Blinde Liebe

Dreiundsiebenzigstes Kapitel

Was Lord Harry tat, nachdem er das Geld der Versicherungsgesellschaft zurückgeschickt hatte, war äußerst merkwürdig.

Er verließ London und begab sich nach Dublin.

Dort angekommen, suchte er ein kleines Hotel auf, das ausschließlich von Amerikanern irischen Ursprungs und deren Freunden besucht wurde. Man glaubte allgemein, dass es der Hauptzusammenkunftsort der Unüberwindlichen sei. Jedenfalls war bekannt, dass das Haus fast ausschließlich nur von den Nationalgesinnten besucht wurde. Er machte keinen Versuch, seinen Namen zu verheimlichen. Er betrat das Hotel, begrüßte den Wirt freundlich, nickte dem Oberkellner zu, bestellte ein Diner und nahm keine Rücksicht auf die finsteren und drohenden Blicke, mit denen er in dem Speisesaal empfangen wurde, wo fünf bis sechs Männer saßen und heimlich mit einander sprachen.

Er blieb diese Nacht in dem Hotel.

Am nächsten Tag ging er ganz offen und frei, als ob er gar nichts zu fürchten hätte, weder von Engländern noch von Irländern, auf die Eisenbahn und löste sich ein Billet, nicht im geringsten auf das achtend, was alle Welt sehen und begreifen konnte, nämlich, dass er genau beobachtet wurde. Als er seine Fahrkarte gelöst hatte, traten unmittelbar nach ihm zwei andere Männer an den Schalter, die sich ebenfalls zwei Fahrkarten nach dem gleichen Ort wie Lord Harry lösten. Der Ort, wohin er zu fahren beabsichtigte, lag in dem Teil von Kerry, in dem die Unüberwindlichen einst Arthur Mountjoy ermordet hatten.

Die beiden Männer, welche ihm folgten und Fahrkarten nach demselben Ort gelöst hatten und die sich jetzt auch zu ihm in dasselbe Coupé setzten, waren zwei Mitglieder dieser unheimlichen Bruderschaft. Es ist bekannt, dass über denjenigen, der sich der Gesellschaft anschließt und sie später wieder verlässt oder ihren Befehlen nicht gehorcht, oder der überhaupt in dem Verdacht steht, ihre Geheimnisse zu verraten - es ist allgemein bekannt, dass über denjenigen die Todesstrafe verhängt wird.

Nach der ganz unerwarteten Ankunft Lord Harrys in dem Hotel in Dublin waren sofort die damals gerade in der Stadt anwesenden Mitglieder der Bruderschaft zu einer Versammlung zusammenberufen worden. Man hatte beschlossen, dass der Verräter aus dem Wege geräumt werden müsse. Das Los wurde geworfen, und es fiel auf einen, der sich erinnerte, dass Lord Harry in der Vergangenheit seiner Familie öfters Wohltaten erwiesen hatte. Er wäre glücklich gewesen, wenn ihm der traurige Auftrag erspart geblieben wäre, aber die Gesetze der Gesellschaft sind streng, und daher musste er gehorchen.

Es ist außerdem noch die Gewohnheit der Unüberwindlichen, wenn ein Mord beschlossen und eines ihrer Mitglieder mit der Ausführung beauftragt worden ist, noch ein zweites Mitglied auszuwählen, dessen Pflicht es ist, den Mörder zu begleiten und zu sehen, ob er seinen Auftrag auch wirklich erfüllt.

Am Nachmittag, ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang, erreichte der Zug die Station, an der Lord Harry aussteigen wollte. Der Stationsvorstand erkannte und begrüßte ihn. Darauf sah er die beiden anderen Männer aussteigen und wurde blass.

»Ich will meine Reisetasche hier in dem Gepäckbureau zurücklassen; sie wird abgeholt werden.«

Später erinnerte sich der Stationsvorstand dieser Worte. Lord Harry sagte nicht, ich werde sie wieder abholen, sondern sie wird abgeholt werden. Bedeutungsvolle Worte!

Das Wetter war kalt; ein feiner Sprühregen fiel; der Tag begann sich seinem Ende zuzuneigen. Lord Harry verließ die Bahnstation und ging mit raschen Schritten den Weg entlang, der durch ein trauriges und verlassenes Stück Land führte. Die beiden Männer folgten ihm. Jetzt beschleunigte der eine seinen Gang und ließ seinen Begleiter ungefähr zwanzig Schritte hinter sich.

Der Stationsvorsteher blickte den drei Davoneilenden nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann schüttelte er den Kopf und kehrte in sein Bureau zurück.

Lord Harry ging auf dem Weg rasch weiter; er wusste, dass die beiden Männer ihm auf dem Fuße folgten. Jetzt wurde er gewahr, dass der eine von ihnen seine Schritte verdoppelte.

Er ging, ohne sich darum zu kümmern, in dem gleichen Schritt fort. Vielleicht wurden seine Wangen bleicher und schlössen seine Lippen sich fester auf einander, da er ja ganz genau wusste, dass er im Begriff stand, in den Tod zu gehen.

Die Schritte hinter ihm kamen rasch immer näher und näher. Lord Harry drehte nicht einmal seinen Kopf nach dem ihm Folgenden um. Der Mann war jetzt ganz dicht hinter ihm. Noch ein kurzer Augenblick, und er ging dicht an seiner Seite.

»Mickey O'Flynn!« sagte Lord Harry.

»Er ist es, der vor Dir steht, Verräter!« entgegnete der Mann.

