Lippen, um zu protestieren, doch schloß er dieselben wieder, da er daran verzweifelte, den geringsten Eindruck zu machen. Pedgift Senior verbeugte sich in höflicher Anerkennung der Selbstbeherrschung seines Clienten und benutzte sie augenblicklich.

»Miß Gwilt’s Benehmen«, fuhr er fort, »seit Ihrer unglücklichen Correspondenz mit dem Major beweist mir, daß sie eine geübte Betrügerin ist. Sowie sie sich mit Bloßstellung bedroht sieht —— Bloßstellung irgend einer Art, daran ist nach dem, was Sie in London entdeckt haben, nicht zu zweifeln —— zieht sie aus Ihrem ehrenvollen Schweigen den bestmöglichen Nutzen und gibt die Stelle bei dem Major, die Märtyrerin spielend, auf. Was thut sie dann, sowie sie aus dem Hause ist? Frech bleibt sie in der Nachbarschaft und dient damit vortrefflich drei Zwecken. Erstens zeigt sie Jedem, daß sie sich nicht fürchtet, einem weiteren Angriffe auf ihren Ruf zu begegnen. Zweitens ist sie zur Hand, um Sie um ihren kleinen Finger zu winden und den Umständen zum Trotze Mrs. Armadale zu werden, wenn Sie und ich ihr dazu Gelegenheit bieten. Drittens ist sie, wenn Sie und ich klug genug sind, um ihr zu mißtrauem ihrerseits ebenfalls klug genug, um uns nicht die Chance zu geben, ihr nach London zu folgen und sie dort mit ihren Mitschuldigen in Verbindung zu bringen. Ist dies das Benehmen eines unglücklichen Weibes, das in einem Augenblicke der Schwachheit ihren guten Namen verloren und sich zu einer ihr Widerstrebenden Täuschung hat hinreißen lassen, um jenen wiederzugewinnen?«

»Sie entwickeln die Sache sehr geschickt,« sagte Allan mit offenbarem Widerstreben. »Ich kann nicht leugnen, daß Sie die Sache sehr geschickt darstellen.«

»Ihr eigener gesunder Menschenverstand beginnt Ihnen zu sagen, Mr. Armadale, daß ich sie richtig charakterisiere«, sagte Pedgift Senior. »Ich maße mir noch nicht an, zu sagen, welcher Art die Beziehungen sein mögen, in denen die Person, zu jenen Leuten in Pimlicon steht. Alles, was ich behaupte, ist, daß diese Beziehungen nicht der Art sind, wie Sie vermuthen. Nachdem ich so weit das Thatsächliche erörtert, habe ich nur noch von meinem eigenen persönlichen Eindrucke von Miß Gwilt zu sprechen. Ich will Sie nicht verletzen, wenn ich es vermeiden kann, ich will vielmehr versuchen, ob ich die Sache nicht abermals geschickt darzustellen vermag. Sie kam auf meine Expedition, wie ich Ihnen in meinem Briefe mittheilte, ohne Zweifel, um sich wo möglich mit Ihrem Rechtsanwalte zu befreunden, sie kam, um mir in der allerchristlichsten, versöhnlichsten Weise zusagen, daß sie Ihnen keinen Vorwurf mache.«

»Trauen Sie überhaupt jemals irgend einem Menschen, Mr. Pedgift?« unterbrach ihn Allan.

»Zuweilen, Mr. Armadale«, antwortete der ältere Pedgift so gelassen wie immer. »Ich traue so oft, als dies einem Advocaten möglich ist. Um jedoch fortzufahren, Sir. Als ich noch im Criminalfache arbeitete, war es oft mein Loos, die Instructionen für die Vertheidigung gefänglich eingezogener Frauenzimmer von deren eigenen Lippen entgegenzunehmen. Welcher sonstige Unterschied auch zwischen ihnen stattfinden mochte, mit der Zeit ward ich bei denjenigen, die besonders verdorben und zweifellos schuldig waren, auf einen Punkt aufmerksam, in dem sie alle einander glichen. Ob sie nun groß oder klein, alt oder jung, schön oder häßlich waren, alle besaßen sie eine gewisse Geistesgegenwart, die nichts erschüttern. Aeußerlich waren sie so verschieden wie möglich von einander. Einige waren in einem Zustande der Entrüstung, andere schwammen in Thränen, wieder andere waren voll frommer Zuversicht und noch andere zum Selbstmorde entschlossen, ehe noch die Nacht vergangen sein werde. Aber sowie man mit dem Finger die schwache Stelle der Geschichte berührte, die sie erzählten, hatten ihre Muth, ihre Thränen, ihre Frömmigkeit, ihre Verzweiflung plötzlich ein Ende und das wahre Weib kam zum Vorschein, im vollen Besitz all seiner Ressourcen, mit einer netten kleinen Lüge, die genau den Verhältnissen angepaßt war. Miß Gwilt schwamm in Thränen, Sir, kleidsamen Thränen, die ihre Nase nicht roth machten, da berührte ich plötzlich mit meinem Finger die schwache Stelle ihrer Geschichte. Das rührende Taschentuch sank von den schönen blauen Augen herunter und das wahre Weib kam mit seiner netten kleinen Lüge zum Vorschein, die genau den Verhältnissen angepaßt war. Auf der Stelle fühlte ich mich um zwanzig Jahre jünger, Mr. Armadale. Es war mir wahrlich, als sei ich wieder, mit meinem Notizbuche in der Hand, in Newgate, um meine Instructionen für die Vertheidigung entgegenzunehmen.«

»Nächstens können Sie noch behaupten, daß Miß Gwilt schon im Gefängniß gesessen hat, Mr. Pedgift!« sagte Mr. Allan aufgebracht.

Pedgift Senior klopfte ruhig auf seine Dose und war sofort mit seiner Antwort bereit.

»Reichlich mag sie verdient haben, das Innere eines Gefängnisses zu sehen, Mr. Armadale, aber in der Zeit, in welcher wir leben, gibt es einen vortrefflichen Grund, daß sie mit einem solchen Orte noch nie nähere Bekanntschaft gemacht hat. Bei dem jetzigen zarten Gefühle des Publikums das Gefängniß für eine reizende Dame wie Miß Gwilt! Mein bester Herr, hätte sie mich oder Sie zu ermorden versucht und ein unmenschliches Geschworenengericht sie zum Kerker verurtheilt, die erste Aufgabe unserer heutigen Gesellschaft würde dahin gehen, den Vollzug dieses Verdicts zu verhindern, und wäre dies nicht thunlich, so würde der nächste Versuch sein, sie womöglich wieder in Freiheit zu setzen. Lesen Sie die Zeitungen, Mr. Armadale, und Sie werden sehen, daß wir für die schwarzen Schafe der Heerde in herrlichen Zeiten leben, wenn sie nur schwarz genug sind. Ich bleibe bei meiner Behauptung, Sir, daß wir es in unserm Falle mit einem der allerschwärzesten zu thun haben. Ich bleibe bei meiner Behauptung, daß Sie bei diesen unglückseligen Nachforschungen das seltene Glück gehabt haben, an ein Frauenzimmer zu gerathen, das im Interesse der öffentlichen Sicherheit zufälligerweise ein passender Gegenstand für solche Nachforschungen ist. Weichen Sie von meiner Ansicht ab, so sehr Sie wollen, aber fassen Sie keine endgültige Meinung von Miß Gwilt, bis die Ereignisse unsere beiden entgegengesetzten Ansichten aus die von mir vorgeschlagene Probe gestellt haben. Nichts kann billiger sein. Ich stimme mit Ihnen überein, daß keine Dame, die dieses Namens würdig, nach dem Empfange Ihres Briefes sich noch hier einzudrängen suchen kann, aber ich bestreite eben, daß Miß Gwilt dieses Namens würdig ist, und ich sage, daß sie sich trotz Ihres Briefes mit Gewalt einzudrängen suchen wird.«

»Und ich sage, daß sie dies nicht thun wird!« entgegnete Allan fest.

Pedgift Senior lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte. Beide schwiegen ein paar Augenblicke, während dieses Schweigens ward draußen geklingelt.

Advocat und Client sahen erwartungsvoll nach der Eingangshalle hin.

»Nein«, rief Allan zorniger denn je.

»Ja!« sagte Pedgift Senior, ihm mit größter Höflichkeit widersprechend.

Sie warteten, was geschehen würde. Sie hörten, wie die Hausthür geöffnet wurde, doch war das Zimmer zu weit von derselben entfernt, als daß auch die Stimme bis zu ihnen hätte dringen können. Nach einer langen Pause der Erwartung hörte man endlich, wie die Hausthür geschlossen wurde. Allan stand ungestüm auf und klingelte Mr. Pedgift Senior saß in erhabener Ruhe da und ergötzte sich in stillem Behagen an der größten Prise, die er noch bisher genommen.«

»Hat Jemand mich sprechen wollen?« fragte Allan, als der Diener eintrat.

Der Mann warf einen Blick unaussprechlicher Verehrung auf Pedgift Senior und antwortete:

»Miß Gwilt.«

»Ich will nicht über Sie frohlocken, Sir«, sagte Pedgift Senior, sobald der Diener wieder hinausgegangen, »aber was sagen Sie jetzt zu Miß Gwilt?«

Allan schüttelte in stummer Bekümmerniß und mit Mienen der Entmuthigung den Kopf.

»Die Zeit ist kostbar, Mr. Armadale. Haben Sie nach dem, was sich so eben zugetragen, noch immer etwas gegen das Verfahren einzuwenden, das ich Ihnen vorzuschlagen die Ehre gehabt habe?«

»Ich kann’s nicht, Mr. Pedgift. Ich kann mich nicht dazu hergeben, sie in der Nachbarschaft zu compromittiren. Ich will lieber selbst compromittirt sein —« wie ich es bin.«

»Lassen Sie mich’s Ihnen in einer andern Weise vorstellen, Sir. Sie sind sehr gütig gegen mich und meine Familie gewesen, und ich nehme außer dem geschäftlichen auch noch ein großes persönliches Interesse an Ihnen. Wollen Sie, wenn Sie sich nicht entschließen können, den Charakter dieses Frauenzimmers in seinen wahren Farben zu zeigen, wenigstens die gewöhnlichsten Vorsichtsmaßregeln dagegen treffen, daß es noch weiteres Unheil stiftet? Wollen Sie gestatten, daß ich sie heimlich beobachten lasse, solange sie in der Gegend hier bleibt?«

Allan schüttelte zum zweiten Male den Kopf.

»Ist das Ihr letzter Entschluß, Sir?«

»Ja, Mr. Pedgift; aber ich bin Ihnen dessen ungeachtet sehr verbunden für Ihren Rath.«

Pedgift Senior stand mit stiller Resignation auf und nahm seinen Hut. »Gute Nacht, Sir«, sagte er und wandte sich kummervoll der Thür zu. Allan erhob sich seinerseits in der arglosen Vermuthung, daß die Unterredung zu Ende sei.

Wer mit den diplomatischen Gewohnheiten seines Rechtsfreundes besser vertraut war, würde ihm den Rath gegeben haben, sitzen zu bleiben. Der Augenblick war gekommen für Pedgift’s Postscriptum; der Advocat hielt seine bedeutungsvolle Schnupftabaksdose in der einen Hand, während er mit der andern die Thür öffnete.

»Gute Nacht«, sagte Allan.

Pedgift Senior öffnete die Thür, blieb stehen, überlegte, schloß die Thür wieder, kam geheimnißvoll mit der Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe zurück und nahm, die unveränderliche Formel wiederholend: »Beiläufig, es fällt mir eben ein —— den so eben verlassenen Sessel wieder ein.

Verwundert ließ sich Allan seinerseits wieder nieder. Sachwalter und Client sahen einander nochmals an, und die unerschöpfliche Unterredung ward von neuem wieder aufgenommen.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

»Ich sagte, es sei mir etwas eingefallen, Sir«, bemerkte Pedgift Senior.

»Ja Wohl«, versetzte Allan.

»Möchten Sie hören, was es ist, Mr. Armadale?«

»Wenn Sie so gütig sein wollen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir! Die Sache ist die. Ich lege ganz besonderen Werth darauf, daß Miß Gwilt, wenn weiter nichts geschehen soll, während ihres Bleibens in Thorpe-Ambrose heimlich beobachtet wird. Eben an der Thür fiel mir ein, Mr. Armadale, daß Sie das, was Sie für die eigene Sicherheit zu thun abgeneigt sind, vielleicht für die Sicherheit einer andern Person zu thun bereit sein würden.«

»Welcher andern Person?«

»Einer jungen Dame, die eine nahe Nachbarin von Ihnen ist, Sir. Soll ich Ihnen im Vertrauen Ihren Namen sagen? Miß Milroy.«

Allan erschrak und wechselte die Farbe.

»Miß Milroy!« wiederholte er. »Kann sie in diese leidige Geschichte verwickelt sein? Das hoffe ich nicht, Mr. Pedgift; ich hoffe es wahrhaftig nicht.«

»Ich machte heute Morgen in Ihrem Interesse einen Besuch im Parkhäuschen, Sir«, fuhr Pedgift Senior fort. »Sie sollen hören, was dort geschah, und sich dann Ihr eigenes Urtheil bilden. Major Milroy hat seine Meinung von Ihnen ziemlich unumwunden ausgesprochen und es schien mir hohe Zeit, ihn zu warnen. So geht es immer mit jenen stillen, halbverrückten Leuten: wenn sie einmal aufwachen, ist mit ihrer Halsstarrigkeit gar nicht zu sprechen und ihre Heftigkeit nicht zu mäßigen. Also Sir, ich ging heute Morgen nach dem Parkhäuschen. Der Major und Miß Neelie waren beide im Wohnzimmer, Miß nicht so hübsch, wie gewöhnlich, blaß, wie mir schien, traurig und abgehärmt. Der halb verrückte Major —— ich gebe keinen Heller für das Gehirn eines Mannes, der sich seine halbe Lebenszeit mit dem Bau einer Uhr beschäftigen kann! —— springt auf und sucht in der hochmüthigsten Weise mich zu Boden zu blicken. Hahaha! Als ob ich mich in meinem Alter von irgend einem Menschen zu Boden blicken ließe! Ich benahm mich wie ein Christ; ich nickte dem alten Wie-viel-Uhr freundlich zu. »Schöner Morgen, Major", sag’ ich. »Haben Sie mir etwas zu sagen?" fragt er. »Eben nur ein Wort", sag’ ich. Miß Neelie, die ein verständiges Mädchen ist, steht auf, um aus dem Zimmer zu gehen, und was thut ihr lächerlicher alter Vater? Er hält sie"zurück. »Du brauchst nicht zu gehen, mein Kind; ich habe Mr. Pedgift nichts zu sagen«, spricht der militärische alte Dummkopf, wendet sich zu mir und versucht nochmals, mich zu Boden zu blicken. »Sie sind Mr. Armadale’s Sachwalter", sagt er; »kommen Sie in irgend welchen Angelegenheiten, die Mr. Armadale betreffen, so verweise ich Sie an meinen Sachwalter." Sein Anwalt ist Darch, und Darch hat in Geschäften von mir genug gehabt, kann ich Ihnen sagen. »Mein Erscheinen betrifft allerdings Mr. Armadale, Major", sage ich, »aber nicht Ihren Advocaten, wenigstens für jetzt noch nicht. Ich möchte Sie Warnen, damit Sie Ihr Urtheil über meinen Clienten noch suspendieren, oder, wenn Sie das nicht wollen, daß Sie sich wenigstens hüten, demselben öffentlichen Ausdruck zu geben. Ich sage Ihnen zur Warnung, daß auch an uns die Reihe kommen wird und daß diese skandalöse Geschichte mit Miß Gwilt noch nicht zu Ende ist.« Es erschien mir wahrscheinlich, daß er, in dieser Weise gefaßt, in Wuth gerathen würde, und er rechtfertigte meine Muthmaßung in reichlichem Maße. Er wurde förmlich heftig in seiner Sprache —— armes schwaches Geschöpf! —— förmlich heftig gegen mich! Abermals benahm ich mich dagegen wie ein Christ; ich nickte ihm freundlich zu und wünschte ihm guten Morgen. Als ich mich umwandte, um Miß Neelie ebenfalls guten Morgen zu wünschen, war sie verschwunden. Sie scheinen unruhig, Mr. Armadale«, bemerkte Pedgift Senior, als Allan, den Stachel der alten Erinnerungen fühlend, plötzlich aufsprang und im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich will Ihre Geduld sticht mehr lange auf die Probe stellen, Sir; ich komme zur Sache.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Pedgift«, sagte Allan, zu seinem Sessel zurückkehrend und versuchend, den Advocaten durch das vermittelnde Bild Neelie’s, welches dieser heraufbeschworen, mit Fassung anzusehen.

»Nun, Sir, ich verließ das«Parkhäuschen«, fuhr Pedgift Senior fort. »Gerade als ich um die Ecke des Gartens in den Park einb.og, traf ich Miß Neelie, die dort offenbar auf mich wartete. »Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mr. Pedgift", sagte sie. »Glaubt Mr. Armadale, daß ich etwas mit dieser Geschichte zu thun habe?" Sie war außerordentlich aufgeregt, hatte Thränen in den Augen, Sir, von der Art, wie ich sie in meiner Praxis nicht zu sehen gewohnt war: Ich vergaß mich ganz, ich bot ihr den Arm und führte sie sanft unter den Bäumen dahin —— eine hübsche Situation für mich, wenn ich von irgend einem Klätscher unserer Stadt gesehen worden wäre! »Meine liebe Miß Milroy", sage ich, »warum sollte Mr. Armadale glauben, daß Sie etwas mit der Sache zu thun gehabt haben?«

»Sie hätten ihr sogleich sagen sollen, daß ich durchaus nichts dergleichen glaube!« rief Allan mit Entrüstung »Warum haben Sie Miß Milroy nur einen Augenblick darüber im Zweifel gelassen?«

»Weil ich ein Advocat bin, Mr. Armadale«, erwiderte Pedgift Senior trocken. »Selbst in Gefühlsmomenten, unter schützenden Bäumen und an der Seite eines hübschen Mädchens, kann ich mich nicht ganz meiner amtlichen Vorsicht entschlagen. Sehen Sie nicht so traurig aus, Sir, ich bitte Sie! Im Verlaufe unserer Unterredung brachte ich Alles in Ordnung. Ehe ich Miß Milroy verließ, sagte ich ihr in klarsten Worten, daß ein solcher Gedanke Ihnen gar nicht in den Kopf gekommen sei.«

»Schien dies ihr einige Erleichterung zu gewähren?« fragte Allan.

»Sie konnte sich danach ohne die Stütze meines Arms behelfen, Sir«, erwiderte Mr. Pedgift so trocken wie immer, »und sie nahm mir das Gelübde unverbrüchlichen Schweigens über den Gegenstand unserer Unterhaltung ab. Sie wünschte ganz besonders, daß Sie nichts davon erfuhren. Ist Ihnen Ihrerseits daran gelegen, zu wissen, warum ich sie jetzt verrathe, so unterrichte ich Sie hiermit, daß ihre vertraute Mittheilung sich auf Niemand anders als auf die Dame bezog, die Sie so eben mit ihrem Besuche beehrt hat —— Miß Gwilt.«

Allan, der von neuem unruhig im Zimmer auf und ab geschritten war, blieb stehen und kehrte dann an seinen Platz zurück.

»Sprechen Sie im Ernste?« fragte er.

»Im höchsten Ernst, Sir«, erwiderte Pedgift Senior. »Ich verrathe Miß Neelie’s Geheimniß nur in ihrem eigenen Interesse. Lassen Sie uns auf jene vorsichtige Frage zurückkommen, die ich an sie richtete. Es fiel ihr etwas schwer, dieselbe zu beantworten, denn ihre Erwiderung nöthigte sie zu einer Schilderung ihrer letzten Unterredung mit Miß Gwilt. Das Wesentliche derselben ist Folgendes. Sie waren allein mit einander, als Miß Gwilt von ihrer Schülerin Abschied nahm; erstere sagte bei dieser Gelegenheit —— Miß Neelie hat mir die Worte wiederholt —: »Ihre Mutter hat mir meine Bitte, Abschied von ihr nehmen zu dürfen, abgeschlagen. Weisen Sie mich ebenfalls ab?« Miß Neelie’s Antwort war für ein Mädchen ihres Alters außerordentlich verständig. »Wir sind keine guten Freundinnen gewesen«, sprach sie, »und ich glaube, daß wir beide gleich froh sind, von einander zu scheiden. Aber ich weigere mich durchaus nicht, von Ihnen Abschied zu nehmen.« Mit diesen Worten reichte sie ihr die Hand. Miß Gwilt stand, sie fest ansehend und ohne die Hand zu ergreifen, da und sagte: »Sie sind noch nicht Mrs. Armadale.« Sachte, Sir! Bleiben Sie ruhig! Es kann durchaus nicht Wunder nehmen, daß ein Frauenzimmer, das sich seiner eigenen eigennützigen Absichten auf Sie bewußt ist, einer jungen Dame, Ihrer Nachbarin, ähnliche Absichten zuschreibt.«Gestatten Sie mir fortzufahren Miß Neelie war, wie sie mir selbst gestand und wie mir dies ganz natürlich scheint, im höchsten Grade entrüstet. Sie gesteht, daß sie ihr antwortete: »Sie schamloses Geschöpf, wie können Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Miß Gwilt’s Entgegnung war ziemlich bemerkenswerth; ihr Zorn scheint von der kalten, stillen, giftigen Sorte gewesen zu sein. »Noch Niemand hat mir je weh gethan, Miß Milroy", sagte sie, »der es nicht seither oder später bitter zu bereuen gehabt hätte. Sie werden es noch bitter bereuen.« Sie sah ihre Schülerin einen Augenblick schweigend an und verließ dann das Zimmer. Miß Neelie scheint die Beschuldigung in Bezug auf Sie weit tiefer empfunden zu haben als die Drohung. Sie hatte vorher erfahren, was dem ganzen Hause bekannt war, daß gewisse Schritte von Ihrer Seite in London Miß Gwilt’s freiwilliges Aufgeben ihrer Stelle herbeigeführt hätten. Und sie schloß jetzt aus den so eben an sie gerichteten Worten, daß Miß Gwilt sie beargwöhnte, Sie zu jenen Schritten veranlaßt zu haben, um ihre Erzieherin in Ihrer Achtung herabzusetzen und selbst in derselben zu steigen. Gemach, Sir!, gemach, ich bin noch nicht ganz zu Ende. Sowie Miß Neelie ihre Fassung wiedergewonnen, ging sie zu Mrs. Milroy hinauf. Miß Gwilt’s abscheuliche Beschuldigung hatte sie überrascht, und sie wandte sich deshalb zuerst um Aufklärung und Rath an ihre Mutter. Sie fand weder das Eine noch das Andere. Mrs. Milroy erklärte, sie sei zu krank, um sich mit der Sache plagen zu lassen, und ist seitdem noch immer zu krank geblieben. Hierauf wandte sich Miß Neelie an ihren Vater. Der Major hieß sie schweigen, sowie sie Ihren Namen ausgesprochen hatte; er erklärte, er wolle von keinem Mitgliede seiner Familie je Ihren Namen wieder nennen hören. Seitdem ist sie in der Ungewißheit geblieben; sie weiß nicht, wie falsch sie von Miß Gwilt dargestellt sein mag, oder welche Lügen diese Sie zu glauben bewogen hat. In meinem Alter und bei meinem Berufe mache ich keine besonderen Ansprüche auf Weichherzigkeit, aber es scheint mir in der That, Mr. Armadale, daß Miß Neelie unsere Theilnahme verdient.«

»Ich will Alles thun, um ihr zu helfen!« rief Allan aufgeregt. »Sie wissen nicht, Mr. Pedgift, welche Ursache ich habe ——« Er hielt plötzlich inne und wiederholte seine ersten Worte. »Ich will Alles thun, um ihr zu helfen!«

»Ist das wirklich Ihr Ernst, Mr. Armadale? Verzeihen Sie mir die Frage, aber Sie können Miß Neelie sehr wesentlich helfen, wenn Sie wollen.«

»Wie?« fragte Allan. »Sagen Sie mir nur wie?«

»Indem Sie mich bevollmächtigen, Sie gegen Miß Gwilt zu schützen Sir.«

Nachdem er diesen Schuß auf seinen Clienten abgefeuert, wartete der kluge Advocat ein wenig, ehe er noch etwas hinzufügte.

Allan’s Gesicht umwölkte sich und er bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her.

»Es ist schwer genug, mit Ihrem Sohne fertig zu werden, Mr. Pedgift«, sagte er, »aber mit Ihnen noch weit schwerer.«

»Danke, Sir«, erwiderte der schlagfertige Pedgift, »im Namen meines Sohnes sowohl als in meinem eigenen für das schöne Compliment, welches Sie der Firma machten. Wenn Sie wirklich Miß Neelie von Nutzen sein wollen«, fuhr er ernster fort, »so habe ich Ihnen den Weg dazu gezeigt. Um ihre Besorgniß zu heben, können Sie nichts thun, was ich nicht bereits gethan habe. Sobald ich ihr die Versicherung gegeben hatte, daß Sie keine irrige Meinung von ihr gefaßt, ging sie befriedigt von dannen. Die Drohung ihrer Erzieherin scheint sie nicht zu beunruhigen. Ich kann Ihnen indessen sagen, Mr. Armadale, daß diese mich beunruhigt! Sie kennen meine Meinung von Miß Gwilt und wissen selbst, was Miß Gwilt heute Abend gethan hat, um diese Meinung in Ihren Augen zu rechtfertigen. Darf ich Sie nach Allem, was passiert ist, fragen, ob Sie die Gouvernante für die Art von einem Weibe halten, von dem anzunehmen ist, daß es sich mit leeren Drohungen begnügen werde?«

Diese Frage war eine furchtbare. Durch die unwiderstehliche Macht klarer Thatsachen aus der Stellung zurückgetrieben, die er beim Beginn der Unterredung eingenommen hatte, zeigte Allan zum ersten Male Symptome des Nachgebens hinsichtlich Miß Gwilt’s. »Gibt es keine andere Art und Weise, Miß Milroy zu beschützen, als die von Ihnen erwähnte?« fragte er mit sichtlichem Mißbehagen.

»Meinen Sie, daß der Major Sie anhören würde, wenn Sie ihn sprechen wollten, Sir?« fragte Mr. Pedgift sarkastisch; »ich fürchte fast, daß er mir die Ehre seiner Aufmerksamkeit verweigern würde. Oder würden Sie vielleicht vorziehen, Miß Neelie zu ängstigen, indem Sie ihr mit deutlichen Worten sagten, daß wir beide sie in Gefahr glauben? Oder gesetzt, Sie ließen Miß Gwilt mittheilen, daß sie ihrer Schülerin bitteres Unrecht angethan hätte? Die Frauen sind ja sprichwörtlich bereit, Vernunft anzunehmen, und so durchaus geneigt, ihre gegenseitige Meinung nach Wunsch zu wechseln, namentlich wenn die eine glaubt, daß die andere ihre Aussicht auf eine gute Partie zerstört hat! Denken Sie nicht an mich; ich bin blos ein alter Advocat und fühle mich wasserdicht gegen einen zweiten Schauer von Miß Gwilt? Thränen!«

»Zum Henker, Mr. Pedgift, sagen Sie mir mit deutlichen Worten, was zu thun ist!« rief Allan, endlich die Geduld verlierend.

»Mit deutlichen Worten, Mr. Armadale: ich wünsche also Miß Gwilt? Schritte, solange sie in dieser Gegend bleibt, heimlich beobachten zu lassen. Ich mache mich verbindlich, einen Menschen zu schaffen, der sie mit Discretion und Zartgefühl im Auge behalten wird. Und ich bin bereit, sogar diese harmlose Bewachung ihrer Handlungen aufzugeben, wenn sich nicht binnen einer Woche Gründe zu ihrer Fortsetzung zeigen, die selbst Sie überzeugen. Ich mache diesen billigen Vorschlag in Miß Milroy’s Interesse, Sir, und erwarte Ihre Antwort —— Ja oder Nein.«

»Können Sie mir nicht Zeit lassen zum Ueberlegen?« fragte Allan, seine letzte Zuflucht im Verzuge suchend.

»Gewiß, Mr. Armadale. Vergessen Sie indessen nicht, daß Miß Milroy, während Sie überlegen, ihrer Gewohnheit nach allein in Ihrem Park spazieren gehen wird, ohne an Gefahr zu denken, und daß Miß Gwilt die vollkommene Freiheit hat, von diesem Umstande jeden ihr beliebigen Gebrauch zu machen.«

»Thun Sie, was Sie wollen« rief Allan in Verzweiflung »Nur bitte ich Sie um Gotteswillen, quälen Sie mich nicht länger!«

Das volksthümliche Vorurtheil mag es leugnen, aber die Jurisprudenz ist wenigstens in einer Hinsicht von praktischem Christenthum erfüllt. In der ganzen Sammlung passender Antworten, die der Menschheit aus den Lippen eines Rechtsgelehrten auflauern, ist keine in beständigerer Bereitschaft, als »die sanfte Antwort, welche dem Zorne wehret«. Pedgift senior erhob sich mit der Lebhaftigkeit der Jugend in den Gliedern und der weisen Mäßigung des Alters auf der Zunge. »Besten Dank, Sir«, sagte er, »für die Aufmerksamkeit, die Sie mir geschenkt haben. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Entscheidung und zugleich einen guten Abend.« Diesmal war seine bedeutungsvolle Schnupftabaksdose nicht in seiner Hand, als er die Thür öffnete, und er verschwand, ohne mit einem zweiten Postscriptum zurückzukehren.

Allan ließ den Kopf aus die Brust sinken, sobald er sich allein sah. »Wenn doch nur schon die Woche herum wäret« dachte er sehnsuchtsvoll »Wenn ich nur Midwinter wieder hier hätte!«

In dem Augenblicke, da dieser Wunsch den Lippen seines Clienten entschlüpfte, sprang der Advocat fröhlich in sein Gig »Vorwärts, alte Jungfer«, rief Pedgift Senior, sein schnell trabendes Pferd leicht mit dem Peitschenstiele antreibend. »Ich lasse nie eine Dame warten, und heute Abend habe ich mit einer Deiner Gattung ganz besonders zu thun!«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Die unmittelbare Umgebung der kleinen Stadt Thorpe-Ambrose auf der dem Herrenhause zunächst gelegenen Seite hat sich als die hübscheste Vorstadt der Art in Ost-Norfolk einige lokale Berühmtheit erworben. Die Villen und Gärten sind hier meistens in vortrefflichem Geschmack angelegt; die Bäume grünen in schönster Jugendfrische und der Wiesengrund hinter den Häusern hebt und senkt sich in malerischem und gefälligem Wechsel. Die vornehme und schöne Welt des Städtchens hat diesen Ort zu ihren Abendspaziergängen gewählt, und wenn ein Fremder eine Spazierfahrt macht und die Richtung dem Kutscher überläßt, so fährt dieser ihn selbstverständlich nach jenen Wiesen.

Auf der entgegengesetzten Seite, das heißt auf der dem Herrenhause am fernsten gelegenen, war im Jahre 1851 die Vorstadt allen Leuten, denen der gute Name des Städtchens am Herzen lag, ein Gegenstand des Aergernisses.

Hier war die Natur uneinladend; die Leute waren arm, und der sociale Fortschritt, soweit er sich in der Architektur zu erkennen gibt, machte hier Halt. Je weiter sich die Straßen vom Mittelpunkte der Stadt entfernten, desto kleiner wurden die Häuser, um endlich auf dem öden offenen Felde in elenden Hüttengerippen zu enden. Die Architekten schienen samt und sonders hier ihr Werk in seinem ersten Stadium aufgegeben zu haben. Grundbesitzer pflanzten auf armseligem Terrain Pfähle auf und verkündeten darauf klagend, daß Grund und Boden zum Bauen zu verpachten sei, während sie inzwischen bis sich ein Käufer fand, auf dem ausgebotenen Grundstück eine kränkliche kleine Kornernte versuchten. Es schien, als ob alles alte Papier des ganzen Oertchens sich zu diesem öden Orte sympathisch hingezogen fühle, und eigensinnige Kinder weinten und schrien hier unter der Obhut aller der unordentlichen Wärterinnen, die den Ort verunzierten. Hatte Jemand in Thorpe-Ambrose sein Pferd zum Tode verurtheilt, so harrte der arme Gaul sicherlich auf dieser Seite der Stadt seines Schicksals. In diesen wüsten Regionen gedieh nichts als steriler Kehricht, und kein menschliches Wesen freute sich hier seines Daseins, nur die Geschöpfe der Nacht das heißt allerlei Ungeziefer.

Die Sonne war untergegangen und das Sommerzwielicht begann dunkler zu werden. Die eigensinnigen Kinder schrien in ihren Wiegen; das zum Tode verurtheilte Pferd schlummerte einsam auf dem Felde seiner Gefangenschaft; die Ratzen warteten schleichend in Ecken und Winkeln auf den Einbruch der Nacht. Nur eine lebende Gestalt erschien in der einsamen Vorstadt —— die Gestalt von Mr. Bashwood. Nur ein schwacher Schall störte die grausige Stille —— der Schall von Mr. Bashwood’s leise fallenden Fußtritten.

Mr. Bashwood kam vom freien Felde her, langsam an den hier und dort am Wege liegenden Bausteinen vorüber und vorsichtig um die alten Eisenstücke und zerbrochenen Ziegel herumgehend, einer der unvollendeten Straßen der Vorstadt zugeschritten. Dem Anscheine nach hatte er einige Sorgfalt auf sein persönliches Aussehen verwendet. Seine falschen Zähne waren glänzend weiß, seine Perücke sorgfältig gebürstet, sein Traueranzug, durchaus erneut, hatte den häßlichen schleimigen Glanz wohlfeilen schwarzen Tuches. Er bewegte sich mit nervöser Munterkeit und blickte mit nichtssagendem Lächeln umher. Am ersten der Hüttenskelette angelangt, heftete er seine wässerigen Augen zum ersten Male fest auf die Perspective der vor ihm liegenden Straße. Im nächsten Augenblicke zuckte er zusammen; sein Athem kam schneller und heiß, und zitternd lehnte er sich an die halb fertige Mauer, neben der er stand. In einiger Entfernung kam eine Dame die Straße zu ihm heran. »Sie kommt!« flüsterte er mit einer seltsamen Mischung Von Entzücken und Furcht, während die Farbe in seinem hageren Gesichte abwechselnd kam und ging. »Ich wollte, ich wär’ der Boden, auf dem ihr Fuß wandelt! Ich wollte, ich wär’ der Handschuh an ihrer Hand!« Begeistert brach er in diese überschwenglichen Worte aus und das Entzücken, das sie ihm verursachten, ließ seine schwache Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen erbeben.

Leicht und anmuthig schwebte die Dame näher und näher heran, bis sie Mr. Bashwood’s Augen zeigte, was Mr. Bashwood’s Instinct sogleich erkannt hatte: Miß Gwilt’s Antlitz.

Sie war mit ausgesuchter Bescheidenheit gekleidet. Ihren Kopf bedeckte der schlichteste Strohhut mit der sparsamsten Garnitur von weißem Bande. In der makellosen Sauberkeit und den anspruchslosen Verhältnissen ihres hellen Kattunkleides und der kleinen dünnen schwarzseidenen Mantille, die mit einer schmalen Ruthe von demselben Stoffe besetzt war, drückte sich eine anspruchslose und geschmackvolle Armuth aus. Der Glanz ihres fürchterlichen rothen Haares präsentierte sich ungeniert in den Flechten über ihrer Stirn und fiel in einer vollen Locke auf ihre Schulter herab. Ihre Handschuhe, die sich wie ihre eigene Haut an ihre Hände schmiegten, waren von jenem nüchternen Braun, das am spätesten die Spuren des Gebrauchs zeigt. Mit der einen Hand hob sie den Rock zierlich über die Unsauberkeiten der Straße, die andere hielt einen kleinen Strauß von den gewöhnlichsten Gartenblumen, während der Abendwind sanft mit der langen Locke spielte; den Kopf ein wenig gesenkt, die Augen auf den Boden heftend —— in Gang, Miene und Wesen, in jeder zufälligen Bewegung jenes feine Gemisch der Sinnlichkeit und der Bescheidenheit, das von allen anziehenden Extremen, die sich im Weibe begegnen, in den Augen der Männer das unwiderstehlichste ist.

»Mr. Bashwood!« rief sie im lauten festen Tone des größten Erstaunens. »Welch eine Ueberraschung, Sie hier zu sehen! Ich glaubte, Niemand als die elenden Bewohner wagte sich je nach dieser Seite der Stadt. Bst!« fügte sie schnell flüsternd hinzu. »Sie täuschten sich nicht, als Sie zu hören glaubten, daß Mr. Armadale mich wolle beobachten lassen. Hinter einem jener Häuser versteckt sich ein Mann. Wir müssen laut von gleichgültigen Dingen sprechen und thun, als seien wir einander zufällig begegnet. Fragen Sie mich, womit ich mich beschäftige Laut! Augenblicklich! Sie sollen mich nie wiedersehen, wenn Sie nicht augenblicklich zu zittern aufhören und thun, was ich Ihnen sage!«

Sie sprach mit erbarmungsloser Tyrannei in Blick und Stimme, mit einer erbarmungslosen Anwendung ihrer Macht über das schwache Geschöpf, an das sie die Worte richtete. Mr. Bashwood gehorchte ihr mit einer Stimme, die vor innerer Erregung bebte, und mit Blicken, die wie bezaubert mit dem Ausdrucke von Angst und Entzücken ihre Schönheit verschlungen.

»Ich suche mir durch Musikunterricht etwas zu verdienen«, sagte sie in einem Tone, der darauf berechnet war, bis zum Ohre des Spions zu dringen. »Können Sie mir einige Schülerinnen empfehlen, Mr. Bashwood, so werden Sie mich durch Ihre Fürsprache sehr verpflichten. Waren Sie heute im Park?« fuhr sie dann mit leiserer Stimme fort. »Ist Mr. Armadale nach dem Parkhäuschen gegangen? Hat Miß Milroy sich außerhalb ihres Gartens sehen lassen? Nein? Sind Sie dessen gewiß? Passen Sie ihnen morgen und übermorgen und den nächsten Tag auf. Sie werden sicherlich zusammenkommen und sich wieder aussöhnen, und ich muß und will dies wissen. Bst! Fragen Sie mich nach den Bedingungen meiner Lectionen. Worüber ängstigen Sie sich? Der Mann lauert mir auf, nicht Ihnen. Lauter, als Sie mich so eben fragten, womit ich mich beschäftige; lauter, oder ich will Ihnen nicht mehr trauen; ich will mich an Jemand anders wenden!«

Mr. Bashwood gehorchte abermals. »Seien Sie nicht böse mit mir«, murmelte er schwach, nachdem er die nothwendigen Worte gesprochen. »Mir pocht das Herz so —— Sie tödten mich noch!«

»Sie armes liebes altes Geschöpf» erwiderte sie flüsternd mit plötzlich verändertem Wesen, mit leichter ironischer Zärtlichkeit »Was haben Sie in Ihrem Alter mit einem Herzen zu schaffen! Seien Sie morgen um dieselbe Zeit hier, um mir Bericht zu erstatten über das, was Sie im Park gesehen haben. Meine Bedingungen sind nur fünf Schillinge die Stunde«, fuhr sie mit lauterer Stimme fort; »das ist doch gewiß nicht theuer, Mr. Bashwood. Ich gebe solche lange Stunden und liefere meinen Schülerinnen die Noten um den halben Preis.« Plötzlich senkte sie wieder die Stimme und zwang ihn mit einem funkelnden Blicke zur Unterwürfigkeit. »Lassen Sie Mr. Armadale morgen nicht aus den Augen! Wenn es jenem Mädchen gelingt mit ihm zu sprechen und ich dies nicht erfahre, so will ich Sie zu Tode ängstigen.

Werde ich aber davon unterrichtet, so will ich Sie küssen! St! Wünschen Sie mir gute Nacht und setzen Sie Ihren Weg nach der Stadt fort, während ich die entgegengesetzte Richtung verfolge. Ich bedarf Ihrer nicht; ich fürchte mich nicht vor dem Manne hinter den Häusern. Sagen Sie gute Nacht und dann will ich Ihnen die Hand geben. Sagen Sie es lauter und dann sollen Sie eine von meinen Blumen haben, wenn Sie mir versprechen wollen, sich nicht in dieselbe zu verlieben.« Hierauf sprach sie wieder lauter: »Gute Nacht, Mr. Bashwood! Vergessen Sie meine Bedingungen nicht. Fünf Schillinge für eine volle Stunde und alle Noten um den halben Preis, was ein ungeheurer Vortheil ist, nicht wahr, Mr. Bashwood?« Sie ließ ihm eine Blume in die Hand gleiten, blickte ihn mit zorniger Stirn an, damit er ihr gehorche, und belohnte ihn dann durch ein Lächeln, hob wieder zierlich den Rock auf und ging mit der selbstgefälligen indolenten Ruhe einer Katze weiter, die so eben im Vergnügen geschwelgt hat, eine Maus zu ängstigen.

Sowie er wieder allein war, wandte sich Mr. Bashwood der niedrigen Hausmauer zu, neben der er gestanden hatte, lehnte sich müde über sie und betrachtete die Blume in seiner Hand. Sein vergangenes Leben hatte ihn geschult, Unglück und Schmach zu ertragen, wie wohl wenig glücklichere Menschen dies vermocht hätten, doch hatte dasselbe ihn nicht darauf vorbereitet, an dem trüben Ende seines Daseins in dem hoffnungslosen Verfall seiner Mannheit, die unter dem doppelten Fluche ehelicher Enttäuschung und väterlichen Kummers verdorrt war, zum ersten Male die Meisterleidenschaft des Menschen zu empfinden. »O wenn ich nur wieder jung wäre!« murmelte das arme Geschöpf, die Arme auf die Mauer stützend und mit heimlichem Entzücken die Blume mit seinen trockenen, fieberglühenden Lippen berührend. »Sie hätte mich vielleicht geliebt, als ich zwanzig Jahre alt war!« Plötzlich richtete er sich wieder empor und stierte in leerer Verwirrung und Angst um sich. »Sie hat mir befohlen, heim zu geben«, sagte er mit erschrockener Miene. »Warum bleibe ich hier?« Er wandte sich um und eilte der Stadt zu, in solcher Furcht vor ihrem Zorne, wenn sie sich umsähe und ihn erblickte, daß er sich nicht einmal nach der Richtung hin umzuschauen wagte, in der sie fortgegangen war, und den Spion gar nicht gewahr wurde, welcher ihr hinter den unbewohnten Häusern und den Steinhaufen folgte, die am Wege lagen.

Leicht und anmuthig, sorgfältig die makellose Sauberkeit ihres Kleides hütend, ohne ihre Schritte zu beschleunigen oder sich rechts oder links umzusehen, setzte Miß Gwilt ihren Weg ins freie Feld fort. Die Straße der Vorstadt lief am Ausgange der letzteren in zwei verschiedenen Richtungen weiter. Zur Linken führte der Pfad durch ein struppiges kleines Gebüsch zur Weide eines benachbarten Gehöftes, zur Rechten über einen kleinen brachliegenden Hügel nach der Landstraße hin. Indem sie einen Augenblick stehen blieb, um zu überlegen, jedoch den Spion durch kein Zurückblicken ahnen ließ, daß er ihr verdächtig schien, solange er sich innerhalb des Bereichs eines Verstecks befand, entschied Miß Gwilt sich für den Pfad über den Hügel. »Dort will ich ihn fangen«, sprach sie bei sich, ruhig die gerade Linie der unbelebten Landstraße hinab sehend. Sowie sie sich einmal auf dem Felde befand, das sie zu ihrem Zwecke ausersehen hatte, begegnete sie den Schwierigkeiten der Position mit vollkommenem Takt und ruhiger Selbstbeherrschung. Nachdem sie etwa dreißig Schritte weiter gegangen war, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen, wandte sich, um ihn wieder aufzuheben, halb um, sah den Mann in demselben Augenblicke hinter sich stehen bleiben und ging augenblicklich weiter, allmälig ihre Schritte beschleunigend, bis sie die größte Schnelligkeit erreichten. Der Spion fiel in die ihm gelegte Schlinge. Da er die Nacht hereinbrechen sah und sie in der Dunkelheit aus dem Gesichte zu verlieren fürchtete, eilte er, die Entfernung zwischen sich und ihr zu verringern. Miß Gwilt ging immer schneller und schneller, bis sie seine Schritte deutlich hinter sich hörte; dann blieb sie stehen und befand sich im nächsten Augenblicke dem Manne dicht gegenüber.

»Macht Mr. Armadale meine Empfehlung und sagt ihm, ich hätte Euch daraus ertappt, wie Ihr mich beobachtetet.«

»Ich beobachte Sie nicht, Miß«, entgegnete der Spion, durch die kühne Deutlichkeit ihrer Worte unvorsichtig gemacht.

Miß Gwilt’s Augen maßen ihn verachtungsvoll vom Kopfe bis zu den Füßen. Er war ein schwächlicher kleiner Mann. Sie war die Größere und möglicherweise auch die Stärkere. »Nehmt den Hut ab, Ihr Flegel, wenn Ihr mit einer Dame sprecht«, sagte sie und schlug ihm den Hut vom Kopfe, daß derselbe über einen Graben, neben dem sie standen, und in eine Schmutzlache jenseits desselben flog.

Diesmal war der Spion auf seiner Hut. Er wußte ebenso gut wie Miß Gwilt, wie nützlich die kostbaren Minuten angewendet werden könnten, wenn er ihr den Rücken zukehrte und über den Graben stiege, um seinen Hut wieder zu suchen. »Es ist ein Glück für Sie, daß sie ein Frauenzimmer sind«, sagte er, in der schnell hereinbrechenden Nacht barhäuptig dastehend und sie mit drohenden Blicken betrachtend.

Miß Gwilt warf einen Seitenblick auf die sich vor ihr öffnende Perspective der Straße und gewahrte in der zunehmenden Dunkelheit die einsame Gestalt eines Mannes, der sich langsam ihnen nahte. Manche Frauen würden das Herannahen eines Mannes zu solcher Stunde und an einem solchen Orte mit einiger Besorgniß gesehen haben. Miß Gwilt hatte zu großes Zutrauen zu ihrer Ueberredungsgabe, um nicht im voraus auf den Beistand eines Mannes zu rechnen, wer derselbe auch sein mochte, und zwar weil er ein Mann war. Mit verdoppelter Zuversicht blickte sie nach dem Spion zurück und maß ihn zum zweiten Male mit Verachtung im Auge vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ob ich wohl stark genug wäre, Euch Eurem Hute nachzuwerfen?« sagte sie. »Ich will ein paar Schritte thun und es mir überlegen.«

Sie schlenderte eine kleine Weile in der Richtung weiter, in welcher die Gestalt auf der Landstraße daherkam. Der Spion folgte hart hinter ihr drein. »Versuchen Sie es doch«, sagte er grob. »Sie sind ein schönes Frauenzimmer, und es soll mir Vergnügen machen, wenn Sie mich mit Ihren Armen umfassen wollen.« Während er diese Worte sprach, erblickte auch er den Fremden. Er that einen Schritt rückwärts und wartete. Miß Gwilt that ihrerseits einen Schritt vorwärts und wartete ebenfalls.

Der Fremde nahte sich mit dem leichten Schritte eines geübten Fußgängers, einen Stock in den Händen schwingend und auf dem Rücken einen Mantelsack tragend.

Als er noch einige Schritte näher gekommen, ließ sich sein Gesicht erkennen. Es war ein dunkler Mann, sein schwarzes Haar mit Staub bepudert, und seine schwarzen Augen blickten fest vor sich hin.

Mit den ersten Anzeichen von Gemüthsbewegung, die sie noch bisher verrathen hatte, trat ihm Miß Gwilt entgegen. »Ist es möglich?« sagte sie sanft. Sind Sie es wirklich?«

Es war Midwinter, auf der Heimkehr von den Haiden von Yorkshire nach Thorpe-Ambrose.

Er blieb stehen und sah sie in athemlosem Erstaunen an. Das Bild dieses Weibes hatte in demselben Augenblicke, wo es ihn anredete, sein Herz erfüllt.

»Miß Gwilt!« rief er aus und reichte ihr mechanisch die Hand.

Sie nahm dieselbe und drückte sie leise. »Zu jeder Zeit würde ich mich gefreut haben, Sie wiederzusehen«, sprach sie, »wie sehr ich mich aber in diesem Augenblicke freue, das können Sie sich nicht denken. Darf ich Sie bitten, mit dem Manne da zu sprechen? Er hat mich den ganzen Weg von der Stadt her verfolgt und belästigt.«

Ohne ein Wort schritt Midwinter an ihr vorüber. So dunkel es war, sah doch der Spion augenblicklich in seinem Gesichte, was kommen solle, und sprang, sich schnell umwendend, über den Graben am Wege. Ehe Midwinter ihm folgen konnte, lag Miß Gwilt’s Hand auf seiner Schulter.

»Nein«, sagte sie. »Sie wissen nicht, in wessen Dienste er steht.«

Midwinter blieb stehen und sah sie an.

»Es haben sich seltsame Dinge ereignet, seit Sie uns verließen«, fuhr sie fort. »Ich bin gezwungen gewesen, meine Stelle aufzugeben, und werde von einem gedungenen Spion verfolgt und beobachtet Fragen Sie nicht, wer mich gezwungen hat, meine Stelle zu verlassen, und wer den Spion gedungen. wenigstens jetzt noch nicht. Ich kann mich nicht entschließen, Ihnen dies zu sagen, bevor ich ein wenig ruhiger geworden bin. Lassen Sie den Elenden gehen. Wollten Sie wohl die Güte haben, mich nach meiner Wohnung zu begleiten? Sie liegt auf Ihrem Wege. Darf ich Sie um den Beistand Ihres Arms bitten? Mein kleiner Vorrath von Muth ist gänzlich erschöpft.« Sie nahm seinen Arm und schmiegte sich fest an ihn an. Das Weib, das Mr. Bashwood tyrannisiert und den Hut des Spions in den Schmutz geworfen, war verschwunden. Ein furchtsames, zitterndes, interessantes Wesen war an seine Stelle getreten. Sie führte ihr Taschentuch an die Augen. »Man sagt, Noth kennt kein Gebot«, murmelte sie leise. »Ich behandle Sie wie einen alten Freund. Gott weiß, ich bedarf eines solchen.«

So gingen sie zusammen der Stadt zu. Mit einer rührenden Entschlossenheit ermannte sie sich, steckte das Taschentuch wieder in die Tasche und bestand darauf, die Unterhaltung auf Midwinter’s Fußreise zu lenken. »Es ist schon schlimm genug, Ihnen zur Last zu fallen«, sagte sie, leise seinen Arm drückend; »ich darf Sie nicht außerdem noch betrüben. Erzählen Sie mir, wo Sie waren und was Sie gesehen haben. Interessieren Sie mich für Ihre Reise; helfen Sie mir, mich mir selbst zu entreißen.«

Sie langten bei der bescheidenen kleinen Wohnung in der garstigen kleinen Vorstadt an. Miß Gwilt seufzte und zog den Handschuh aus, ehe sie Midwinter die Hand reichte. »Hierher habe ich mich geflüchtet«, sagte sie einfach. »Es ist sauber und ruhig, ich bin zu arm, um mehr zu bedürfen oder zu verlangen. Wir müssen wohl Abschied nehmen, wenn Sie ——« sie stockte bescheiden und überzeugte sich durch einen schnellen Blick rings um sich her, daß sie unbeobachtet waren —— »wenn Sie nicht mit hereinkommen und ein wenig ausruhen wollen. Ich fühle mich Ihnen so dankbar verpflichtet, Mr. Midwinter! Meinen Sie, daß ein Arg darin läge, wenn ich Sie zu einer Tasse Thee einlüde?«

Der magnetische Einfluß ihrer Berührung durchzuckte ihn, als sie sprach. Wechsel und Abwesenheit, wodurch er ihre Macht über ihn zu vermindern gehofft, hatten diese im Gegentheil noch verstärkt. Ein ausnahmsweise gefühlvoller, in seinem bisherigen Leben ausnahmsweise reiner Mann, stand er in der verführerischen Heimlichkeit der Nacht Hand in Hand mit dem ersten Weibe da, das ihn den alles Andere in den Hintergrund drängenden Einfluß ihres Geschlechts fühlen ließ. Wer hätte wohl in seinem Alter und in seiner Lage es über sich vermocht, sie zu verlassen? Es lebt kein Mann mit dem Temperament eines Mannes, der dies zu thun im Stande gewesen wäre. Midwinter ging mit hinein.

Ein dummer schläfriger Junge öffnete die Hausthür. Selbst er —— er war ja ein männliches Geschöpf —— empfand Miß Gwilt’s Einfluß. »Die Theemaschine, John«, sagte sie freundlich, »und noch eine Tasse. Ich will Euer Licht borgen, um meine Kerze oben anzuzünden, und dann will ich Euch heute Abend nicht mehr bemühen.« John war augenblicklich wach und munter. »Keine Mühe, Miß«, sagte er mit ungeschickter Höflichkeit. Miß Gwilt nahm lächelnd sein Licht. »Wie gut die Leute gegen mich sind!« flüsterte sie Midwinter unschuldsvoll zu, indem sie ihm die Treppe hinauf und in das kleine Wohnzimmer der ersten Etage voranging.

Sie zündete die Kerze an und hielt, sich schnell umwendend, ihren Gast zurück, als sich dieser anschickte, den Tornister vom Rücken zu nehmen. »Nein«, sagte sie sanft. »Ja der guten alten Zeit gab es gewisse Gelegenheiten, bei denen die Damen ihre Ritter entwaffneten. Ich fordere das Vorrecht, den meinigen zu entwaffnen.« Ihre geschickten Finger kamen den seinigen bei den Riemen und Schnallen zuvor und sie hatte ihm den staubigen Ranzen abgenommen, ehe er sich ihr widersetzen konnte.

Sie ließen sich an dem einzigen kleinen Tische des Zimmers nieder. Letzteres war sehr ärmlich möbliert, aber es herrschte darin etwas von der sauberen Zierlichkeit des Weibes, das es bewohnte, in der Art und Weise, in der die wenigen Schmuckstücke des Kaminsimses aufgestellt waren, in den paar hübsch gebundenen Büchern auf der Chiffonniere, den Blumen auf dem Tische und dem bescheidenen kleinen Arbeitskörbchen im Fenster. »Wir Frauen sind nicht alle Koketten«, sagte sie, Hut und Mantille abnehmend und sorgfältig auf einen Sessel legend. »Ich will nicht in mein Zimmer gehen, um in meinen Spiegel zu sehen und mich hübsch zu machen, Sie sollen mich ganz so nehmen, wie ich bin.« Mit sanfter geräuschloser Geschäftigkeit bewegten sich ihre Hände unter dem Theeservice umher. Ihr prachtvolles Haar funkelte glutroth im Kerzenlicht, als sie, aus dem Präsentierbrett nach diesem oder jenem Gegenstande suchend, den Kopf hierhin und dorthin wandte. Die Bewegung in der freien Luft hatte ihr die schönste Farbe gegeben und den Wechsel des Ausdrucks in ihren Augen lebhafter gemacht: jetzt das köstliche Schmachten, während sie zuhörte oder nachsann, dann das klare Verständniß das aus ihnen blitzte, wenn sie sprach. In dem unbedeutendsten Worte, das sie sagte, in dem Geringsten, was sie that, lag ein Etwas, das das Herz des Mannes, der neben ihr saß, mild erregte. Durchaus bescheiden in ihrem Wesen, die anmuthige Zurückhaltung und Feinheit einer wohlgebildeten Dame bis zur Vollendung besitzend, gebot sie zugleich über alle die Verlockungen, die das Auge entzücken, alle die Sirenenkünste, welche die Sinne berücken.

»Irrte ich mich«, fragte sie, plötzlich die Unterhaltung abbrechend, die sie bis dahin beharrlich auf Midwinter’s Fußreise beschränkt hatte, »wenn ich riethe, daß Sie etwas auf dem Herzen haben, etwas, das weder mein Thee noch meine Unterhaltung fortzubannen im Stande ist? Sind die Männer ebenso neugierig? wie die Frauen. Wäre dieses Etwas vielleicht ich?«

Midwinter kämpfte mit dem Reize, der in ihrem Anblicke und ihrer Stimme lag. »Es liegt mir sehr am Herzen, zu hören, was sich während meiner Abwesenheit zugetragen hat«, sagte er, »aber noch mehr daran, Miß Gwilt, Sie nicht unangenehm zu berühren, wenn ich von einem Gegenstande rede, der Ihnen peinlich ist.«

Sie sah ihn dankbar an. »Ich habe den peinlichen Gegenstand um Ihretwillen gemieden«, sagte sie, mit dem Löffel in der leeren Tasse spielend. »Aber Sie werden durch Andere davon hören, wenn Sie es nicht von mir erfahren; und Sie sollen wissen, warum Sie mich in jener seltsamen Lage fanden und warum Sie mich hier sehen. Bitte, behalten Sie gleich im Anfange eins im Auge: ich mache Ihrem Freund, Mr. Armadale, keinen Vorwurf, nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

Midwinter erschrak. »Ist es möglich«, begann er, »daß Allan in irgend einer Weise verantwortlich ——« Er stockte und schaute Miß Gwilt mit schweigendem Erstaunen an.

Sie legte sanft ihre Hand auf die seinige. »Werden Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen nur die Wahrheit sage. Ihr Freund ist für Alles verantwortlich, was mir zugestoßen ist, unschuldigerweise dafür verantwortlich, Mr. Midwinter, wie ich fest glaube. Wir sind beide Opfer. Er ist das Opfer seiner Stellung als der reichste unverheirathete Mann der ganzen Umgegend, und ich bin das Opfer von Miß Milroy’s Entschlusse, ihn zu heirathen.«

»Miß Milroy! wiederholte Midwinter immer erstaunter. »Wie, Allan sagte mir selbst ——« Er stockte abermals.

»Er sagte Ihnen, ich sei der Gegenstand seiner Bewunderung? Der arme Junge! Er bewundert alle Welt; sein Kopf ist fast so leer wie das da«, sagte Miß Gwilt, bedeutungsvoll in ihre leere Theetasse hineinlächelnd. Sie ließ den Löffel fallen, seufzte und ward wieder ernst. »Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, ihm gestattet zu haben, mich zu bewundern«, fuhr sie reuig fort, »ohne die Entschuldigung zu haben, meinerseits des flüchtigen Interesses für ihn fähig zu sein, das er mir schenkte. Ich unterschätze seine vielfachen vortrefflichen Eigenschaften ebenso wenig wie die schöne Stellung, die er einer Gattin zu bieten hat, aber ein Frauenherz läßt sich nicht commandiren, Mr. Midwinter, nein, selbst nicht durch den glücklichen Besitzer von Thorpe-Ambrose, dem sonst Alles zu Befehl steht.«

Sie sah ihm, während sie diesem hochherzigen Gefühle Worte lieh, gerade ins Gesicht. Er schlug die Augen vor den ihrigen nieder und sein dunkles Gesicht erglühte. Er hatte gefühlt, wie sein Herz aufhüpfte, als sie ihre Gleichgültigkeit gegen Allan erklärte. Zum ersten Male, seit sie einander gekannt, standen seine Interessen als den Interessen seines Freundes direct entgegengesetzt vor ihm.

»Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, Mr. Armadale gestattet zu haben, mich zu bewundern, und ich habe dafür gebüßt«, fuhr Miß Gwilt fort. »Hätte zwischen meiner Schülerin und mir das geringste Vertrauen bestanden, so hätte ich sie leicht darüber beruhigen können, daß sie Mrs. Armadale werden dürfe, wenn es ihr gelänge, ohne dabei irgend welche Nebenbuhlerschaft von meiner Seite fürchten zu müssen. Aber Miß Milroy konnte mich von Anfang an nicht leiden und mißtraute mir. Ohne Zweifel faßte sie ihre eigene eifersüchtige Meinung von Mr. Armadale’s unbedachten Aufmerksamkeiten gegen mich. In ihrem Interesse lag es, mich der Stelle, wie dieselbe eben war, die ich in seiner Meinung einnahm, zu berauben, und es ist sehr wohl möglich, daß ihre Mutter ihr dabei behilflich war. Mrs. Milroy hatte ebenfalls ihren Beweggrund, den ich mich wirklich anzugeben schäme, mich aus dem Hause zu vertreiben. Jedenfalls ist ihnen ihr Anschlag gelungen. Ich bin mit Mr. Armadale’s Hilfe gezwungen worden, die Stelle aufzugeben. Erzürnen Sie sich nicht, Mr. Midwinter! Ziehen Sie keine übereilten Schlüsse! Miß Milroy hat vielleicht ihre guten Eigenschaften, obgleich ich diese nicht habe entdecken können, und ich gebe Ihnen einmal über das andere die Versicherung, daß ich Mr. Armadale keinen Vorwurf mache, sondern nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

»In welcher Weise ist er ihr Werkzeug? Wie kann er das Werkzeug irgend eines Ihrer Feinde sein?« fragte Midwinter »Bitte, entschuldigen Sie meinen Eifer, Miß Gwilt —— Allan’s guter Name ist mir ebenso theuer wie mein eigener!«

Miß Gwilt’s Augen hefteten sich abermals fest auf ihn und ihr Herz gab sich unschuldsvoll einem Ausbruche der Begeisterung hin. »Wie sehr ich Ihren Eifer bewundere!« sagte sie. »Wie mir Ihre Besorgniß um ihren Freund gefällt! O daß doch die Frauen solcher Freundschaften fähig wären! O Sie glücklichen, glücklichen Männer!« Ihre Stimme bebte und sie versenkte sich zum dritten Male in die bequeme Theetasse. »Alle Schönheit, die ich besitze, wollte ich darum geben«, sagte sie, »wenn ich einen solchen Freund zu finden vermöchte, wie Mr. Armadale einen in Ihnen gefunden hat. Doch den finde ich nimmer, Mr. Midwinter, nimmermehr. Lassen Sie uns auf das zurückkommen, wovon wir eben sprachen. Nur indem ich Ihnen zuerst etwas über mich selbst mittheile, kann ich Ihnen erzählen, in welcher Weise Ihr Freund an meinem Mißgeschick mit schuld ward. Ich theile mit vielen andern Erzieherinnen das Loos, daß ich das Opfer trauriger Familienverhältnisse bin. Es mag dies eine Schwäche von mir sein, aber es widerstrebt mir unendlich, Fremden davon zu sprechen. Mein Schweigen über meine Familie und meine Angehörigen setzt mich in meiner abhängigen Lage mancherlei Mißdeutungen aus. Hat es mir auch in Ihrer Meinung geschadet, Mr. Midwinter?«

»Das verhüte Gott!« sagte Midwinter mit Wärme. »Es lebt kein Mensch«, fuhr er an seine eigene Familiengeschichte denkend fort, »der mehr Ursache hätte, Ihr Schweigen zu achten, als ich.«

Miß Gwilt ergriff leidenschaftlich seine Hand.

»O«, sagte sie, »ich wußte es in dem ersten Augenblicke, da ich Sie sah! Ich wußte, daß auch Sie gelitten, daß auch Sie manchen Kummer gehabt haben, den Sie heilig halten! Seltsam, unerklärliche Sympathie! Ich glaube an Magnetismus —— glauben Sie daran?« Sie besann sich plötzlich und schauderte. »O was habe ich gethan! Was müssen Sie von mir denken!« rief sie aus, als er, von dem magnetischen Zauber ihrer Berührung überwältigt, Alles vergaß, außer der Hand, die in der seinigen lag, sich über dieselbe beugte und sie. küßte. »Schonen Sie mich!« sagte sie matt, als sie seine glühenden Lippen fühlte. »Ich bin so freundlos, bin so vollständig in Ihrer Gewalt!«

Er wandte sich von ihr ab und barg sein Gesicht in der Hand —— er zitterte, und sie bemerkte es. Sie sah ihn, während er sein Gesicht bedeckte, mit verstohlenem Interesse und mit Verwunderung an. »Wie dieser Mensch mich liebt!« dachte sie. »ob es wohl einst eine Zeit gegeben, wo ich ihn hätte lieben können?«

Einige Minuten lang schwiegen beide. Er hatte ihr Flehen um Schonung empfunden, wie sie dies durchaus nicht erwartet oder beabsichtigt hatte —— er wagte es nicht, sie wieder anzusehen oder zu ihr zu sprechen.

»Soll ich in meiner Erzählung fortfahren P« fragte sie. »Wollen wir beide vergeben und vergessen?« Das in dem Weibe wurzelnde Verlangen nach jedem Ausdrucke der Bewunderung von Seiten des Mannes, solange derselbe sich innerhalb der Schranken der Achtung hält, kräuselte ihre Lippen zu einem reizenden Lächeln. Sie sah nachdenklich auf ihr Kleid herab und strich mit einem unsicheren kleinen Seufzer ein Krümchen von ihrem Schooße. »Ich erzählte Ihnen eben«, fuhr sie fort, »von meinem Widerstreben, Fremden gegenüber etwas von meinen traurigen Familienverhältnissen zu erwähnen. Und so kam es, wie ich später entdeckt habe, daß ich mich Miß Milroy’s Bosheit und Argwohn aussetzte. Es wurden bei der Dame, die mich empfohlen, heimliche Erkundigungen angestellt und zwar, wie ich nicht bezweifle, zuerst auf Miß Milroy’s Anrathen. Ich bedaure sagen zu müssen, daß dies noch nicht das Schlimmste ist. Mr. Armadale’s Unbefangenheit ward auf irgend eine Art, über die ich in Unwissenheit bin, getäuscht, und als bei der Dame, die sich für mich verbürgt, in London geheime Nachforschungen angestellt wurden, geschah dies durch Ihren Freund, Mr. Midwinter.«

Midwinter sprang plötzlich auf und sah sie an. Der Zauber, den sie über ihn ausübte, hörte, so mächtig er war, momentan auf, als endlich die deutliche Enthüllung von ihren Lippen fiel. Er sah sie an und setzte sich dann, ohne ein Wort zu sagen, wie verblüfft wieder nieder.

»Bedenken Sie, wie schwach er ist«, sagte Miß Gwilt mit sanfter Bitte, »und entschuldigen Sie ihn, wie ich es thue. Der unbedeutende Zufall, daß es ihm nicht gelang, die Dame unter der ihm bezeichneten Adresse aufzufinden, scheint —— ich kann mir nicht erklären, warum —— Mr. Armadale mit Argwohn erfüllt zu haben. Jedenfalls blieb er in London. Was er dort gethan, kann ich unmöglich angeben. Ich war ganz im Dunkeln, ich wußte von nichts; ich beargwöhnte Niemand; ich war im kleinen Kreis meiner Pflichten so glücklich, wie ich dies mit einer Schülerin sein konnte, deren Zuneigung ich nicht zu gewinnen vermochte, als Major Milroy mir eines Morgens, zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen einen Briefwechsel zwischen ihm und Mr. Armadale zeigte. Er sprach mit mir in Gegenwart seiner Gemahlin. Das arme Geschöpf! Ich beklage mich nicht über sie —— solches Leiden wie das ihrige entschuldigt Alles. Ich wollte, ich könnte Ihnen eine Vorstellung von den Briefen geben, die Major Milroy und Mr. Armadale mit einander wechselten, aber mein Kopf ist leider nur ein Weiberkopf, und ich fühlte mich damals bestürzt und gekränkt! Ich kann Ihnen blos sagen, daß es Mr. Armadale beliebte, über sein Verfahren in London ein Schweigen zu beobachten, das unter den obwaltenden Verhältnissen einen Vorwurf für meinen guten Namen enthielt. Der Major war außerordentlich gütig; sein Zutrauen zu mir blieb unerschüttert; aber vermochte sein Zutrauen mich auch gegen das Vorurtheil seiner Gemahlin und seiner Tochter Uebelwollen zu schützen? O wie hart die Frauen gegen einander sind! Ach welche Demüthigung für uns, sähen die Männer nur einige von uns so, wie wir wirklich sind! Was konnte ich thun? Gegen bloße Andeutungen konnte ich mich nicht vertheidigen, und meine Stelle mußte ich aufgeben, nachdem man einen Makel auf meinen Namen geworfen hatte. Mein Stolz der Himmel sei mir gnädig, ich habe die Erziehung einer Dame genossen und die Gefühle eines gebildeten Weibes, die selbst jetzt noch nicht abgestumpft sind —— mein Stolz übermannte mich, und ich gab meine Stelle auf. Lassen Sie sich das nicht leid sein, Mr. Midwinter Das Bild hat auch feine Lichtseite. Die Damen der Umgegend haben mich mit Freundlichkeiten überschüttet; ich habe Aussicht, Schülerinnen zu bekommen, und so wird mir der Kummer erspart, zu meinen Angehörigen zurückkehren und ihnen zur Last fallen zu müssen. Die einzige Klage, die ich erhebe, ist wie mich dünkt, eine wohlbegründete Mr. Armadale ist seit einigen Tagen nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt. Ich habe ihn brieflich inständig gebeten, mir eine Unterredung mit ihm zu gestatten, mir zu sagen, welchen fürchterlichen Verdacht er gegen mich hegt, und mir Gelegenheit zu geben, mich in seiner Meinung zu rechtfertigen. Sollten Sie es wohl glauben, er hat sich geweigert, mich zu sehen, natürlich unter dem Einflusse Anderen nicht aus eigenem freien Antriebe, dessen bin ich sicher! Grausam, nicht wahr? Aber er hat mich sogar noch grausamer behandelt. Er bleibt dabei, mich zu beargwöhnen, und er ist es, der mich beobachten läßt. O Mr. Midwinter, hassen Sie mich nicht darum, weil ich Ihnen etwas mittheile, das Sie jedenfalls erfahren müssen! Der Mann, den Sie heute mich verfolgen und ängstigen sahen, verdient nur sein Brod als Mr. Armadale’s Spion.«

Midwinter sprang abermals auf, und diesmal machten seine Gedanken sich in Worten Luft.

»Ich kanns nicht glauben, ich will’s nicht glauben!« rief er entrüstet. »Wenn der Mann Ihnen das gesagt, hat er gelogen. Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; ich bitte Sie aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Bitte, glauben Sie —— glauben Sie nicht, daß ich in Ihre Worte Zweifel setze; ich sage nur, irgendwo waltet ein abscheulicher Irrthum ob. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Alles, was Sie mir mitgetheilt, richtig verstanden habe, aber diese letzte schmachvolle Gemeinheit, deren Sie Allan für fähig halten, verstehe ich. Ich schwöre Ihnen, daß er derselben unfähig ist! Irgend ein Schurke hat ihn hintergangen, irgend ein Bösewicht hat sich seines Namens bedient. Ich will Ihnen dies beweisen, wenn Sie mir nur Zeit dazu geben wollen. Lassen Sie mich gehen und die Sache sofort aufklären. Eher kann ich nicht ruhen; ich kann den Gedanken nicht ertragen; ich kann mich selbst nicht dem Vergnügen hingeben, hier zu sein. O«, rief er im Tone der Verzweiflung, »ich bin überzeugt, daß Sie nach dem, was Sie gesagt haben, für mich fühlen —— ich fühle so sehr für Sie!«

Er schwieg verwirrt. Miß Gwilt’s Augen waren wieder auf ihn geheftet und ihre Hand hatte nochmals den Weg in die seinige gefunden.

»Sie sind der großmüthigste Mensch, den es in der Welt gibt«, sagte sie sanft; »ich will glauben, was Sie mich glauben heißen. Gehen Sie«, fügte sie flüsternd hinzu, indem sie plötzlich seine Hand losließ und sich von ihm wandte, »um unser beider willen, gehen Sie!«

Sein Herz pochte wild; er sah sie an, wie sie, das Tuch vor die Augen haltend, in einen Sessel sank. Einen Augenblick zögerte er, dann riß er seinen Ranzen vom Boden auf und verließ sie plötzlich ohne einen Rückblick oder ein Abschiedswort.

Als die Thür sich hinter ihm schloß, stand sie auf. Sowie sie allein war, ging eine Veränderung mit ihr vor. Die Farbe wich aus ihren Wangen; der Glanz erlosch in ihren Augen; ihre Züge wurden hart und drückten stumme Verzweiflung aus. »Es ist viel schändlicher, als ich geglaubt«, sagte sie, »wenn ich ihn täusche.« Nachdem sie einige Minuten im Zimmer auf und ab gegangen, blieb sie wie zerschlagen vor dem Spiegel über dem Kamine stehen. »Du merkwürdiges Geschöpf« murmelte sie, die Ellbogen auf den Kaminsims stützend und zu ihrem Bilde im Spiegel sprechend. »Hast du etwa noch einen Rest von Gewissen? Und sollte dieser Mensch denselben erweckt haben?«

Das Spiegelbild veränderte sich langsam. Die Farbe kehrte in die Wangen zurück, ein köstliches Schmachten schwamm wieder in ihren Augen. Ihre Lippen theilten sich leicht und ihr schneller Athem überzog die Oberfläche des Spiegels mit einem Nebel. Nachdem sie sich einen Augenblick in ihre Gedanken vertieft hatte, fuhr sie jählings schaudernd zurück. »Was beginne ich?« fragte sie sich plötzlich mit Entsetzen und Erstaunen. »Bin ich so wahnsinnig, in dieser Weise an ihn zu denken?«

Sie brach in ein spöttisches Lachen aus und öffnete ihre Schreibschatulle mit lautem Geklapper »Es wird Zeit, daß ich mich wieder mit Mutter Isabelle unterhalte«, sagte sie und setzte sich, um an Mrs. Oldershaw zu schreiben.

»Ich habe Mr. Midwinter getroffen, und zwar unter sehr glücklichen Umständen, und mir diese Gelegenheit zu Nutze gemacht. So eben hat er mich verlassen, um zu seinem Freunde Armadale zu gehen, und morgen wird sich eins von zwei guten Dingen ereignen. Wenn sie sich nicht veruneinigen, werden mir durch Midwinters Vermittlung die Thore von Thorpe-Ambrose wieder geöffnet werden. Gibt es aber einen Streit, so werde ich die unglückliche Ursache desselben sein, und dann werde ich mir in der rein christlichen Absicht, sie wieder auszusöhnen, den Eingang erzwingen.«

Beim nächsten Satze zögerte sie, schrieb die ersten Worte desselben nieder, strich sie wieder aus, riß den Brief in kleine Stücke und schleuderte die Feder in eine Ecke des Zimmers Sich schnell auf ihrem Sessel umdrehend, sah sie auf den Sitz, den Midwinter eingenommen, während ihr Fuß unruhig auf den Boden klopfte und sie sich das Taschentuch wie einen Knebel zwischen die Zähne klemmte. »Wie jung du immer sein magst«, dachte sie, im Geiste sein Bild in dem leeren Sessel erblickend, »hat es doch in deinem Leben schon etwas Ungewöhnliches gegeben, und dies muß und will ich erfahren!«

Die Hausuhr schlug die Stunde und riß sie aus ihrem Sinnen. Sie seufzte, ging an den Spiegel zurück und fing müde ihr Kleid zu lösen an, nahm die Knöpfe aus der Chemisette und legte sie auf den Kaminsims. Während sie ihr Haar aufflocht und es in einer einzigen großen Flechte über ihre Schultern zurückfallen ließ, warf sie nachlässig einen Blick auf die Schönheit ihres Nackens und ihres Busens. »Wenn er mich jetzt sähe!« dachte sie. Sie kehrte zum Tische zurück und seufzte abermals, indem sie die eine der Kerzen auslöschte und die andere in die Hand nahm. »Midwinter?« sagte sie, als sie durch die Flügelthür vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging. »Ich glaube schon gar nicht an seinen Namen.«

Die Nacht war um mehr als eine Stunde vorgerückt, ehe Midwinter im Herrenhause anlangte.

Obgleich er den Weg ganz genau kannte, war er zweimal irre gegangen. Die Ereignisse des Abends, die Begegnung mit Miß Gwilt selbst, nachdem er vierzehn Tage lang still mit dem Gedanken an sie beschäftigt gewesen war, die große Veränderung, die in ihrer Lage eingetreten, seit er sie zuletzt gesehen, und die überraschende Behauptung, daß Allan an derselben schuld sei, alles dies hatte sich vereinigt, um sein Gemüth in die wildeste Verwirrung» zu stürzen. Die Dunkelheit der Nacht trug noch zur Erhöhung dieser Verwirrung bei. Selbst die wohlbekannten Thore von Thorpe-Ambrose erschienen ihm fremd. Als er daran zu denken versuchte, war es ihm unbegreiflich, wie er überhaupt dort angelangt sei.

Die Vorderseite des Hauses war finster und verschlossen. Midwinter ging nach der Hinterseite herum. Wie er weiter schritt, schlug der Schall von Männerstimmen an sein Ohr. Er unterschied dieselben bald als die des ersten und zweiten Bedienten, und den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete ihr Herr.

»Ich wette eine halbe Krone, daß er aus der Umgegend vertrieben wird, ehe noch eine Woche vergeht«, sagte der erste Diener.

»Abgemacht!« sagte der zweite. »Er läßt sich nicht so leicht vertreiben, wie Du glaubst.«

»Nicht?« entgegnete der andere. »Er wird vom Pöbel beschimpft werden, wenn er bleibt! Ich sage Dir nochmals, er ist mit der Patsche, in die er sich bereits hineingearbeitet, noch nicht zufrieden. Ich weiß es gewiß, daß er die Erzieherin beobachten läßt.«

Bei diesen Worten blieb Midwinter mechanisch stehen, ehe er ins Haus hineinging. Plötzlich überfiel ihn der erste Zweifel an dem Erfolge der beabsichtigten Ansprache an Allan. Der Einfluß, den die Stimme öffentlicher Verleumdung ausübt, ist eine Gewalt, die in einer den gewöhnlichen Gesetzen der Mechanik entgegengesetzten Weise wirkt. Er wird am stärksten nicht durch Concentration, sondern durch Zerstreuung. Gegen den ersten Laut mögen wir die Ohren schließen, aber das Echo desselben ist unwiderstehlich. Midwinter war auf dem Heimwege von dem Wunsche erfüllt gewesen, Allan noch aufzufinden und unverzüglich mit ihm zu sprechen. Jetzt war seine einzige Hoffnung die, Zeit zu gewinnen, um mit seinen neuen Zweifeln zu kämpfen und seine bösen Ahnungen zu beschwichtigen, sein einziger Wunsch, zu hören, daß Allan zur Ruhe gegangen sei. Er bog um die Ecke des Hauses und zeigte sich den Männern, die im Hintergarten ihre Pfeife rauchten. Sobald ihr Erstaunen ihnen zu sprechen gestattete, erboten sie sich, ihren Herrn zu wecken. Allan hatte die Ankunft seines Freundes für diesen Abend nicht mehr erwartet und war seit etwa einer halben Stunde schlafen gegangen.

»Der Herr gab den besonderen Befehl, Sir«, sagte der erste Bediente, »daß es ihm gemeldet würde, sowie Sie kämen.«

»Es ist mein besonderer Wunsch«, erwiderte Midwinter, »daß er nicht gestört wird.«

Die beiden Diener sahen einander verwundert an, als er die Kerze nahm und sie verließ.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Bestimmte Stunden für die verschiedenartigen häuslichen Vorkommnisse des Tages waren in Thorpe-Ambrose unbekannt. Unregelmäßig in allen seinen Gewohnheiten, band sich Allan mit Ausnahme des Diners weder tags noch nachts an eine feste Stunde. Er ging entweder früh oder spät zur Ruhe und stand früh auf oder spät, wie es ihm eben beliebte. Den Dienern war es verboten, ihn zu Wecken, und Mrs. Gripper war gewöhnt, das Frühstück von dem Augenblicke an, da das Küchenfeuer angezündet ward, bis zur Zeit, wo die Küchenuhr die Mittagsstunde verkündete, so gut sie konnte, zu improvisieren.

An dem Morgen nach seiner Rückkehr klopfte Midwinter gegen neun Uhr an Allan’s Thür und fand bei seinem Eintritt das Zimmer leer. Auf Erkundigung bei der Dienerschaft ergab sich, daß Allan ausgestanden war, ehe noch der Mann, der ihm gewöhnlich aufwartete, sein Lager verlassen, und daß eins der Stubenmädchen, das von Midwinter’s Heimkehr nichts wußte, ihm sein heißes Wasser an die Thür gebracht hatte. Zufällig hatte Niemand den Herrn gesehen, weder auf der Treppe noch im Hausflur, und auch Niemand ihn wie gewöhnlich nach Frühstück schellen hören. Kurz, Niemand wußte etwas von ihm, ausgenommen, was Allen klar war, daß er nicht im Hause sei.

Midwinter trat auf den großen Porticus hinaus. Oben aus den Stufen blieb er stehen und überlegte, in welcher Himmelsgegend er seinen Freund suchen solle. Allan’s unerwartete Abwesenheit trug noch zur Vergrößerung seiner Gemüthsunruhe bei. Er befand sich in einer Stimmung, in welcher uns Kleinigkeiten reizen und die Einbildung allmächtig ist, um uns glücklich oder traurig zu machen.

Der Himmel war bewölkt und der Wind kam in heftigen Stößen aus Süden; wetterkundige Augen sahen, daß Regen im Anzuge war. Während Midwinter noch immer in Ungewißheit dastand, kam einer der Reitknechte die Rampe herauf an ihm vorbei. Fragen thaten dar, daß dieser Mann besser über seinen Herrn unterrichtet war als die Hausbedienten. Vor mehr als einer Stunde hatte er Allan mit einem Blumenstrauße in der Hand hinter dem Parke an den Ställen vorbeikommen sehen.

Mit einem Blumenstrauße in der Hand? Der Blumenstrauß lag Midwinter unbegreiflich störend im Sinne, während er, in der Hoffnung, Allan zu treffen, nach der Hinterseite ging. »Was soll der Blumenstrauß bedeuten?« fragte er sich mit einem unerklärlichen Gefühle der Gereiztheit und ärgerlich einen ihm im Wege liegenden Stein fortstoßend.

Das Bouquet bedeutete, daß Allan wie immer seiner augenblicklichen Eingebung gefolgt war. Der einzige angenehme Eindruck, den seine Unterredung mit Pedgift ihm hinterlassen, war der Eindruck, welchen der Bericht des Advocaten über seine Unterhaltung im Park mit Miß Neelie auf ihn gemacht hatte. Die Besorgniß, welche die Majorstochter so ernstlich zu erkennen gegeben, von ihm falsch beurtheilt zu werden, hatte sie Allan’s Augen in einem unwiderstehlich anziehenden Lichte erscheinen lassen, in dem Lichte des einzigen Wesens unter all seinen Nachbarn, das noch einigen Werth auf seine gute Meinung legte. Seine gesellschaftliche Vereinsamung jetzt, da er in dem öden Hause selbst Midwinter’s Gesellschaft vermißte, tief empfindend, in seiner Verlassenheit nach einem gütigen Worte und freundlichen Blicke hungernd und dürstend, begann er immer reuiger und immer sehnsüchtiger an das hübsche junge Gesicht zu denken, das in die Erinnerung an seine ersten glücklichen Tage in Thorpe-Ambrose so angenehm verwoben war. Sich eines solchen Gefühls bewußt werden hieß bei einem Menschen von Allan’s Charakter kopfüber nach demselben handeln, wohin dies auch immer führen mochte. Mit einem Sühneopfer von Blumen war er gestern Morgen ausgegangen, ohne sich indeß eine klare Vorstellung von dem zu machen, was er zu ihr sagen solle, wenn er ihr begegnete, um Miß Neelie zu suchen, und da er sie auf ihrem gewohnten Spaziergange nicht gefunden, hatte er am nächsten Morgen, mit einem noch größeren Sühneopfer ausgerüstet, mit charakteristischer Beharrlichkeit einen abermaligen Versuch gemacht. Von der Rückkehr seines Freundes noch nichts wissend, befand er sich jetzt in einiger Entfernung vom Hause und durchstreifte den Park in einer Richtung, an die er bisher noch nicht gedacht hatte.

Nachdem er ein paar hundert Schritte über die Ställe hinausgegangen und keine Spur von Allan entdeckt hatte, kehrte Midwinter wieder um und wartete in dem kleinen Gartenflecke, an der Hinterseite des Hauses langsam auf und ab gehend, auf die Zurückkunft seines Freundes.

Im Vorübergehen sah er von Zeit zu Zeit zerstreut in das Gemach hinein, das einst Mrs. Armadale’s Zimmer gewesen und jetzt durch seine Vermittlung der gewöhnliche Aufenthalt ihres Sohnes war, das Zimmer mit der Statuette auf der Console und den in das Gärtchen führenden Fensterthüren, welches ihn einst an das zweite Gesicht seines Traums gemahnt hatte. Der Schatten des Mannes, dem Allan an dem langen Fenster gegenüberstand, die Aussicht auf Rasen und Blumengartem das Geräusch des Regens an den Fensterscheiben; der ausgestreckte Arm des Schattens und die fallende und in Scherben am Boden liegende Statuette, diese Gegenstände und Ereignisse des Traumgesichts, die seinem Gedächtnisse einst so lebhaft eingeprägt gewesen, waren jetzt durch spätere Erinnerungen samt und sonders verdrängt worden und verschwammen in dem nebligen Hintergrunde der Zeit. Allein und sorgenvoll, konnte er zu wiederholten Malen an dem Zimmer vorübergehen, ohne ein einziges Mal an das Boot zu denken, das im Mondscheine dahintrieb, oder an die nächtliche Gefangenschaft auf dem Wrack.

Gegen zehn Uhr ließ sich plötzlich Allan’s wohlbekannte Stimme von den Ställen her vernehmen. Im nächsten Augenblicke ward er Vom Garten aus sichtbar. Sein zweites Suchen nach Neelie war, allem Anscheine nach, jedenfalls gescheitert. Der Strauß war noch in seiner Hand und resigniert schenkte er ihn einem der Kinder seines Kutschers.

Midwinter that schnell einen Schritt ihm entgegen und blieb dann plötzlich wieder stehen. Das Bewußtsein, daß seine Stellung seinem Freunde gegenüber durch seine Beziehungen zu Miß Gwilt bereits eine andere sei, erfüllte ihn beim ersten Anblicke Allan’s mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Einfluß, den die Gouvernante auf ihn gewonnen hatte, welches fast ein Mißtrauen gegen sich selbst war. Er wußte, daß er seine Heimreise aus den Mooren nach Thorpe-Ambrose mit dem Entschlusse angetreten hatte, die Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt, zu bekennen und, wenn dies nothwendig, auf einer zweiten und längeren Abwesenheit im Interesse des Opfers zu bestehen, welches er dem Glücke seines Freundes zu bringen entschlossen war. Was war jetzt aus diesem Entschlusse geworden? Die Entdeckung von Miß Gwilt’s veränderter Lage und ihre freiwillige Erklärung der Gleichgültigkeit gegen Allan hatten jenen in alle Winde gestreut. Die ersten Worte, mit denen er seinem Freunde entgegengekommen sein würde, wäre ihm auf seinem Heimwege nichts begegnet, waren Worte, die er bereits gänzlich von seinen Lippen verbannt hatte. Er wich zurück, als er dies fühlte, und versuchte mit instinktmäßiger Treue gegen Allan sich noch im letzten Augenblicke von dem Einflusse Miß Gwilt’s zu befreien.

Nachdem er über seinen nutzlosen Strauß verfügt, schritt Allan dem Garten zu, und sowie er in demselben eintrat, erkannte er Midwinter mit einem lauten Schrei der Ueberraschung und der Freude.

»Wache ich oder träume ich?« rief er, in großer Aufregung beide Hände seines Freundes ergreifend. »Du lieber alter Midwinter, bist Du aus der Erde aufgetaucht oder aus den Wolken herabgefallen?«

Nicht eher, als bis Mitwinter in jeder Einzelheit das Räthsel seines unerwarteten Erscheinens erklärt hatte, ließ Allan sich bewegen, ein Wort von sich selbst zu sagen. Als er aber endlich sprach, schüttelte er kläglich den Kopf und mäßigte die laute Herzlichkeit seiner Stimme, nachdem er sich zuvor umgesehen hatte, ob die Diener sich innerhalb Hörweite befänden.

»Seit Du mich verließest, habe ich vorsichtig zu sein gelernt«, sagte Allan. »Mein lieber Junge, Du hast keine Ahnung, was für Dinge inzwischen hier geschehen sind und in welcher fürchterlichen Patsche ich mich in diesem Augenblicke befinde.«

»Du irrst Dich, Allan. Ich habe von dem, was sich zugetragen, mehr gehört, als Du denkst.«

»Wie! Von der schrecklichen Klemme, in die ich mit Miß Gwilt gerathen? Von dem verdammten Skandal in der Umgegend? Du meinst doch nicht ——«

»«Ja«, unterbrach ihn Midwinter, »ich habe von Allem gehört«

»Gerechter Himmel! Wie denn? Hast Du Dich auf Deinem Rückwege in Thorpe-Ambrose aufgehalten? Warst Du etwa im Gasthofe? Bist Du Pedgift begegnet? Bist Du ins Lesezimmer gerathen, hast kennen lernen, wie das Lokalblatt die Pressefreiheit versteht?«

Midwinter wartete etwas, ehe er antwortete, und sah zum Himmel auf. Die Wolken hatten sich von ihnen unbemerkt über ihren Häuptern zusammengezogen und eben fielen die ersten Regentropfen.

»Komm’ hier herein«, sagte Allan. »Wir wollen auf diesem Wege zum Frühstück gelangen.« Er führte Midwinter durch die offene Glasthür in sein Wohnzimmer. Der Wind, der von dieser Seite kam, trieb den Regen ihnen hinter nach ins Zimmer. Midwinter der zuletzt kam, wandte sich um und schloß die Fensterthür.

Allan war zu neugierig auf die Antwort, die das Wetter unterbrochen hatte, um zu warten, bis sie das Frühstückszimmer erreichten. Er blieb am Fenster stehen und fügte noch zwei Fragen zu den bereits gethanen hinzu.

»Wie kannst Du nur etwas über Miß Gwilt und mich gehört haben? Wer hat Dir’s erzählt?«

»Miß Gwilt selbst«, erwiderte Midwinter ernst.

Sowie der Name der Gouvernante seinem Freunde über die Lippen kam, veränderte sich Allan’s Wesen.

»Ich wollte, Du hättest meine Geschichte zuerst gehört«, sagte er. »Wo hast Du Miß Gwilt getroffen?«

Eine kurze Pause trat ein. In das Interesse des Augenblicks versunken, standen sie beide am Fenster. Beide vergaßen sie, daß sie vor dem Wetter ins Frühstückszimmer hatten flüchten wollen.

»Ehe ich Deine Frage beantworte«, sagte Midwinter ein wenig gezwungen, »möchte ich Dich meinerseits etwas fragen. Ist es wirklich wahr, daß Du irgendwie an Miß Gwilt’s Abgang aus ihrer Stelle bei Milroy mit schuld bist?«

Eine neue Pause folgte. Allan’s Verlegenheit stieg merklich.

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, begann er. »Ich bin hintergangen worden, Midwinter. Ich bin von einer Person betrogen worden —— ich kann nicht umhin, dies zu sagen —— die mich zu einem Versprechen verleiten, das ich nicht hätte geben, und mich etwas thun ließ, das ich lieber nicht hätte thun sollen. Wenn ich es Dir erzähle, breche ich mein Wort nicht. Ich kann mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen, nicht wahr? Du wirst nie ein Wort davon verrathen, wie?«

»Halt!« rief Midwinter. »Vertraue mir keine Geheimnisse an, die nicht Dein Eigenthum sind. Hast Du ein Versprechen gegeben, so spiele nicht damit, selbst nicht, wenn Du mit einem so vertrauten Freunde sprichst, wie ich bin.« Er legte sanft und liebevoll seine Hand auf Allan’s Schulter. »Ich sehe wohl, daß ich Dich ein wenig in Verlegenheit gesetzt habe«, fuhr er fort, »und daß meine Frage nicht so leicht zu beantworten ist, wie ich gehofft und erwartet hatte. Wollen wir vielleicht etwas warten? Wollen wir etwa zuvor hinaufgehen und frühstücken?«

Allan lag viel zu sehr daran, dem Freunde sein Benehmen im rechten Lichte darzustellen, als daß er dessen Vorschlag hätte berücksichtigen können. Ohne vom Fenster zurückzutreten, antwortete er hastig und voll Eifer:

»Mein lieber Junge, die Frage ist ganz leicht zu beantworten. Sie erfordert nur ——« Er stockte. »Sie erfordert nur etwas, wozu ich sehr wenig Talent habe —— eine Auseinandersetzung.«

»Willst Du damit sagen«, fragte Midwinter ernster, doch nicht minder sanft als zuvor, »daß Du Dich erst rechtfertigen mußt, ehe Du meine Frage beantwortest?«

»Ganz recht!« erwiderte Allan mit einer Miene der Erleichterung. »Du hast wie gewöhnlich den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Midwinters Gesicht begann sich zu verfinsteren. »Es thut mir leid, das zu hören«, sagte er, indem seine Stimme leiser ward und seine Blicke den Boden suchten.

Der Regen wurde heftiger. Er zog über den Garten hin und schlug in schweren Tropfen gegen die Scheiben der geschlossenen Glasthür.

»Leid!« wiederholte Allan »Mein lieber Junge, Du kennst die Einzelheiten noch nicht. Watte, bis ich Dir die Sache erklärt habe.«

»Du bist ein schlechter Erklärer«, sagte Midwinter, Allan’s Ausdruck wiederholend. »Stelle Dich nicht in Nachtheil. Erkläre es nicht.«

Allan sah ihn mit stummer Ueberraschung und Verwunderung an.

»Du bist mein Freund, mein bester und theuerster Freund«, fuhr Midwinter fort. »Ich kann es nicht ertragen, daß Du Dich vor mir rechtfertigst, als ob ich Dein Richter wäre oder an Dir zweifelte.« Bei diesen Worten blickte er wieder offen und liebevoll zu Allan auf. »Und übrigens«, fuhr er fort, »glaube ich, wenn ich mein Gedächtniß zu Hilfe nehme, zu wissen, was Deine Erklärung ist. Ehe ich fortging, hatten wir eine kurze Unterredung über gewisse sehr delicate Fragen, die Du an Major Milroy richten wolltest. Ich erinnere mich, daß ich Dich warnte; ich erinnere mich auch, daß ich dabei meine Bedenken hatte. Hätte ich Recht, wenn ich riethe, daß jene Fragen Dich auf eine oder die andere Art in eine falsche Stellung gebracht haben? Wenn es wahr ist, daß Du damit zu thun gehabt hast, Miß Gwilt zu einem Aufgeben ihrer Stelle zu veranlassen, ist es nicht mehr als billig, anzunehmen, daß Du irgend welches Unheil, für das Du verantwortlich bist, unschuldig angerichtet hast?«

»Ja«, sagte Allan seinerseits zum ersten Male etwas gezwungen. »Es ist nicht mehr als billig, dies anzunehmen.« Er schwieg und begann mit dem Finger auf die angelaufene Fensterscheibe zu zeichnen. »Du bist nicht wie andere Leute, Midwinter«, sagte er plötzlich mit Anstrengung, »und ich wollte dennoch, daß Du Alles genau erfahren hättest.«

»Ich will es hören, wenn Du es wünschest«, erwiderte Midwinter. »Aber ohne ein weiteres Wort, davon bin ich überzeugt, daß Du nicht geflissentlich Ursache wurdest, Miß Gwilt um ihre Stelle zu bringen. Sobald dies zwischen uns beiden festgestellt ist, braucht nichts weiter gesagt zu werden, wie mir scheint. Ueberdies habe ich Dir noch eine weit wichtigere Frage vorzulegen, eine Frage, zu der ich durch etwas, das ich gestern Abend, mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört, gezwungen bin.«

Er schwieg, wider Willen vor der Frage zurückbebend. »Sollen wir erst hinaufgehen ?« fragte er, plötzlich der Thür zuschreitend um Zeit zu gewinnen.

Es half nichts. Noch einmal wurden sie in dem Zimmer, das beiden zu verlassen frei stand, dem Zimmer, das der eine von ihnen schon zweimal hatte verlassen wollen; festgehalten, als wären sie Gefangene gewesen.

Ohne zu antworten, ohne selbst, wie es schien, Midwinter’s Vorschlag gehört zu haben, folgte Allan ihm mechanisch an die Thür. Dort blieb er stehen. »Midwinter!« rief er von einem plötzlichen Erstaunen und Grausen ergriffen aus, »es kommt mir vor, als sei. etwas Fremdes zwischen uns getreten! Du bist nicht mehr der Alte. Was ist das?«

Midwinter, dessen Hand auf der Thürklinke ruhte, wandte sich um und sah ins Zimmer zurück. Der Augenblick war gekommen. Die ihn gespenstisch verfolgende Furcht, seinem Freunde Unrecht zu thun, hatte sich in einer Gezwungenheit der Sprache, der Mienen und des Benehmens zu erkennen gegeben, die deutlich genug waren, um selbst Allan aufzufallen. Das Einzige, was er im Interesse der Freundschaft, die sie vereinte, jetzt noch thun konnte und thun durfte, war, daß er unverzüglich und unverhohlen sprach.

»Etwas Fremdes ist zwischen uns getreten«, rief Allan nochmals aus. »Sage mir um Gottes Willen, was es ist?«

Midwinter ließ die Thürklinke los und ging wieder ans Fenster, Allan ihm nach. Nothwendigerweise stand der erstere jetzt da, wo noch eben Allan gestanden hatte, an der Seite des Fensters, wo sich die Statuette befand. Die kleine Figur stand auf der vorspringenden Console dicht hinter ihm zu seiner Rechten. An dem regnerischen Himmel zeigte sich noch keine Veränderung. Noch immer strich der Regen schräg über den Garten her und schlug in schweren Tropfen an das Fenster.

»Gib mir die Hand, Allan.«

Allan reichte sie ihm und Mtdwinter hielt sie fest.

»In der That«, sagte er, »ist etwas Fremdes zwischen uns getreten. Etwas, das Dich nahe betrifft, muß ins Klare kommen, und das ist noch nicht geschehen. Du hast mich soeben gefragt, wo ich Miß Gwilt getroffen habe. Ich begegnete ihr auf meinem Heimwege, auf der Landstraße jenseits der Stadt. Sie bat mich, sie gegen einen Mann zu schützen, der sie verfolgte und ängstigte. Ich habe den Schurken mit meinen eigenen Augen gesehen und würde Hand an ihn gelegt haben, hätte Miß Gwilt selbst mich nicht daran verhindert. Sie gab einen sehr seltsamen Grund für diese ihre Einmischung an. Sie sagte nämlich, ich wisse nicht, in wessen Auftrag er handle.«

Allan’s Gesicht überzog sich plötzlich mit einer tiefen Glut. Rasch sah er seitwärts durchs Fenster auf den herabströmenden Regen. In demselben Augenblicke lösten sich ihre Hände und beide schwiegen. Midwinter nahm zuerst wieder das Wort.

»Am späteren Abend«, fuhr er fort, »sprach sich Miß Gwilt deutlich aus. Zweierlei theilte sie mir mit. Sie erklärte, daß der Mann, welcher sie verfolgt, ein gedungener Spion sei. Ich war überrascht, aber ich konnte es nicht bestreiten. Dann sagte sie mir etwas, von dem ich aus tiefstem Herzen überzeugt bin, daß es eine Lüge ist, die man ihr als eine Wahrheit dargestellt hat; sie sagte mir, daß der Spion in Deinen Diensten stehe!«

Augenblicklich wandte sich Allan vom Fenster weg und sah Midwinter wieder gerade ins Gesicht. »Ich muß es jetzt erklären!« sagte er entschlossen. Auf Midwinters Wangen legte sich jene aschfarbene Blässe, die ihn in Fällen heftiger Gemüthsbewegung überkam.

»Noch mehr Erklärungen! sagte er und trat einen Schritt zurück, während seine Augen sich erschrocken und forschend auf Allans Gesicht hefteten.

»Du weißt nicht, was ich weiß, Midwinter. Du weißt nicht, daß das, was ich gethan habe, aus gutem Grunde gethan worden ist. Und mehr noch, ich habe mich nicht auf mich selbst verlassen —— ich bin gut berathen gewesen.«

»Hast Du gehört, was ich so eben sagte?« fragte Midwinter ungläubig; »Du kannst —— ach, unmöglich kannst Du mich verstanden haben !«

»Ich habe kein Wort davon verloren«, erwiderte Allan. »Ich sage Dir nochmals, Du weißt nichts von dem, was mir von Miß Gwilt bekannt ist. Sie hat Miß Milroy gedroht. Miß Milroy befindet sich in Gefahr, solange ihre Erzieherin hier in der Umgegend bleibt.«

Mit einer verachtungsvollen Handbewegung schloß Midwinter die Majorstochter aus ihrer Unterredung aus.

»Will nichts von Miß Milroy hören«, sagte er. »Bringe nicht Miß Milroy mit —— gerechter Gott, Allan, willst Du mir etwa zu verstehen geben, daß der Spion; der Miß Gwilt aufzulauern gedungen war, sein schändliches Werk mit Deiner Bewilligung that?«

»Ein- für allemal, mein lieber Junge, frage ich Dich, ob Du mich die Sache erklären lassen willst oder nicht?«

»Erklären!« rief Midwinter mit flammensprühenden Augen und einem Gesichte, in dem sein heißes Creolenblut glühte. »Die Mithilfe eines Spions erklären? Wie! Nachdem Du Miß Gwilt durch Deine Einmischung in ihre Privatangelegenheiten aus ihrer Stelle vertrieben, bedienst Du Dich des schändlichsten aller Mittel, bedienst Du Dich eines Spions, um Dich noch ferner in ihre Angelegenheiten zu mischen? Du läßt dem Weibe auflauern, von dem Du mir vor kaum vierzehn Tagen selbst sagtest, daß Du es liebtest, einem Weibe, das Du zu Deiner Gattin machen wolltest! Ich glaube es nicht! Ich wills nicht glauben! Läßt mein Verstand mich im Stich? Spreche ich mit Allan Armadale? Ist es Allan Armadale’s Gesicht, das mich anblickt? Halt! Du handelst aus falschen Scrupeln. Irgend ein gemeiner Geselle hat sich in Dein Vertrauen eingeschlichen und in Deinem Namen gehandelt, ohne Dir etwas davon zu sagen.

Mit bewunderungswürdiger Geduld und Nachsicht für die Heftigkeit seines Freundes beherrschte sich Allan.

»Wenn Du mich durchaus nicht anhören willst«, sagte er, »so muß ich eben warten, so gut ich kann, bis die Reihe an mich kommt.«

»Sage mir, daß Du mit der Beschäftigung jenes Mannes nichts zu schaffen hast, und dann will ich Dich gern anhören.«

»Gesetzt, es wäre eine Notwendigkeit, welche Du nicht kennst, vorhanden, daß ich mich seiner bediente?«

»Die feige Verfolgung eines hilflosen Weibes erkenne ich als keine Nothwendigkeit an.«

Eine wichtige, doch nur ganz flüchtige Zornesglut glitt über Allan’s Gesicht. »Wenn Du die Wahrheit wüßtest«, sagte et, »so dürftest Du sie nicht für so hilflos halten.«

»Bist Du der Mann, der mir die Wahrheit sagen kann?« entgegnete der Andere. »Du, der ihre Vertheidigung nicht hat anhören wollen, Du, der ihr die Thüren dieses Hauses hat verschließen lassen!«

Noch immer beherrschte sich Allan, aber sichtlich begann es ihm Mühe zu kosten.

»Ich weiß, daß Du ein hitziges Temperament hast«, sagte er; Dessen ungeachtet aber überrascht mich Deine Heftigkeit. Ich kann mir’s nicht erklären, außer ——« er stockte einen Augenblick und schloß den Satz dann mit seiner gewohnten geraden Offenheit: »außer Du wärest selbst in Miß Gwilt verliebt.«

Diese letzten Worte gossen Oel ins Feuer. Sie streiften der Wahrheit sofort alle Verstellung und Verkleidung ab und stellten sie nackt vor das Auge hin. Allan’s Instinkt hatte richtig gerathen und die Triebfeder von Midwinter’s Interesse für Miß Gwilt lag klar vor Augen.

»Welches Recht hast Du zu dieser Behauptung?« fragte er mit erhobener Stimme und drohenden Blicken.

»Ich habe es Dir gesagt«, entgegnete Allan einfach, »als ich selbst in sie verliebt zu sein glaubte. Geh, geh,es scheint mir etwas stark, daß Du, selbst wenn Du in sie verliebt bist, Alles glaubst, was sie Dir sagt, und mich kein Wort sagen lassen willst. Ist das die Art und Weise, wie Du zwischen uns richtest?«

»Ja!« rief Midwinter, wüthend über Allan’s wiederholte Erwähnung der Gouvernante. »Wenn ich aufgefordert werde, zwischen dem Manne, der sich eines Spions bedient, und dem Opfer eines Spions zu wählen, so trete ich. auf die Seite des Opfers!«

»Stelle mich nicht zu sehr auf die Probe, Midwinter, ich könnte ebenso wie Du die Geduld verlieren.«

Er schwieg, im Kampfe mit sich selbst. Die Marter der Leidenschaft in Midwinters Gesicht, vor der eine weniger einfache und weniger edle Natur mit Entsetzen zurückgeschaudert wäre, erfüllte Allan plötzlich mit ungeheuchelter Betrübniß, die in diesem Auge an das Göttliche grenzte. Mit feuchten Blicken und ausgestreckter Hand trat er einen Schritt näher. »Du hast mich soeben um meine Hand gebeten«, sagte er, »und ich habe sie Dir gegeben. Willst Du an alte Zeiten denken und mir die Deinige geben, ehe es zu spät ist?«

»Nein!« rief Midwinter wüthend. »Ich begegne Miß Gwilt vielleicht noch einmal und kann dann meine Hand brauchen, um Deinen Spion abzufertigen!«

Er war, als Allan ihm näher getreten, an die Wand zurückgewichen, bis die Console mit der Statuette sich, anstatt hinter ihm, vor ihm befand. seiner blinden Leidenschaft nichts sehend als Allan’s Gesicht, während er antwortete, und die rechte Hand drohend erhebend, schlug er an die vergessene Console und im nächsten Augenblicke lag die Statuette in Scherben am Boden.

Der Regen strich schräg über den Blumengarten und Rasen und schlug in schweren Tropfen an die Fensterscheiben, und die beiden Armadales standen am Fenster, wie die beiden Schatten in dem Traumgesichte dagestanden hatten, und zwischen ihnen lagen die Trümmer der kleinen Figur.

Allan bückte sich zu den Scherben derselben herab und sammelte sie einen nach dem andern vom Boden auf. »Verlaß mich«, sagte er, ohne aufzublicken, »oder wir werden es beide bereuen.« Zum zweiten Male stand Midwinter mit der Hand auf der Thürklinke da und warf zum letzten Male einen Blick ins Zimmer zurück. Das Grausen jener Nacht auf dem Wrack hatte ihn wieder gepackt und die Glut seiner Leidenschaft war augenblicklich erloschen.

»Der Traum!« flüsterte er mit verhaltenem Athem. »Wiederum der Traum!«

Von außen ward an die Thür gegriffen und ein Diener erschien mit einer trivialen Meldung hinsichtlich des Frühstücks.

Midwinter sah den Mann mit einem Blicke an, in welchem sich die vollkommenste Hilflosigkeit abspiegelte

»Führt mich hinaus«, sagte er. »Es ist finster, und das Zimmer dreht sich mit mir herum.«

Der Diener nahm seinen Arm und führte ihn schweigend hinaus.

Als die Thür sich hinter ihnen schloß, nahm Allan eben die letzten Scherben vom Boden auf. Er setzte sich allein an den Tisch und barg sein Gesicht in den Händen. Die Selbstbeherrschung, die er so wiederholt und so tapfer gegen die Aufreizung bewahrt hatte, verließ ihn endlich in der freundlosen Einsamkeit seines Zimmers, und in der ersten Bitterkeit des Gefühls, daß auch Midwinter sich gegen ihn gewendet habe, brach er in Thränen aus.

Minute auf Minute verrann und die Zeit verstrich langsam. Allmälig erschienen Anzeichen eines neuen Aufruhrs der Elemente. Der Schatten einer schnell zunehmenden Dunkelheit zog über den Himmel. Mit dem nachlassenden Winde nahm auch der Regen ab. Eine momentane Stille trat ein. Dann goß es plötzlich wieder in Strömen herab und die ersterbenden Lüfte trugen das dumpfe Rollen des Donners daher.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

1. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.

Thorpe-Ambrose, den 20» Juli 1851.

»Verehrtes. Fräulein! Durch einen Privatboten empfing ich Ihr werthes Schreiben, in dem Sie mir befohlen, nur durch die Post mit Ihnen zu verkehren, solange Grund zu glauben vorhanden, daß der bei Ihnen vorsprechende Besuch beobachtet werde. Darf ich mir die Freiheit nehmen, zu sagen, daß ich mit respectvoller Sehnsucht der Zeit entgegensehe, wenn ich wieder die einzige wahre Seligkeit genießen darf, die ich je gekannt habe, das Glück, persönlich zu Ihnen reden zu können?

Ihrem Wunsche zufolge, daß ich nämlich diesen Tag —— Sonntag —— nicht vorübergehen lassen solle, ohne mich im geheimen von dem zu unterrichten, was sich im Herrenhause zutrüge, nahm ich heute Morgen die Schlüssel und begab mich nach der Administrationskanzlei. Den Dienern erklärte ich meine Anwesenheit dadurch, daß ich ihnen sagte, ich hätte eine gewisse Arbeit vor, deren schleunigste Vollendung von größter Wichtigkeit sei. Dieselbe Entschuldigung würde, wenn ich Mr. Armadale begegnet wäre, auch ihm gegenüber ausgereicht haben, doch fand keine solche Begegnung statt.

Obwohl ich meiner Ansicht nach sehr zeitig in Thorpe-Ambrose anlangte, kam ich doch zu spät, um selbst etwas von einem sehr ernstlichen Zerwürfniß zu sehen oder zu hören, welches zwischen Mr. Armadale und Mr. Midwinter vorgefallen war. Das Wenige, was ich Ihnen darüber mittheilen kann, habe ich von einem der Diener erfahren. Der Mann sagte mir, er habe sehr laute Stimmen —— die der beiden Herren —— in Mr. Armadale’s Wohnzimmer gehört. Bald darauf war er hineingegangen um zu melden, daß das Frühstück serviert sei, und fand Mr. Midwinter in einem Zustande so fürchterlicher Aufregung, daß derselbe sich aus dem Zimmer führen lassen mußte. Der Lakai wollte ihn auf sein Zimmer bringen, damit er sich still auf sein Bett lege und beruhige. Doch Mr. Midwinter widersetzte sich dem und sagte, er wolle erst in einem Zimmer des Erdgeschosses einen Augenblick bleiben, und bat allein gelassen zu werden. Kaum war der Mann wieder im Souterrain angelangt, als er hörte, wie die Hausthür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er lief zurück und bemerkte, daß Mr. Midwinter fortgegangen sei. Es regnete zur Zeit in Strömen und bald darauf brach das Gewitter los. Jedenfalls ein entsetzliches Wetter zum Ausgehen! Der Diener meint, Mr. Midwinter sei nicht recht bei Sinnen gewesen. Ich hoffe von Herzen, daß dies nicht der Fall war. Mr. Midwinter ist einer von den Wenigen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, die mich freundlich behandelt haben.

Da ich hörte, daß Mr. Armadale noch immer in seinem Wohnzimmer sei, begab ich mich in die Expedition, die, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, aus derselben Seite des Hauses gelegen ist, und ließ die Thür und das Fenster ein wenig offen, um auf Alles lauschen zu können, was passieren würde. Verehrtestes Fräulein, es gab eine Zeit, wo ein solches Verfahren im Hause meines Prinzipals mir als kein sehr ziemliches erschienen sein würde. Lassen Sie mich Ihnen indessen die Versicherung geben, daß ich weit entfernt bin, jetzt eine solche Ansicht zu hegen. Ich bin stolz auf Alles, wodurch ich Ihnen dienstbar werde.

Das Wetter schien sich der Wiederannäherung Mr. Armadale’s und Miß Milroys, die Sie so zuversichtlich erwarten und von der Sie von Allan unterrichtet werden möchten, hoffnungslos in den Weg zu stellen Seltsamerweise aber bin ich gerade wegen des Wetters in der Lage, Ihnen die verlangte Auskunft zu ertheilen. Vor etwa einer Stunde trafen sich Mr. Armadale und Miß Milroy unter folgenden Umständen. Gleich beim Ausbruche des Gewitters sah ich einen der Reitknechte vom Stalle herüberlaufen und hörte ihn an das Fenster seines Herrn klopfen. Mr. Armadale öffnete das Fenster und fragte, was der Bursche wolle. Der Reitknecht sagte, die Frau des Kutschers sende ihn mit einer Bestellung. Sie habe von ihrem Zimmer über dem Stalle, das auf den Park hinausgeht, Miß Milroy ganz allein im Schutze der Bäume stehen sehen. Da dieser Theil des Parks ziemlich entfernt von des Majors Wohnung sei, habe sie gemeint, ihr Herr werde vielleicht wünschen, daß man Jemand zu der jungen Dame hinaus sende und sie ins Haus zu kommen bitte, namentlich da sie sich an eine Stelle geflüchtet, die bei einem Gewitter sehr gefährlich sein dürfte.

Sowie Mr. Armadale den Mann gehört, ließ er wasserdichte Mäntel und Regenschirme bringen und lief, anstatt dies der Dienerschaft zu überlassen, selber in das Wetter hinaus.

Von einem der Stubenmädchen, das die junge Dame aus ein Schlafzimmer geführt und dort mit den trockenen Kleidern versehen hatte, deren sie bedurfte, erfuhr ich dann, daß Miß Milroy später in den Salon hinabgeleitet worden und daß Mr. Armadale dort bei ihr sei. Die einzige Möglichkeit, Ihre Instructionen zu befolgen und von dem, was zwischen ihnen vorging, Kenntniß zu erlangen, war, daß ich mitten im strömenden Regen ums Haus herum und durch die äußere Thür nach dem Gewächshause ging, das, wie Sie wissen, mit dem Salon in Verbindung steht. In Ihrem Dienste schrecke ich vor nichts zurück, theures Fräulein Ihnen zu Gefallen ließe ich mich mit Vergnügen jeden Tag durchnässen Und wenngleich man mich auf den ersten Blick vielleicht für einen ältlichen Mann halten möchte, so macht mir ein solches Bad doch nicht eben viel aus. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht so alt, wie ich aussehe, und habe eine kräftigere Constitution, als es den Anschein haben mag.

Mich im Gewächshause nahe genug heranzuwagen, um, ohne selbst gesehen zu werden, zu sehen, was im Salon vorging, war mir unmöglich. Doch drang der größere Theil ihrer Unterhaltung bis zu mir, ausgenommen wenn sie flüsternd mit einander sprachen. Folgendes ist das Wesentliche von dem, was ich hörte. Ich entnahm, daß Miß Milroy sich wider Willen hatte bewegen lassen, in Mr. Armadales Hause vor dem Gewitter Schutz zu suchen. Wenigstens sagte sie dies und gab zwei Gründe dafür an. Der erste war, daß ihr Vater allen Verkehr zwischen dem Parkhäuschen und dem Herrenhause untersagt habe. Mr. Armadale begegnete diesem Einwande durch die Versicherung, daß ihr Vater diesen Befehl in einer völlig irrthümlichen Meinung ertheilt habe, und bat sie, ihn nicht ebenso grausam zu behandeln wie ihr Vater. Vermuthlich ließ er sich hierbei in Erklärungen ein; da er aber die Stimme senkte, bin ich nicht im Stande zu sagen, welcher Art dieselben waren. Seine Sprache, wenn ich dieselbe hören konnte, war verwirrt und unbeholfen. Indessen schien sie verständlich genug, um Miß Milroy zu überzeugen, daß ihr Vater nach einer falschen Auslegung der Umstände gehandelt habe. Wenigstens nehme ich dies an; denn als ich wieder etwas von der Unterhaltung verstehen konnte, sah die junge Dame sich auf ihren zweiten Einwand zurückgedrängt, der darin bestand, Mr. Armadale habe sich sehr garstig gegen sie benommen und reichlich verdient, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Dagegen versuchte Mr. Armadale sich gar nicht zu vertheidigen. Er stimmte mit ihr darin überein, daß er sich schlecht gegen sie benommen und wohl verdient habe, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Zugleich aber bat er sie zu bedenken, daß er seine Strafe bereits erlitten. Er sei in der Nachbarschaft discreditirt und sein liebster Freund, sein einziger vertrauter Freund in der Welt, habe sich diesen Morgen wie alle Andern gegen ihn gewandt. Weder in der Nähe noch in der Ferne gebe es ein einziges lebendes Wesen, das er lieb habe, ihn zu trösten, ihm ein freundliches Wort zu sagen. Er sei einsam und elend und sein Herz sehne sich nach ein wenig Freundlichkeit, und dies sei seine einzige Entschuldigung dafür, wenn er jetzt Miß Milroy bitte, zu vergessen und zu vergeben.

Die Wirkung dieser Worte auf die junge Dame sich zu denken muß ich leider Ihnen überlassen, denn trotz der größten Anstrengung konnte ich nicht hören, was sie sagte. Ich glaube indeß fast sicher, daß ich sie weinen und Mr. Armadale sie anflehen hörte, ihm nicht das Herz zu brechen. Sie flüsterten sehr viel mit einander, was mich außerordentlich verdroß. Nachher hatte ich eine große Angst auszustehen. Mr. Armadale kam nämlich ins Gewächshaus, um einige Blumen zu pflücken, glücklicherweise aber nicht bis dahin, wo ich mich versteckt hatte, sondern er ging in den Salon zurück und das Geplauder begann von neuem, wahrscheinlich in engster Vertraulichkeit, wovon ich zu meinem großen Bedauern nichts hören konnte. Halten Sie mir es nicht für übel, daß ich Ihnen so wenig zu berichten habe. Ich kann nur hinzufügen, daß Miß Milroy, sowie das Gewitter nachließ, mit den Blumen in der Hand und von Mr. Armadale aus dem Hause begleitet fortging. Meine eigene bescheidene Ansicht ist die, daß er in der Zuneigung, welche die junge Dame zu ihm hegt, den mächtigsten Fürsprecher besaß.

Dies ist Alles, was ich heute mitzutheilen habe, eins ausgenommen, was ich hörte und zu erwähnen mich schäme. Aber Ihr Wort ist mir Gesetz, und Sie haben mir befohlen, Ihnen nichts zu verheimlichen.

Einmal fiel die Rede auf Sie, theures Fräulein. Ich glaube gehört zu haben, daß Miß Milroy das Wort Geschöpf aussprach, und ganz gewiß weiß ich, daß Mr. Armadale, während er eingestand, wie er Sie einstmals bewundert habe, hinzusetzte, daß die Umstände ihn seitdem seine Thorheit hätten einsehen lassen. Ich wiederhole seinen eigenen Ausdruck, der mich vor Entrüstung zittern machte. Der Mann, welcher Miß Gwilt bewundert, lebt, wenn ich dies zu sagen wagen darf, im Paradiese. Die Achtung, wenn sonst nichts Anderes, hätte wenigstens Mr. Armadale’s Lippen schließen sollen. Er ist mein Brodherr, ich weiß es wohl, aber jetzt, wo er Bewunderung für Sie eine Thorheit genannt hat, muß ich ihn, obwohl nur sein Untergebener, aus tiefstem Herzen verachten.

In der Hoffnung, daß ich so glücklich bin, Sie soweit zufrieden gestellt zu haben, und mit dem aufrichtigen Wunsche, die Ehre Ihres fortgesetzten Vertrauens zu verdienen, verbleibe ich,

theuerstes Fräulein,

Ihr dankbarer und ergebener Diener

Felix Bashwood.«

2. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street. Montag den 21. Juli.

Meine liebe Lydia! Ich muß Dich mit diesen wenigen Zeilen belästigen. Ich schreibe sie bei unserm gegenwärtigen Beziehungen zu einander aus Pflichtgefühl gegen mich selbst.

Mit dem Tone Deiner beiden letzten Briefe bin ich ganz und gar nicht zufrieden, noch weniger aber damit, daß ich heute Morgen keinen Brief von Dir erhalten, und dies, nachdem wir übereingekommen, daß ich während unserer gegenwärtigen zweifelhaften Aussichten täglich von Dir hören solle! Ich kann mir Dein Benehmen nur in einer Weise erklären; ich kann nur annehmen, daß die Geschichte in Thorpe-Ambrose ganz verpfuscht ist und verkehrt geht.

Dir Vorwürfe zu machen ist nicht die Absicht dieser Zeilen, denn wozu sollte ich wohl Zeit, Worte und Papier verschwenden? Ich möchte Dich nur an gewisse Erwägungen erinnern, die Du zu vergessen geneigt zu sein scheinst. Soll ich sie mit deutlichen Worten nennen? Ja, denn ungeachtet all meiner Fehler bin ich doch die personificirte Offenheit.

Erstens habe ich ebenso wohl wie Du ein Interesse daran, daß Du Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose wirst. Zweitens habe ich Dich, meiner gut Rathschläge gar nicht zu gedenken, mit dem Gelde versehen dessen Du zur Ausführung Deines Zweckes bedurftests. Drittens habe ich Deine Schuldverschreibungen auf, kurze Fristen für jeden Heller, den ich Dir so geliehen, in Händen. Viertens und letztens lasse ich, obgleich ich als Freundin gegen Fehler nachsichtig bin, als Geschäftsfrau nicht mit mir spielen. Damit genug Lydia, wenigstens für jetzt.

Bitte, denke nicht, daß ich im Zorne schreibe; ich bin nur bekümmert und entmuthigt. Mein Gemüthszustand gleicht dem des Königs David. Hätt’ ich die Flügel einer Taube, so wollt’ ich fortfliegen und Ruhe finden.

Herzlich die Deine

Maria Oldershaw.«

3. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.

»Thorpe-Ambrose, den 21. Juli.

Theuerstes Fräulein! Sie werden diese Zeilen wahrscheinlich einige Stunden nach dem Empfange meines gestrigen Briefes erhalten. Ich habe den ersten Brief gestern Abend auf die Post gegeben und werde diesen heute noch vor Mittag absenden.

Der Zweck. meines gegenwärtigen Schreibens ist, Ihnen noch fernere Neuigkeiten aus diesem Hause mitzutheilen Ich habe die Unaussprechliche Freude, Ihnen anzukündigen, daß Mr. Armadale’s schmachvolle Bewachung Ihrer Person zu Ende ist. Die Beobachtung Ihrer Handlungen soll mit diesem Tage aufhören. Ich schreibe, verehrtes Fräulein, mit Thränen in den Augen, Freudenthränen, welche durch Gefühle hervorgerufen werden, die ich in meinem letzten Briefe auszusprechen gewagt habe. Verzeihen Sie mir diese persönliche Bemerkung. Ich kann, ich weiß nicht warum, mich viel besser schriftlich als mündlich gegen Sie aussprechen.

Ich muß mich zu fassen suchen und dann mit meinem Briefe fortfahren.

Eben war ich diesen Morgen auf das Bureau gekommen, als Pedgift der ältere mir in das Herrenhaus folgte, um auf Wunsch Mr. Armadale aufzuwarten. Es ist unnöthig zu sagen, daß ich sofort alle kleinen Geschäfte, die es dort für mich gab, verschob, da ich fühlte, es handle sich vielleicht um Ihre Interessen. Zu meiner außerordentlichen Freude kann ich Ihnen mittheilen, daß die Umstände mich diesmal begünstigten Unter dem offenen Fenster stehend konnte ich die ganze Unterredung mit anhören.

Mr. Armadale sprach sofort in den deutlichsten Worten. Er ertheilte Befehl, daß die zu Ihrer Beobachtung gedungene Person unverzüglich entlassen würde. Ersucht, diese plötzliche Sinnesänderung zu erklären, machte er kein Geheimniß daraus, daß dieselbe dem Eindrucke beizumessen sei, den das gestern zwischen ihm und Mr. Midwinter Vorgefallene auf ihn gemacht habe. Mr. Midwinter’s Worte, wie höchst ungerecht dieselben immer gewesen, hätten ihn dessen ungeachtet überzeugt, daß keine Nothwendigkeit ein an sich so niedriges Mittel wie die Benutzung eines Spions entschuldigen könne, und nach dieser Ueberzeugung sei er jetzt zu handeln entschlossen.

Hätten Sie mir nicht Ihre strengen Befehle ertheilt, Ihnen von dem, was hier vorgeht und was sich irgendwie auf Sie bezieht, nichts zu verheimlichen, so würde ich mich wirklich schämen, Ihnen zu berichten, was Mr. Pedgift seinerseits erwiderte. Allerdings hat er gütig an mir gehandelt. Aber selbst wenn er mein eigener Bruder wäre, vermöchte ich ihm nimmer den Ton, in dem er von Ihnen sprach, und die Hartnäckigkeit zu vergeben, mit welcher er Mr. Armadale umzustimmen versuchte.

Er begann mit einem Angriffe auf Mr. Midwinter. Mr. Midwinter’s Ansicht, meinte er, sei die schlechteste, die man überhaupt fassen könne, denn es liege am Tage, daß Sie, theuerstes Fräulein, ihn um die Finger gewunden hätten. Da er mit dieser unzarten Bemerkung, der Niemand, der Sie kennt, nur einen Augenblick Glauben schenken könnte, keinen Eindruck machte, so erwähnte Mr. Pedgift zunächst Miß Milroy’s und fragte Mr. Armadale, ob er es gänzlich aufgegeben habe, sie zu beschützen Was er damit meinte, begreife ich nicht; ich kann es Ihnen nur zur eigenen Erwägung berichten. Mr. Armadale erwiderte kurz, er habe seinen eigenen Plan zu Miß Milroy’s Schutze gefaßt, und die Verhältnisse hätten sich in dieser Beziehung verändert, oder etwas der Art. Mr. Pedgift aber blieb hartnäckig Er wurde, ich erröthe, es zu schreiben, sogar immer verbissener. Er wollte Mr. Armadale zunächst bereden, einen oder den andern seiner Gutsnachbarn, die sich gegen sein Betragen am entschiedensten ausgesprochen hätten, gerichtlich zu belangen, und zwar einzig und allein zu dem Zwecke —— ich weiß wirklich kaum, wie ich es ausdrücken soll —— um Sie als Zeugin vorladen zu können. Noch mehr. Da Mr. Armadale abermals nein sagte, kehrte Mr. Pedgift, der, dem Klange seiner Stimme nach zu urtheilen, nur an die Thür gegangen zu sein schien, wieder um und schlug vor, man solle einen geheimen Polizisten aus London kommen lassen, damit dieser Sie blos einmal ansehe. »Das ganze Geheimniß, das Miß Gwilt umgibt", sagte er, »ist vielleicht eine einfache Frage der Identität Es wird nicht viel kosten, einen Mann aus London kommen zu lassen, und es verlohnt sich wohl des Versuchs, zu erfahren, ob ihr Gesicht im Hauptbureau der Polizei bekannt ist oder nicht.« Von neuem wiederhole ich Ihnen, theuerste Dame, daß ich diese abscheulichen Worte nur aus Pflichtgefühl gegen Sie berichte, und erkläre Ihnen, daß ich an allen Gliedern zitterte, als ich dieselben hörte.

Ich will jedoch fortfahren, denn ich habe Ihnen noch mehr mitzutheilen.

Mr. Armadale sagte noch immer nein, das muß ich zu seiner Ehre eingestehen, obgleich ich ihn nicht leiden kann. Er schien über Mr. Pedgift’s Hartnäckigkeit ärgerlich zu werden und sprach in etwas gereiztem Tone. »Als wir uns das letzte Mal über diesen Gegenstand unterhielten«, sagte er, »haben Sie mich zu einer Handlungsweise beredet, deren ich mich seitdem herzlich geschämt habe. Sie sollen mich nicht zum zweiten Male zu etwas Aehnlichem überreden, Mr. Pedgift.« Das waren genau seine Worte. Mr. Pedgift schien hierauf seinerseits gereizt und erwiderte hastig: »Erscheint Ihnen mein Rath in diesem Lichte, Sir, so bedienen Sie sich desselben für die Zukunft lieber so wenig wie möglich. Ihr Ruf und Ihre Stellung sind in der Angelegenheit zwischen Ihnen und Miß Gwilt öffentlichen Angriffen ausgesetzt, und in einem höchst kritischen Augenblicke bestehen Sie darauf, Ihren eigenen Weg einzuschlagen, der meiner Ansicht nach nur zu einem schlimmen Ziele führen wird. Nach Allem, was ich in dieser sehr ernsten Sache bereits gesagt und gethan habe, kann ich mich nicht dazu verstehen, dieselbe mit gebundenen Händen weiter zu verfolgen, und solange ich öffentlich als Ihr Rechtsanwalt bekannt bin, kann ich sie auf Ehre nicht fallen lassen. Sie lassen mir keine andere Wahl, Sir, als der Ehre zu entsagen, Ihnen als gesetzlicher Rathgeber zu dienen« —— »Das bedaure ich zu hören", versetzte Mr. Armadale, »aber durch meine Einmischung in Miß Gwilt’s Angelegenheiten habe ich bereits genug zu leiden gehabt. Ich kann und will nichts weiter in der Sache thun.« —— »Sie mögen vielleicht nichts weiter darin thun, Sir", sagte Mr. Pedgift, »und ich werde gewiß nichts weiter darin unternehmen, denn ich nehme ferner kein Interesse an der Sache. Aber merken Sie auf meine Worte, Mr. Armadale: Sie sind mit dieser Geschichte noch nicht am Ende. Es ist sehr möglich, daß die Neugierde einer andern Person die Sache da, wo Sie und ich dieselbe fallen lassen, wieder aufnimmt und schließlich noch ein helles Licht aus Miß Gwilt wirft.«

Wie ich glaube, theile ich Ihnen ihr Gespräch Wort für Wort mit, theures Fräulein. Dasselbe hat einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich gemacht, mich, ich weiß kaum warum, mit einer gewaltigen Angst erfüllt. Ich kann es mir durchaus nicht erklären, und noch viel weniger, was unmittelbar darauf geschah.

Mr. Pedgift’s Stimme schien, als er jene Worte sprach, mir fürchterlich nahe. Er muß am offenen Fenster gesprochen und, wie ich besorge, mich unter demselben erblickt haben. Ehe er das Haus verließ, hatte ich indeß Zeit, mich leise aus den Lorbeerbüschen zu schleichen, doch nicht um auf mein Bureau zurückzukehren. Ich ging deshalb die Auffahrt entlang, dem Parkwärterhäuschen zu, als wenn ich dort in Geschäftsangelegenheiten zu thun hätte.

Mr. Pedgift in seinem Gig holte mich bald ein und hielt still. »Sie sind also neugierig in Betreff Miß Gwilt’s?« sagte er. »Befriedigen Sie aus alle Fälle Ihre Neugierde, ich habe nichts dagegen.« Dies ängstigte mich natürlich, aber es gelang mir dennoch, ihn zu fragen, was er meine. Er antwortete nicht; er sah blos aus seinem Gig auf mich herab und lachte. »In meiner Praxis sind mir schon noch seltsamere Sachen vorgekommen als das!« sagte er plötzlich für sich und fuhr weiter.

Ich habe Sie mit diesem letzteren Ereignisse zu behelligen gewagt, in der Hoffnung, Ihr überlegener Scharfblick dürfte dasselbe, obgleich es Ihnen als völlig unwichtig erscheinen mag, sich erklären können. Meine schwachen Fähigkeiten —— das bekenne ich —— vermögen nicht zu ergründen, was Mr. Pedgift meint. Ich weiß nur, daß er nicht das Recht hat, mich einer solchen Impertinenz wie der Neugierde hinsichtlich einer Dame zu zähen, für die ich eine so glühende Achtung und Bewunderung hege. Ich wage nicht, mich wärmer auszudrücken.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich, wenn Sie es wünschen, mich in der Lage befinde, Ihnen hier noch ferner von Nutzen zu sein. So eben kam Mr. Armadale auf das Bureau und theilte mir kurz mit, daß ich bis auf Weiteres während Mr. Midwinters fortgesetzter Abwesenheit die Verwalterstelle zu versehen habe.

Ich verbleibe, theuerstes Fräulein,
voll Sorge und inniger Ergebenheit
der Ihre

Felix Bashwood.«

4. Allan Armadale an Se. Ehrwürden Deminus Brock.

« »Thorpe-Ambrose. Dienstag.

Mein lieber Mr. Brock! Ich befinde mich in trauriger Verlegenheit Midwinter hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, mein Advocat hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, und die liebe kleine Miß Milroy ausgenommen, die mir verziehen, hat die ganze Umgegend mir den Rücken gewandt. Ich bin sehr unglücklich hier allein in meinem Hause. Bitte, kommen Sie und besuchen Sie mich! Sie sind der einzige Freund, der mir noch bleibt, und ich sehne mich so sehr, Ihnen Alles zu erzählen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß die Schuld nicht an mir liegt. Von Herzen

der Ihre

Allan Armadale.

N. S. Ich würde zu Ihnen kommen, denn dieser Ort hier ist mir förmlich verhaßt geworden, aber ich habe Gründe, mich für jetzt nicht zu weit von Miß Milroy zu entfernen.«

5. Robert Stapelton an Allan Armadale Esquire.

»Boscombe, Pfarrhaus.
Donnerstag Morgen.

Hochgeehrter Herr! Unter den Briefen auf dem Tische sehe ich auch einen von Ihrer Hand, den zu öffnen mein Herr, wie ich sagen zu müssen bedaure, nicht wohl genug ist. Er liegt an einer Art schleichenden Fiebers darnieder. Der Arzt sagt, dasselbe sei die Folge von Sorgen und Aengsten, die mein Herr zu ertragen nicht kräftig genug sei. Dies ist sehr wohl möglich, denn ich begleitete ihn, als er vorigen Monat nach London reiste, und seine eigenen Geschäfte, verbunden mit der Bewachung der Person, die uns später entwischte, erhielten ihn während der ganzen Zeit in einem Zustande banger Aufregung. Mir selbst erging es in dieser Beziehung nicht besser.

Noch vor ein paar Tagen sprach mein Herr von Ihnen. Er schien es nicht zu wünschen, daß Sie von seiner Krankheit unterrichtet würden, außer wenn sich sein Zustand verschlimmerte Aber ich denke, Sie sollten davon in Kenntniß gesetzt werden. Zugleich muß ich bemerken, daß es nicht schlechter mit ihm geht, im Gegentheil, vielleicht eine Kleinigkeit besser. Der Arzt sagt, er müsse sich vollkommen ruhig halten und dürfe um keinen Preis irgendwie aufgeregt werden. Deshalb bitte ich Sie, dies wohl zu beachten, das heißt, wenn Sie noch hierher zukommen denken. Ich habe vom Arzte Befehl, Ihnen zu sagen, daß es nicht nothwendig sei und meinen Herrn in dem Zustande, in dem er sich gegenwärtig befindet, nur aufregen würde.

Wenn Sie es wünschen, will ich bald wieder schreiben. Genehmigen Sie die Versicherung meiner Hochachtung und gestatten Sie mir, zu zeichnen als

Ihr ergebenster Diener

Robert Stapelton.

N. S. Die Yacht liegt neu betakelt und angestrichen, Ihrer Befehle gewärtig. Sie nimmt sich herrlich aus.«

6. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street, den 24. Juli.

Miß Gwilt! Drei Tage hintereinander ist die Stunde der Morgenpost verstrichen, ohne mir eine Antwort auf meinen Brief zu bringen. Sind Sie durchaus darauf erpicht, mich zu insultiren? Oder haben Sie Thorpe-Ambrose verlassen? Wie dem immer sei, ich will mir Ihr Betragen nicht länger gefallen lassen. Das Gesetz soll Sie zur Rechenschaft ziehen, wenn ich es nicht vermag.

Ihr erster Wechsel (auf dreißig Pfund Sterling) ist am nächsten Dienstag, den 29., fällig. Hätten Sie sich nur mit der gewöhnlichsten Rücksicht gegen mich benommen, so würde ich denselben mit Vergnügen haben prolongieren lassen. So aber werde ich den Wechsel präsentieren und, wenn derselbe nicht bezahlt wird, meinem Anwalte Instructionen ertheilen, das übliche Verfahren einzuschlagen.

Die Ihre

Maria Oldershaw.«

7. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»Thorpe-Ambrose, Paradiesplatz Nr. 5.
Den 25. Juli.

Mrs. Oldershaw! Da die Zeit Ihres Anwalts ihm ohne Zweifel kostbar ist, schreibe ich Ihnen diese Zeile, um ihm behilflich zu sein, sobald er das übliche Verfahren einschlägt Er wird mich, des Arrestes’ gewärtig, im ersten Stock der obigen Adresse vorfinden. In meiner gegenwärtigen Lage und bei meinen gegenwärtigen Gedanken können Sie mir wahrscheinlich keinen bessern Dienst leisten, als indem Sie mich einsperren lassen.

L. G.«

8. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street, den 26. Juli.

Meine Herzens-Lydia! Je länger ich in dieser gottlosen Welt lebe, desto deutlicher sehe ich ein, daß die Frauen keine schlimmeren Feinde besitzen als ihre eigenen Launen. In welch wahrhaft beklagenswerthen Briefstil wir verfallen sind! Welch ein trauriger Mangel an Selbstbeherrschung von Deiner Seite sowohl, meine Liebe, als von der meinigen!

Laß mich als die Aelteste die ersten Entschuldigungen machen, laß mich zuerst über meinen Mangel an Selbstbeherrschung erröthen Deine grausame Vernachlässigung, Lydia, trieb mich dazu, Dir zu schreiben, wie ich es that. Ich bin so empfindlich gegen schlechte Behandlung, wenn diese mir von einem Wesen geboten wird, das ich liebe und bewundere, und obgleich bereits über sechzig, bin ich im Herzen doch leider noch so jung! Nimm meine Entschuldigungen dafür an, daß ich mich meiner Feder bediente, anstatt meine Zuflucht zu meinem Taschentuche zunehmen. Vergib Deiner liebenden Maria dafür, daß sie im Herzen noch so jung ist!

Aber o, meine Liebe, wie hart von Dir, mich, obgleich ich Dir drohte, sogleich beim Worte zu nehmen. Wie grausam von Dir, mich, selbst wenn Deine Schuld sich auf das Zehnfache belaufen hätte, der schändlichen Unmenschlichkeit fähig zu halten, eine Busenfreundin hinsetzen zu lassen! Allgütiger Himmel! Habe ich es wohl verdient, nach der jahrelangen zärtlichen Vertraulichkeit, die uns mit einander vereint hat, so unbarmherzigerweise beim Worte genommen zu werden? Aber ich beklage mich nicht; ich traure nur über die Schwachheit unserer gemeinschaftlichen menschlichen Natur. Laß uns so wenig wie möglich von einander erwarten, meine Liebe; wir sind beide Frauen und können es nicht ändern. Wenn ich an den Ursprung unseres unglückseligen Geschlechts denke, wenn ich in Betracht ziehe, daß wir alle ursprünglich aus nichts Besserem als der Rippe eines Mannes und zwar einer Rippe von so geringem Werthe für ihn, daß er sie gar nicht vermißt zu haben scheint, gemacht worden sind, so bin ich über unsere Tugenden förmlich erstaunt und verwundere mich nicht im geringsten über unsere Fehler.

Ich schweife ein wenig ab, ich verirre mich in ernste Gedanken, wie jene charmante Persönlichkeit in Shakespeare, deren Phantasie losgelassen war. Noch ein letztes Wort, Theuerste, um Dir zu versichern, daß meine Sehnsucht nach einer Antwort auf diese Zeilen einzig und allein aus dem Wunsche entspringt, wieder in Deinem alten freundschaftlichen Tone von Dir zu hören, und gar nichts mit einer etwaigen Neugierde über Dein Thun und Treiben in Thorpe-Ambrose zu schaffen hat, die Neugierde ausgenommen, die Du selbst billigst Brauche ich noch hinzuzufügen, daß ich Dich, als um eine persönliche Gefälligkeit gegen mich, nach den gewohnten Bedingungen zu prolongieren bitte? Ich meine den kleinen Wechsel vom nächsten Dienstag und erlaube mir den Vorschlag, ihn auf Dienstag über sechs Wochen zu stellen.

Mit wahrhaft mütterlicher Liebe
die Deine

Maria Oldershaw.«

9. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»Paradiesplatz, den 27. Juli.

So eben habe ich Deinen letzten Brief erhalten. Die schamlose Frechheit desselben hat mich empört. Wie, ich soll mich wie ein Kind behandeln, soll mir zuerst drohen und, wenn das nicht glückt, schmeicheln lassen? Du sollst mir schmeicheln, Du sollst erfahren, meine mütterliche Freundin, mit welch einer Art von Kind Du es zu thun hast.

Ich hatte Grund zu dem Schweigen, welches Dich so tief verletzt hat, Mrs. Oldershaw. Ich fürchtete mich, ja fürchtete mich förmlich, Dir das Geheimniß meiner Gedanken mitzutheilen. Jetzt aber bin ich von jeder solchen Furcht frei. Heute Morgen liegt mir nur daran, Dir meine Erkenntlichkeit auszudrücken für die Art und Weise, wie Du an mich geschrieben hast. Nachdem ich es mir wohl überlegt, denke ich Dir keinen schlimmeren Gefallen thun zu können, als wenn ich Dir das mittheile, was Du so sehnsüchtig zu erfahren verlangst. Demzufolge sitze ich hier an meinem Schreibpulte, entschlossen, Dich aufzuklären. Du sollst erfahren, was sich in Thorpe-Ambrose zugetragen hat, Du sollst meine Gedanken lesen, so deutlich, wie ich sie selbst erkenne. Wenn Du nach Lesung dieses Briefes nicht bitterlich bereust, Deinem ersten Entschlusse, mich einsperren zu lassen, solange Du noch die Macht dazu besaßest, nicht gefolgt zu sein, so heiße ich nicht Lydia Gwilt.

Womit schloß mein letzter Brief? Es ist mir entfallen und mir auch gleichgültig. Unterrichte Dich davon, so gut Du kannst, ich werde nicht weiter als auf die letzten acht Tage zurückgehen, das heißt bis auf vorigen Sonntag.

Wir hatten am Vormittage ein Gewitter, das sich gegen Mittag zu verziehen begann. Ich ging nicht aus, ich wartete ab, ob ich Midwinter sehen oder von ihm hören werde. (Ueberrascht es Dich, daß ich seinem Namen kein Mr. vorsetze? Wir sind jetzt so vertraut mit einander, meine Liebe, daß Mr. durchaus nicht am Orte sein würde.) Am Abende vorher hatte er mich unter sehr interessanten Verhältnissen verlassen. Ich hatte ihm gesagt, daß sein Freund Armadale mich vermittelst eines gedungenen Spions verfolge. Er hatte das nicht glauben wollen und war unverzüglich nach Thorpe-Ambrose gegangen, um die Sache aufzuklären. Ich hatte ihm meine Hand zum Kusse gereicht, ehe er fortging. Er hatte mir versprochen, am nächsten Tage, einem Sonntage, wiederzukommen. Ich fühlte, daß ich meinen Einfluß auf ihn gesichert hatte, und glaubte, daß er Wort halten werde.

Nun, wie gesagt, das Gewitter verzog sich. Der Himmel hellte sich auf; die Leute erschienen in ihren Sonntagskleidern, die Braten kamen von den Bäckern; ich saß träumend vor meinem erbärmlichen kleinen Klavier, hübsch gekleidet und schön aussehend, und noch immer kein Midwinter. Schon war es später Nachmittag und ich begann mich beleidigt zu fühlen, als mir ein Brief gebracht ward. Ein fremder Bote hatte ihn abgegeben, der sogleich wieder fortgegangen war. Ich sah den Brief an. Endlich Midwinter, wiewohl nur in Gestalt eines Briefes, anstatt in eigener Person. Ich fühlte mich beleidigter denn je, denn ich glaubte, wie schon bemerkt, meinen Einfluß auf ihn wirksamer geltend gemacht zu haben.

Der Inhalt des Briefes gab meinen Gedanken eine neue Richtung. Er überraschte mich, war mir unbegreiflich und interessant. Ich dachte den ganzen Tag hindurch an ihn.

Zuerst bat er mich um Verzeihung, das, was ich ihm mitgetheilt, bezweifelt zu haben. Mr. Armadale habe es mit seinen eigenen Lippen bestätigt. Sie hatten sich veruneinigt, wie ich dies erwartet hatte, und er und der Mann, der sein theuerster Freund auf Erden gewesen, waren jetzt auf immer von einander geschieden. Soweit war ich nicht überrascht. Die überschwängliche Art und Weise, in der er mir erzählte, wie er und sein Freund nun auf ewig von einander geschieden seien, belustigte mich, und ich erging mich in Muthmaßungen darüber, was er wohl denken werde, wenn ich meinen Plan ausführen und mir unter dem Vorwande, sie wieder mit einander zu versöhnen, den Zutritt ins Herrenhaus verschaffen würde.

Der zweite Theil seines Briefes gab mir jedoch zu denken Er lautet in seinen eigenen Worten folgendermaßen:

»Nur nach einem heftigen Kampfe mit mir selbst —— wie hart dieser Kampf war, vermag ich nicht mit Worten zu schildern —— habe ich mich dazu entschließen können, Ihnen zu schreiben, anstatt persönlich mit Ihnen zu sprechen. Eine unbarmherzige Nothwendigkeit fordert meine Zukunft. Ohne Zögern muß ich Thorpe-Ambrose, muß ich England verlassen und darf mich nicht mit Rückblicken aufhalten. Es sind Gründe, fürchterliche Gründe vorhanden, mit denen ich wahnsinnigerweise gespielt habe, daß ich Mr. Armadale nach dem zwischen uns Vorgefallenen nicht gestatte, daß er mich je wieder mit Augen erblickt oder von mir hört. Ich muß fort, um mit ihm nie wieder unter einem Dache zu schlummern, nie wieder dieselbe Luft mit ihm zu athmen. Unter falschem Namen muß ich mich vor ihm verbergen; ich muß Berge und Meere zwischen uns legen. Ich bin gewarnt worden, wie noch kein lebendes Wesen gewarnt ward. Ich habe die Ueberzeugung —— ich wage Ihnen nicht zusagen, warum —— aber ich habe die Ueberzeugung, daß, wenn ich dem Zauber folge, der mich zu Ihnen zurückzieht, dies für den Mann verhängnißvoll werden wird, dessen Leben so seltsam mit dem Ihrigen und dem meinigen verknüpft gewesen, dem Manne, welcher einst Ihr Verehrer und mein Freund war. Und dennoch, trotz dieses Gefühls, wiewohl ich es so deutlich empfinde, wie ich den Himmel über meinem Haupte sehe, bin ich so schwach, noch immer vor dem schweren Opfer, Sie niemals wiederzusehen, zurückzubeben! Ich ringe damit, wie man mit seiner Verzweiflung ringt. Vor kaum einer Stunde stand ich nahe genug, um das Haus zu sehen, in dem Sie wohnen, und ich zwang mich, wieder fortzugehen und den Anblick zu fliehen. Vermag ich mich jetzt, da mein Brief geschrieben, jetzt, da mir das nutzlose Bekenntniß entschlüpft ist, daß ich die erste Liebe für Sie fühle, die ich je gekannt habe, die beste Liebe, die ich je empfinden werde, noch weiter von Ihnen zu entfernen? Die nächste Zeit möge diese Frage beantworten; ich wage es nicht, noch mehr davon zu schreiben oder daran zu denken.«

Dies waren die letzten Worte. So wundersam schloß der Brief.

Ich fühlte eine förmlich fieberhafte Neugierde, zu wissen, was er meine. Daß er mich liebe, war natürlich leicht genug zu verstehen. Aber was wollte er damit sagen, daß er gewarnt worden sei? Warum konnte er nie wieder mit dem jungen Armadale unter einem Dache schlafen, nie wieder dieselbe Luft mit ihm athmen? Welcher Art konnte das Zerwürfniß sein, welches den einen nöthigte, sich unter falschem Namen vor dem andern zu verbergen und Berge und Meere zwischen sich und ihn zu legen? Und vor allem, warum sollte es dem verhaßten Lümmel, der das prachtvolle Vermögen besitzt und im Herrnhause wohnt, Verderben bringen, wenn er meinem Zauber wiche und wieder zu mir zurückkehrte?

In meinem ganzen Leben habe ich mich nach nichts so sehr gesehnt, als ihn wiederzusehen und diese Fragen an ihn zu richten. Im Verlaufe des Tages wurde ich förmlich abergläubisch darüber. Man gab mir eine Kalbsmilch und Kirschpudding zu Mittag, und wahrhaftig, ich zählte an den Kirschkernen ab, ob er kommen werde! Er kommt, kommt nicht, kommt, kommt nicht, und so weiter. Es endete mit »kommt nicht". Ich schellte und ließ abräumen. Ganz wüthend opponierte ich dem Schicksal. Ich sagte: »Er kommt!" und wartete zu Hause aus ihn.

Du kannst Dir nicht vorstellen, welches Vergnügen es mir macht, Dir alle diese kleinen Einzelheiten mitzutheilen. Rechne, o, meine Busenfreundin, meine zweite Mutter, rechne die Gelder zusammen, die Du mir auf die Chance vorgeschossen hast, daß ich Mrs. Armadale würde, und dann male Dir dieses athemlose Interesse aus, das ich für einen Andern fühle. O, Mrs. Oldershaw, welch ein Hochgenuß für mich, Dich so zu peinigen!

Der Tag verstrich. Ich klingelte abermals und ließ mir einen Eisenbahnfahrplan bringen. Welche Züge konnten ihn heute, am Sonntage, mir entführen? Die nationale Achtung vor dem Sabbath wollte mir wohl. Nur ein einziger Zug ging ab, und zwar war derselbe schon mehrere Stunden vorher abgefahren, ehe er an mich geschrieben hatte. Ich trat an den Spiegel. Er machte mir Complimente, daß ich der Weissagung der Kirschkerne widersprochen habe. Mein Spiegel sagte: »Stelle Dich hinter Deine Fenstergardine; er wird den langen, einsamen Abend nicht vergehen lassen, ohne noch einmal zu kommen, um das Haus zu sehen." Ich stellte mich hinter den Fenstervorhang und wartete mit seinem Briefe in der Hand.

Das triste Sonntagslicht verblich, und die triste Sonntagsstille auf der Straße ward noch stiller. Die Dämmerung brach herein und ich vernahm in der Stille seine nahenden Schritte. Mein Herz schlug laut. Denke nur, daß mir noch ein Herz bleibt! »Midwinter!" sagte ich zu mir selbst Und es war Midwinter.

Als er so nahe war, daß ich ihn sehen konnte, bemerkte ich, daß er langsam ging und nach jedem zweiten oder dritten Schritte zögerte und stehen blieb. Es schien, als zöge mein häßliches kleines Fenster ihn wider seinen Willen an. Nachdem ich gewartet, bis ich ihn ein wenig seitwärts vom Hause, aber noch immer innerhalb Sehweite von meinem unwiderstehlichen Fenster hatte stehen bleiben sehen, warf ich schnell meine Mantille um, setzte meinen Hut auf und schlüpfte durch die Hinterthür in den Garten hinaus. Mein Hauswirth und seine Familie waren beim Abendessen und Niemand sah mich. Ich öffnete das Mauerpförtchen und trat auf die Straße hinaus. In diesem unpassenden Augenblicke erinnerte ich mich plötzlich des Spions, den ich bisher vergessen und der mir ohne Zweifel irgendwo in der Nähe des Hauses auflauerte.

Nothwendigerweise brauchte ich Zeit zum Ueberlegen und in meinem derzeitigen Gemüthszustande war es mir ganz unmöglich, Midwinter abreisen zu lassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. In großen Schwierigkeiten entscheidet man, wenn überhaupt, gewöhnlich auf der Stelle. Ich beschloß ein Rendezvous für nächsten Abend mit ihm zu vereinbaren und inzwischen zu erwägen, wie ich diese Zusammenkunft werde bewerkstelligen können, ohne daß sie bekannt würde. So gab ich mich freilich den Qualen einer vierundzwanzigstündigen unbefriedigten Neugier preis, das fühlte ich zur Zeit sehr wohl, aber was blieb mir denn sonst übrig? Vor den Augen und möglicherweise vor den Ohren von Mr. Armadales Spion zu einem geheimen Einverständnisse mit Midwinter zu kommen, hieß fast so viel, als den Gedanken an den Besitz von Thorpe-Ambrose gänzlich aufgeben.

Da ich zufällig einen alten Brief von Dir in meiner Tasche fand, trat ich in das Seitengäßchen hinter der Mauer zurück und schrieb mit dem an meiner Uhrkette hängenden Bleistift auf das leere Blatt: »Ich muß und will mit Ihnen reden. Heute Abend ist es unmöglich, finden Sie sich jedoch morgen Abend um dieselbe Zeit auf der Straße ein, und dann verlassen Sie mich, wenn Sie wollen, auf immer. Wenn Sie dies gelesen haben, kommen Sie mir nach und sagen im Vorbeigehen, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben: »Ja, ich verspreche es?«

Ich legte das Blatt zusammen und trat plötzlich hinter ihm hervor. Als er zurückfuhr und sich umwandte, ließ ich ihm das Billet in die Hand gleiten, die ich ihm hastig drückte, und ging weiter. Ehe ich noch zehn Schritte fort war, hörte ich ihn hinter mir. Ich kann nicht sagen, daß er sich nicht umblickte, ich fah seine großen schwarzen Augen im Zwielichte funkeln und mich in einer Sekunde vom Kopf bis zu den Füßen verschlingen; sonst aber that er, wie ich ihm befohlen. »Ich kann Ihnen nichts versagen«, flüsterte er, »ich verspreche« es. Dann ging er weiter und verließ mich. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wie jener tölpelhafte Flegel Armadale unter solchen Verhältnissen Alles verdorben haben würde.

Die ganze Nacht hindurch quälte ich mich ab, wie ich unsere Zusammenkunft vor Entdeckung schützen sollte, aber ich fand keinen Ausweg. Schon war mir’s, als ob mich Midwinter’s Brief irgendwie unerklärlich betäubt hätte.

Der Montag Morgen machte die Sachen noch schlimmer. Von meinem getreuen Verbündeten, Mr. Bashwood, empfing ich die Nachricht, daß Miß Milroy und Mr. Armadale mit einander zusammengetroffen seien und sich versöhnt hätten. Du kannst Dir vorstellen, in welchen Zustand mich dies versetzte! Ein paar Stunden später liefen weitere Nachrichten von Mr. Bashwood ein, diesmal gute. Der boshafte Dummkopf zu Thorpe-Ambrose hatte endlich Verstand genug gehabt, sich zu schämen. Er hatte beschlossen, den Spion noch am selben Tage zu verabschieden, und sich infolge dessen mit seinem Advocaten überworfen.

Damit war also das Hinderniß, das zu übersteigen ich zu dumm war, für mich aufs erfreulichste aus dem Wege geräumt! Ueber die bevorstehende Zusammenkunft mit Midwinter brauche ich mir keine Sorge mehr zu machen und habe reichlich Zeit, zu überlegen, was ich jetzt, da Miß Milroy und ihr getreuer Schäfer wieder zusammengekommen, zunächst unternehmen muß. Solltest Du, es wohl glauben, daß der Brief oder der Mann —— ich weiß nicht, was von beiden —— sich meiner dermaßen bemächtigt, daß ich, was ich immer versuchen mochte, an nichts Anderes denken konnte, und dies zu einer Zeit, wo ich alle Ursache zu fürchten hatte, daß Miß Milroy sich auf dem besten Wege befinde, ihren Namen in Armadale zu verwandeln, und wo ich wußte, daß ich mich noch in keiner Weise meiner schweren Verpflichtungen gegen sie entledigt? Hat es wohl je etwas Widerwärtigeres gegeben? Ich kann mir’s nicht denken —— kannst Du’s?

Die Abenddämmerung kam endlich heran. Ich sah aus dem Fenster, und dort war er!

Augenblicklich ging ich zu ihm hinaus, während die Leute im Hause zu sehr in Essen und Trinken vertieft waren, um sonst auf irgend etwas Acht zu geben. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden«, flüsterte ich. »Ich muß vorangehen und Sie müssen mir folgen.«

Er erwiderte nichts. Was in seinem Geiste vorging, kann ich nicht errathen, aber nachdem er, wie er versprochen, gekommen war, zögerte er förmlich, als hätte er halb und halb Lust, wieder fortzugehen.

»Sie sehen aus, als fürchteten Sie sich vor mir", sagte ich.

»Ich fürchte mich in der That vor Ihnen", antwortete er, »vor Ihnen sowohl als vor mir selbst.«

Das war nicht ermuthigend, nicht schmeichelhaft. Aber eine so rasende Neugier erfüllte mich, daß ich selbst noch größere Unhöflichkeit kaum beachtet haben würde. Ich ging einige Schritte nach den neuen Häusern zu und blieb dann stehen, um mich nach ihm umzusehen.

»Nachdem Sie mir Ihr Versprechen gegeben und nach einem Briefe, wie Sie ihn mir geschrieben, muß ich es da als eine Gunst von Ihnen erbitten?« sagte ich.

Eine plötzliche Veränderung ging mit ihm vor, augenblicklich war er an meiner Seite. »Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; führen Sie mich, wohin Sie wollen.« Nach dieser Antwort trat er ein wenig zurück und ich hörte ihn vor sich hin Murmeln: »Was sein soll, wird sein. Was geht es mich an oder sie?«

Die Worte konnten es nicht wohl sein, die mich leise erbeben ließen, denn ich verstand sie nicht, sondern nur der Ton, in dem er sie sprach. Ohne einen Schatten von Ursache fühlte ich mich halb geneigt, ihm gute Nacht zu wünschen und wieder ins Haus zu gehen. Das sieht mir nicht sehr ähnlich, wirst Du sagen. In der That nein! Es währte auch keine Minute. Deine Herzens-Lydia kam schnell wieder zur Vernunft.

Ich ging den halbfertigen Häusern und dem offenen Felde zu voran. Es wäre weit mehr nach meinem Sinne gewesen, hätte ich ihn mit mir ins Haus nehmen und beim Kerzenlichte mit ihm sprechen können. Aber ich hatte dies schon einmal riskiert und trug Bedenken, es in diesem Klatschneste und in meiner kritischen Lage noch einmal zu wagen. An den Garten war ebenso wenig zu denken, denn dort raucht der Hauswirth nach dem Abendessen seine Pfeife. Mithin blieb mir nichts Anderes übrig, als ihn zur Stadt hinauszuführen.

Im Weitergehen sah ich mich von Zeit zu Zeit um und bemerkte, wie er stets in derselben Entfernung undeutlich und gespenstisch im Zwielichte meinen Schritten folgte.

Ich muß auf eine kleine Weile abbrechen. Die Kirchenglocken läuten und machen mich toll mit ihrem Gebimmel. Wozu bedarf es in unsern Tagen, wo Jeder eine Uhr besitzt noch des Glockengeläutes, uns an den Beginn des Gottesdienstes zu mahnen? Wir brauchen ja keine Glocken, die uns ins Theater läuten! Welch eine ungeheure Schmach für die Geistlichkeit, daß sie uns zur Kirche läuten muß!

Endlich haben sie die Gemeinde hineingeläutet, und so kann ich meine Feder wieder ergreifen und fortfahren.

Ich war ein wenig im Zweifel, wohin ich ihn führen solle. Auf der einen Seite lag die Landstraße, doch konnten wir dort, so still dieselbe auch aussah, leicht Jemand begegnen, wo wir es am wenigsten erwarteten. Der andere Weg führte durch das Gebüsch. Dahin führte ich ihn.

Am entgegengesetzten Ende desselben, hart am Saume des Dickichts, befand sich eine kleine Bodensenkung, in der gefällte Bäume lagen, und jenseits derselben ein kleiner Teich, der still und weiß im Zwielicht glänzte. Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich ausgedehnte Rasenflächen hin, auf die sich ein allmälig dichter werdender Nebel herabzusenken begann und die in der Ferne die schwarze Linie feierlich langsam heimkehrender Kühe zeigten. Kein lebendes Wesen war in der Nähe und kein Laut vernehmbar. Ich setzte mich auf einen der gefällten Bäume und sah mich nach ihm um. »Kommen Sie", sagte ich leise, »kommen Sie und setzen Sie sich zu mir.«

Warum gehe ich in alle diese Einzelheiten ein? Ich weiß es kaum. Der Ort machte einen unbegreiflich lebhaften Eindruck auf mich und ich kann nicht umhin, davon zu schreiben. Sollte ich ein schlimmes Ende nehmen, vielleicht auf dem Schaffot, so glaube ich, daß das Letzte, was ich sehen werde, ehe der Henker den Strick zieht, der kleine weiß schimmernde Teich mit den langen nebligen Wiesengründen und der heimziehenden Kuhheerde sein wird. Fürchte nichts, Du würdiges Geschöpf! Meine Phantasie spielt mir zuweilen seltsame Streiche und es ist vielleicht in diesem Theile meines Briefes etwas von dem gestern Abend genossenen Laudanum.

Er kam seltsam still, wie ein Mann, der im Schlafe wandelt, und setzte sich zu mir nieder. Der Abend war entweder sehr schwül oder ich bereits in einem förmlichen Fieber, ich konnte meinen Hut nicht auf dem Kopfe, die Handschuhe nicht an den Händen leiden. Das Verlangen, ihn anzusehen und mich zu überzeugen, was sein eigenthümliches Schweigen zu bedeuten habe, und die Unmöglichkeit, dies in der zunehmenden Dunkelheit zu bewerkstelligen, reizten meine Nerven in dem Grade, daß ich hätte schreien mögen. Ich nahm seine Hand, vielleicht daß dies mir half. Sie war glühend heiß und schloß sich augenblicklich fest um die meinige, Du weißt wohl, wie. Danach war an ein Schweigen nicht mehr zu denken. Das Gerathenste war, daß ich ihn sogleich anredete.

»Verachten Sie mich nicht", sagte ich. »Ich bin gezwungen, Sie an diesen einsamen Ort zu führen; es würde meinen Ruf gefährden, wenn man uns beisammen sähe.«

Ich wartete ein wenig. Seine Hand ermahnte mich abermals, das Schweigen nicht fortdauern zu lassen. Ich beschloß ihn zum Sprechen zu zwingen.

»Sie haben meine Neugier gespannt und zugleich mich erschreckt", fuhr ich fort. »Sie haben mir einen sehr seltsamen Brief geschrieben. Ich muß wissen, was er zu bedeuten hat.«

»Es ist zu spät, um dies zu fragen. Sie und ich haben den Weg eingeschlagen, auf dem jede Umkehr unmöglich ist." Er gab diese seltsame Antwort in einem Tone, der mir völlig neu an ihm war, in einem Ton, der mich sogar noch mehr beunruhigte, als sein Schweigen es so eben gethan hatte. »Zu spät«, wiederholte er, »zu spät! Sie können jetzt nur noch eine Frage an mich richten.«

»Welche Frage?«

Als ich dies sagte, theilte sich plötzlich ein heftiges Zittern von seiner Hand der meinigen mit und sagte mir, daß ich besser gethan haben würde, hätte ich geschwiegen. Ehe ich noch eine Bewegung machen, ehe ich noch denken konnte, hielt er mich bereits im Arm. »Fragen Sie mich, ob ich Sie liebe«, flüsterte er. In demselben Augenblicke sank sein Kopf auf meine Brust herab und eine unaussprechliche Qual in seinem Innern machte sich, wie dies bei uns oft geschieht, in einem leidenschaftlichen Thränenstrom und lautem Schluchzen Luft.

Mein erster Impuls war der einer Närrin. Ich war im Begriff, in unserer gewohnten Weise zu protestieren und ihn abzuwehren. Glücklicher- oder unglücklicherweise —— ich weiß nicht, was von beiden —— habe ich die zarte Empfindsamkeit der Jugend verloren und hielt deshalb die erste Bewegung meiner Hände und die ersten Worte auf meinen Lippen zurück. O mein Himmel, wie alt ich mich fühlte, während er sich an meiner Brust das Herz aufschluchzte! Wie ich der Zeit gedachte, wo er sich in den Besitz meiner Liebe hätte setzen können! Das Einzige, wovon er jetzt Besitz genommen, war meine Taille.

Ob ich ihn wohl bemitleidete? Einerlei. Jedenfalls erhob sich meine Hand so oder so, und meine Finger spielten sanft mit seinem Haar. Während ich ihn berührte, kamen mir fürchterliche Erinnerungen an frühere Zeiten in den Sinn und machten mich schaudern. Und dennoch that ich es. Welche Thörinnen die Weiber sind!

Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen«, sprach ich sanft; »ich will nicht sagen, daß Sie einen grausamen Vortheil aus meiner Lage ziehen. Sie sind entsetzlich aufgeregt und ich will Ihnen Zeit lassen, sich ein wenig zu beruhigen.«

Hier schwieg ich, um zu überlegen, wie ich die Fragen stellen solle, die ich an ihn zu richten brannte. Aber vermuthlich war ich zu verwirrt oder vielleicht zu ungeduldig zur Ueberlegung. In den ersten Worten verrieth ich, was mich am meisten beschäftigte.

»Ich glaube nicht, daß Sie mich lieben«, sagte ich. »Sie schreiben mir so seltsame Dinge, Sie ängstigen mich mit Geheimnissen. Was wollten Sie damit sagen, als Sie schrieben, es werde Mr. Armadale Verderben bringen, wenn Sie zu mir zurückkehrten? Welche Gefahr kann für Mr. Armadale ——«

Ehe ich die Frage noch beenden konnte, richtete er plötzlich den Kopf auf und löste seine Arme. Wie es schien, hatte ich einen wunden Punkt berührt, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Anstatt daß ich vor ihm zurückwich, bebte vielmehr er vor mir zurück. Ich fühlte mich beleidigt; warum, weiß ich nicht, aber ich war beleidigt, und mit meinem bittersten Nachdrucke dankte ich ihm dafür, daß er sich endlich erinnere, was er mir schuldig sei!

»Glauben Sie an Träume?« brach er plötzlich mit dem wunderlichsten Wesen los, ohne im geringsten auf das zu achten, was ich zu ihm gesagt hatte. »Sagen Sie mir«, fuhr er fort, ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, »standen Sie oder irgend einer Ihrer Verwandten je mit Allan Armadales Vater oder Mutter in Beziehung? Waren Sie oder irgend einer Ihrer Angehörigen jemals auf der Insel Madeira?«

Denke Dir mein Erstaunen, wenn Du kannst. Ich erstarrte. In einer Sekunde war ich starr an allen Gliedern. Offenbar wußte er, was sich ereignet hatte, als ich aus Madeira in Mrs. Armadales Diensten stand, aller Wahrscheinlichkeit nach, ehe er geboren war! Das war an sich schon überraschend genug. Und er hatte irgend welchen Grund, mich mit jenen Ereignissen in Beziehung zu bringen. Dies war noch überraschender.

»Nein«, sagte ich, sobald ich mich zu sprechen getraute. »Ich weiß nichts von seinem Vater oder seiner Mutter.«

»Und nichts von der Insel Madeira?«

»Nichts von der Insel Madeira.«

Er wandte den Kopf ab und begann zu sich selber zu sprechen.

»Seltsam!« sagte er. »So gewiß, wie ich an der Stelle des Schattens am Fenster war, so gewiß war sie an der Stelle des Schattens am Teiche!«

Unter andern Verhältnissen würde sein merkwürdiges Benehmen mich vielleicht beunruhigt haben, allein nach seiner Frage über Madeira fühlte ich mich von einer größeren Furcht ergriffen, die alle gewöhnliche Unruhe fern hielt. Ich brannte vor Angst und Neugier zu erfahren, wie er jene Kenntniß erlangt hatte und wer er eigentlich war. Vollkommen klar war mir, daß ich durch meine Frage nach Armadale ein Gefühl in ihm erweckt hatte, das ebenso mächtig war wie sein Gefühl für mich. Was war aus meinem Einflusse über ihn geworden?

Ich konnte nicht begreifen, was daraus geworden sei, aber ich konnte versuchen, ihn denselben wieder fühlen zu lassen, und ich that es.

»Behandeln Sie mich nicht grausam«, sagte ich; »ich war nicht grausam gegen Sie. O, Mr. Midwinter, es ist hier so einsam und so finster, ängstigen Sie mich nicht!«

»Sie ängstigen!« Er war augenblicklich wieder fest an meiner Seite. »Sie ängstigen!« Er wiederholte die Worte mit einem Erstaunen, als ob ich ihn aus einem Traume erweckt und ihn einer Sache beschuldigt hätte, die er im Schlafe gesprochen.

Ich sah, wie sehr ich ihn in Erstaunen gesetzt hatte, und so schwebte es mir auf der Zunge, ihn, da er nicht auf seiner Hut war, zu fragen, warum meine Frage nach Armadale eine solche Veränderung in seinem Benehmen gegen mich hervorgebracht hätte. Doch nach dem, was vorgefallen, hatte ich keinen rechten Muth, zu bald auf den Gegenstand zurückzukommen. Ein Etwas, vielleicht war es Instinct, veranlaßte mich, Armadale für den Augenblick in Ruhe zu lassen und zuerst von ihm selber mit ihm zu sprechen.

Wie ich bereits in einem meiner frühern Briefe gegen Dich erwähnte, habe ich gewisse Anzeichen in seinem Aussehen und Wesen wahrgenommen, die mich überzeugen, daß er in seinem vergangenen Leben etwas Ungewöhnliches gethan oder gelitten hat. Jedesmahl, wo ich ihn gesehen, habe ich immer argwöhnischer gefragt, ob er wirklich das ist, was er zu sein scheint, und allen meinen Zweifeln voran stand der, ob er unter seinem wahren Namen unter uns auftrete. Da ich hinsichtlich meiner eigenen Vergangenheit Geheimnisse zu bewahren und früher mehr als einen falschen Namen getragen habe, so bin ich jedenfalls um so schneller bereit, Andere zu beargwöhnen, wenn ich etwas Verdächtiges an ihnen bemerke. Von diesem Argwohn erfüllt, beschloß ich, ihn meinerseits durch eine unerwartete Frage zu erschrecken, wie er mich erschreckt hatte —— durch eine Frage nach seinem Namen.

Während ich überlegte, war auch er in Nachsinnen versunken, und zwar, wie sich dies bald herausstellte über das, was ich zu ihm gesagt hatte. »Es thut mir so leid, Sie geängstigt zu haben«, flüsterte er mit jener Zartheit und Demuth, die wir an einem Manne alle so herzlich verachten, wenn er zu andern Frauen spricht, und die uns allen so sehr gefällt, wenn er zu uns selber redet. »Ich weiß kaum, was ich gesagt habe«, fuhr er fort, »ich bin so entsetzlich verwirrt. Vergehen Sie mir, wenn Sie können, ich bin heute Abend nicht Herr meiner selbst!«

»Ich bin nicht böse«, sagte ich; »ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Wir sind beide thöricht, wir sind beide unglücklich.« Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. »Lieben Sie mich wirklich?« fragte ich flüsternd.

Sein Arm wand sich wieder sanft um meine Taille, und ich fühlte, wie sein Herz immer schneller klopfte.

»Wenn Sie nur wüßten!« antwortete er leise, »wenn Sie nur wüßten ——« Er konnte nicht weiter. Ich fühlte, wie sein Gesicht sich dem meinigen näherte, deshalb ließ ich den Kopf tiefer sinken und hinderte ihn, als er im Begriff war, mich zu küssen. »Nein«, sagte ich, »ich bin nichts als ein Weib, für das Sie zufällig eine Caprice gefaßt haben. Sie behandeln mich, als ob ich Ihre verlobte Braut wäre.«

»Seien Sie meine verlobte Braut!« flüsterte er leidenschaftlich und versuchte meinen Kopf aufzurichten. Ich hielt diesen gesenkt. Das Grausen jener alten Erinnerungen, von denen Du weißt, überkam mich, und ich zitterte etwas, als er mich bat, sein Weib zu werden. Ich glaube nicht, daß ich mich wirklich ohnmächtig fühlte, aber eine ähnliche Empfindung ließ mich die Augen schließen. Sowie ich sie geschlossen hatte, that sich die Dunkelheit vor mir auf, als hätte sie der Blitz gesprengt, und in dem schauerlichen Schlunde stiegen die Gespenster jener andern Männer auf und sahen mich an.

»Sprich«, flüsterte er zärtlich. »Mein Leben, mein Engel, sprich!«

Seine Stimme brachte mich wieder zur Besinnung. Noch blieb mir Verstand genug, um mich zu erinnern, daß die Zeit verstreiche und daß ich ihm noch nicht meine Frage hinsichtlich seines Namens vorgelegt hatte.

»Gesetzt, ich fühlte dasselbe für Sie, was Sie für mich fühlen?« sagte ich. »Gesetzt, ich liebte Sie innig genug, um Ihnen das Glück meines ganzen Lebens anzuvertrauen?«

Ich schwieg einen Augenblick, um zu Athem zu kommen. Es war unerträglich schwül und still, die Luft schien gestorben zu sein, als die Nacht hereingebrochen war.

»Würden Sie mich redlich heirathen«, fuhr ich fort, »falls Sie mich unter Ihrem gegenwärtigen Namen heiratheten?«

Sein Arm glitt von meiner Taille nieder und ich fühlte, wie er einmal heftig zusammenschrak. Darauf saß er neben mir still, kalt und schweigend, als ob meine Frage ihn stumm gemacht hätte. Ich schlang meinen Arm um seinen Nacken und legte meinen Kopf wieder an seine Schulter. Welcher Art der Zauber immer war, den ich auf ihn ausgeübt, meine Nähe schien denselben zu brechen.

»Wer hat Ihnen gesagt« —— Er hielt inne. »Nein«, fuhr er fort, »Niemand kann es Ihnen gesagt haben. Was läßt Sie argwöhnen ——« Er hielt abermals inne.

»Niemand hat es mir gesagt«, erwiderte ich, »und ich weiß nicht, was mich auf den Verdacht gebracht hat Wir Frauen haben oft seltsame Einfälle. Ist Midwinter wirklich Ihr echter Name?«

»Ich kann Sie nicht hintergehen«, sagte er nach einer abermaligen Pause. »Midwinter ist nicht mein wahrer Name.«

Ich schmiegte mich ein wenig fester an ihn an.

»Wie ist Ihr wahrer Name?« fragte ich.

Er zögerte.

Ich erhob mein Gesicht, bis meine Wange die seine berührte. Mit meinen Lippen hart an seinem Ohre sagte ich:

»Wie, noch immer kein Vertrauen zu mir? Kein Vertrauen zu dem Weibe, das so gut wie bekannt hat, daß es Sie liebt, das so gut wie erklärt hat, daß es Ihr Weib werden will?«

Er wandte sein Gesicht dem meinigen zu. Zum zweiten Male versuchte er mich zu küssen, und zum zweiten Male hinderte ich ihn daran.

»Wenn ich Ihnen meinen Namen sage«, sprach er »so muß ich Ihnen noch mehr mittheilen.«

Abermals berührte ich seine Wange mit der Meinigen.

»Warum auch nicht?« sagte ich. »Wie kann ich einen Mann lieben oder gar heirathen, der mir ein Fremder bleibt?«

Darauf schien es mir keine Antwort zu geben, aber er antwortete.

»Es ist eine fürchterliche Geschichte«, sagte er. »Sie dürfte, wenn Sie dieselbe erfahren, einen Schatten über Ihr Leben werfen, wie sie ihn bereits über das meinige geworfen hat.«

Ich umschlang ihn mit meinem andern Arme und beharrte auf meinem Verlangen.Erzählen Sie; ich fürchte mich nicht; erzählen Sie mir Ihre Geschichte!«

Er begann dem Drucke meines Arms zu weichen.

»Wollen Sie das Geheimniß bewahren?« sagte er. »Wollen Sie es so hüten, daß es Niemand erfährt, außer Ihnen und mir?«

Ich versprach ihm, es geheim zu halten, und harrte in wahrhaft rasender Neugier. Zweimal wollte er beginnen und beide Male fehlte ihm der Muth.

»Ich kann nichts« rief er wild und verzweifelt aus. »Ich kann’s nicht erzählen!«

Meine Neugier oder wahrscheinlicher meine Heftigkeit durchbrach alle Schranken. Er hatte mich so aufgereizt, daß es mir gleichgültig ward, was ich that oder sagte. Ich schloß ihn plötzlich fest in die Arme und drückte meine Lippen auf die seinigen. Ich liebe Dich!« flüsterte ich mit einem Kusse. »Willst Du mir’s jetzt erzählen?«

Für den Augenblick war er sprachlos. Ich weiß nicht, ob ich es absichtlich gethan, um ihn toll zu machen. Ich weiß nicht, ob ich es in einem Muthausbruche unwillkürlich gethan habe. Nichts weiter steht fest, als daß ich sein Schweigen mir falsch gedeutet hatte. Sowie ich ihn geküßt hatte, stieß ich ihn wüthend von mir. »Ich hasse Sie!« sagte ich. »Sie haben mich dahin getrieben, daß ich mich vergessen habe. Verlassen Sie mich! Ich mache mir nichts aus der Dunkelheit. Verlassen Sie mich augenblicklich und lassen Sie sich nie wieder vor mir sehen!«

Er ergriff meine Hand und brachte mich zum Schweigen. Er sprach in neuem Tone, er befahl plötzlich, wie nur Männer es können.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Sie haben mir meinen Muth wiedergegeben, Sie sollen erfahren, wer ich bin?

In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis gehorchte ich ihm und setzte mich wieder nieder.

In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis nahm er mich wieder in die Arme und erzählte mir, wer er sei.

Soll ich Dir seine Geschichte vertrauen? Soll ich Dir seinen wahren Namen sagen? Soll ich Dir, wie ich drohte, die Gedanken zeigen, die aus dieser Unterredung mit ihm und aus Allem, was sich seitdem für mich ereignet, erstanden sind?

Oder soll ich, wie ich es ihm versprach, sein und damit zugleich mein eigenes Geheimniß bewahren, indem ich diesen ewig langen Brief gerade in dem Augenblicke schließe, wo Du vor Verlangen vergehst, mehr zu erfahren?

Dies sind ernste Fragen, Mrs. Oldershaw, ernster, als Du ahnst. Ich habe Zeit gehabt, mich abzukühlen, und beginne einzusehen, was ich zur Zeit, da ich die Feder ergriff, nicht einzusehen vermochte, nämlich daß es weise ist, die Folgen zu bedenken. Habe ich etwa mich selbst geängstigt, indem ich Dich zu ängstigen suchte? Wohl möglich, wie seltsam das immer scheinen mag, aber es ist wirklich möglich.´

So eben habe ich ein paar Minuten am Fenster gestanden, um zu überlegen. Ich habe noch reichlich Zeit zum Nachdenken, ehe die Post abgeht. Jetzt erst kommen die Leute aus der Kirche.

Ich will meinen Brief beiseite legen und einen Blick in mein Tagebuch werfen. Mit deutlichem Worten, ich muß erst sehen, was ich riskiere, wenn ich Dir traue, und mein Tagebuch wird mich lehren, was ohne Hilfe zu berechnen mein Kopf zu müde ist. In letzter Zeit habe ich die Geschichte meiner Tage (und zuweilen meiner Nächte) weit regelmäßiger als gewöhnlich niedergeschrieben, da ich unter gegenwärtigen Verhältnissen meine Gründe zu besonderer Vorsicht habe. Thue ich schließlich, was ich jetzt zu thun im Sinne habe, so wäre es Wahnsinn, wollte ich mich nur auf mein Gedächtniß verlassen. Das leiseste Vergessen des unbedeutendsten Ereignisses, das sich seit dem Abend meiner Unterredung mit Midwinter bis zu diesem Augenblicke zugetragen, dürfte mein völliges Verderben herbeiführen.

»Ihr völliges Verderben!« wirst Du sagen. »Was für ein Verderben kann sie meinen?«

Warte ein wenig, bis ich mein Tagebuch befragt habe, ob ich es Dir mit Sicherheit sagen darf.«



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

»Den 21. Juli. Montag Abend elf Uhr.

So eben hat er mich verlassen. Auf meinen Wunsch schieden wir an dem Pfade, der aus dem Gebüsch führt, worauf er seinen Weg nach dem Hotel und ich den meinigen nach meiner Wohnung einschlug.

Einer zweiten Zusammenkunft mit ihm bin ich ausgewichen, indem ich ihm morgen früh zu schreiben versprach. So habe ich die Nacht, mich wieder zu sammeln und, wenn es möglich, meinen Geist zu meinen eigenen Angelegenheiten zurückzuführen. Ich sage, wenn es möglich, denn mir ist’s, als hätte seine Geschichte sich meiner bemächtigt, um mich nie wieder loszulassen. Wird die Nacht vergehen und der Morgen mich noch immer mit dem Gedanken an den Brief beschäftigt finden, der ihm vom Sterbelager seines Vaters zugesandt wurde, an die Nacht, die er am Bord des Wracks durchwachte und vor allem an den ersten spannungsvollen Augenblick, wo er mir seinen wahren Namen mittheilte?

Könnte ich diese Eindrücke wohl abschütteln, wenn ich sie niederzuschreiben versuchte? So würde ich wenigstens nichts Wichtiges vergessen. Jedenfalls ist es der Mühe werth, es zu versuchen. In meiner gegenwärtigen Lage muß mein Gemüth frei genug sein, um sich mit andern Dingen beschäftigen zu können, sonst werde ich mich nimmermehr durch all die Schwierigkeiten hindurchwinden, die mir in Thorpe-Ambrose noch bevorstehen.

Laß sehen. Was verfolgt mich also?

Die Namen verfolgen mich. Fortwährend sage ich mir: Beide dieselben! Taufnamen und Familiennamen, beide dieselben! Ein blonder Allan Armadale, von dem ich längst gewußt habe und der der Sohn meiner ehemaligen Herrin ist. Ein brünetter Allan Armadale von welchem ich erst jetzt erfahre und der Andern nur unter dem Namen Ozias Midwinter bekannt ist. Und noch seltsamer —— nicht die Verwandtschaft, kein Zufall ist es, der sie zu Namensvettern gemacht hat Der Vater des blonden Armadale war der Mann, dem der Familienname durch die Geburt zufiel und der des Familienerbes verlustig ging. Der Vater des brünetten Armadale war der Mann, der den Namen annahm und zwar unter der Bedingung, dadurch das Erbe zu erhalten, und der es erhielt.

Es sind also ihrer zwei —— ich kann mich des Gedankens nicht erwehren —— und beide unverheirathet. Der blonde Armadale, der dem Weibe, das sich seiner versichern kann, solange er lebt, ein Vermögen von achttausend Pfund jährlicher Renten bietet, der seiner Gattin bei seinem Ableben zwölfhundert Pfund Jahresrenten hinterläßt, der mich aus diesen beiden goldenen Gründen heirathen muß und soll und den ich hasse und verabscheue, wie ich noch nie einen Mann gehaßt und verabscheut habe. Und der schwarze Armadale, der ein armseliges kleines Einkommen hat, welches vielleicht gerade hinreicht, die Putzmacherrechnungen seiner Frau zu bezahlen, vorausgesetzt, daß diese sparsam wäre, der so eben in der Ueberzeugung von mir gegangen ist, daß ich ihn heirathen will, und den ich —— nun, den ich einst, ehe ich das Weib war, das ich jetzt geworden bin, vielleicht hätte lieben können.

Und Allan, der Blonde, weiß nicht, daß er einen Namensvetter hat! Allan, der Schmarze, hat das Geheimniß vor allen bewahrt, mich und den Pfarrer in Sommersetshire ausgenommen, auf dessen Verschwiegenheit er sich verlassen kann.

Es gibt zwei Allan Armadale —— zwei Allan Armadale —— zwei Allan Armadale! So! Drei ist eine glückliche Zahl. Danach verfolge mich noch, wenn Du kannst!

Was kommt dann? Der Mord auf dem Holzschiffe? Nein, der Mord ist ein guter Grund, weshalb der schwarze Armadale, dessen Vater denselben beging, das Geheimniß vor dem blonden Armadale bewahren sollte, dessen Vater getödtet ward; aber das geht mich nichts an. Ich erinnere mich, wie damals auf Madeira ein Argwohn rege war, daß etwas nicht in Ordnung sei. War es Unrecht? War dem um seine Frau betrogenen Mann ein Vorwurf zu machen, wenn er die Kajütenthür schloß und den Mann, der ihn hintergangen, auf dem Wrack ertrinken ließ? Ja, denn die Frau war dessen nicht würdig.

Was geht mich nun wirklich selbst an?

Eines sehr wichtigen Umstandes bin ich. gewiß. Ich weiß bestimmt, daß Midwinter —— ich muß ihm nach wie vor seinen häßlichen falschen Namen geben, sonst verwechsele ich noch die beiden Armadales mit einander —— ich weiß bestimmt, daß Midwinter keine Ahnung hat, daß ich und der kleine zwölfjährige Kobold, der Mrs. Armadale zu Madeira bediente und die Briefe abschrieb, die angeblich aus Westindien anlangten, eine und dieselbe Person sind. Es wird nicht viele zwölfjährige Mädchen geben, welche die Handschrift eines Mannes nachahmen und dann darüber hätten schweigen können, wie ich es that; doch das ist jetzt von keinem Belang. Von Belang aber ist, daß Midwinter’s Glaube an den Traum sein einziger Grund ist, warum er, mich mit Armadale’s Aeltern in Beziehung glaubend, mich mit Allan Armadale selbst in Verbindung zu bringen sucht. Ich fragte ihn, ob er mich wirklich für alt genug halte, eins von beiden gekannt zu haben. Und der arme Junge sagte so verdutzt wie nur möglich nein. Würde er wohl nein sagen, wenn er mich in diesem Augenblicke sähe? Soll ich an den Spiegel treten und mich überzeugen, ob ich wirklich wie fünfunddreißig Jahre alt aussehe, oder soll ich weiter schreiben? Ich will weiter schreiben.

Eins verfolgt mich fast ebenso hartnäckig wie die Namen.«

Ob ich wohl recht thue, wenn ich auf Midwinter’s Aberglauben baue (wie ich dies thue), daß dieser mir behilflich sein wird) mich gegen seine Zudringlichkeiten zu schützen? Nachdem ich mich durch die Aufregung des Augenblicks dazu habe verleiten lassen, mehr zu sagen, als ich zu sagen brauchte, wird er mich ganz sicher zu drängen suchen; ganz sicher wird er mit der verhaßten Selbstsucht und Ungeduld der Männer in solchen Dingen auf die Heirathsfrage zurückkommen. Wird der Traum mir behilflich sein, ihn abzuwehren? Nachdem er abwechselnd an denselben geglaubt und nicht geglaubt hat, ist er, seinem eigenen Bekenntnisse nach, jetzt wieder so weit, daß er daran glaubt. Darf ich sagen, daß ich ebenfalls daran glaube? Ich habe für diesen Glauben bessere Gründe, als er ahnt. Nicht nur bin ich dieselbe Person, welche Mrs. Armadale’s Heirath beförderte, indem sie ihr ihren Vater hintergehen half, ich bin die Person, die sich ertränken wollte, die Person, die die Reihe von Unfällen eröffnete, welche dem jungen Armadale zum Besitze des Vermögens verhalfen, die Person, die nach Thorpe-Ambrose kam, um ihn um seines Vermögens willen zu heirathen, und, was noch erstaunlicher ist, die Person, die an der Stelle des Schattens am Teiche stand! Dies mögen Zufälle sein, aber es sind sehr seltsame Zufälle. Ich fange wahrlich an mir einzubilden, daß ich ebenfalls an den Traum glaube!

Gesetzt, ich sage zu ihm: Ich theile Ihren Glauben. Ich sage dasselbe, was Sie in Ihrem Briefe an mich sagen; scheiden wir, ehe ein Unglück geschieht. Verlassen Sie mich, ehe die dritte Vision des Traums sich verwirklicht. Verlassen Sie mich und legen Sie Meere und Berge zwischen sich und den Mann, der Ihren Namen trägt!

Gesetzt, auf der andern Seite, daß seine Liebe ihn gegen alles Andere gleichgültig macht, gesetzt, er wiederholt jene verzweifelten Worte, die ich mir jetzt erklären kann: »Was sein soll, wird sein. Was habe ich damit zu schaffen, und was sie?« Gesetzt —— gesetzt ——

Ich will nicht weiter schreiben. Mir ist das Schreiben widerwärtig. Es gewährt mir keine Erleichterung, im Gegentheil, ich kann viel weniger an das denken, woran ich denken muß, als in dem Augenblicke, da ich mich zum Schreiben niedersetzte. Es ist nach Mitternacht, bereits tagt es, und da sitze ich als das dümmste Frauenzimmer von der Welt! Mein Bett ist der einzige passende Ort für mich.

Mein Bett! Wenn es vor zehn Jahren wäre, anstatt heute, und wenn ich Midwinter aus Liebe geheirathet hätte, so würde ich jetzt vielleicht mit keiner andern Sorge auf der Seele mein Nachtlager aufsuchen, als einen leisen Besuch in der Kinderstube abzustatten, um mich zu überzeugen, ob die Kleinen ruhig in ihren Bettchen schliefen. Ob ich nur meine Kinder würde geliebt haben, wenn ich je welche gehabt hätte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Einerlei.

Dienstag Morgen zehn Uhr. Wer war der Mann, der das Laudanum erfand? Wer er immer sei, ich danke ihm von ganzem Herzen. Wenn alle die Elenden, die an Leib und Seele leiden und deren Tröster er gewesen, sich vereinigen könnten, um sein Lob zu singen, welch einen Chor das geben würde! Ich habe sechs köstliche Stunden der Vergessenheit genossen und mit beruhigtem Gemüthe bin ich erwacht, ich habe einen ganz kleinen Brief an Midwinter geschrieben, ich habe meine vortreffliche Tasse Thee mit wahrem Behagen getrunken, ich habe mit einem köstlichen Gefühle der Erleichterung meine Morgentoilette gemacht und alles dies durch das bescheidene kleine Fläschchen, das ich in diesem Augenblicke auf dem Kaminsimse meines Schlafzimmers sehe. Tropfen, ihr seid Unbezahlbar! Liebe ich in der Welt auch sonst nichts, euch liebe ich doch!

Ich habe meinen Ortes an Midwinter durch die Post gesandt und ihn gebeten, mir auf demselben Wege zu antworten.

Wegen seiner Antwort ängstige ich mich nicht; er kann nur in einer Weise antworten. Ich habe mir etwas Bedenkzeit erbeten, da meine Familienverhältnisse dies in seinem Interesse sowohl als in dem meinigen verlangen. Ich habe mich verpflichtet, ihm das nächste Mal, wenn wir zusammenkommen, zu sagen, welcher Art diese Verhältnisse sind (was kann ich ihm nur sagen?), und ihn gebeten, inzwischen Alles, was zwischen uns geschehen, geheim zu halten. Was er in der Zwischenzeit, während ich angeblicherweise überlege, selbst zu thun hat, habe ich seiner eigenen Bestimmung überlassen, ihn blos daran erinnernd, daß sein Bleiben in Thorpe-Ambrose in unserer gegenwärtigen Lage zu Muthmaßungen über seine Beweggründe Anlaß geben könne, und daß ein Versuch von seiner Seite, mich wiederzusehen, solange unser Verhältniß zu einander nicht veröffentlicht werden dürfe, meinem Rufe schaden würde. Wenn er es wünsche, wolle ich an ihn schreiben; schließlich habe ich ihm versprochen, die Zeit unserer nothwendigen Trennung thunlichst abzukürzen.

Dieser einfache, unaffectirte Brief, den ich ihm schon gestern Abend hätte schreiben können, wenn mir nicht seine Geschichte so im Kopfe herumgegangen wäre, hat, wie ich wohl weiß, einen Fehler. Allerdings hält er ihn fern, während ich meine Netze auswerfe, um zum zweiten Male meinen Goldfisch im Herrnhause zu fangen, aber wenn dies mir gelingt, stellt er mir zugleich einen fatalen Tag in Aussicht, wo ich mich vor Midwinter rechtfertigen muß. Was soll ich mit ihm anfangen? Was soll ich beginnen? Ich sollte diesen beiden Fragen so kühn wie immer begegnen, allein ich weiß nicht, wie es kommt, der Muth läßt mich im Stiche; ich denke nicht eben gern daran, wie ich jener Schwierigkeit begegnen soll, bis der Augenblick kommt, wo derselben begegnet werden muß. Soll ich meinem Tagebuche das Bekenntniß ablegen, daß Midwinter mir leid thut und daß ich einigermaßen vor dem Gedanken an den Tag erschrecke, wo er hören wird, daß ich Gutsherrin werden soll?

Aber noch bin ich nicht Herrin, und ich kann keinen Schritt zu dem Ende thun, bevor ich nicht Antwort aus meinen Brief erhalten habe und weiß, daß Midwinter aus dem Wege ist. Geduld! Geduld! Ich muß suchen, mich an meinem Klavier zu vergessen. Die Mondschein-Sonate liegt dort aufgeschlagen auf dem Notenpulte und lockt mich zu sich. Ob ich wohl den Muth habe, sie zu spielen? Oder wird sie mich, wie neulich, mit ihrem geheimnißvollen Grausen schaudern machen?

Fünf Uhr. Ich habe seine Antwort. Mein leisester Wunsch ist ihm Befehl. Er ist fort und schickt mir seine Londoner Adresse. »Zwei Punkte sind es«, schreibt er, »die mich zum Theil damit aussöhnen, Dich zu verlassen. Erstens, weil Du es willst und es nur auf kurze Zeit ist; zweitens, weil ich in London Maßregeln treffen zu können glaube, durch Arbeit mein Einkommen zu erhöhen. Für mich selbst hat das Geld nie großen Werth gehabt, aber Du kannst Dir keine Vorstellung machen, wie sehr ich bereits um meines Weibes willen Luxus und Genüsse des Lebens zu schätzen beginne, wie sie das Geld verschaffen kann?

Der arme Junge! Fast wollte ich, ich hätte nicht an ihn geschrieben; ich wollte fast, ich hätte ihn nicht von mir fortgeschickt.

Wenn Mutter Oldershaw diese Seite meines Tagebuchs sähe! Ich habe heute Morgen einen Brief von ihr erhalten, in dem sie mich an meine Verpflichtungen gegen sie erinnert und mir sagt, sie vermuthe, es gehe hier Alles, wie es nicht gehen solle. Immerhin mag sie vermuthen. Ich werde mir nicht die Mühe nehmen, ihr zu antworten, in meiner gegenwärtigen Gemüthsverfassung kann ich mich von dem alten Geschöpfe nicht quälen lassen.

Ein herrlicher Nachmittag; ein Spaziergang thut mir noth, ich darf nicht an Midwinter denken. Soll ich meinen Hut aufsetzen und sofort mein Glück im Herrnhause versuchen? Alles ist mir günstig. Ich werde von keinem Spione mehr verfolgt und kein Advocat ist jetzt da, der mir den Eingang verwehrt. Bin ich heute schön genug? Nun ja, schön genug, um einem kleinen, schlumpigen, einfältigen, sommerfleckigen Geschöpf die Spitze zu bieten, das auf der Schulbank sitzen und an ein Bret geschnallt liegen sollte, um seinen krummen Rücken gerade zu machen.

Acht Uhr. Eben bin ich aus dem Herrnhause zurück. Ich habe ihn gesehen und gesprochen, und das Ende davon läßt sich in vier deutlichen Worten sagen: es ist mir mißglückt. Ich habe ebenso wenig Aussicht, Mrs. Armadale auf Thorpe-Ambrose als Königin von England zu werden.

Soll ich das der Oldershaw schreiben? Soll ich nach London zurückkehren? Nicht eher, als bis ich zu weiterer Ueberlegung Zeit gehabt habe. Auf der Stelle nicht.

Die Geschichte ist mir also fehlgeschlagen, und zwar, obschon alle Umstände mir günstig waren. Ich traf ihn allein auf der Auffahrt vor dem Hause. Er war entsetzlich bestürzt, aber zugleich sehr bereit, mich anzuhören. Zuerst versuchte ich’s ganz ruhig mit ihm, dann mit Thränen und allem Zubehör. Ich stellte mich ihm in der Rolle des armen, schuldlosen Weibes dar, das er zu kränken das Werkzeug gewesen sei. Ich verwirrte, ich interessierte, ich überzeugte ihn. Ich ging zu dem rein christlichen Theile meiner Botschaft über und sprach mit solchem Gefühl von seiner Trennung von seinem Freunde, für die ich unschuldigerweise verantwortlich sei, daß ich sein unausstehliches rothes Gesicht ganz bleich machte und ihn zu der Bitte veranlaßte, ihn nicht zu betrüben. Doch welche Gefühle ich auch immer in ihm erregte, sein altes Gefühl für mich vermochte ich nicht wieder zu erwecken. Ich sah dies in seinen Augen, wenn er mich ansah; ich fühlte es an seinen Fingern, als wir uns die Hände schüttelten Wir schieden in Freundschaft, aber auch weiter nichts.

Habe ich darum einen Morgen nach dem andern der Versuchung widerstanden, wenn ich wußte, daß Sie allein im Park waren, Miß Milroyß Ich habe Ihnen eben Zeit gelassen, sich einzuschleichen und meine Stelle in Armadales guter Meinung einzunehmen, nicht wahr? Noch nie habe ich einer Versuchung widerstanden, ohne daß ich später ähnlich dafür zu büßen hatte! Wäre ich nur an dem Tage, da ich Sie verließ, meinen ersten Gedanken gefolgt, mein werthes Fräulein —— nun, nun, das ist jetzt einerlei. Ich habe die Zukunft vor mir; noch sind Sie nicht Mrs. Armadale! Und ich kann Ihnen noch eins sagen: wen er auch heirathen mag, Sie heirathet er nimmermehr. Wenn ich mich nicht anders an Ihnen räche, verlassen Sie sich darauf, hierin wenigstens werde ich mich rächen!

Zu meiner eigenen Verwunderung habe ich keinen meiner gewohnten Wuthanfälle. Das letzte Mal, daß ich bei so ernstlicher Aufregung vollkommen gelassen blieb, entstand etwas daraus, das ich selbst meinem geheimen Tagebuche nicht anzuvertrauen wage. Es sollte mich nicht überraschen, wenn auch jetzt etwas daraus entstünde.

Auf meinem Heimwege sprach ich bei Mr. Bashwood in der Stadt ein. Er war nicht zu Hause und ich hinterließ den Auftrag, daß er heute Abend herkommen solle, um mit mir zu sprechen. Ich will ihn sofort der Pflicht überheben, Armadale und Miß Milroy zu bewachen. Ich mag mir noch nicht über die Art und Weise klar sein, ihre Aussichten auf Thorpe-Ambrose ebenso gründlich zu zerstören, wie sie die meinigen zerstört hat, aber wenn die Zeit kommt und ich mir klar darüber bin, so weiß ich nicht, wie weit mein Gefühl der Beleidigung mich führen mag, und es dürfte unbequem und möglicherweise gar gefährlich sein, ein so hasenfüßiges Geschöpf wie Mr. Bashwood in mein Vertrauen gezogen zu haben.

Es will mich bedenken, als sei ich von alledem mehr angegriffen, als ich anfangs glaubte. Midwinter’s Geschichte beginnt mich wieder und zwar ohne allen Grund zu verfolgen.

Ein leises, schnelles, zitterndes Klopfen an der Hausthür! Ich weiß, wer dies ist. Keine Hand außer der des alten Bashwood könnte so anklopfen.

Neun Uhr. Eben bin ich ihn losgeworden. Er hat mich in Verwunderung gesetzt, indem er sich in einem neuen Charakter gezeigt hat.

Es scheint, er war, obgleich ich seiner dort nicht gewahr wurde, im Herrnhause, während ich mich in Armadales Gesellschaft befand. Er sah uns an der Auffahrt mit einander sprechen und hörte später, was die Diener sagten, die uns ebenfalls bemerkten. Die weise Ansicht im Souterrain geht dahin, daß wir uns »wieder vertragen« und daß der Herr mich schließlich doch wohl noch heirathen wird. »Er hat sich in ihr rothes Haar verliebt«, lautet die elegante Phrase, mit der man sich, in der Küche ausdrückte. »Das kleine Fräulein kann ihr’s darin nicht gleich thun und wird sich wohl packen müssen.« Wie ich die gemeine Ausdrucksweise der niederen Klassen hasse!

Mich dünkt, der alte Bashwood sah, während er mir dies erzählte, sogar noch Verwirrter und furchtsamer aus als gewöhnlich. Aber erst, nachdem ich ihm gesagt, daß er alle fernere Beobachtung Mr. Armadale’s und Miß Milroy’s für die Zukunft mir zu überlassen habe, kam ich dahinter, was ihm wirklich fehlte. Jeder Tropfen Blut in dem Körper des schwächlichen alten Menschen schien ihm ins Gesicht zu schießen. Er machte eine überwältigende Anstrengung; er sah wirklich aus, als ob er vor Angst vor seiner eigenen Verwegenheit todt niederfallen müsse; dennoch aber gelang es ihm, stammelnd und stotternd und während beide Hände an dem Rande seines scheußlichen großen Huts herumkneteten, die Frage herauszubringen: »Ich bitte um Verzeihung, Miß G—— G—— Gwilt! Sie wollen doch nicht w—— w—— wirklich Armadale heirathen?« Eifersüchtig —— wenn ich es je im Gesichte eines Mannes sah, so sah ich es in dem seinigen —— in seinem Alter wirklich eifersüchtig auf Armadale! Wäre ich in der Laune gewesen, so würde ich ihm ins Gesicht gelacht haben. So aber ward ich böse und verlor alle Geduld mit ihm. Ich sagte ihm, er sei ein alter Narr, und befahl ihm, sich ruhig seinen Geschäften zu widmen, bis ich ihm sagen ließe, daß ich seiner wieder bedürfe Wie immer fügte er sich, aber in seinen wässerigen alten Augen lag, als er sich von mir verabschiedete, ein unbeschreibliches Etwas, das ich bisher noch nie darin bemerkt habe. Man behauptet von der Liebe, sie bewirke allerlei seltsame Umwandlungen. Ist es denn wirklich möglich, daß die Liebe Mr. Bashwood so weit zum Manne gemacht hat, daß er mir zürnen kann?

Mittwoch. Meine Kenntniß von Miß Milroy’s Gewohnheiten erweckte gestern Abend einen Verdacht in mir, den aufzuklären mir heute Morgen wünschenswerth erschien.

Während meines Aufenthalts im Parkhäuschen pflegte sie vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Da ich häufig dieselbe Zeit zu meinen heimlichen Zusammenkünften mit Armadale gewählt hatte, fiel mir ein, meine frühere Schülerin werde wahrscheinlich meinem Beispiele folgen, und ich dürfte vielleicht einige neue Entdeckungen machen, wenn ich meine Schritte zur rechten Zeit dem Garten zu lenkte. Ich versagte mir meine Tropfen, um mich des rechtzeitigen Erwachens zu versichern, verbrachte demzufolge eine abscheuliche Nacht und war um sechs Uhr völlig bereit, in der frischen Morgenluft von meiner Wohnung nach dem Parkhäuschen zu spazieren.

Kaum hatte ich fünf Minuten auf der Parkseite der Gartenhecke gewartet, als ich sie herauskommen sah. Sie schien ebenfalls eine schlechte Nacht gehabt zu haben; ihre Augen waren schwer und roth und ihre Lippen und Wangen geschwollen, als ob sie geweint hätte. Sichtlich hatte sie etwas auf dem Herzen, etwas, das sie, wie sich bald herausstellte, aus dem Garten in den Park hinausführte. Sie schritt —— wenn man bei solchen Beinen wie die ihrigen von schreiten reden kann! —— gerade auf das Sommerhäuschen zu, öffnete die Thür, ging über die Brücke und mit immer schnelleren Schritten dem tief liegenden Theile des Parks zu, wo die Bäume am dichtesten stehen. Da sie ganz in Gedanken versunken war, so konnte ich ihr unbemerkt folgen, und als sie unter den Bäumen langsamer zu gehen anfing, war ich ebenfalls schon unter den Bäumen und fürchtete nicht von ihr gesehen zu werden.

Gleich darauf drang aus dem in einer Vertiefung des Bodens stehenden Unterholz das krachende, trampelnde Geräusch von schweren Füßen zu uns. Ich kannte diese Schritte ebenso gut wie sie: »Da bin ich«, sagte sie mit matter, leiser Stimme. Im Zweifel darüber, auf welcher Seite Armadale aus dem Unterholze herauskommen würde, hielt ich mich einige Schritte entfernt hinter den Bäumen versteckt. Er kam auf der entgegengesetzten Seite des Baums, hinter dem ich stand, aus der Vertiefung herauf. Sie setzten sich am Abhange auf den Rasen. Ich kauerte mich hinter dem Baume nieder, sah sie durchs Unterholz hindurch an und hörte ohne Mühe jedes Wort, das sie sprachen.

Die Unterhaltung begann damit, daß er bemerkte, sie sehe traurig aus; dann fragte er, ob sich im Parkhäuschen irgend etwas Unangenehmes ereignet habe. Die hinterlistige kleine Creatur verlor keine Zeit, den nothwendigen Eindruck auf ihn zu machen; sie begann zu weinen. Natürlich faßte er ihre Hand und versuchte in seiner plumpen, offenen Manier sie zu trösten. Nein, sie sei nicht zu trösten. Eine unerträgliche Perspective liege vor ihr, vor dem Gedanken daran habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Ihr Vater habe sie am vergangenen Abend auf sein Zimmer beschieden, habe über ihre Erziehung gesprochen und ihr unumwunden gesagt, daß sie in Pension gehen müsse. Er habe die Wahl einer solchen schon getroffen und die Bedingungen seien festgestellt, und sobald ihre Garderobe in Ordnung gebracht sein werde, solle sie fortgeschickt werden. »Solange jene verhaßte Miß Gwilt im Hause war«, sagte diese musterhafte junge Person, »wäre ich gern zur Schule gegangen, ja ich wünschte es. Jetzt aber ist Alles anders, jetzt sehe ich die Sache nicht mehr in demselben Lichte; ich fühle mich zu alt für die Schule. Es bricht mir das Herz, Mr. Armadale.« Hier hielt sie inne, als ob sie noch mehr hätte sagen wollen, und warf ihm s einen Blick zu, der dem Satz deutlich die Worte hinzufügt« »Es bricht mir das Herz, Mr. Armadale, mich jetz, da wir wieder Freunde sind, von Ihnen zu trennen!« Was offene, unverschämte Frechheit betrifft, deren ein erwachsenes Frauenzimmer sich schämen würde, so geht doch nichts über die der jungen Mädchen, deren Bescheidenheit heutzutage von den ekelhaften häuslichen Sentimentalisten so beharrlich hervorgehoben wird!

Selbst der Tölpel Armadale verstand sie Nachdem er sich in einem Wortlabyrinth verirrt hatte, das nirgendwohin führte, umschlang er ihre, man kann kaum sagen ihre Taille, denn sie hat keine, also die Stelle, wo das letzte Hestel ihres Kleides sitzt, und machte ihr, um ihr eine Zuflucht gegen die Schmach zu bieten, in ihrem Alter noch in die Schule geschickt zu werden, mit deutlichen Worten einen Heirathsantrag.

Hätte ich sie in diesem Augenblicke beide umbringen können, wenn ich meinen kleinen Finger aufgehoben, so bezweifle ich keine Sekunde, daß ich denselben ohne Bedenken diese Bewegung hätte machen lassen. Wie die Sachen aber standen, wartete ich blos ab, was Miß Milroy sagen würde.

Sie schien es für nothwendig zu halten, da sie vermuthlich fühlte, daß sie ohne Vorwissen ihres Vaters mit ihm zusammengekommen war, und sich erinnerte, wie ich ihr in Mr. Armadales guter Meinung vorangegangen, ihre Würde durch einen Ausbruch tugendhafter Entrüstung zu behaupten. Sie wundere sich, wie er nach seinem Benehmen gegen Miß Gwilt und nachdem ihr Vater ihm den Zutritt zu seinem Hause versagt, noch an so etwas denken könne! Wolle er sie etwa fühlen lassen, wie unverzeihlich sie vergessen habe, was sie sich selbst schuldig sei? Sei es denn eines Gentleman würdig, etwas vorzuschlagen, von dem er ebenso wohl wie sie wisse, daß es unmöglich wäre? Und so weiter und so weiter. Jeder Mensch mit einem Gehirn im Kopfe würde sofort begriffen haben, was diese Tirade in Wirklichkeit zu bedeuten habe, Armadale aber nahm sie so ernstlich auf, daß er sich wirklich zu vertheidigen suchte. In seiner hastigen, tölpelhaften Art erklärte er, daß er es völlig ernstlich meine; er und ihr Vater könnten sich versöhnen und wieder Freunde werden; und sollte der Major darauf bestehen, ihn als einen Fremden zu behandeln, so seien schon häufig junge Leute mit einander entflohen, um sich zu heirathen, und die Aeltern, die ihnen vorher nicht hätten verzeihen wollen, hätten ihnen nachher doch vergeben. Ein so unerhört offenes Courmachen ließ Miß Milroy natürlich nur die Alternative, entweder zu bekennen, daß sie nein gesagt, während sie ja gemeint habe, oder zu einem abermaligen Ausbruche von Entrüstung ihre Zuflucht zu nehmen. »Wie können Sie sich unterstehen, Mr. Armadale! Verlassen Sie mich augenblicklich! Es ist rücksichtslos es ist herzlos, es ist geradezu schändlich, so zu mir zu sprechen!» Und so weiter und so weiter. Es scheint unglaublich, aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß er Narr genug war, sie beim Worte zu nehmen. Er bat sie um Verzeihung und ging fort, wie ein Kind, das man in den Winkel schickt, der verachtungswürdigste Gegenstand in Gestalt eines Mannes, der je mit Augen erblickt ward!

Sie blieb, nachdem er gegangen war, um sich wieder zu beruhigen, und ich wartete hinter den Bäumen, um zu sehen, wie ihr dies gelingen werde. Ihre Augen wandten sich schlau dem Pfade zu, auf dem er sie verlassen hatte. Sie lächelte (bei einem Munde. wie dem ihrigen, sollte man vielmehr feixen sagen), that ein paar Schritte auf den Fußspitzen, um ihm nachzublicken, wandte sich wieder um und brach plötzlich in Thränen aus. Ich lasse mich nicht so leicht hintergehen wie Armadale und sah deutlich genug, was dies Alles zu bedeuten habe.

Morgen, dachte ich bei mir, wirft Du Dich ganz zufällig wieder im Park einfinden, mein Fräulein. Am Tage darauf wirft Du ihn dahin bringen, daß er Dir zum zweiten Male einen Heirathsantrag macht. Den Tag darauf wird er auf das Thema von den Entführungsheirathen zurückkommen, und Du wirst nur eine kleidsame Verwirrung an den Tag legen. Und den folgenden Tag wirst Du, wenn er einen Plan in Vorschlag zu bringen hat und Deine Garderobe zum Einpacken für Deine Reise zur Pension bereit ist, ihn anhören. Ja, ja, wo es sich um ein Weib handelt, ist die Zeit stets auf der Seite des Mannes, wenn nur der Mann Geduld genug besitzt, um sich von der Zeit helfen zu lassen.

Sie ahnte durchaus nicht, daß ich sie betrachtet hatte, und ging nach dem Parkhäuschen zurück. Ich blieb unter den Bäumen und überlegte. Die Wahrheit zu gestehen, fühlte ich mich von dem, was ich gehört und gesehen, in einer Weise ergriffen, die nicht leicht zu beschreiben ist. Die ganze Geschichte stellte sich mir dadurch in neuem Lichte dar. Es ward mir klar, was ich bis heute Morgen nie geahnt hatte, daß sie ihn wirklich liebt.

Wie schwer meine Verpflichtung gegen sie immer sei, nunmehr ist keine Gefahr vorhanden, daß ich mich derselben nicht bis auf den letzten Heller entledige. Es wäre keine Kleinigkeit für mich gewesen, mich zwischen Miß Milroy und ihren Ehrgeiz zu stellen, eine der ersten Damen der Grafschaft zu werden, aber wo es sich um ihre erste Liebe handelt, mich zwischen Miß Milroy und den Wunsch ihres Herzens zu drängen, das ist mir unendlich mehr Werth. Soll ich meiner eigenen Jugend gedenken und sie schonen? Nein! Sie hat mich der einzigen Aussicht beraubt, die Kette zu zersprengen, die mich an eine Vergangenheit fesselt, welche zu fürchterlich ist, als daß ich daran denken möchte. Ich sehe mich in eine Lage zurückgeschleudert, mit der verglichen die Stellung einer Ausgestoßenen auf der Straße erträglich, ja beneidenswerth ist. Nein, Miß Milroy, nein, Mr. Armadale, keins von Euch beiden will ich schonen.

Schon einige Stunden bin ich wieder heim. Ich habe nachgesonnen und es ist nichts dabei herausgekommen. Seit ich vorigen Sonntag jenen seltsamen Brief von Midwinter erhalten, hat meine gewohnte Gewandtheit in dringenden Verlegenheiten mich gänzlich im Stich gelassen. Wenn ich nicht an ihn oder seine Geschichte denke, ist mir’s, als wäre mein Geist völlig betäubt. Ich, die ich bei andern Gelegenheiten stets gewußt, was ich zu thun hatte, weiß nicht, was ich jetzt beginnen soll. Natürlich wäre es leicht genug, Major Milroy von dem Vorhaben seiner Tochter zu unterrichten. Aber der Major hat seine Tochter lieb; dem jungen Armadale ist daran gelegen, sich mit ihm auszusöhnen. Armadale ist reich und angesehen und bereit, sich dem älteren Manne zu fügen, und früher oder später werden sie wieder Freunde werden, und das Ende davon wird die Heirath sein. Eine Warnung für den Major bereitet ihnen blos eine augenblickliche Verlegenheit, das ist nicht der Weg, sie gänzlich von einander zu scheiden.

Welches ist der Weg? Ich kann ihn nicht sehen. Ich möchte mir das Haar vom Kopfe reißen! Das Haus möchte ich niederbrennen. Wäre die ganze Welt mit Schießpulver unterminiert, so möchte ich einen Funken hineinwerfen und die ganze Welt in die Luft sprengen, so wüthend, so rasend bin ich über mich, daß ich den Weg nicht sehen kann!

Der arme liebe Midwinter! Ja »liebe«. Meinetwegen. Ich bin einsam und hilflos. Es verlangt mich nach Jemand, der sanft und liebevoll ist und viel aus mir macht; ich wollte, ich hätte seinen Kopf wieder an meiner Brust; ich denke stark daran, nach London zu reisen und ihn zu heirathen. Bin ich verrückt? Ja, alle Leute, die so elend sind wie ich, sind verrückt. Ich muß ans Fenster gehen, um frische Luft zu schöpfen. Soll ich hinaus springen? Nein, das entstellt so, und die Leichenschau läßt es so viele Leute sehen.

Die Luft hat mich belebt. Ich beginne mich zu erinnern, daß ich wenigstens die Zeit auf meiner Seite habe. Niemand außer mir weiß etwas von ihren geheimen Zusammenkünften in der ersten Morgenfrühe im Park. Versucht der eifersüchtige alte Bashwood, der zu Allem listig und verschlagen genug ist, etwa in seinem eigenen Interesse dem jungen Armadale aufzulauern, so wird er dies zur gewohnten Zeit thun, wenn er sich nach seiner Expedition verfügt. Er weiß nichts von Miß Milroy’s Morgengewohnheiten und wird nicht eher an Ort und Stelle sein, als bis Armadale bereits nach seiner Wohnung zurückgekehrt ist. Ich kann immer noch eine Woche warten und ihnen auflauern und selbst den Augenblick wählen, mich dazwischen zu legen, sowie ich irgendwie Gefahr sehe, daß er ihr Zögern überwindet und sie ja sagen will.

Und so warte ich hier, ohne zu wissen, wie die Sache in London mit Midwinter enden wird, während meine Börse immer leerer wird, sich keine Aussicht auf neue Schülerinnen bietet, dieselbe wieder zu füllen, und Mrs. Oldershaw sicherlich auf Rückzahlung ihres Geldes bestehen wird, sowie sie erfährt, daß mir die Sache fehlgeschlagen ist; ohne Aussichten, Freunde oder Hoffnungen irgend welcher Art —— ein verlorenes Weib, wenn es je ein solches gab. Nun, ich sage es noch einmal und noch einmal und noch einmal —— meinetwegen! Hier bleibe ich, und wenn ich die Kleider vom Leibe verkaufen und mich vermiethen muß, um den Bauernlümmeln in der Schenke vorzuspielen; hier bleibe ich, bis der Augenblick kommt und ich den Weg sehe, Armadale und Miß Milroy auf immer von einander zu trennen!

Sieben Uhr. Sind Zeichen vorhanden, daß der Augenblick herannaht? Ich weiß es kaum, jedenfalls gewahre ich Zeichen von einer Veränderung meiner Stellung in der Umgegend.

Zwei der ältesten und häßlichsten der vielen alten und häßlichen Damen, die sich meiner Sache annahmen, als ich Major Milroy’s Haus verließ, haben mir so eben einen Besuch gemacht, wobei sie sich mit der unerträglichen Dreistigkeit mildthätiger Engländerinnen als eine Deputation von meinen Gönnerinnen vorstellten. Wie es scheint, ist die Nachricht von meiner Aussöhnung mit Armadale aus der Bedientenstuhe des Herrnhauses bis nach der Stadt gedrungen und hat folgendes Resultat herbeigeführt. Die einstimmige Ansicht meiner Gönnerinnen (und auch des Majors, der zu Rathe gezogen worden) ist, daß ich mit der unverzeihlichsten Unvorsichtigkeit gehandelt habe, indem ich nach Armadale’s Hause ging und mich dort in freundschaftlicher Weise mit einem Manne unterhielt, dessen Betragen gegen mich seinen Namen in der ganzen Nachbarschaft zum Schandworte gemacht. Mein gänzlicher Mangel an Selbstachtung in dieser Sache hat das Gerücht hervorgerufen, daß ich schlau mit meiner Schönheit Handel treibe und daß es ebenso wahrscheinlich sei als nicht, daß ich Armadale schließlich dennoch mich zu heirathen zwinge. Meine Gönnerinnen sind natürlich zu wohlwollend, um dies zu glauben. Sie fühlen nur die Notwendigkeit, mir in christlichem Geiste Vorstellungen zu machen und mich zu bedeuten, wie eine zweite ähnliche Unvorsichtigkeit alle meine besten Freunde im Orte zwingen würde, mir das Wohlwollen und die Protection zu entziehen, deren ich mich jetzt erfreue.

Nachdem sie sich dergestalt abwechselnd gegen mich ausgesprochen hatten —— offenbar nach mehrfachen Proben —— richteten meine beiden Gorgonenbesucherinnen sich in ihren Sesseln auf und sahen mich an, als hätten sie sagen wollen: »Gewiß haben Sie oft von der Tugend gehört, Miß Gwilt, aber wir glauben nicht, daß Sie dieselbe wirklich je in ihrer vollen Blüte erblickt haben, bis wir kamen und Ihnen unsern Besuch machten.«

Da ich sah, daß sie darauf erpicht waren, mich zu reizen, so beherrschte ich mich und antwortete ihnen in meiner süßesten, sanftesten, feinsten Manier. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß die Frömmigkeit einer gewissen Klasse von respectablen Leuten Sonntags elf Uhr Vormittags, wenn sie ihr Gebetbuch öffnen, beginnt und um ein Uhr, wenn sie es schließen, wieder aufhört. Christen dieser Sorte kann man durch nichts so sehr in Verwunderung setzen und beleidigen, als wenn man sie an einem Wochentage an ihr Christenthum erinnert. In diesem Sinne sprach ich.

»Was habe ich Unrechtes gethan?« fragte ich unschuldig. »Mr. Armadale hat mich gekränkt und ich bin zu ihm gegangen und habe ihm vergeben. Sicherlich muß hier ein Irrthum obwalten, meine Damen. Sie können doch wahrhaftig nicht gekommen sein, um mir in christlichem Geiste vorzuwerfen, daß ich eine christliche Handlung begangen habe?«

Die beiden Gorgonen erhoben sich. Ich glaube fest, gewisse Frauenzimmer haben nicht nur Katzengesichter, sondern auch Katzenschwänze. Ich bin fest überzeugt, daß die Schwänze dieser besonderen beiden Katzen langsam unter ihren Röcken wedelten und zur vierfachen Größe ihres ursprünglichen Umfangs anschwollen.

«.Aus Heftigkeit waren wir vorbereitet, Miß Gwilt«, sagten sie, »aber nicht auf Gotteslästerung. Wir wünschen Ihnen guten Abend.«

Damit verließen sie mich und damit schwindet Miß Gwilt aus der protegierenden Beachtung der Nachbarschaft.

Was nur aus diesem jämmerlichen kleinen Streite entstehen wird? Eins jedenfalls, das ich bereits wahrnehmen kann. Der Bericht davon wird zu Miß Milroy gelangen. Sie wird darauf bestehen, daß Armadale sich rechtfertigt, und Armadale wird sie schließlich von seiner Unschuld überzeugen, indem er ihr einen abermaligen Heirathsantrag macht. Dies wird sehr wahrscheinlicher weise die Dinge zwischen ihnen beschleunigen, wenigstens würde dies bei mir der Fall sein. Wäre ich an ihrer Stelle, so würde ich zu mir sprechen: »Ich will ihn mir sichern, solange ich es noch im Stande bin? Wenn es morgen früh nicht regnet, gedenke ich abermals eine Frühpromenade nach dem Parke zu machen.

Mitternacht. Da ich in Hinsicht auf den frühen Morgenspaziergang meine Tropfen nicht nehmen kann, will ich nur alle Hoffnung auf Schlaf aufgeben und mein Tagebuch fortsetzen. Ja selbst wenn ich die Tropfen nähme, würde diese Nacht mein Kopf wohl nicht recht ruhig auf meinem Kissen liegen. Seit die kleine Aufregung infolge des Auftritts mit meinen Gönnerinnen sich gelegt hat, werde ich von Zweifeln geplagt, die mir unter allen Umständen nur wenig Aussicht auf Ruhe gewähren.

Ich kann mir nicht erklären, wie es kommt, aber die letzten Worte jenes alten Unthiers von einem Advocaten zu Armadale gehen mir wieder im Kopfe herum. Mr. Bashwood berichtet dieselben in seinem Briefe folgendermaßen: »Es ist möglich, daß eines Andern Neugierde die Sache da, wo Sie und ich dieselbe fallen lassen, aufnimmt und schließlich noch ein helles Licht auf Miß Gwilt wirft.«

Was will er damit sagen? Und was meinte er später, als er den alten Bashwood auf dem Fahrwege einholte, indem er ihm empfahl, seine Neugierde zu befriedigen? Glaubt dieser verhaßte Pedgift wirklich an die Möglichkeit —— Lächerlich! Ich brauche das schwache alte Geschöpf nur anzusehen, und ohne meine Erlaubniß wagt es nicht den Finger aufzuheben. Er sollte in meine Vergangenheit einzudringen wagen! Leute, die zehnmal soviel Verstand und hundertmal soviel Muth hatten, haben es versucht und sind ebenso klug wieder abgestanden davon, wie sie es angefangen hatten.

Indessen weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, hätte ich mich neulich abends, als der alte Bashwood hier war, etwas mehr beherrscht Und vielleicht dürfte es noch besser sein, wenn ich ihn morgen sähe und wieder zu Gnaden aufnähme, indem ich ihm etwas für mich zu thun gäbe. Gesetzt, ich gäbe ihm den Auftrag, den beiden Pedgifts aufzulauern, ob sie irgendwie Versuche machen, ihren Verkehr mit Armadale zu erneuern? Das ist zwar gar nicht wahrscheinlich, aber der Auftrag würde dem alten Bashwood schmeichelhaft sein, da er einen Beweis seiner Wichtigkeit für mich darin sehen würde, und außerdem die vortreffliche Wirkung haben, ihn anderweitig zu beschäftigen.

Donnerstag früh neun Uhr. So eben bin ich aus dem Parke zurückgekehrt.

Diesmal bin ich ein guter Prophet gewesen. Zur selben frühen Stunde waren sie an derselben versteckten Stelle unter den Bäumen beisammen und Miß von meinem Besuche im Herrnhause auf das genaueste unterrichtet, welchem Ereignisse sie ihren Ton anpaßte.

Nachdem er ein paar Dinge von mir gesagt, die ich ihm nicht vergessen werde, wählte Armadale den Weg, sie von seiner Treue zu überzeugen, zu dem er sich, wie ich im voraus wußte, getrieben sehen würde. Er wiederholte seinen Heirathsantrag diesmal mit vortrefflichem Erfolge. Darauf folgten Thränen, Küsse und Betheuerungen und meine ehemalige Schülerin schüttete endlich so unschuldig wie möglich ihr Herz aus. Zu Hause sei es ihr jetzt so unerträglich, daß es nur um einen Grad weniger schrecklich sei, als in die Pension geschickt zu werden. Ihre Mutter werde mit jedem Tage heftiger und unlenksamer. Die Wärterin, die einzige Person, die noch einen Einfluß auf sie gehabt, sei ihrer überdrüssig fortgegangen. Ihr Vater vertiefe sich immer mehr in seine Uhr und bestärke sich immer mehr in seinem Entschlusse, sie aus dem Hause zu schicken, und zwar wegen der traurigen Scenen, die jetzt Tag für Tag mit ihrer Mutter stattfänden. Ich ertrug diese häuslichen Enthüllungen in der Hoffnung, daß sie noch zu ihren Plänen für die Zukunft kommen würden, und meine Geduld sah sich, nachdem sie in nicht Unbedeutendem Grade auf die Probe gestellt worden war, endlich auch belohnt.

Wie dies einem solchen Dummkopf wie Armadale gegenüber nicht mehr als natürlich war, ging der erste Vorschlag von dem Mädchen aus. Miß Milroy sprach eine Idee aus, die ich, wie ich bekennen muß, nicht erwartet hatte. Sie schlug vor, Armadale möge an ihren Vater schreiben, und was noch gescheidter von ihr war, sie beugte aller Gefahr, daß er die Sache verpfuschte, vor, indem sie ihm sagte, was er schreiben müsse. Er sollte seine tiefe Bekümmerniß über die Entfremdung des Majors ausdrücken und sich die Erlaubniß erbittert, ihm im Parkhäuschen aufwarten und einige Worte zu seiner Rechtfertigung vorbringen zu dürfen. Das war Alles. Der Brief sollte noch nicht an diesem Tage abgesandt werden, denn der Major werde heute mit den Bewerberinnen um die Stelle der abgegangenen Wärterin bei Mrs. Milroy beschäftigt sein, und dies werde den Major bei seiner Abneigung gegen solche Dinge in keine günstige Stimmung für Armadale’s Gesuch versetzen. Der Freitag werde der rechte Tag für die Absendung des Briefes sein, und sollte die Antwort unglücklicherweise nicht günstig ausfallen, so könnten sie sich Montag früh wieder treffen. »Ich hintergehe meinen Vater so ungern, er ist stets so gütig gegen mich gewesen, und wenn Ihr nur erst wieder Freunde seid, Allan, dann wird es nicht länger nöthig sein, ihn zu täuschen.« Dies waren die letzten Worte, welche die kleine Heuchlerin sprach, ehe ich sie verließ.

Was wird der Major thun? Der Sonnabend-Morgen wird dies zeigen. Ich will nicht mehr daran denken, bis dieser Morgen da und vorüber ist. Noch sind sie nicht Mann und Weib, und ich sage es noch einmal, obgleich mein Gehirn noch so rathlos ist wie nur je: Mann und Weib werden sie nimmer.

Auf meinem Heimwege traf ich Bashwood beim Frühstück mit seinem ärmlichen, alten, schwarzen Theetopfe, seinem Pfennigbrödchen, seinem einzigen Stückchen billiger, ranziger Butter und seinem geflickten, schmutzigen, kleinen Tischtuche. Es wird mir übel, wenn ich daran denke.

Ich schmeichelte und tröstete das elende alte Geschöpf, bis ihm die Thränen in den Augen standen und er vor Vergnügen förmlich erröthete. Mit der größten Bereitwilligkeit übernimmt er die Bewachung der beiden Pedgifts. Den älteren Pedgift beschreibt er als den halsstarrigsten Menschen von der Welt, wenn er einmal erzürnt ist; es wird ihn nichts zum Nachgeben bewegen, wenn nicht Armadale seinerseits ebenfalls nachgibt. Der jüngere Pedgift ist viel eher der Mann, um eine Aussöhnung zu versuchen. Dies wenigstens ist Bashwoods Ansicht. Es hat jetzt sehr wenig zu bedeuten, ob diese Aussöhnung stattfindet oder nicht. Das einzige Wichtige ist, daß ich meinen ältlichen Verehrer wieder fest an meine Schürzenbänder anbinde Und das ist geschehen.

Die Post ist heute spät, so eben erst angelangt und mit ihr ein Brief von Midwinter.

Es ist ein allerliebster Brief, ein Brief, der mich entzückt und bewegt, als ob ich wieder ein junges Mädchen wäre. Keine Vorwürfe darüber, daß ich ihm nicht geschrieben habe; kein deutlich ausgesprochenes Drängen, ihn zu heirathen. Er schreibt nur, um mir eine Neuigkeit mitzutheilen. Durch seine Rechtsanwälte ist ihm eine Aussicht auf eine Stelle als gelegentlicher Correspondent einer Zeitung eröffnet worden, die in London erscheinen soll. Diese Stelle wird ihn nöthigen, England zu verlassen und sich auf dem Continent aufzuhalten, was gerade seinen eigenen Wünschen für die Zukunft entsprechen würde; doch kann er den Vorschlag nicht eher ernstlich in Erwägung ziehen, als bis er sich versichert, daß derselbe auch meinen Wünschen entspricht. Er kennt keinen andern Willen als den meinigen und überläßt mir die Entscheidung, nachdem er mich von der Frist unterrichtet, binnen welcher seine Antwort gegeben werden muß. Das ist, falls ich meine Zustimmung dazu gebe, daß er England verläßt, natürlich die Zeit, in der er mich heirathen muß. Davon steht jedoch kein Wort in dem Briefe. Er erbittet sich nichts als den Anblick meiner Handschrift, damit er sich während unserer Trennung daran erquicken kann.

Dies ist der Brief, nicht sehr lang, aber so hübsch gefaßt.

Ich denke mir, ich durchschaue das Geheimniß seiner Passion, ins Ausland zu gehen. Noch immer spukt ihm die wilde Idee im Kopfe, Berge und Meere zwischen sich und Armadale zu legen. Als ob er sowohl als ich dem ausweichen könnten, was wir zu thun bestimmt sind —— wenn es wirklich eine Bestimmung gibt —— wenn wir ein paar hundert oder ein paar tausend Meilen zwischen uns und Armadale legten! Welche seltsame Inconsequenz und Albernheit! Und dennoch gefällt er mir mit seiner Inconsequenz und seiner Albernheit; denn sehe ich nicht klar, daß ich die Ursache von Allem bin? Wer führt diesen gescheidten Mann wider seinen Willen irre? Wer macht ihn so blind, daß er den Widerspruch in seinem eigenen Benehmen nicht sieht, der ihm im Verhalten Anderer so klar erscheinen würde? Welches Interesse er mir einflößt! Wie gefährlich nahe ich daran bin, meine Augen vor der Vergangenheit zu schließen und mir zu gestatten, ihn zu lieben! Ob nur Eva ihren Adam inniger denn je liebte, nachdem sie ihn überredet hatte, den Apfel zu essen? Ich an ihrer Stelle würde ihn vergöttert haben. (NB. Meinerseits einen allerliebsten kleinen Brief mit einem Kusse darin an Midwinter zu schreiben und ihn, da ihm Zeit mit der Einsendung seiner Antwort gelassen wird, ebenfalls um Zeit zu bitten, bevor ich ihm sage, ob ich mit ihm ins Ausland reisen will oder nicht.)

Fünf Uhr. Ein langweiliger Besuch von meiner Hauswirthin, die ein wenig schwatzen wollte und voll von Neuigkeiten war, die mich, wie sie meinte, interessiren würden.

Wie ich von ihr höre, ist sie mit Mrs. Milroy’s ehemaliger Wärterin befreundet und hat ihre Freundin heute Nachmittag nach dem Bahnhofe begleitet. Natürlich sprachen sie von dem, was im Parkhäuschen vorgeht, und im Verlauf des Gesprächs ward auch mein Name erwähnt. Ist der Angabe der Wärterin Glauben beizumessen, so bin ich völlig im Irrthume wenn ich es Miß Milroy in die Schuhe schiebe, Mr. Armadale nach London geschickt zu haben, um über mich Erkundigungen einzuziehen. Miß Milroy wisse in Wahrheit nichts von der Sache, und die ganze Geschichte habe ihren Ursprung in der wahnsinnigen Eifersucht ihrer Mutter. Der gegenwärtige unglückliche Zustand der Dinge im Parkhäuschen ist ebenfalls ganz derselben Ursache zuzuschreiben. Mrs. Milroy ist der festen Ueberzeugung, daß mein dauernder Aufenthalt in Thorpe-Ambrose mit meinem heimlichen Verkehr mit dem Major in Zusammenhang steht, den sie durchaus nicht zu entdecken vermag. Unter dem Einflusse dieser Ueberzeugung ist sie so unlenksam geworden, daß Niemand, wenn er sonst noch eine Zuflucht hat, es in ihrem Dienste auszuhalten im Stande ist, und der Major wird früher oder später, wie sehr ihm dies auch widerstreben mag, sie unter geeignete ärztliche Obhut stellen müssen.

Dies das Wesentliche von dem, was die langweilige Hauswirthin mir zu erzählen hatte. Es ist unnöthig, zu sagen, daß es mich nicht im mindesten interessierte. Selbst wenn die Behauptung der Wärterin Glauben verdiente, was ich noch immer bezweifle, so ist dies doch jetzt ohne Wichtigkeit. Ich weiß, daß Miß Milroy und Niemand anders als sie meine Aussichten, Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose zu werden, zerstört hat, und ich will auch weiter nichts wissen. Hat ihre Mutter wirklich allein den Versuch angestiftet, meine falsche Empfehlung bloßzustellen, so scheint sie jedenfalls jetzt dafür zu büßen. Und damit leben Sie wohl, Mrs. Milroy, und der Himmel behüte mich vor noch ferneren letzten Blicken in das Parkhäuschen durch die Brille meiner Hauswirthin!

Neun Uhr. Bashwood hat mich so eben verlassen, nachdem er mir Nachrichten aus dem Herrnhause überbracht. Der jüngere Pedgift hat wirklich´heute eine Aussöhnung versucht, jedoch vergeblich. Ich bin allein schuld an diesem Mißlingen. Armadale ist zur Versöhnung vollkommen bereit, wenn der ältere Pedgift allen fernem Anlaß zu Differenzen dadurch meiden will, daß er nie auf das Kapitel Gwilt zurückkommt. Dies ist aber nun zufälligerweise gerade diejenige Bedingung, die Pedgift’s Vater bei seiner Meinung von mir und meinem Thun nicht einzugehen für seine Pflicht halten würde. Und so bleiben Advocat und Client noch ebenso getrennt wie zuvor, und das Hinderniß der Pedgifts ist aus meinem Wege geräumt.

Was den älteren Pedgift betrifft, so hätte sich hier ein sehr unbequemes Hinderniß herausstellen können, sobald einer seiner Vorschläge zur Ausführung gelangt wäre, ich meine, sobald man einen Londoner Polizeibeamten zu meiner Beaugenscheinigung hergeschickt hätte. Selbst jetzt fragt es sich noch, ob es nicht vielleicht besser sein wird, wenn ich wieder den dichten Schleier vornehme, den ich stets in London und andern großen Städten trage. Der einzige bedenkliche Umstand dabei ist, daß es in diesem kleinen Klatschneste Verdacht erregen dürfte, wenn ich in diesem Sommerwetter plötzlich einen dichten Schleier zu tragen begönne.

Es ist fast zehn Uhr —— ich habe mich länger bei meinem Tagebuche aufgehalten, als ich glaubte. Mit Worten läßt sich nicht beschreiben, wie müde und erschöpft ich mich fühle. Warum nehme ich nicht meine Schlaftropfen und lege mich zur Ruhe? Morgen wird ja keine Zusammenkunft zwischen Armadale und Miß Milroy stattfinden, die mich zu frühem Aufstehen nöthigen könnte. Fürchte ich mich etwa seltsamerweise vor meinem Bette, gerade wenn ich seiner am meisten bedarf? Ich weiß es nicht —— ich fühle mich müde und unglücklich; ich sehe entsetzlich elend und alt aus. Ich könnte fast so thöricht sein, in Thränen auszubrechen.«

Wie die Nacht nur sein mag? Eine wolkige Nacht mit von Zeit zu Zeit durchbrechendem Monde und steigendem Winde. Eben kann ich ihn zwischen den unvollendeten Häusern am Ende der Straße stöhnen hören. Meine Nerven müssen etwas angegriffen sein. Ich erschrak so eben über einen Schatten an der Mauer und fand erst einige Augenblicke später Fassung genug, um zu bemerken, wo die Kerze stehe und daß der Schatten mein eigener war. Der Schatten erinnert mich an Midwinter, oder wenn nicht der Schatten, etwas Anderes. Ich muß mir seinen Brief noch einmal ansehen, dann will ich ganz gewiß zu Bette gehen.

Ich werde ihn schließlich noch lieben lernen. Wenn ich noch lange in diesem Zustande von Einsamkeit und Ungewißheit verbleibe —— unentschlossen, mir so Unähnlich! —— so werde ich ihn schließlich noch lieben lernen. Welche Tollheit! Als ob ich wirklich je wieder einen Menschen lieben könnte!

Gesetzt, ich faßte einen meiner plötzlichen Entschlüsse und heirathete ihn? So arm er ist, würde er mir doch wenigstens einen Namen und eine Stellung geben, wenn ich seine Gattin würde. Laß sehen, wie sein Name —— sein eigener Name —— sich ausnehmen würde, wenn ich diesen wirklich gegen den meinigen eintauschte.

»Mrs. Armadale!« Hübsch!

»Mrs. Allan Armadale!« Noch hübscher!

Meine Nerven müssen angegriffen sein. Da erschrecke ich jetzt über meine eigene Handschrift! Es ist so seltsam —— genug, um Jeden zu erschrecken. Die Gleichheit der beiden Namen ist mir noch nie zuvor so aufgefallen. Welchen von beiden ich immer heirathete, mein Name würde natürlich derselbe sein. Hätte ich den blonden Armadale im Herrnhause geheirathet, so wäre ich Mrs. Armadale gewesen, und ich kann noch jetzt Mrs. Armadale werden, wenn ich den dunkellockigen Allan in London heirathe. Es ist zum Tollwerden, wenn man es niederschreibt, zu fühlen, daß etwas daraus werden sollte, und dann zu sehen, daß eben nichts daraus wird.

Wie kann etwas daraus werden? Würde er, wenn ich nach London reiste und ihn, wie ich dies natürlich thun müßte, unter seinem wahren Namen heirathete, mich später unter solchem bekannt werden lassen? Bei allen seinen Gründen, seinen wahren Namen geheim zu halten, würde er darauf bestehen —— nein, dazu hat er mich zu lieb —— würde er mich anflehen, den Namen zu tragen, den er angenommen hat. Mrs. Midwinter! Entsetzlich! Und Ozias, wenn ich vertraulich mit ihm sprechen, ihn vertraulich anreden wollte, wie dies seiner Gattin zukommt. Schlimmer als entsetzlich!

Dennoch aber dürften Gründe vorhanden sein, ihm hierin zu willfahren, wenn er mich darum bäte. Gesetzt, der Lümmel im Herrnhause verließe diese Gegend als unverheiratheter Mann, und gesetzt, viele seiner Bekannten hörten von einer Mrs. Armadale, so würden sie sofort annehmen, daß diese seine Gattin sei. Selbst wenn sie mich wirklich sähen und er nicht selbst zugegen wäre, um widersprechen zu können, so würde seine eigene Dienerschaft sagen: »Wir wußten von Anfang an, daß sie ihn schließlich doch noch heirathen würde.« Und meine Gönnerinnen, die jetzt nach unserm Zanke gereizt und bereit sind, alles Mögliche von mir zu glauben, würden sotto voce in den Chor einstimmen: »Denken Sie sich nur, meine Liebe, das Gerücht, das uns so sehr empörte, hat sich in der That als begründet erwiesen.« Nein, wenn ich Midwinter heirathe, muß ich entweder meinen Gatten und mich selbst fortwährend in eine falsche Lage bringen, oder ich muß seinen wahren Namen, seinen hübschen, romantischen Namen an der Kirchenthür hinter mir zurücklassen.

Meinen Gatten! Als ob ich ihn wirklich heirathen wollte! Ich will ihn nicht heirathen, und damit ist die Sache abgemacht.

Halb elf Uhr. O, Himmel, wie meine Schläfe zucken und wie mir die müden Augen brennen! Da ist der Mond und sieht mich durchs Fenster an. Wie schnell die kleinen, zerstreuten Wolken vor dem Winde dahinfliegen! Welch seltsame Gestalten die kleinen Flecken gelben Lichts annehmen und schnell wieder verlieren! Kein Friede und keine Ruhe für mich, wohin ich immer blicke. Die Kerze sogar flackerte und selbst der Himmel scheint heute Abend rastlos.

»Zu Bett, zu Bett? wie Lady Macbeth sagt. Beiläufig möchte ich wohl wissen, was Lady Macbeth an meiner Stelle gethan hätte. Sowie sich ihr die ersten Verlegenheiten entgegenstellten, würde sie Jemand umgebracht haben. Wahrscheinlich Armadale.

Freitag Morgen. Eine Nacht Ruhe, Dank meinen Tropfen! Ich bin in besserer Stimmung zum Frühstück gekommen und habe einen Morgengruß in Gestalt eines Briefes von Mrs. Oldershaw empfangen.

Mein Schweigen hat seine Wirkung auf die Mutter Jesabel geübt. Sie schreibt es der wahren Ursache zu und zeigt endlich ihre Krallen. Wenn ich nicht im Stande bin, meinen Wechsel auf dreißig Pfund einzulösen, der nächsten Dienstag fällig ist, so wird ihr Rechtsanwalt auf ihre Instruction »das übliche Verfahren einschlagen«. Wenn ich ihn nicht einlösen kann! Nachdem ich heute meine Miethe bezahlt, werden mir kaum noch fünf Pfund übrig bleiben! Keine Spur von Aussicht, daß ich mir von jetzt bis nächsten Dienstag noch Geld verdienen kann, und ich habe in dieser Gegend keinen einzigen Freund, der mir einen Sixpence leihen würde. Zu den Schwierigkeiten, die mich umlagern, brauchte nur noch eine zu kommen, um vollständig zu sein, und auch diese ist gekommen.

Natürlich würde mir Midwinter helfen, wenn ich es über mich gewönne, ihn zu bitten. Aber das heißt soviel als ihn heirathen. Bin ich wirklich so hilflos, um so zu enden? Nein, noch nicht.

Mein Kopf ist mir schwer; ich muß in die frische Luft hinaus und überlegen.

Zwei Uhr. Ich glaube, ich habe mich von Midwinters Aberglauben anstecken lassen. Ich beginne zu ahnen, daß die Ereignisse mich immer näher und näher einem Ziel zutreiben, das ich noch nicht erkenne, von dem ich aber fest überzeugt bin, daß es jetzt nicht mehr fern ist.

Ich bin von Miß Milroy beschimpft, geradezu vor Zeugen beschimpft worden.

Nachdem ich, wie gewöhnlich, an dem einsamsten Orte, den ich finden konnte, einen Spaziergang gemacht und ohne besonderen Erfolg nachgesonnen, was ich zunächst anfangen solle, erinnerte ich mich, daß es mir an Briefpapier und Federn fehle, und ging deshalb zur Stadt zurück und nach einem Papierladen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn ich mir das Fehlende hätte holen lassen. Allein ich war meiner und meines einsamen Zimmers überdrüssig und machte den kleinen Einkauf selbst, und zwar aus keinem bessern Grunde, als um etwas zu thun zu haben.

Eben war ich in den Laden eingetreten und forderte das Papier, als noch eine Käuferin hereinkam. Wir blickten beide auf und erkannten einander auf der Stelle.

Außer dem Manne, der mich bediente, standen noch eine Frau und ein Knabe hinter dem Ladentische. Die Frau sagte höflich zu der zweiten Käuferin »Womit kann ich Ihnen aufwarten, Miß Milroy?« Diese erwiderte nachdrücklich, indem sie mir gerade ins Gesicht sah: »Für jetzt mit nichts. Ich will wiederkommen, sobald der Laden leer ist.«

Sie ging hinaus. Die drei Leute im Laden sahen mich schweigend an. Ich meinerseits zahlte schweigend für meine Einkäufe und ging dann ebenfalls. Ich weiß nicht, was ich gefühlt haben würde, hätte ich mich in meiner gewohnten Stimmung befunden. In dem sorgenvollen, unruhigen Zustande, in dem ich jetzt bin, fühlte ich mich, das kann ich nicht leugnen, empfindlich getroffen.

In der Schwachheit des Augenblicks, denn weiter war es nichts, war ich auf dem Punkte, ihre kleinliche Bosheit mit ebenso kleinlicher Bosheit zu vergelten. Wirklich war ich auf dem Wege nach der Wohnung des Majors bis ans Ende der Straße gegangen. in der Absicht, ihn in das Geheimniß der Morgenspaziergänge seiner Tochter einzuweihen, ehe mir bessere Einsicht zurückkehrte. Sowie ich mich abkühlte, wandte ich augenblicklich um und schlug den Heimweg ein. Nein, nein, Miß Milroy, ein bloßes vorübergehendes Unheil, das nur damit enden würde, daß Ihr Vater Ihnen verzeihen und Armadale aus seiner Nachsicht Vortheil ziehen würde, reicht nicht im entferntesten hin, meine Schuld an Sie abzutragen. Ich vergesse nicht, daß Ihr Herz an Armadale hängt und daß der Major, was er auch sagen mag, Ihnen schließlich doch immer den Willen gelassen hat. Mein Kopf mag wohl schwächer werden, aber ganz dumm ist er noch nicht.

Inzwischen wartet Mutter Oldershaws Brief auf Antwort, und da sitze ich und weiß noch immer nicht, was ich in der Sache beginnen soll. Soll ich ihr antworten oder nicht? Für den Augenblick ist es noch gleichgültig, denn noch bleiben mir mehrere Stunden, ehe die Post abgeht.«

Soll ich Armadale bitten. mir das Geld zu leihen? Es sollte mir ein Hochgenuß sein, wenigstens etwas aus ihm herauszubekommen, und ich glaube, daß er bei seinem gegenwärtigen Verhältnisse zu Miß Milroy. Alles thun würde, mich loszuwerden. Ziemlich gemein von mir. Bahl Wer macht sich wohl etwas daraus, ob er in den Augen eines Mannes gemein erscheint, den man verachtet und haßt, wie ich Armadale verachte und hasse.

Und dennoch sträubt sich mein Stolz oder sonst etwas, ich weiß nicht was, dagegen.

Halb drei Uhr, erst halb drei. O über die fürchterliche Langeweile dieser langen Sommertage! Ich kann nicht länger mehr denken; ich muß etwas thun, mir das Herz zu erleichtern. Kann ich mich ans Klavier setzen? Nein; dazu tauge ich nicht. Arbeiten? Nein; bei der Nadel würde ich wieder zu denken beginnen. Ein Mann nähme an meiner Stelle seine Zuflucht zum Trinken. Ich bin kein Mann und kann nicht trinken. Ich will mich mit meinen Kleidern unterhalten und meine Garderobe ordnen.

~~~~~~~~~~~~~~~

Ist eine Stunde vergangen? Ueber eine Stunde. Mir scheint es eine Minute. Ich kann nicht zurückblättern in diesem Buche, aber ich weiß, daß ich die Worte irgendwo geschrieben habe. Ich weiß, daß ich fühlte, wie ich mich immer mehr und mehr einem Ziele nähere, das mir noch verborgen war. Dieses Ziel ist jetzt nicht mehr verborgen. Die Wolke ist von meinem Geiste gewichen, die Blindheit von meinen Augen hinweggenommen. Ich sehe es! Ich sehe es!

Es ist zu mir gekommen, ich habe es nicht gesucht. Mit ruhigem Gewissen könnte ich auf meinem Sterbebette schwören, daß ich es nicht gesucht habe.

Ich habe blos meine Sachen geordnet; ich bin so frivol, so nichtsnutzig beschäftigt gewesen wie das müßigste, frivolste Frauenzimmer von der Welt. Ich sah mir meine Kleider und meine Wäsche an. Was kann es Harmloseres geben? Kleine Kinder sehen ihre Kleider und ihre Wäsche an.

Es war ein so langer Sommertag und ich war meiner eigenen Gesellschaft so überdrüssig. Zuerst ging ich an meine Reisekoffer. Ich ordnete zunächst den großen Koffer, den ich meistens offen lasse, und dann ging ich an den kleinen, den ich stets verschließe.

Vom Einen zum Andern kam ich endlich zu dem Paket von Briefen am Boden des Koffers, den Briefen des Mannes, für den ich einst Alles geopfert und erduldet habe, des Mannes, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Wohl hundertmal habe ich seine Briefe verbrennen wollen, aber ich habe es nie gethan. Diesmal sagte ich blos: »Ich will seine Briefe nicht lesen!« Und dann las ich sie.

Der Schurke! Der falsche, feige, herzlose Schurke! Was habe ich noch mit seinen Briefen zu schaffen? O des Jammers, ein Weib zu sein! O der Schmach, daß unsere Erinnerung an einen Mann uns verlocken kann, wenn doch unsere Liebe zu ihm todt und dahin ist! Ich las die Briefe, ich fühlte mich so einsam und unglücklich, daß ich die Briefe las.

Ich kam zu dem letzten, dem Briefe, den er schrieb, um mich zu ermuthigen, als die fürchterliche Zeit immer näher und näher heranrückte, dem Briefe, der mich wieder neu belebte, als in der elften Stunde mein Entschluß wankend geworden war. Ich las ihn Zeile für Zeile und kam zu folgenden Worten:

»Mit derlei Albernheiten, wie Du sie mir geschrieben, habe ich wirklich keine Nachsicht Du sagst, ich treibe Dich zu etwas an, das den Muth eines Weibes übersteigt. Thue ich das? Ich könnte Dich an eine Sammlung von Gerichtsverhandlungen in England sowohl als im Auslande beweisen, um Dir zu zeigen, daß Du völlig im Irrthume bist, aber eine solche Sammlung mag Dir. nicht erreichbar sein; deshalb verweise ich Dich auf einen Fall in der gestrigen Zeitung. Die Umstände sind gänzlich verschieden von den unserigen, allein das Beispiel von der Entschlossenheit eines Weibes ist Deiner Beachtung Werth.

Unter den Criminalberichten wirst Du den Fall einer Frau finden, die sich fälschlicherweise als die vermißte Wittwe des Kapitäns eines Handelsschiffs ausgab, den man ertrunken glaubte. Der Name ihres lebenden Gatten und der des Kapitäns dessen Taufname sowohl als sein Familienname ein sehr gewöhnlicher, waren zufälligerweise genau dieselben. Glückte der Betrug, so war Geld dadurch zu erlangen, dessen ihr Gatte, dem sie mit großer Hingebung zugethan war, aufs dringendste bedurfte. Die Frau nahm Alles auf sich. Ihr Gatte war krank und hilflos und ward von den Gerichtsdienern gesucht. Die Umstände verhielten sich, wie Du selbst lesen kannst, alle zu ihren Gunsten und sie hatte sich dieselben so geschickt zu Nutze gemacht, daß die Rechtsgelehrten selbst eingestanden, es hätte ihr gelingen, müssen, wäre nicht der angeblich Ertrunkene plötzlich gesund und lebendig zum Vorschein gekommen, um sich ihr gerade im rechten Augenblicke gegenüberzustellen. Der Auftritt fand in einer Advocatenexpedition statt und ward im Gerichtssaale zur Evidenz gebracht. Die Frau war schön und der Seekapitän ein gutherziger Mensch. Wenn die Juristen es ihm gestattet, hätte er sie gern frei ausgehen lassen. Er sagte unter Anderem zu ihr: »Sie haben nicht erwartet, daß ein Ertrunkener frisch und lebendig wieder zum Vorschein kommen kann, nicht wahr Madame?« —— »Es ist ein Glück für Sie«, erwiderte sie, »daß ich dies nicht erwartet. Sie sind dem Meere entwischt, mir wären Sie nicht entwischt.« —— »Wie, was würden Sie gethan haben, wenn Sie gewußt, daß ich zurückkommen werde?« sagte der Seekapitän. Sie sah ihm fest ins Gesicht und erwiderte: »Ich würde Sie getödtet haben.« Da! Meinst Du, ein solches Weib würde mir geschrieben haben, ich treibe sie weiter, als sie Muth habe zu gehen? Noch dazu ein schönes Frauenzimmer, wie Du!«

Weiter las ich nicht. Als ich Zeile für Zeile bis zu diesen Worten gelesen, ward es mir plötzlich wie durch Blitzeshelle klar. In einer Sekunde sah ich es so deutlich, wie ich es jetzt sehe. Es ist fürchterlich, es ist unerhört, es ist verwegener als alles Verwegene, aber kann ich mich nur zu einer grausigen Nothwendigkeit stählen, so läßt sich’s thun. Ich kann mich als die reich versorgte Wittwe von Allan Armadale von Thorpe-Ambrose ausgeben, falls ich mit Sicherheit zu einer gegebenen Zeit auf Allan Armadale’s Tod rechnen darf.

Dies ist, mit deutlichen Worten, die fürchterliche Versuchung, der ich jetzt zu erliegen beginne. Sie ist in mehr als einer Hinsicht eine fürchterliche, denn sie ist aus jener andern Versuchung entsprungen, der ich ehedem erlag.

Ja, dort hat der Brief im Koffer gewartet, um einem Zwecke zu dienen, an den der Schurke, der ihn schrieb, niemals gedacht hat. Dort ist der Fall, wie er es nennt, nur citirt, um mich zu; höhnen, völlig verschieden von meinem eigenen derzeitigen Falle; dort hat er gelegen und gewartet und mir während aller Wechsel meines Lebens aufgelauert, bis er sich endlich meinem Falle angepaßt hat.

Das dürfte jedes Weib erschrecken, und selbst dies ist noch nicht das Schlimmste. Die ganze Geschichte hat schon seit mehreren Tagen in meinem Tagebuche gestanden, ohne daß ich es gewahr geworden, bin. Jede müßige Idee, die mir entschlüpfte hat heimlich nach jener Richtung gewiesen. Und ich sah es nicht, ahnte es nicht eher, als bis der Brief da mir meine eigenen Gedanken in einem neuen Lichte zeigte, bis ich plötzlich in den besonderen Umständen des Falles jenes Frauenzimmers den Schatten meiner eigenen Lage widergespiegelt sah.

Es läßt sich also machen, wenn ich nur der Nothwendigkeit ins Gesicht blicken kann. Es läßt sich machen, wenn ich zu einer bestimmten Zeit auf Allan Armadales Tod rechnen kann.

Außer diesem seinem Tode ist Alles leicht. Alle die Ereignisse, über die ich mich seit mehr als einer Woche fortwährend in blinder Wuth geärgert, haben sich —— obgleich ich zu dumm war, dies einzusehen —— samt und sonders zu meinen Gunsten gestaltet, Ereignisse, die mir immer besser den Weg zum Ziele bahnen.

Mit drei kühnen Schritten —— nur dreien! —— wäre dieses Ziel zu erreichen. Midwinter heirathet mich heimlich unter seinem wahren Namen —— erster Schritt! Armadale verläßt Thorpe-Ambrose als unverheiratheter Mann und stirbt in der Ferne unter Fremden —— zweiter Schritt!

Warum zaudere ich? Warum nicht auch den dritten und letzten Schritt nennen?

Ich will fortfahren. Der dritte und letzte Schritt ist, sobald sich die Nachricht von Armadale’s Tode hier in der Umgegend verbreitet hat, mein Auftreten als Armadale’s Wittwe, mit meinem Heirathsscheine in der Hand, um mein Anrecht geltend zu machen. Es ist so klar wie die Sonne um Mittag. Dank der vollkommenen Namensgleichheit und Dank der Sorgfalt, womit diese geheim zu halten ist, kann ich die Gattin des schwarzen Allan Armadale werden, ohne daß außer ihm und mir irgend ein Mensch etwas davon weiß, und eben vermöge dieser Stellung kann ich die Rolle der Wittwe des blonden Armadale spielen und in der Gestalt meines Heirathsscheins den Beweis für meine Angabe beibringen, der den ungläubigsten Menschen Von der Welt überzeugen muß.

Und daß dies Alles in meinem Tagebuche gestanden haben muß! Daß ich wirklich diese Situation im Auge gehabt und dennoch zur Zeit nichts darin gesehen haben sollte als, wenn ich Midwinter heirathete, einen Grund meiner Einwilligung, unter dem angenommenen Namen meines Gatten in der Welt zu erscheinen!

Was schreckt mich ab? Die Furcht vor Hindernissen? Die Furcht vor Entdeckung?

Wo sind die Hindernisse? Wo ist die Gefahr einer Entdeckung?

In der ganzen Nachbarschaft hat man mich im Verdacht, daß ich allerlei Ränke schmiede, um Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose zu werden. Ich bin die einzige Person, welche die Richtung seiner Neigung wirklich kennt. Bis jetzt weiß noch keine Seele etwas von seinen Morgenzusammenkünften mit Miß Milroy. Ist es nothwendig, sie zu trennen, kann ich dies zu jeder Zeit vermittelst eines anonymen Briefes an den Major bewirken. Ist es ferner nothwendig, Armadale aus Thorpe-Ambrose zu entfernen, so kann ich dies in drei Tagen bewerkstelligen. Als ich ihn das letzte Mal sprach, hat er mir mit eigenem Munde gesagt, er würde ans Ende der Welt gehen, um sich wieder mit Midwinter zu versöhnen, wenn Midwinter dazu bereit sei. Ich brauche Midwinter nur zu befehlen, von London aus an ihn zu schreiben und um Versöhnung zu bitten, und Midwinter würde mir gehorchen und Armadale würde nach London reisen. So ist mir gleich anfangs jede Schwierigkeit leicht gemacht. Mit jeder späteren kann ich allein fertig werden. Bei dem ganzen Wagnisse, wie verzweifelt es —— immer aussehen mag, daß ich mich für die Wittwe des einen Mannes ausgeben will, während ich die Gattin eines andern bin. ist nichts zweimal in Erwägung zu ziehen als die eine gräßliche Nothwendigkeit von Armadales Tode.

Sein Tod! Für jedes andere Weib dürfte dies eine fürchterliche Nothwendigkeit sein, aber ist es das, sollte es das wohl für mich sein?

Ich hasse ihn um seiner Mutter willen; ich hasse ihn um seiner selbst willen. Ich hasse ihn, weil er hinter meinem Rücken nach London gereist ist, um sich nach mir zu erkundigen. Ich hasse ihn, weil er mich aus meiner Stelle vertrieben hat, ehe ich diese noch aufgeben wollte. Ich hasse ihn, weil er alle meine Hoffnung auf eine Heirath mit ihm zerstört und mich hilflos in ein elendes Leben zurückstößt. Aber o! nach Allem, was ich bereits früher gethan habe, wie kann ich es? Wie kann ich es?

Das Mädchen, das sich zwischen uns gedrängt hat, das ihn mir entrissen, das mich noch heute öffentlich beschimpft hat —— wie sie, die ihr Herz an ihn gehangen hat, es fühlen würde, wenn er stürbe! Welche Rache an ihr, wenn ich es thäte! Und wenn ich als Armadale’s Wittwe empfangen würde, welch ein Triumph für mich! Triumph! Mehr als ein Triumph —— meine Rettung. Ein Name und eine Stellung, die unangreifbar sind und in denen ich mich vor meiner Vergangenheit verstecken kann! Comfort, Luxus, Reichthum! Ein sicheres Einkommen von zwölfhundert Pfund das Jahr, das mir nach dem gerichtlich gemachten Testamente zufällt und durch nichts zu bestreiten und anzugreifen ist! Noch nie habe ich zwölfhundert Pfund das Jahr gehabt. In meiner glücklichsten Zeit hatte ich noch nicht die Hälfte dieser Summe für mich. Was besitze ich jetzt? In der ganzen Welt nur fünf Pfund und für die nächste Woche die Aussicht aufs Schuldgefängniß.

Aber! o nach Allem, was ich schon früher gethan habe, wie kann ich es? Wie kann ich es?

Manche Frauen an meiner Stelle und mit meinen Erinnerungen würden anders darüber denken. Manche würde sagen: »Das zweite Mal ist’s leichter als das erste. Warum kann ich’s nicht? Warum kann ich’s nicht?«

O du Teufel, der du mich versuchst —— ist kein Engel in der Nähe, der zwischen heute und morgen ein Hinderniß aufrichten könnte. das mich abbrächte an meinem Vorhaben?

Ich werde darunter erliegen, ich werde erliegen, wenn ich noch länger darüber schreibe oder daran denke! Ich will das Buch schließen und wieder ausgehen. Ich will irgend eine gewöhnliche Person mitnehmen und mich von gewöhnlichen Dingen mit ihr unterhalten. Ich will die Hauswirthin und ihre Kinder mitnehmen. Wir wollen an irgend einen öffentlichen Vergnügungsort gehen. Es ist eine Schaubude in der Stadt, wo es etwas zu sehen gibt, ich weiß nicht was, dorthin will ich sie führen. Ich bin kein bösherziges Frauenzimmer, wenn ich nur will, und die Hauswirthin ist wirklich freundlich gegen mich gewesen. Ich könnte doch sicherlich mein Gemüth ein wenig beschäftigen, wenn ich sähe, wie sie und die Kinder sich ergötzen.

Vor einer Minute machte ich dieses Buch zu, wie ich es beschlossen hatte, und jetzt habe ich es wieder geöffnet und weiß nicht warum. Ich glaube, ich werde verrückt. Mir ist, als ob ich etwas aus meinem Geiste verloren hätte; mir ist, als müßte ich es hier wiederfinden.

Ich habe es gefunden! Midwinter!!!

Ist es möglich, daß ich mich seit einer Stunde mit den Gründen dafür und dawider habe beschäftigen, einmal über das andere Midwinter’s Namen schreiben, ernstlich daran denken können, ihn zu heirathen, ohne mich ein einziges Mal daran zu erinnern, daß, selbst wenn jedes andere Hinderniß aus dem Wege geräumt wäre, wenn der Augenblick käme, er allein mir zum unübersteiglichen Hinderniß werden würde? Hat die Anstrengung, die es mich gekostet, der Nothwendigkeit von Armadale’s Tode ins Antlitz zu sehen, mich in solchem Grade in Anspruch genommen? Wahrscheinlich. Sonst kann ich eine an mir so erstaunliche Vergessenheit nicht erklären.

Soll ich bleiben und die Sache durchdenken, wie ich alles Uebrige durchdacht habe? Soll ich mich mit der Frage aufhalten, ob Midwinter, wenn der Augenblick käme, wirklich ein so unübersteigliches Hinderniß sein würde, wie es augenblicklich den Anschein hat? Nein! Wozu noch daran denken? Ich habe mich entschlossen, der Versuchung zu widerstehen. Ich habe beschlossen, meiner Wirthin und ihren Kindern ein Vergnügen zu machen. Ich habe beschlossen, mein Tagebuch zuzumachen und zugemacht soll es werden.

Sechs Uhr. Das Geplapper der Wirthin ist unerträglich; ihre Kinder bringen mich von Sinnen. Ich habe sie verlassen, um zurückzueilen und noch vor Abgang der Post eine Zeile an Mrs. Oldershaw zu schreiben.

Die Furcht, daß ich der Versuchung erliegen werde, bemächtigt sich meiner immer mehr. Ich will es mir unmöglich zu machen suchen, meinem eigenen Willen zu folgen. Zum ersten Male, seit ich sie kenne, soll Mutter Oldershaw meine Retterin sein. Sie droht mir, wenn ich meinen Wechsel nicht einlösen kann, mit Einsperrung Nun, sie soll mich einsperren. In meinem gegenwärtigen Gemüthszustande kann mir nichts Besseres geschehen, als daß ich aus Thorpe-Ambrose hinweg geholt werde, ob mir’s nun gefällt oder nicht. Ich will schreiben, daß ich hier zu finden bin. Ich will ihr mit deutlichen Worten sagen, daß sie mir keinen bessern Dienst leisten kann, als wenn sie mich einsperrt!

Sieben Uhr. Der Brief ist zur Post. Ich begann mich ein wenig ruhiger zu fühlen, als die Kinder kamen, mir für das ihnen geschenkte Vergnügen zu danken. Eins ist ein Mädchen und dies warf meine ganze Fassung über den Haufen. Sie ist ein dreistes Kind, und ihr Haar gleicht dem meinigen. Sie sagte: »Ich werde aussehen, wie Sie, wenn ich groß werde, nicht wahr?« Ihre blödsinnige Mutter sagte: »Bitte, entschuldigen Sie sie, Miß«, und führte sie lachend aus dem Zimmer. Wie ich! Ich behaupte nicht, daß ich das Kind lieb habe, aber man denke nur, daß es mir ähnlich ist!

Sonnabend Morgen. Diesmal habe ich wohl gethan, nach meinem Impulse zu handeln und an Mrs. Oldershaw zu schreiben, wie ich es gethan. Das einzige neue Ereigniß, das sich zugetragen, ist abermals ein Ereigniß, das mir zu statten kommt.

Major Milroy hat auf Armadales Brief, in dem dieser ihn um Erlaubniß gebeten, nach dem Parkhäuschen kommen und sich rechtfertigen zu dürfen, geantwortet. Seine Tochter las die Antwort schweigend, als Armadale ihr dieselbe heute Morgen bei ihrer heimlichen Zusammenkunst im Park überreichte. Daraus aber unterhielten sie sich laut genug darüber, daß ich sie hören konnte. Der Major bleibt bei dem von ihm eingeschlagenen Verfahren. Er sagt, er habe sich seine Ansicht über Armadales Betragen nicht nach gewöhnlichen Gerüchten, sondern nach Armadales eigenen Briefen gebildet und sehe keinen Grund, die Meinung zu ändern, zu der er am Schlusse ihrer Correspondenz gelangt sei.

Dieser kleine Umstand war mir entfallen, wie ich bekennen muß. Die Sache hätte ein sehr fatales Ende für mich nehmen können. Hätte Major Milroy weniger hartnäckig an seiner Meinung festgehalten, so hätte Armadale sich rechtfertigen können; die Verlobung wäre anerkannt und damit all meinem Einflusse auf die Sache ein Ziel gesetzt worden. So aber müssen sie ihr Verhältnis; nach wie vor streng geheim halten, und Miß Milroy, die sich seit dem Gewitter nie wieder in die Nähe des Herrnhauses gewagt hat, wird sich jetzt weniger denn je dorthin wagen. Sobald es mir beliebt, kann ich das Pärchen trennen —— durch eine anonyme Zeile an den Major kann ich sie trennen, sobald es mir beliebt!

Nachdem sie über den Brief gesprochen, begannen sie sich über das zu unterhalten, was sie zunächst thun sollten. Wie sich bald herausstellte, führte des Majors Strenge das gewohnte Resultat herbei. Armadale kam wieder auf eine Entführung zurück, und diesmal hörte sie ihn an. Alles vereinigt sich, sie dazu zu treiben. Ihre Garderobe ist beinahe fertig, und die Sommerferien der Pensionsschule, die man für sie gewählt hat, gehen mit nächster Woche zu Ende. Als ich sie verließ, hatten sie beschlossen. sich am nächsten Montag wieder am selben Orte einzufinden und dann das Weitere zu verabreden.

Die letzten Worte, die ich ihn sagen hörte, ehe ich fortging, ergriffen mich ein wenig. Er sagte: »Eine Schwierigkeit wenigstens existiert für uns nicht, Neelie. Geld habe ich genug« Und dann küßte er sie. Der Weg zu seinem Tode erschien mir ebener, als er von seinem Gelde sprach und sie küßte.

Einige Stunden sind verstrichen, und je mehr ich daran denke, desto mehr fürchte ich mich vor der öden Zwischenzeit, die bis zu dem Augenblicke vergehen muß, wo Mrs. Oldershaw das Gesetz zu Hilfe ruft und mich vor mir selbst schützt. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich heute Morgen zu Hause geblieben. Aber wie konnte ich dies? Nach der Beschimpfung, die ich gestern von ihr erlitten, zuckte es mir in allen Gliedern, zu kommen und sie anzusehen.

Heute, Sonntag, Montag, Dienstag. Sie können nicht eher als Mittwoch kommen, mich festzunehmen. Und meine armseligen fünf Pfund schmelzen auf vier zusammen! Und er sagte ihr, Geld habe er genug! Und sie erröthete und zitterte, als er sie küßte! Es dürfte besser für ihn und für sie und für mich gewesen sein, wäre mein Wechsel schon gestern fällig gewesen und hätte »ich mich heute bereits in den Händen der Gerichtsdiener befunden.

Gesetzt, ich besäße die Mittel, mit dem nächsten Zuge Thorpe-Ambrose zu verlassen, ins Ausland zu reisen und mich unter neuen Menschen in neue Interessen zu vertiefen, könnte ich dies nicht lieber thun, anstatt noch ferner an den Weg zu seinem Tode zu denken, der alles Andere glatt und leicht machen soll?

Wohl möglich. Aber wo soll das Geld herkommen? Vor ein paar Tagen hatte ich doch eine Idee, wie ich es mir verschaffen könne? Ja, jene erbärmliche Idee, Armadale um Hilfe zu bitten! Nun, ich will einmal kleinlich handeln. Ich will ihm die Gelegenheit geben, einen großmüthigen Gebrauch von jener wohlgefüllten Börse zu machen, die ihm unter den gegenwärtigen Umständen solchen Trost gewährt. Wenn er mir in meiner jetzigen großen Noth Geld liehe, das würde mein Herz für jeden Mann erweichen, und wenn Armadale mir Geld liebe, so dürfte dies mein Herz auch für ihn erweichen. Wann soll ich zu ihm gehen? Sogleich! Ich will mir keine Zeit lassen, um die Erniedrigung zu empfinden und andern Sinnes zu werden.«

Drei Uhr.Ich merke mir die Stunde. Er hat selbst sein Urtheil gesprochen. Er hat mich insultirt.

Ha! Ich habe es einmal von Miß Milroy erlitten und jetzt zum zweiten Male von Armadale selbst. Eine Beleidigung, eine unverkennbare, unbarmherzige, berechnete Beleidigung am hellen lichten Tage!

Ich war durch die Stadt gegangen und so eben auf dem Fahrwege angelangt, der nach dem Gutshause führt, als ich Armadale in geringer Entfernung mir entgegenkommen sah. Er schritt schnell daher, offenbar in eigenen Geschäften nach der Stadt eilend. Sowie er meiner ansichtig wurde, blieb er stehen, erröthete, nahm seinen Hut ab, zögerte und bog in einen Rabenweg hinter ihm ein, von dem ich zufälligerweise weiß, daß er ihn in eine seinem Wege direct entgegengesetzte Richtung führte. Sein Benehmen sagte deutlich, wie mit Worten: »Miß Milroy könnte es erfahren; ich darf mich nicht der Gefahr aussetzen, daß man mich mit Ihnen sprechen sieht» Die Männer haben mich herzlos behandelt; die Männer haben mir harte Dinge gesagt und angethan, aber noch keiner hat mich behandelt, als ob ich die Pest hätte und sogar die Luft um mich her durch meine Gegenwart verunreinig wäre!

Weiter sage ich nichts. Als er von mir fort jenen Nebenweg hinabging, schritt er seinem Tode entgegen. Ich habe an Midwinter geschrieben, mich nächste Woche in London zu erwarten und sich bald nach meiner Ankunft zu unserer Heirath bereit zuhalten.

Vier Uhr. Vor einer halben Stunde schon setzte ich meinen Hut auf, meinen Brief an Midwinter selbst auf die Post zu tragen. Und da bin ich noch immer in meinem Zimmer, während mein Gemüth von Zweifeln gemartert wird und der Brief noch auf dem Tische liegt.

Armadale hat mit den Zweifeln, die mich jetzt plagen, nichts zu schaffen. Midwinter ist es, der mich zögern laßt. Kann ich den ersten der drei Schritte, die mich zum Ziele führen sollen, thun, ohne mit gewohnter Vorsicht die Folgen in Erwägung zu ziehen? Kann ich Midwinter heirathen, ohne vorher zu wissen, wie ich dem Hindernisse, das mein Gatte bietet, begegnen soll, wenn die Zeit kommt, die mich aus der Gattin des lebenden Armadale in die Wittwe des todten Armadale verwandeln soll?

Warum kann ich nicht daran denken, wenn ich doch weiß, daß ich daran denken muß? Warum kann ich dies nicht ebenso fest ins Auge fassen, wie ich es sonst mit allem Andern gethan habe? Ich fühle seine Küsse auf meinen Lippen, ich fühle seine Thränen auf meinem Busen, ich fühle mich wieder von seinen Armen umschlungen. Er ist weit entfernt in London und dennoch hier und will mich nicht daran denken lassen.

Warum kann ich nicht etwas warten? Warum kann ich mir nicht von der Zeit helfen lassen? Der Zeit? Es ist Sonnabend! Wozu sollte ich wohl daran denken, wenn ich nicht will? Heute geht keine Post nach London. Ich muß warten. Selbst wenn ich den Brief auf die Post gäbe, würde er doch nicht abgehen. Außerdem höre ich vielleicht morgen von Mrs. Oldershaw. Wohl sollte ich warten, bis ich von Mrs. Oldershaw gehört habe. Ich kann mich nicht als frei betrachten, bis ich weiß, was Mrs. Oldershaw zu thun gedenkt. Nothwendig muß ich bis morgen warten. Ich will meinen Hut abnehmen und den Brief in mein Pult schließen.

Sonntag Morgen. Ich kann nicht länger widerstehen! Die Umstände überwältigen mich. Sie kommen immer dichter und drängen mich alle nach derselben Richtung.

Ich habe die Antwort von Mutter Oldershaw. Das elende Geschöpf schmeichelt und kriecht vor mir. Ich sehe so deutlich, als wenn sie es eingestanden hätte, daß sie mich im Verdacht hat, mir meinen Erfolg in Thorpe-Ambrose ohne ihren Beistand sichern zu wollen. Da sie sieht, daß sie mit Drohungen nichts bei mir ausrichtet, so versucht sie es jetzt mit Schmeicheleien. Ich bin wieder ihre Herzens-Lydia! Es hat sie förmlich verletzt, daß ich glauben könne, sie wolle wirklich ihre Busenfreundin einsperren lassen, und erbittet es sich als eine persönliche Gunst, daß ich meinen Wechsel prolongiere!

Ich wiederhole es, kein sterbliches Wesen vermöchte dem zu widerstehen! Einmal über das andere habe ich der Versuchung aus dem Wege zu gehen versucht, und einmal über das andere werde ich durch die Umstände wieder zu ihr zurückgetrieben. Ich kann den Kampf nicht länger fortsetzen Die Post, die heute Abend die Briefe abholt, soll auch den meinigen an Midwinter mitnehmen.

Heute Abend! Lasse ich mir Zeit bis heute Abend, so kann sich wieder etwas ereignen. Lasse ich mir bis heute Abend Zeit, so werde ich vielleicht wieder wankend. Ich bin der Qual der Unschlüssigkeit überdrüssig. Ich muß und will mir für die Gegenwart Erleichterung verschaffen, was dies auch immer für die Zukunft kosten möge! Mein Brief an Midwinter wird mich verrückt machen, wenn er mich noch länger aus meinem Schreibpulte anstiert In zehn Minuten kann ich ihn auf die Post geben, und ich will’s!

Es ist geschehen. Der erste der drei Schritte, die mich dem Ziele zuführen, ist gethan. Mein Gemüth ist ruhiger —— der Brief liegt auf der Post.

Morgen wird Midwinter ihn erhalten. Vor dem Ende der Woche muß man Armadale öffentlich Thore-Ambrose verlassen sehen und zwar in meiner Begleitung.

Habe ich mir die Folgen meiner Heirath mit Midwinter vergegenwärtigt? Nein!

Doch ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht daran denken! Habe ich nicht meinen freien Willen? Und kann ich nicht an etwas Anderes denken, wenn mir’s beliebt?

Da ist der speichelleckerische Brief der Mutter Jesabel. Das ist etwas Anderes für meine Gedanken. Ich will ihn beantworten. Ich bin in der Laune, um an Mutter Jesabel zu schreiben.«

~~~~~~~~~~~~~

Schluß des Briefes von Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw-

»Als ich abbrach, sagte ich Dir, daß ich zuvor mein Tagebuch befragen wolle, ob ich Dir mit Sicherheit anvertrauen könne, was ich jetzt zu thun im Sinne habe. Nun, ich habe es befragt, und mein Tagebuch antwortet: »Sage ihr nichts!« Unter diesen Umständen schließe ich meinen Brief mit meinen. besten Entschuldigungen, daß ich Dich im Dunkeln lassen muß.

Vermuthlich werde ich binnen kurzem in London sein und Dir vielleicht dann mündlich mitteilen, was mir zu schreiben nicht sicher scheint. Doch mache ich Dir keine Versprechungen! Es kommt Alles drauf an, wie ich mich zur Zeit gegen Dich gestimmt fühle. Ich bezweifle Deine Verschwiegenheit nicht, aber ich bin mir (unter gewissen Verhältnissen) Deines Muthes nicht sicher.

L. G.

N. S. Besten Dank für Deine Erlaubniß, meinen Wechsel Verlängern zu dürfen. Ich schlage dies indessen aus. Das Geld wird bereit sein, sowie der Wechsel fällig ist. Ich habe einen Freund in London, der ihn bezahlen wird, wenn ich ihn darum ersuche. Möchtest Du wissen, wer dieser Freund ist? Du wirst noch wegen verschiedener anderer Dinge neugierig sein, Mrs. Oldershow, ehe noch viele Wochen über Deinem Haupte und dem meinigen dahingegangen sind.



Kapiteltrenner


Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte