Herz und Wissen



Capitel LVI.

Als Mr. Mool am anderen Tage von einer juristischen Konsultation nach seinem Büreau zurückkehrte, sah er einen Herrn, den er von Ansehen kannte, vor seiner Thür auf- und abgehen.

»Mr. Null, wenn ich nicht irre?« sagte er mit gewohnter Höflichkeit.

Mr. Null antwortete auf seinen Namen und bat um eine kurze Unterredung. Der Anwalt machte ein ernstes Gesicht und sagte, daß er für diese Zeit schon Parteien hierher bestellt und sich bereits verspätet habe. Mr. Null räumte ein, daß ihm das die Schreiber im Büreau schon gesagt hätten und sagte dann, was er zuerst hätte sagen sollen: »Ich bin der ärztliche Beistand Mrs. Gallilee's —— es liegt eine dringende Nothwendigkeit vor, ihrem Gatten eine Mittheilung zu machen.«

Sofort führte ihn Mr. Mool in das Büreau. Der erste Schreiber kam mit einem gewissen Ernst auf seinen Herrn zu: »Die Parteien haben schon über eine Viertelstunde gewartet.« Mr. Mools Geist aber war anderswo: er dachte an Mrs. Gallilee. »Liegt sie im Sterbens« fragte er. »Sie hat den Verstand verloren,« antwortete Mr. Null. Diese Worte versteinerten den Rechtsanwalt, er sah hilflos den Schreiber an, der seinerseits unwillig nach der Büreauuhr blickte. »Sagen Sie, daß ich durch einen sehr betrübenden Umstand abgehalten bin; ich will später zu einer den Herrschaften passenden Stunde selbst nach deren Wohnung kommen.« Nach dieser Anweisung an den Schreiber führte er Mr. Null eiligst nach oben in ein Privatzimmer. »Erzählen Sie; bitte, erzählen Sie. Doch halt! Vielleicht ist keine Zeit dazu. Was kann ich thun?«

Jetzt kam Mr. Mool mit der Frage, die er am besten schon gestellt hätte, als sie sich an der Hausthür trafen. »Können Sie mir Mr. Gallilee’s Adresse sagen?«

»Gewiß. Per Adresse des Earls of Northlake ——«

»Wollen Sie dieselbe, bitte, in mein Notizbuch schreiben? Ich bin durch diese schreckliche Sache so aufgeregt, daß ich meinem Gedächtnisse nicht trauen kann.«

»Solch ein Bekenntniß der Hilflosigkeit genügte Mr. Mool, sich aufzuraffen; und das Notizbuch ablehnend, schrieb er die Adresse aus ein Telegramm: »Sofort zurückkehren: Ihre Gattin ist ernstlich krank.« Nach fünf Minuten war dasselbe unterwegs nach Schottland und Mr. Null stand es frei, seine melancholische Geschichte zu erzählen —— wenn er konnte.

Mit Hilfe Mr. Mools kam er auch glücklich damit zu Stande. »Ich habe heute Morgen,« fuhr er fort, »die besten Gutachten eingeholt, die in London zu bekommen sind. Da kein Erbübel vorliegt, so denken die Doktoren von den Chancen der Genesung ganz günstig.«

»Ist es Tobsucht?«

Mr. Null gab zu, daß zwei Wärterinnen nöthig wären. »Die Doktoren sehen ihre Heftigkeit nicht als entmuthigendes Symptom an,« sagte er, »sondern neigen dazu, dieselbe ihrer starken Konstitution zuzuschreiben. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, was ich von dem Falle wußte. Ohne die bedauerlichen Familienverhältnisse zu erwähnen ——«

»Ich bin zufällig mit denselben bekannt,« warf Mr. Mool ein. »Stehen dieselben in irgend einer Weise mit dem schrecklichen Stande der Dinge in Beziehung?« Er stellte diese Frage in einer Weise, als ob er persönlich ein großes Interesse daran hätte, dieselbe beantwortet zu hören.

Mr. Null ließ sich indeß in seinem Berichte nicht unterbrechen. »Ich hielt es für Recht, mit aller nöthigen Reserve zu erwähnen, daß Mr. Gallilee —— ich will Sie nicht mit medizinischen Ausdrücken quälen —— sagen wir, daß ernstliche geistige und körperliche Prüfungen über sie gekommen seien, ehe ihr Verstand unterlag.«

»Und sie hielten das für die Ursache ——?«

Doch Mr. Null behauptete seine Würde. »Die Doktoren waren mit mir derselben Ansicht, daß es ihre Willenskraft erschüttert habe.«

»Sie machen mich leichter, Mr. Null —— unendlich leichter! Wenn die Art und Weise, wie wir die Kinder entfernten, das Unheil angerichtet hätte, würde ich es mir nie vergeben haben.«

Erröthend hielt er inne. Ob wohl Mr. Null die Unvorsichtigkeit bemerkt hatte, die ihm in seiner Aufregung über die Zunge geschlüpft war? Derselbe sah aus, als ob er eine Frage stellen wollte; darin aber kam ihm der Anwalt zuvor.

»Darf ich fragen, wie Sie dazu kamen, mich nach Mr. Gallilee’s Adresse zu fragen? Kamen Sie von selbst darauf?«

Mr. Null, der sein Leben lang nie von selbst auf etwas gekommen war, antwortete: »Ein sehr intelligenter Mensch erinnerte mich daran, daß Sie ein alter Freund Mr. Gallilee's seien. Um es kurz zu sagen, Joseph war es —— der Bediente in Fairfield-Gardens.«

Josephs Meinung hatte für Mr. Mools Berufsinteressen keine Wichtigkeit. Er konnte die Neugier seines Besuchers befriedigen, ohne befürchten zu müssen, sich in der Achtung eines Klienten herabzusetzen.

»Es ist wohl das Beste, wenn ich meine zufällige Anspielung in Betreff der Kinder erkläre,« begann er. »Mein guter Freund, Mr. Gallilee, hatte seine Gründe, seine Töchter auf eine Zeit lang von Hause fortzubringen —— Gründe, denen ich, wie ich hinzufügen muß, beistimme. Die Kinder sollten der Obhut ihrer Tanne, der Lady Northlake übergeben werden. Unglücklicherweise war dieselbe mit ihrem Gemahl auf ihrer Yacht unterwegs, so daß sie Maria und Zo nicht sofort aufnehmen konnten. In der Zwischenzeit drohte der Entschluß Mr. Gallile's —— Sie kennen unseren ausgezeichneten Freund? —— drohte also sein Vorsatz, seine Autorität zur Geltung zu bringen (um es offen zu sagen, dem erwarteten Widerstande seiner Frau Trotz zu bieten) wankend zu werden. Ich muß leider sagen, daß ich diese —— diese Art heimlicher Abreise, die in der That stattfand, vorgeschlagen habe. Ich gab auch zu, daß die nothwendige Kleidung heimlich hierher gebracht wurde, bis sie dieselbe auf dem Wege nach der Bahn abholen könnten. Es war ja nicht sehr klug gehandelt, aber ich that es in bester Absicht. Kann ich noch weiter irgendwie nützlich sein. Mr. Ovid wird schreckliche Neuigkeiten hören, wenn er heimkommt Können wir ihn nicht auf irgend eine Weise vorbereiten?«

»Er hat mich gebeten, ihm eine Depesche nach Queenstown zu schicken.«

»ist kein Freund da, der ihn dort empfangen könnte? Ich habe wichtige Fälle zu vertreten, bei denen es sich um Vermögen und Ruf handelt, sonst würde ich mit Freuden selbst gehen. Sie mit Ihren Patienten sind ebenso wenig abkömmlich. Wissen Sie nicht sonst einen Freund?«

Mr. Null wußte sich keines zu erinnern und hatte nichts vorzuschlagen. Er war von den drei Männern, die jetzt durch ein häusliches Unglück zusammengebracht waren, ohne Zweifel der schwächste. Mr. Mool hatte Gesetzeskenntniß und konnte bei Gelegenheit zur Energie angestachelt werden; Mr. Gallilee besaß warmes Gefühl, das sich, wenigstens wenn er gereizt wurde, Geltung verschaffen konnte; Mr. Null hingegen war als Arzt und Mensch gleich unfähig, seine engen Schranken zu überschreiten. Er unterwarf sich der Kraft der Ereignisse wie ein Kohlblatt dem Zahne des Kaninchens.


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