»Ihre Freunde, die Unüberwindlichen, sagten Ihnen, ich sei ein solcher, Mickey. Nun, glauben Sie etwa, ich wüsste nicht, weswegen Sie hier sind? Nun?« Er blieb stehen. »Ich bin unbewaffnet. Sie halten einen Revolver in Ihrer Hand, in der Hand, die Sie hinter Ihrem Rücken verbergen. Worauf warten Sie noch?«

»Ich kann es nicht tun!« sagte der Mann.

»Sie müssen, Mickey O'Flynn, Sie müssen, oder Sie werden selbst ermordet«, entgegnete Lord Harry ruhig. »Sie brauchen ja nur Ihre Hand zu heben, und dann werden Sie ein Mörder sein. Ich bin auch einer, wir werden also dann beide Mörder sein. Nun also, warum schießen Sie nicht?«

»Bei Gott, ich kann nicht«, sagte Mickey O'Flynn. Er hielt den Revolver immer noch gespannt hinter seinem Rücken, aber er erhob den Arm nicht. Seine Augen blickten starr auf den irischen Lord; sein Mund war geöffnet, das Entsetzen des Mörders sprach sich schon jetzt in seiner ganzen Haltung aus, noch bevor er den Mord begangen hatte. Dann schrak er plötzlich zusammen. »Blicken Sie hinter sich, blicken Sie hinter sich, Mylord.«

Lord Harry drehte sich herum. Der zweite Mann war jetzt ganz nahe bei ihm. Er beugte sich vorwärts und schaute ihm ins Gesicht.

»Arthur Mountjoys Mörder!« schrie Lord Harry laut und sprang dem Mann an die Kehle.

Ein, zwei, drei Schüsse durchhallten die stille Abendluft. Diejenigen, welche sie auf der Bahnstation aus der Richtung des Weges, den die drei Männer eingeschlagen hatten, herüberschallen hörten, schauderten zusammen. Sie kannten die Bedeutung dieser Schüsse. Noch ein Mord mehr lastete auf der Seele von Irland. Lord Harry aber lag tot mitten auf dem Weg.

Der zweite Mann sprang auf und griff nach seinem Hals.

»Wahrhaftig«, sagte er, »ich dachte, es ginge mir auch ans Leben. Komm, Mick, wir wollen ihn etwas aus dem Wege schaffen.«

Sie zogen den Leichnam an die Seite der Straße und eilten dann mit gebeugten Köpfen und tief in das Gesicht gezogenen Hüten querfeldein nach einer andern Eisenbahnstation, wo sie nicht als die beiden erkannt werden würden, die Lord Harry auf der Straße gefolgt waren.

Eine Stunde später ritten zwei bewaffnete Konstabler die Straße entlang und fanden den Leichnam, wo ihn die beiden liegen gelassen hatten.

Sie durchsuchten seine Taschen. Eine Geldbörse mit ein paar Sovereigns fanden sie darin, ferner das Bild einer Dame, der Gattin des Ermordeten, und ein versiegeltes Couvert, gerichtet an Hugh Mountjoy Esq., in einem Londoner Hotel, und eine Visitenkartentasche; nichts von irgendwelcher Bedeutung.

»Das ist Lord Harry Norland«, sagte der eine, »der wilde Lord! So hat er endlich doch sein Ende gefunden!«

Das Couvert enthielt zwei Briefe. Der an Iris gerichtete war kurz. Er lautete:

»Lebe wohl. Ich stehe im Begriff, den Tod eines, der ein Verräter an einer gerechten Sache genannt wird, zu erleiden. Ich bin aber in einem noch viel höheren Grad ein Verbrecher, als meine Mörder glauben. Mag das Ende, welches mir schon seit langem zugedacht ist, als eine Art Sühnopfer betrachtet werden. Vergib mir, Iris; denke an mich so freundlich, wie Du kannst. Aber ich beschwöre Dich, es ist mein letztes Wort an Dich: traure nicht um einen, welcher sein möglichstes getan hat, um Dein Leben zu vergiften und Deine Seele zu verderben.«

In dem zweiten Brief schrieb er:

»Ich kenne die Liebe, die Sie immer für meine Gattin gehegt haben. Iris wird Ihnen sagen, was sie über ihre Zukunft beschlossen hat. Wenn sie Ihnen nichts über ihren verstorbenen Gatten sagt, so denken Sie das Schlimmste von ihm, und Sie werden nicht unrecht haben. Erinnern Sie sich, dass, was sie auch getan haben mag, sie dies alles für mich getan hat und auf meine Veranlassung. Sie hätte Sie anstatt mich heiraten sollen.

»Ich stehe im Angesicht des Todes. Die Männer, welche mich zu töten beabsichtigen, sind mit mir unter dem gleichen Dach. Sie werden ihren Plan vielleicht schon heute nacht ausführen, vielleicht aber warten sie auch auf eine bessere Gelegenheit und einen ruhigeren und sichereren Platz. Aber töten werden sie mich gewiss.

»Im Angesicht des Todes erhebe ich mich über die jammervolle Eifersucht, mit der ich Sie jederzeit betrachtet habe. Ich sehe mit Verachtung herab auf diese unwürdige Leidenschaft und bitte Sie deswegen um Verzeihung. Helfen Sie Iris, die Periode ihres Lebens zu vergessen, über die sie mit Recht beschämt sein muss. Beweisen Sie, dass Sie mir vergeben, dadurch, dass Sie ihr vergeben, und dass Sie ihr helfen in der Aufrichtigkeit und Tiefe Ihrer Liebe, die Erinnerung an mich für immer aus ihrem Herzen zu tilgen. H. N.«


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte