Die Frau in Weiß

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Die Aussage von Frederick Fairlie Esqrezu Limmeridge House.3

Es ist das große Unglück meines Lebens, daß man mich nicht in Ruhe lassen will. Wozu – frage ich jeden Menschen – wozu plagt man mich? Kein Mensch beantwortet mir diese Frage, und kein Mensch läßt mich in Ruhe. Verwandte, Freunde und Fremde – Alle vereinigen sich, um mich zu plagen. Was habe ich gethan? Ich frage mich und frage meinen Diener Louis fünfzigmal des Tages: was habe ich gethan? Keiner von uns Beiden weiß es. Höchst unbegreiflich!

Die letzte Plage, mit der man mich verfolgt hat, ist die, daß man von mir verlangt, diese meine Aussage niederzuschreiben. Ist nun wohl ein Mensch in meinem beklagenswerthen Zustande von Nervenschwäche im Stande, Aussagen zu schreiben? Wenn ich diese außerordentlich vernünftige Einwendung mache, so sagt man mir, daß gewisse sehr ernste Begebenheiten in Bezug auf meine Nichte sich mit meiner Wissenschaft zugetragen haben, und ich deshalb die geeignete Person bin, dieselben zu beschreiben. Falls ich mich weigere, mich der von mir geforderten Anstrengung zu unterziehen, droht man mir mit Folgen, an die ich nicht denken kann, ohne mich vollkommen niedergeschmettert zu fühlen. Aber es ist wirklich ganz unnöthig, mir zu drohen. Durch den traurigen Zustand meiner Gesundheit und betrübende Familiensorgen geschwächt, ist mir aller Widerstand unmöglich. Wer bei mir auf einer Sache besteht, übervortheilt mich ungerechterweise, und ich gebe augenblicklich nach. Ich will versuchen (mit Protest) mir soviel mir möglich ins Gedächtniß zurückzurufen, und soviel ich kann (ebenfalls mit Protest) niederzuschreiben; und wessen ich mich nicht erinnere oder was ich nicht schreibe, muß Louis sich für mich und statt meiner erinnern und niederschreiben. Er ist ein Esel, und ich bin ein kranker Mann, und wir werden wahrscheinlich allerlei Versehen zusammen begehen. Wie unbeschreiblich demüthigend.

Man verlangt, daß ich mich der Data erinnere. Gerechter Himmel! Ich habe das in meinem ganzen Leben noch nicht gethan – wie soll ich jetzt damit anfangen?

Ich habe Louis gefragt. Er ist doch nicht ein ganz so großer Esel, wie ich bisher geglaubt. Er erinnert sich ungefähr bis auf einen oder zwei Tage des Datums des Ereignisses, und ich erinnere mich der Personen. Das Datum war entweder der fünfte, sechste oder siebente Juli; und der Name (meiner Ansicht nach ein unbeschreiblich ordinärer) war Fanny.

Am fünften, sechsten oder siebenten Juli lag ich in meinem gewöhnlichen Zustande in meinem Ruhesessel, umgeben von den mannichfaltigen Kunstgegenständen, die ich in der Absicht, den Geschmack der Barbaren meiner Nachbarschaft zu bilden, gesammelt habe. Das heißt, ich hatte die Photographien meiner Gemälde, Kupferstiche, Münzen und so weiter um mich herumliegen, die ich nächster Tage (die Photographien meine ich, wenn mir nur die abscheuliche, schwerfällige englische Sprache erlauben wollte, überhaupt Etwas zu meinen) dem Institute zu Carlisle (schauerlicher Ort!) in der Absicht zu schenken gedenke, den Kunstsinn seiner Mitglieder (lauter Gothen und Vandalen) zu bilden. Man sollte denken, daß ein Mann, der im Begriffe sei, seinen Landsleuten eine große nationale Wohlthat zu erzeigen, der letzte Mann von der Welt sein dürfte, den man gefühlloserweise mit den Unannehmlichkeiten seiner Familiensorgen plagte. Aber hierin würde man sich täuschen, in meinem Falle.

Indessen da ruhte ich, von meinen Kunstschätzen umgeben und auf einen ruhigen, ungestörten Vormittag hoffend. Weil ich aber auf einen ruhigen Vormittag hoffte, kam natürlich Louis herein. Es war sehr natürlich, daß ich frug, wie zum Henker er sich unterstehe, herein zu kommen, wenn ich nicht geklingelt hätte. Ich fluche selten – es ist eine so gemeine Angewohnheit – aber als Louis mir mit einem Grinsen antwortete, glaube ich, daß es ebenfalls natürlich war, wenn ich ihn dafür verwünschte. Jedenfalls that ich es.

Diese scharfe Behandlungsweise bringt, wie ich bemerkt habe, Leute von den niederen Classen stets wieder zur Besinnung. Und sie brachte Louis wieder zur Besinnung. Er hatte die Güte, das Grinsen einzustellen und mich zu benachrichtigen, daß »ein junges Frauenzimmer« draußen sei, das mich zu sprechen wünsche. Dann fügte er mit der unerträglichen Geschwätzigkeit von Dienern hinzu, daß es Fanny sei.

»Wer ist Fanny?«

»Lady Glyde’s Jungfer, Sir.«

»Was will Lady Glyde’s Jungfer von mir?«

»Sie hat einen Brief, Sir –«

»Nimm ihn ihr ab.«

»Sie weigert sich, ihn irgend Jemandem als Ihnen selbst zu geben, Sir.«

»Wer schickt den Brief?«

»Miß Halcombe, Sir.«

Sowie ich Miß Halcombe’s Namen hörte, ergab ich mich. Es ist meine Gewohnheit, mich Miß Halcombe stets ohne Widerrede zu ergeben. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies Lärm spart. Ich ergab mich also auch bei dieser Gelegenheit. Theure Marianne!

»Laß Lady Glyde’s Jungfer herein kommen, Louis. Halt! Knarren ihre Schuhe?«

Ich war gezwungen, diese Frage zu thun, denn knarrende Schuhe erschüttern meine  Nerven stets für den Rest des Tages. Ich hatte mich darein ergeben, das »junge Frauenzimmer« zu sehen, nicht aber darein, mir durch ihre Schuhe die Nerven erschüttern zu lassen. Selbst meine Duldung hat ihre Grenzen.

Louis erklärte entschieden, daß ich mich auf ihre Schuhe verlassen könne – ich machte ihm ein Zeichen mit der Hand, und er führte sie herein. Brauche ich zu sagen, daß sie ihre Verlegenheit dadurch ausdrückte, daß sie den Mund schloß und durch die Nase athmete? Dem Philosophen, welcher die weibliche menschliche Natur der niedern Classen studirt hatte, gewiß nicht.

Ich muß jedoch dem Mädchen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ihre Schuhe knarrten in der That nicht. Aber warum haben alle dienenden »jungen Frauenzimmer« feuchte Hände? Warum haben sie alle dicke Nasen und harte Wangen? Und warum haben ihre Gesichter stets etwas so betrübend Unfertiges, namentlich bei den Augenwinkeln herum?·Ich selbst bin nicht kräftig genug, um über dergleichen tief nachzudenken, aber ich frage sachverständige Leute, die hierin glücklicher sind als ich: warum haben wir keine Mannichfaltigkeit in unserem »Jung-Frauenzimmer«-Nachwuchs?

»Sie haben einen Brief für mich von Miß Halcombe? Haben Sie die Güte, legen Sie ihn auf den Tisch, aber stoßen Sie Nichts um. Wie befindet sich Miß Halcombe?«

»Ganz wohl, ich danke, Sir.«

»Und Lady Glyde?«

Ich erhielt keine Antwort. Das Gesicht des »jungen Frauenzimmers« nahm ein unfertigeres Aussehen denn je an und ich glaube, sie fing an zu weinen; wenigstens weiß ich ganz gewiß, daß ich etwas Nasses in ihren Augen bemerkte. Thränen oder Transpiration? Louis (den ich soeben darüber befragt habe) ist der Meinung, daß es Thränen waren. Er gehört ihrer Classe an und muß es daher am besten wissen. Sagen wir also Thränen.

Ausgenommen wenn ihnen durch das veredelnde Werk der Kunst alle Aehnlichkeit mit der Natur genommen ist, bin ich entschieden gegen Thränen. Thränen werden von der Wissenschaft als eine Absonderung bezeichnet. Ich kann nun wohl begreifen, daß eine Absonderung gesund oder ungesund sein kann, aber von einem poetischen Gesichtspunkte aus vermag ich ihnen kein Interesse abzugewinnen. Vielleicht ist dies, da meine eignen Absonderungen alle in der größten Unordnung sind, ein Vorurtheil von mir. Doch dem sei, wie ihm wolle: ich benahm mich bei dieser Gelegenheit voll Rücksicht und Gefühl. Ich schloß meine Augen und sagte zu Louis:

»Versuche zu erfahren, was sie meint.«

Louis versuchte, und das »junge Frauenzimmer« versuchte, und es gelang ihnen, sich einander in dem Grade zu verwirren, daß mich die Dankbarkeit verpflichtet, zu gestehen, daß sie mich wirklich amüsirten. Ich denke, das nächste Mal, daß ich in gedrückter Laune bin, lasse ich sie Beide wieder zu mir kommen. Ich habe dieser Absicht soeben zu Louis erwähnt; sonderbarerweise scheint sie ihn unangenehm zu berühren. Armer Narr!

Doch erwartet man hoffentlich nicht von mir, daß ich wiederhole, was meiner Nichte Kammerjungfer zur Erklärung ihrer Thränen vorbrachte, und wie mein schweizer Kammerdiener Dies in’s Englische übertrug? So Etwas ist offenbar unmöglich. Es mag mir vielleicht gelingen, meine eignen Eindrücke und Gefühle wiederzugeben. Wird dies genügen? Bitte, sage man Ja!

Mir ist, als ob sie damit angefangen hätte, mir (durch Louis) zu erzählen, daß ihr Herr sie aus dem Dienste ihrer Herrin entlassen habe. (Man bemerke, bitte, den seltsam unzusammenhängenden Bericht des »jungen Frauenzimmers«. War es meine Schuld, daß sie ihre Stelle verloren hatte?) Nach ihrer Entlassung sei sie in’s Wirthshaus gegangen, um dort die Nacht zuzubringen. (Bin ich ein Gastwirth, daß sie des Wirthshauses gegen mich zu erwähnen brauchte?) Zwischen sechs und sieben Uhr sei Miß Halcombe zu ihr gekommen, um ihr Adieu zu sagen, und habe ihr zwei Briefe gegeben – einen an mich und einen an einen Herrn in London. (Ich bin doch kein Herr in London – zum Henker mit dem Herrn in London!) Sie habe beide Briefe sorgfältig in ihren Busen gesteckt (was geht mich ihr Busen an?); sie sei sehr unglücklich gewesen, als Miß Halcombe sie wieder verlassen; sie habe nicht das Herz gehabt, einen Bissen oder Tropfen zu genießen, bis es beinah Schlafenszeit gewesen, und da, kurz vor neun Uhr, habe sie gedacht, sie wolle eine Tasse Thee trinken. (Bin ich für diese gemeinen Unschlüssigkeiten verantwortlich, die mit Kummer anfangen und mit Thee enden?) Gerade, als sie den Topf gewärmt (ich schreibe die Worte auf Louis’ Verantwortung, welcher sagt, er weiß, was sie bedeuten, und sich erbietet, sie zu erklären, aber ich verbiete es ihm aus Grundsatz) – gerade, als sie den Topf gewärmt, habe sich die Thür geöffnet, und sie sei wie angedonnert gewesen (wieder ihre eigenen Worte, die diesmal sogar für Louis ebenso unverständlich waren, wie für mich), als sie Ihro Gnaden die Frau Gräfin in’s Zimmer habe treten sehen. Ich schreibe den Titel, welchen meiner Nichte Kammerjungfer meiner Schwester beilegte, mit einem Gefühle wahren Hochgenusses. Meine arme liebe Schwester ist ein widerwärtiges Geschöpf, das einen Ausländer geheirathet hat. Um jedoch wieder zur Jungfer zurückzukommen: die Thür öffnete sich, und Ihro Gnaden die Frau Gräfin trat herein, und das »junge Frauenzimmer« war wie angedonnert. Höchst merkwürdig!

Ich muß wirklich ein wenig ausruhen, ehe ich fortfahre. Wenn ich ein paar Minuten mit geschlossenen Augen gelegen haben werde, und Louis meine armen Schläfen mit etwas Eau de Cologne gebadet hat, mag ich im Stande sein, meine Aufgabe fortzusetzen.

Ihro Gnaden die Frau Gräfin – nein. Ich bin allerdings im Stande fortzufahren, nicht aber, aufrecht zu sitzen. Ich will mich zurücklegen und dictiren. Louis hat eine entsetzliche Aussprache, aber er kennt die englische Sprache und kann sie schreiben. Wie außerordentlich bequem!

Ihro Gnaden die Frau Gräfin erklärte ihr unerwartetes Erscheinen im Wirthshause, indem sie zu Fanny sagte, sie bringe ihr, noch ein paar kleine Aufträge, welche Miß Halcombe in ihrer Eile vergessen habe. Das »junge Frauenzimmer« war sehr gespannt, diese Aufträge zu hören, aber die Gräfin schien nicht geneigt, ihr hierüber Aufschluß zu geben, bis Fanny ihren Thee getrunken haben würde (das sieht der Widerwärtigkeit meiner Schwester sehr ähnlich!). Ihro Gnaden war ganz außerordentlich gütig und rücksichtsvoll dabei (sieht meiner Schwester nicht im Geringsten ähnlich) und sagte: »Ich bin überzeugt, mein gutes Mädchen, daß Sie sehr einer Tasse Thee bedürfen. Unsere Aufträge können warten, bis Sie sich gestärkt haben. Kommen Sie; wenn Sie durchaus nicht anders wollen, so werde ich den Thee machen und eine Tasse mittrinken.« Das, glaube ich, waren die Worte, in denen das »junge Frauenzimmer« in großer Aufregung sich in meiner Gegenwart ausdrückte. Jedenfalls bestand die Gräfin darauf, den Thee zu machen, und trieb dann ihre lächerliche Ostentation der Herablassung so weit, daß sie selbst eine Tasse nahm und das Mädchen zwang, die andere zu nehmen. Das Mädchen trank den Thee; und dann – ihrem eigenen Berichte zufolge – feierte sie die außerordentliche Gelegenheit dadurch, daß sie in fünf Minuten zum erstenmale in ihrem Leben wie todt in Ohnmacht fiel. Ich bediene mich abermals ihrer eigenen Worte. Louis meint, sie seien von einer noch bedeutenderen Absonderung von Thränen begleitet gewesen. Doch kann ich hierüber selbst Nichts bestimmen. Die Anstrengung des Zuhörens war vollkommen genug für mich, und meine Augen waren geschlossen.

Wo blieb ich stehen? Ach ja – sie wurde ohnmächtig, nachdem sie eine Tasse mit der Gräfin getrunken, ein Verfahren, das mich möglicherweise interessirt hätte, wäre ich ihr Arzt gewesen; da aber dies nicht im Geringsten der Fall war, langweilte es mich blos unbeschreiblich, und das war Alles. Als sie nach ungefähr einer halben Stunde wieder zu sich kam, lag sie auf dem Sopha, und es war Niemand bei ihr außer der Wirthin. Die Gräfin, der es zu spät wurde, um noch länger im Wirthshause zu bleiben, war fortgegangen, sowie sie gesehen, daß das Mädchen sich erholte; und die Wirthin war dann so freundlich gewesen, sie hinauf zu führen und ihr zu helfen, sich ins Bett zu legen. Sobald sie allein geblieben, habe sie nach den Briefen in ihrem Busen gefühlt (ich bedaure, daß ich dieses Gegenstandes zum zweitenmale zu erwähnen habe), die auch beide dort gewesen, obgleich in einem sehr zerknitterten Zustande. Sie habe in der Nacht Schwindel gefühlt, sei aber am Morgen wohl genug gewesen, um abreisen zu können. Sie hatte den Brief an jenen höchst gleichgültigen Fremden, den Herrn in London, auf die Post und jetzt den anderen an mich in meine Hände gegeben, wie man ihr befohlen hatte. Dies sei die einfache Wahrheit, und obgleich sie sich für keine absichtliche Nachlässigkeit tadeln könne, so fühlte sie sich doch sehr beunruhigt und sehr des Rathes bedürftig. Hier, meint Louis, habe sie die Absonderungen wiederholt. Wohl möglich, doch ist es von unendlich größerer Wichtigkeit, daß hier ebenfalls ich die Geduld verlor, meine Augen öffnete und mich dazwischen legte.

»Und worauf läuft alles Dies hinaus?« fragte ich.

Meiner Nichte confuse Jungfer stand gaffend und sprachlos da.

»Versuche, ihr meine Frage deutlich zu machen«, sagte ich zu meinem Kammerdiener; »übersetze mich ihr, Louis.«

Louis versuchte es und übersetzte Mit anderen Worten: er stieg augenblicklich in eine bodenlose Gruft von Verwirrung hinab, und das »junge Frauenzimmer« folgte ihm. Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich je so amüsirt habe. Ich ließ sie, so lange sie mich unterhielten, in der Tiefe der Gruft; als dies aber aufhörte, machte ich Gebrauch von meiner Einsicht und zog sie wieder herauf.

Es ist unnöthig zu sagen, daß es mir im Verlaufe der Zeit gelang, mich mit dem eigentlichen Zwecke des Berichtes der Kammerjungfer bekannt zu machen. Ich entdeckte, daß es sie beunruhigte, durch den Gang der Ereignisse verhindert zu sein, jene nachträglichen Aufträge entgegenzunehmen, mit welchen Miß Halcombe die Gräfin an sie abgeschickt hatte. Sie fürchtete, daß diese Aufträge von größter Wichtigkeit für das Interesse ihrer Herrin gewesen seien; doch hatte ihre Furcht vor Sir Percival sie abgehalten, noch spät abends nach Blackwater Park zurückzukehren, um sich darüber zu unterrichten; und Miß Halcombe’s ausdrücklicher Befehl, auf keinen Fall am nächsten Morgen den Zug zu verfehlen, hatte sie verhindert, noch den folgenden Tag im Wirthshause zu warten. Sie war in größter Sorge, daß das Unglück ihrer Ohnmacht nicht noch das zweite Unglück, daß ihre Herrin sie für nachlässig hielte, zur Folge haben möge, und sie wolle mich ergebenst bitten, ihr zu sagen, ob ich ihr rathe, Miß Halcombe ihre Erklärungen und Entschuldigungen hierüber zu schreiben und sie zu bitten, ihr brieflich jene Aufträge zu geben, falls es noch nicht zu spät dazu sei. Ich entschuldige mich nicht wegen dieser weitschweifigen Darstellung eines Umstandes. Man hat mir befohlen, ihn zu erwähnen. Es giebt Leute – wie unglaublich dies auch scheinen mag – die mehr Interesse an dem nehmen, was meiner Nichte Jungfer bei dieser Gelegenheit zu mir, als an dem, was ich zu ihr sagte. Höchst belustigende Wunderlichkeit.

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Sir, wenn Sie die Güte haben wollten, mir zu sagen, was ich thun muß?« sagte das »junge Frauenzimmer.«

»Lassen Sie die Sachen, wie sie sind,« sagte ich, indem ich meine Sprache dem Begriffsvermögen meiner Zuhörerin anpaßte. »Ich lasse die Sachen stets, wie sie sind. Ja wohl. Ist das Alles?«

»Wenn Sie denken, Sir, daß ich mir eine Freiheit herausnähme, wenn ich schriebe, so würde ich es natürlich nicht wagen. Aber ich wünsche so sehr, Alles zu thun, was in meiner Macht liegt, um meiner Herrin treue Dienste zu leisten –«

Die Leute der niederen Klassen wissen nie, wann es Zeit ist zu gehen. Sie bedürfen hierin stets der Hülfe von ihren Vorgesetzten. Es schien mir hohe Zeit, daß ich dem »jungen Frauenzimmer« diese Hülfe leistete, und ich that dies mit zwei verständigen Worten:

»Guten Morgen!«

Es knarrte an diesem merkwürdigen Mädchen, entweder auswendig oder inwendig, plötzlich Etwas. Louis, der sie ansah (was ferne von mir war) sagt, daß sie knarrte, indem sie knixte. Sonderbar. Waren es etwa ihre Schuhe, oder ihr Schnürleibchen, oder ihre Knochen? Louis meint, es sei ihr Schnürleibchen gewesen. Höchst sonderbar!

Sobald man mich allein gelassen, hielt ich ein kleines Schläfchen – ich bedurfte dessen wirklich sehr. Als ich wieder aufwachte, bemerkte ich den Brief dieser lieben Marianne. Hätte ich nur die entfernteste Ahnung gehabt von Dem, was derselbe enthielt, so würde ich ihn gewiß nicht geöffnet haben. Da ich aber, unglücklicherweise für mich, frei von allem Argwohn bin, las ich den Brief. Er streckte mich für den Rest des Tages danieder.

Ich bin von Natur der umgänglichste Mensch von der Welt – ich mache Entschuldigungen für jeden Menschen, und bin durch Nichts beleidigt. Aber, wie ich schon bemerkt habe, selbst meine Geduld hat ein Ende. Ich legte Mariannen’s Brief nieder und fühlte mich mit Recht tief beleidigt.

Ich bin im Begriff eine Bemerkung zu machen – dieselbe paßt natürlich zu der sehr ernsten Sache, die vor uns liegt, oder ich würde sie nicht an dieser Stelle erscheinen lassen.

Nichts stellt meiner Meinung nach den hassenswerthen Egoismus der Menschen in ein so auffallend abstoßendes Licht, als die Behandlung, welche in allen Classen der Gesellschaft unverheiratheten Leuten von den verheiratheten zu Theil wird. Hast Du Dich einmal zu rücksichtsvoll und uneigennützig bewiesen, um noch zur Vergrößerung einer bereits überfüllten Bevölkerung beizutragen, so wirst Du von Deinen verheiratheten Verwandten, denen es an ähnlicher Rücksicht und Uneigennützigkeit fehlt, dazu auserkoren, alle ihre ehelichen Sorgen zu theilen und ihren Kindern ein fester Freund und Beschützer zu sein. Eheleute sprechen von den Sorgen des Ehestandes, und die Unvermählten haben sie zu ertragen. Man nehme meinen eigenen Fall. Ich bin so rücksichtsvoll, unvermählt zu bleiben, und mein armer lieber Bruder Philipp ist so rücksichtslos, sich zu verheirathen. Was thut er, wie er stirbt? Hinterläßt mir seine Tochter! Sie ist ein liebes Mädchen, aber sie ist eine furchtbare Verantwortlichkeit Warum wird sie mir aufgebürdet? Weil ich in meiner Eigenschaft als harmloser, unverheiratheter Mann verpflichtet bin, meine verheiratheten Verwandten von all’ ihren Sorgen zu befreien. Ich thue mein Bestes für die mir von meinem Bruder hinterlassene Verantwortlichkeit; ich verheirathe meine Nichte nach unendlich viel Wirthschaft und Schwierigkeit mit dem Manne, den ihr Vater ihr bestimmt hat. Sie veruneinigt sich mit ihrem Manne, und die Sache hat unangenehme Folgen. Was macht sie mit diesen Folgen? Sie übermacht sie mir. Weil ich in meiner Eigenschaft als harmloser, unverheiratheter Mann verpflichtet bin, meine verheiratheten Verwandten von all’ ihren Sorgen zu befreien. Ihr armen Unvermählten. Du arme Menschennatur!

Es ist ganz unnöthig zu sagen, daß Marianne’s Brief Drohungen für mich enthielt. Alles droht mir. Alle möglichen Greuel sollten auf mein unglückliches Haupt fallen, falls ich zögerte, meiner Nichte und ihren Unannehmlichkeiten Limmeridge House als Zuflucht anzubieten. Aber ich zögerte dennoch.

Ich habe bereits erwähnt, daß mein gewöhnliches Verfahren bei solchen Gelegenheiten darin besteht, mich Mariannen zu fügen und auf diese Weise Lärm zu sparen. Diesmal aber waren die voraussichtlichen Folgen ihres außerordentlich rücksichtslosen Vorschlages so bedenklicher Art, daß sie mich zögern ließen. Welche Sicherheit hatte ich, falls ich Lady Glyde eine Zuflucht in Limmeridge House anbot, daß nicht Sir Percival in einem Zustande heftigen Zornes gegen mich, weil ich seine Frau aufgenommen, ihr hierher folgen würde? Ich sah, daß mit einem solchen Verfahren ein wahres Labyrinth von Sorgen und Unannehmlichkeiten für mich verknüpft war, und beschloß daher, erst ein wenig hinzuhorchen, wie man sagt. Ich schrieb demzufolge an die gute Marianne und bat sie (da sie keinen Gemahl besitzt, der Ansprüche an sie zu machen hätte), erst allein herzukommen, um die Sache mit mir zu besprechen. Falls sie dann meine Einwürfe zu meiner vollkommenen Zufriedenheit beseitigen könne, so versichere ich sie, daß ich unsere liebe Laura mit dem größten Vergnügen wieder aufnehmen werde – widrigenfalls jedoch nicht. Ich fühlte natürlich sogleich, daß dies Capituliren von meiner Seite wahrscheinlich damit enden werde, daß Marianne hier in einem Zustande tugendhafter, thürenwerfender Entrüstung anlangte, Aber das andere Verfahren konnte dagegen damit enden, Sir Percival ebenfalls in einem Zustande tugendhafter, thürenwerfender Entrüstung herzubringen, und von beiden Arten der Entrüstung und des Thürenwerfens ziehe ich Marianne’s vor – weil ich an sie gewöhnt bin. Demzufolge schickte ich meinen Brief mit umgehender Post ab. Ich gewann hierbei jedenfalls Zeit – und, o mein Gott! das ist gleich ein großer Gewinn.

Wenn ich vollkommen daniedergestreckt bin, (habe ich erwähnt, daß ich durch Mariannen’s Brief vollkommen daniedergestreckt war?) brauche ich stets drei Tage, um mich wieder zu erholen. Ich war sehr unbillig, indem ich drei Tage der Ruhe erwartete – und sie wurden mir natürlich nicht.

Am dritten Tage brachte die Post mir einen höchst impertinenten Brief von einem Menschen, der mir völlig unbekannt ist. Er gab sich als den activen Compagnon unseres Geschäftsführers an – des guten, halsstarrigen, alten Gilmore – und benachrichtigte mich, daß er kürzlich durch die Post einen Brief erhalten, dessen Adresse von Miß Halcombe’s Hand geschrieben. Da er jedoch das Couvert geöffnet, habe er zu seinem Erstaunen in demselben nichts als ein Stück leeren Briefpapieres gefunden. Dieser Umstand sei ihm so verdächtig erschienen (weil derselbe in seinem unruhigen Advokatengeiste sofort die Idee erweckte, daß Spitzbüberei dabei im Spiele gewesen) daß er augenblicklich an Miß Halcombe geschrieben, jedoch keine Antwort von ihr erhalten habe. Anstatt nun wie ein vernünftiger Mann zu handeln und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen, war sein nächstes lächerliches Verfahren, wie er dies selbst bewieß, daß er mich belästigte, indem er an mich schrieb, um mich zu fragen, ob ich Etwas von der Sache wisse. Wozu mich auch noch beunruhigen, wenn er selbst schon beunruhigt war? Ich schrieb ihm einen Brief diesen Inhaltes, und es war dies einer der schärfsten, die ich je geschrieben habe. Seit ich jenem ungemein widerwärtigen Menschen, Mr. Walter Hartright seine Entlassung zuschickte, habe ich in Form von Briefen nichts Schärferes abgefaßt.

Mein Brief brachte die von mir beabsichtigte Wirkung hervor: ich hörte nicht wieder von dem Advokaten. Dies war vielleicht nicht sehr zum Verwundern. Aber es war jedenfalls ein bemerkenswerther Umstand, daß ich keinen zweiten Brief von Mariannen erhielt, und daß sich keine Warnungszeichen von ihrer Ankunft wahrnehmen ließen. Ihr unerwartetes Ausbleiben war von erstaunlich guter Wirkung für mich. Es war so überaus beruhigend und angenehm, daraus zu schließen, (was ich.natürlich that) daß meine verheiratheten Verwandten wieder ausgesöhnt seien. Fünf Tage ungestörter Ruhe, köstlicher, einsamer Glückseligkeit, stellten mich ganz wieder her. Am sechsten Tage – entweder dem fünfzehnten oder sechzehnten Juli – fühlte ich mich wohl genug, um meinen Photographen kommen zu lassen und ihn wieder bei dem Werke anzustellen, welches ich, wie schon erwähnt, dieser barbarischen Umgegend zu schenken beabsichtige, um ihren Geschmack und Kunstsinn etwas zu bilden. Ich hatte ihn soeben entlassen, und gerade angefangen, mit meinen Münzen zu cokettiren, als plötzlich Louis, mit einer Karte in der Hand, ins Zimmer trat.

»Wieder ein junges Frauenzimmer?« sagte ich. »Ich will sie nicht sehen. In meinem Gesundheitszustande sind mir ›junge Frauenzimmer‹ im höchsten Grade nachtheilig. Nicht zu Hause!«

»Es ist ein Herr diesmal, Sir.«

Ein Herr war allerdings etwas Anderes. Ich blickte auf die Karte.

Gerechter Himmel! der ausländische Gemahl meiner widerwärtigen Schwester, Graf Fosco!

 

Fortsetzung von Mr. Fairlie’s Aussage

 

Brauche ich zu sagen, was mein erster Eindruck war, als ich auf die Karte meines Besuchers blickte? Gewiß nicht. Da meine Schwester einen Ausländer geheirathet hatte, gab es nur einen einzigen Schluß, zu dem ein Mann kommen konnte, der bei vollem Verstande war. Der Graf kam natürlich, um Geld von mir zu borgen.

»Louis,« sagte ich, »glaubst Du, daß er gehen würde, wenn Du ihm fünf Schillinge gäbst?«

Louis sah ganz entrüstet aus. Er überraschte mich unbeschreiblich, indem er erklärte, meiner Schwester Gemahl sei süperbe gekleidet und sehe wie ein Bild des Wohlstandes aus. Unter diesen Verhältnissen veränderten sich meine ersten Eindrücke bis zu einem gewissen Grade. Ich nahm es jetzt für ausgemacht an, daß der Graf sich ebenfalls in ehelichen Schwierigkeiten befände, und daß er, wie der Rest der Familie, komme, um mir dieselben aufzubürden.

»Hat er gesagt, was ihn herführt?« fragte ich.

»Graf Fosco sagte, er sei gekommen, Sir, weil es Miß Halcombe nicht möglich gewesen, Blackwater Park zu verlassen.«

Neue Sorgen dem Anschein nach. Gerade nicht seine eigenen, wie ich vermuthet hatte, aber die der guten Marianne. Dies war übrigens ziemlich einerlei. Es waren jedenfalls Sorgen. O, du mein Gott!

»Bringe ihn herein,« sagte ich mit Ergebung.

Des Grafen Erscheinung erschreckte mich zuerst wirklich. Seine Persönlichkeit war von so großen Verhältnissen, daß ich förmlich erbebte. Ich war überzeugt, daß er den Fußboden erschüttern und meine Kunstschätze umstürzen werde. Er that weder das Eine noch das Andere. Er trug eine Sommerkleidung, die einen erfrischenden Anblick hatte; sein Wesen war auf eine charmante Weise ruhig und unbefangen – und er hatte ein bezauberndes Lächeln. Mein erster Eindruck von ihm war im höchsten Grade günstig. Es spricht dies nicht sehr lobend für meinen Scharfblick, wie die Folgen beweisen werden, aber ich bin von Natur ein offener, freimüthiger Mann und gestehe es dessenungeachtet.

»Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen, Mr. Fairlie,« sagte er, »ich komme von Blackwater Park und habe die Ehre und das Glück, der Gemahl der Gräfin Fosco zu sein. Lassen Sie mich zum ersten und letzten Mal Gebrauch von diesem Umstande machen, indem ich Sie bitte, mich nicht als einen Fremden zu betrachten. Ich bitte Sie, sich nicht stören zu lassen – bitte, bleiben Sie ruhig sitzen.«

»Sie sind sehr gütig,« erwiderte ich; »ich wollte, ich wäre kräftig genug, um aufstehen zu können. Sehr erfreut, Sie in Limmeridge zu sehen. Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Ich fürchte, Sie sind heute leidend,« sagte der Graf.

»Wie gewöhnlich,« sagte ich;·»ich bin Nichts weiter, als ein Paquet Nerven, die man angekleidet hat, daß sie wie ein Mensch aussehen.«

»Ich habe zu meiner Zeit Manches studirt,« sagte dieses theilnehmende Wesen, »und unter andern auch diesen unerschöpflichen Gegenstand: die Nerven. Wollen Sie mir gestatten, Ihnen einen Vorschlag zu machen, die einfachste Sache von der Welt und zugleich die vollkommenste? Wollen Sie mir erlauben, eine Veränderung in der Beleuchtung Ihres Zimmers zu machen?«

»Gewiß – wenn Sie nur so gütig sein wollen, kein Licht auf mich herein zu lassen.«

Er ging ans Fenster. So ganz verschieden von der lieben Marianne! So außerordentlich rücksichtsvoll in allen seinen Bewegungen!

»Licht,« sagte er in jenem unbeschreiblich angenehmen, vertraulichen Tone, der so wohlthuend für Kranke ist, – »ist das erste Bedürfniß. Das Licht ist ein Nahrungs-, Reiz- und Erhaltungsmittel. Sie können ebensowenig ohne Licht existiren, Mr. Fairlie, als wenn Sie eine Blume wären. Jetzt geben Sie Acht. Hier, wo Sie sitzen, schließe ich die Fensterläden, um die Beleuchtung fürs Sie zu mildern. Da, wo Sie nicht sitzen, ziehe ich das Rouleau in die Höhe und lasse die stärkende Sonne herein. Gestatten Sie dem Lichte Einlaß in ihr Zimmers, wenn Sie es auch nicht auf Ihrem Körper vertragen können. Das Licht, Sir, ist eine große Verordnung der Vorsehung Sie nehmen mit gewissen Vorbehalten die Vorsehung an. Machen Sie es mit dem Lichte ebenso.«

Mir schien dies sehr überzeugend und sehr aufmerksam von ihm Er hatte mich angeführt – bis hieher und mit dem Lichte hatte er mich jedenfalls in Bezug auf sich angeführt.

»Sie sehen mich in Verwirrung,« sagte er, zu seinem Platze zurückkehrend – »auf mein Ehrenwort, Mr. Fairlie, ich bin verwirrt in Ihrer Gegenwart.«

»Es macht mich sehr unglücklich, das zu hören. Darf ich fragen, warum?«

»Sir, kann ich wohl in dieses Zimmer treten (wo Sie als Dulder sitzen) und Sie von diesen herrlichen Kunstgegenständen umgeben sehen, ohne gewahr zu werden, daß Sie ein Mann von tiefempfänglichen Gefühlen, dessen Sympathien beständig lebendig sind? Sagen Sie mir, ob Sie dies für möglich halten?«

Wäre ich kräftig genug gewesen, um mich aufzurichten, so würde ich mich natürlich verbeugt haben; da ich dies aber nicht war, gab ich ihm statt dessen meine Anerkennung seines Complimentes durch ein Lächeln kund. Es hatte dieselbe Wirkung – wir verstanden uns vollkommen.

»Bitte, folgen Sie meinem Gedankengange,« fuhr der Graf fort. »Ich, der ich selbst ein Mann von feinen Gefühlen bin, sitze hier in Gegenwart eines Mannes von ebenfalls feinen Gefühlen. Ich bin mir bewußt, daß ich diese Gefühle verwunden werde, indem ich von häuslichen Ereignissen rede, die sehr betrübender Natur sind. Was ist die unvermeidliche Folge hiervon? Ich habe mir bereits erlaubt, sie Ihnen anzudeuten – Sie sehen mich verwirrt.«

War es in diesem Augenblicke, daß ich zu ahnen begann, er werde mich langweilen? Ich glaube fast.

»Ist es durchaus nothwendig, jetzt von diesen unangenehmen Dingen zu reden?« fragte ich. »Oder, wie wir uns in schlichtem Englisch ausdrücken, Graf Fosco, würden sie sich nicht halten?«

Der Graf schüttelte blos auf höchst beunruhigende Weise mit dem Kopfe und seufzte.

»Muß ich sie wirklich hören?«

Er zuckte mit den Achseln (das erste Mal, daß er sich, seitdem er ins Zimmer getreten war, einer ausländischen Gewohnheit schuldig machte), und blickte mich auf eine unangenehm prüfende Weise an. Mein Instinct sagte mir, daß ich besser thun würde, indem ich die Augen schlösse. Ich folgte meinem Instincte.

»Bitte, machen Sie mir Ihre Mittheilung mit Vorsicht,« bat ich ihn. »Ist irgend Jemand todt?«

»Todt!« rief der Graf mit unnöthiger ausländischer Heftigkeit aus. »Mr. Fairlie, Ihre nationale Ruhe flößt mir Grauen ein. In des Himmels Namen, was habe ich gesagt oder gethan, das Sie veranlaßte, mich für den Boten des Todes anzusehen?«

»O bitte, empfangen Sie meine Entschuldigungen,« erwiderte ich. »Sie haben Nichts gesagt oder gethan. Ich mache es mir in solchen betrübenden Fällen zur Regel, stets das Schlimmste vorauszusehen Die Heftigkeit des Schlages wird gebrochen, indem man ihm auf halbem Wege begegnet und so weiter. Unaussprechlich erleichtert, zu hören, daß Niemand todt ist. Ist Jemand krank?«

Ich öffnete die Augen und sah ihn an. War er vielleicht schon sehr gelb, als er hereinkam, oder war er es erst in den letzten paar Minuten geworden? Ich kann es wirklich nicht bestimmt sagen, und ich kann auch nicht Louis fragen, denn er war nicht im Zimmer.

»Das macht einen Theil meiner schlimmen Nachrichten aus, Mr. Fairlie. Ja, es ist Jemand krank.«

»Bin wirklich sehr bekümmert. Welche von ihnen ist es?«

»Zu meinem großen Kummer, Miß Halcombe. Vielleicht waren Sie einigermaßen hierauf vorbereitet? Vielleicht ließ schon Ihre liebende Besorgniß Sie dies fürchten als Sie fanden, daß Miß Halcombe weder kam, noch Ihnen zum zweitenmale schrieb?«

Ich zweifle nicht, daß zu einer oder der andern Zeit meine liebende Besorgniß mir diese traurige Befürchtung eingeflößt hatte; aber in dem Augenblicke war der Umstand gänzlich aus meinem erbärmlichen Gedächtnisse entschwunden. Indessen sagte ich, um mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Ja. Ich war sehr erschüttert. Es war so überaus uncharakteristisch für eine so robuste Persönlichkeit, wie die unserer lieben Marianne, krank zu sein, daß ich nur annehmen konnte, es müsse ihr irgend ein Unfall begegnet sein. Sie war vielleicht mit dem Pferde oder von der Treppe gestürzt, oder Etwas der Art.

»Ist die Sache ernstlich?« fragte ich.

»Ernstlich – ohne allen Zweifel,« entgegnete er, »doch nicht gefährlich, wie ich von ganzem Herzen hoffe. Miß Halcombe hat sich unglücklicherweise einem kalten, durchnässenden Regen ausgesetzt; die darauf erfolgte Erkältung war sehr heftiger Natur und ist jetzt in Fieber ausgeartet.«

Als ich das Wort Fieber hörte und mich in demselben Augenblicke erinnerte, daß der gewissenlose Mensch, der zu mir sprach, eben Blackwater Park verlassen, war mir’s zu Muthe, als ob ich ohnmächtig werden müßte.

»Gerechter Gott!« sagte ich, »ist es ansteckend?«

»Bis jetzt noch nicht,« antwortete er mit einer abscheulichen Gelassenheit; »es mag ansteckend werden, doch war ein so beklagenswerther Zustand bei meiner Abreise von Blackwater Park noch nicht eingetreten. Ich habe das tiefste Interesse an der Sache genommen, Mr. Fairlie – ich habe dem angenommenen Arzte meinen besten Beistand bei der Beobachtung der Krankheit zu leisten gesucht, und darf Ihnen persönlich die Versicherung geben, daß das Fieber nichts Ansteckendes hatte, als ich die Krankheit zum letztenmale sah.«

Seine Versicherung! Ich war nie in meinem Leben weiter entfernt, über Etwas versichert zu sein. Ich würde ihm nicht geglaubt haben, selbst wenn er mir einen Eid darauf abgelegt hätte. Er sah zu gelb aus, als daß ich ihm hätte glauben können. Er sah aus wie eine personificirte westindische Epidemie. Er war groß und dick genug, um Typhusfieber tonnenweise in sich zu tragen, und sogar den Teppich, den er betrat, mit Scharlachfieber zu sättigen. In gewissen dringenden Lagen fasse ich sehr schnell meinen Entschluß. Ich beschloß augenblicklich, ihn mir vom Halse zu schaffen.

»Sie werden die Güte haben, einen Kranken zu entschuldigen,« sagte ich; »aber eine lange Unterhaltung, welcher Art sie auch sei, verschlimmert stets meinen Zustand. Darf ich Sie bitten, mich genau von dem Zwecke zu unterrichten, dem ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken habe?«

Ich hoffte inbrünstig, daß dieser ungemein deutliche Wink ihn aus seinem Gleichgewicht werfen, ihn verwirrt machen, ihn zu höflichen Entschuldigungen zwingen, kurz, ihn aus dem Zimmer treiben würde. Aber im Gegentheil, er saß nur um so fester. Er wurde jetzt doppelt feierlich, würdevoll und vertraulich. Er hielt zwei seiner abscheulichen Finger empor und gab mir noch einen seiner unangenehm durchdringenden Blicke. Was konnte ich machen? Ich war nicht kräftig genug, um mit ihm zu streiten. Habt die Güte und denkt Euch in meine Lage. Ist es in der Macht der Sprache, sie zu beschreiben? Ich glaube nicht.

»Der Zweck meines Besuches,« fuhr er unerschüttert fort, »ist ein zweifacher. Ich komme erstens, um Ihnen mit aufrichtigem Bedauern mein Zeugniß in Bezug auf die beklagenswerthen Uneinigkeiten zwischen Sir Percival und Lady Glyde abzulegen. Ich bin Sir Percival’s ältester Freund; ich bin – durch Heirath – mit Lady Glyde verwandt, und bin ein Augenzeuge von Allem, was sich in Blackwater Park zugetragen hat. In diesen drei Eigenschaften spreche ich mit Autorität, mit Vertrauen und mit aufrichtiger Betrübniß. Sir! ich unterrichte Sie hiermit, als das Haupt von Lady Glyde’s Familie, daß Miß Halcombe in dem kürzlich an Sie gerichteten Schreiben Nichts übertrieben hat. Ich bestätige, daß das von dieser verehrungswürdigen Dame vorgeschlagene Hülfsmittel das einzige ist, welches Sie gegen die Greuel öffentlicher Bloßstellung schützen kann. Eine zeitweilige Trennung des Ehepaares ist die einzige friedliche Lösung dieser Schwierigkeit. Trennen Sie sie für jetzt, und sobald alle Ursache zu Zwistigkeiten beseitigt, verpflichte ich, der ich die Ehre habe, in diesem Augenblicke zu Ihnen zu sprechen – verpflichte ich mich, Sir Percival zur Vernunft zu bringen. Lady Glyde ist unschuldig, ist tief beleidigt; aber – folgen Sie gefälligst hier meinem Gedankengange! – gerade deshalb ist sie (ich sage es mit tiefer Beschämung) Ursache von Spannung, so lange sie unter dem Dache ihres Gemahls bleibt. Kein anderes Haus als das Ihrige kann Lady Glyde mit Schicklichkeit aufnehmen, und ich fordere Sie daher auf, es ihr zu öffnen!«

Aeußerst trocken. Im Süden von England tobte ein eheliches Hagelwetter, und ein Mensch mit einem Fieber in jeder Falte seines Rockes forderte mich auf, aus dem Norden herbeizueilen, um mir meinen Antheil an dem Schauer abzuholen. Ich versuchte ihm dies deutlich darzustellen, wie ich es hier gethan habe. Der Graf senkte ganz kaltblütig den einen seiner schauerlichen Finger, hielt den andern aber nach wie vor empor, und fuhr gewissermaßen – ohne selbst die gewöhnliche Kutscheraufmerksamkeit, mich durch einen Ausruf zu warnen, ehe er mich umwürfe, zu beobachten – über mich hin.

»Folgen Sie gütigst nochmals meinem Gedankengange,« fuhr er fort. »Sie haben den ersten Zweck meines Besuches gehört. Der zweite besteht darin, das zu thun, was Miß Halcombe’s Krankheit sie verhindert, selbst zu thun. In allen schwierigen Fällen zieht man im Blackwater Park meine ausgebreiteten Erfahrungen zu Rathe, und es geschah dies auch in Bezug auf Ihren interessanten Brief an Miß Halcombe. Ich begriff augenblicklich – denn Ihre Sympathien sind die meinigen – warum Sie Miß Halcombe hier zu sehen wünschten, ehe Sie einwilligten, Lady Glyde hierher einzuladen. Sie haben vollkommen Recht, Sir, wenn Sie zögern, die Damen zu empfangen, bis Sie die Versicherung empfangen, daß der Gemahl nicht seine Autorität geltend machen und seine Frau von Ihnen zurückfordern wird. Ich bin hierin ganz Ihrer Ansicht; und auch darin, daß so zarte Erklärungen, wie sie aus dieser Schwierigkeit entspringen, nicht wohl schriftlich erledigt werden können. Meine Gegenwart hier (die mit großer persönlicher Unbequemlichkeit verbunden) ist ein Beweis von meiner Aufrichtigkeit. Was die Erklärungen selbst betrifft, so versichere ich Sie, ich – Fosco – der ich Sir Percival viel besser kenne, als Miß Halcombe ihn kennt – auf mein Ehrenwort, daß er diesem Hause nicht nahe kommen oder sich irgendwie mit demselben in Verbindung setzen soll, solange seine Frau sich darin befindet. Seine Angelegenheiten sind sehr verwirrt. Bieten Sie ihm Hülfe an unter der Bedingung, daß Lady Glyde ihre Freiheit erhält. Ich verspreche Ihnen, daß er die seinige auf diese Weise erkaufte mit beiden Händen ergreifen und mit aller Schnelligkeit nach dem Festlande zurückkehren wird. Ist Ihnen dies klar wie Crystall? Ganz gewiß. Haben Sie mir Fragen vorzulegen? Es sei; ich bin hier, um sie zu beantworten. Fragen Sie, Mr. Fairlie, fragen Sie, soviel Ihnen beliebt.«

Er hatte bereits so viel gesagt, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen, und sah auf so entsetzliche Weise fähig aus, noch viel mehr ohne alle Berücksichtigung meiner zu sagen, daß ich zur bloßen Selbstvertheidigung seine liebenswürdige Aufforderung ausschlug.

»Ich danke herzlich,« entgegnete ich. »Ich fühle mich sehr erschöpft. In meinem Gesundheitszustande muß ich dergleichen Dinge für ausgemacht annehmen. Erlauben Sie mir, dies auch bei der gegenwärtigen Gelegenheit zu thun. Wir verstehen einander vollkommen. Ja wohl. Sehr verbunden für Ihre gütige Vermittelung. Sollte ich jemals wieder gesund werden und Gelegenheit haben, unsere Bekanntschaft –«

Er stand auf. Ich dachte, er wolle gehen. Nein. Er hatte noch mehr zu sprechen – er mußte der Entwickelung ansteckender Einflüsse in meinem Zimmer noch mehr Zeit gönnen – in meinem Zimmer, bitte zu bedenken, in meinem Zimmer!

»Einen Augenblick,« sagte er, »nur noch einen Augenblick, ehe ich mich verabschiede. Ich bitte, Sie auf eine dringende Nothwendigkeit aufmerksam machen zu dürfen. Dieselbe ist folgende, Sir: Sie müssen nicht daran denken, mit der Einladung an Lady Glyde zu warten, bis Miß Halcombe wieder hergestellt ist. Miß Halcombe genießt die Pflege des Arztes, der Haushälterin zu Blackwater Park und einer erfahrenen Krankenwärterin – drei Personen, deren Fähigkeit und Treue ich mit meinem Leben verbürge. Dies sage ich Ihnen und zugleich, daß die Unruhe und Besorgniß um ihre Schwester Lady Glyde’s Gemüth und körperliches Befinden bereits dermaßen angegriffen hat, daß ihre Anwesenheit im Krankenzimmer vollkommen nutzlos wäre. Ihre Stellung ihrem Gemahl gegenüber wird täglich beklagenswerther und gefährlicher. Falls Sie Ihre Nichte noch länger in Blackwater Park lassen, so bewirken Sie dadurch keineswegs die schleunigere Wiederherstellung ihrer Schwester und riskiren zu gleicher Zeit eine öffentliche Bloßstellung, welche Sie und ich und wir Alle die Verpflichtung haben, im Interesse der Familie zu vermeiden. Ich rathe Ihnen daher von ganzem Herzen, die Verantwortlichkeit eines Verzuges von sich abzuwerfen, indem Sie Lady Glyde auffordern, augenblicklich hieher zu kommen. Thun Sie Ihre liebende, ehrenhafte, unvermeidliche Pflicht, und was sich dann immer zutragen möge, so kann Niemand Ihnen die Schuld davon beilegen. Ich spreche nach meinen umfassenden Erfahrungen und biete Ihnen meinen freundschaftlichen Rath an. Nehmen Sie ihn an – Ja oder Nein?«

Ich sah ihn an – sah ihn blos an– indem jede Linie meines Gesichtes meine Verwunderung über seine unbegrenzte Frechheit und den erwachenden Entschluß ausdrückte, Louis zu klingeln und ihm die Thür zeigen zu lassen. Es ist völlig unglaublich, aber vollkommen wahr, daß mein Gesicht nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu machen schien. Der Mensch ist ohne Nervensystem geboren – ohne jegliches Nervensystem!

»Sie zögern?« sagte er. »Mr. Fairlie! ich begreife dieses Zögern. Sie wenden ein – Sie sehen, wie tief meine Sympathie in Ihre Gedanken hinabtaucht! – Sie wenden ein, daß Lady Glyde weder körperlich noch geistig sich in einem Zustande befindet, um allein die Reise von Hampshire hierher zu unternehmen. Ihre eigene Jungfer ist, wie Sie wissen, von ihr entfernt worden, und unter der übrigen Dienerschaft zu Blackwater Park giebt es Niemanden, der geeignet wäre, um von einem Ende Englands bis zum andern mit ihr zu reisen. Sie wenden abermals ein, daß sie nicht gut in London bleiben kann, um sich auszuruhen, weil es sich nicht wohl paßte, daß sie in einem öffentlichen Gasthause übernachtete, wo sie vollkommen fremd ist. In einem Athem lasse ich beide Einwendungen zu, und im nächsten beseitige ich sie beide. Folgen Sie mir gütigst zum letztenmale. Als ich mit Sir Percival nach England zurückkehrte, war es meine Absicht, mich in der Umgegend von London niederzulassen. Diese Absicht habe ich soeben glücklich ausgeführt. Ich habe in dem Stadtviertel St. John’s Wood auf sechs Monate ein kleines meublirtes Haus gemiethet. Haben Sie die Güte, das in Ihrer Erinnerung zu bewahren und dann dem Programme, welches ich entworfen habe, Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Lady Glyde reist bis London – eine kurze Station – ich selbst empfange sie an der Eisenbahnstation, führe sie in mein Haus, welches zugleich das Haus ihrer Tante ist, um auszuruhen und zu übernachten; sobald sie sich erholt hat, begleite ich selbst sie an die Station – sie reist bis hierher, und ihre eigne Kammerjungfer (die sich augenblicklich unter Ihrem Dache befindet) empfängt sie am Wagenschlage. Auf diese Weise wird ihre Bequemlichkeit sowohl wie die Schicklichkeit berücksichtigt, und Ihre Pflicht – die Pflicht der Gastfreundschaft, der Theilnahme und der Beschützung – von Anfang bis zu Ende glatt und leicht für Sie gemacht. Ich fordere Sie voll Herzlichkeit auf, Sir, meine Bemühungen im geheiligten Interesse der Familie zu unterstützen. Ich rathe Ihnen ernstlich zu schreiben und der beleidigten und unglücklichen Dame, deren Sache ich heute führe, die Gastfreundschaft Ihres Hauses (und Herzens) anzutragen und den Brief mir zur Bestellung zu übergeben.«

Er winkte mir mit seiner entsetzlichen Hand zu, schlug sich auf die Ansteckung athmende Brust und benahm sich so rednerisch, als ob ich im Unterhause gelegen hätte. Es war die höchste Zeit, irgend einen verzweifelten Entschluß zu fassen, und ebenfalls die höchste Zeit, Louis kommen zu lassen, damit er das Zimmer durchräuchere. In dieser äußersten Schwierigkeit kam mir ein Gedanke – ein unschätzbarer Gedanke, welcher so zu sagen zwei lästige Fliegen mit einer Klappe schlug. Ich beschloß, mich dadurch, daß ich das Gesuch dieses widerlichen Ausländers erfüllte, indem ich sofort das von ihm gewünschte Billet schriebe, mich sowohl von des Grafen langweiliger Beredsamkeit, wie von Lady Glyde’s langweiligen Bekümmernissen zu befreien. Es hatte nicht die geringste Gefahr, daß die Einladung angenommen würde, denn es war im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß Lady Glyde Blackwater Park zu verlassen einwilligte, solange ihre Schwester dort krank lag. Wie es möglich war, daß dies sehr willkommene Hinderniß des Grafen diensteifrigem Scharfblicke entgangen, konnte ich nicht begreifen, und dennoch war es ihm entgangen. Meine Angst, daß er dies noch jetzt einsehen möchte, falls ich ihm Zeit zur Ueberlegung ließe, stachelte mich in dem erstaunlichen Maße auf, daß ich mich bezwang, aufrecht zu sitzen, die Schreibmaterialien dicht neben mir zu ergreifen – wörtlich zu ergreifen und den Brief mit einer Geschwindigkeit abzufassen, als ob ich ein ordinärer Abschreiber in irgend einem Comptoir gewesen wäre.

»Liebe Laura, bitte, komme sobald es Dir gefällt. Verkürze Dir die Reise, indem Du in London im Hause Deiner Tante schläfst. Bedaure zu hören, daß die gute Marianne krank ist.

Herzlich der Deine.«

Ich reichte dem Grafen diese Zeilen, indem ich den Arm weit ausstreckte – dann sank ich in meinen Sessel zurück und sagte: »Entschuldigen Sie mich – ich bin gänzlich erschöpft, ich bin zu nichts Weiterem fähig. Wollen Sie sich ausruhen und unten frühstücken? Grüße an Alle und meine Theilnahme und so weiter. Guten Morgen

Er hielt abermals eine Rede – der Mann ist vollkommen unerschöpflich. Ich schloß meine Augen und suchte so wenig wie möglich zu hören. Doch war ich ungeachtet meiner Bemühungen genöthigt, noch eine Menge zu hören. Meiner Schwester endloser Gemahl beglückwünschte sich und mich über den Erfolg unserer Unterredung; er hatte noch unbeschreiblich viel über seine Sympathien und die meinigen zu sagen; er beklagte meinen kläglichen Gesundheitszustand; er erbot sich, mir ein Recept zu schreiben; er machte mich auf die Nothwendigkeit aufmerksam, nicht zu vergessen, was er mir über die Wichtigkeit der Beleuchtung gesagt hatte; er nahm meine freundliche Einladung, sich auszuruhen und zu frühstücken, an; er empfahl mir, Lady Glyde in zwei oder drei Tagen zu erwarten; er bat mich um Erlaubniß, auf ein baldiges Wiedersehen hoffen zu dürfen, anstatt sich und mich zu betrüben, indem er Abschied von mir nähme; er sagte noch eine unbeschreibliche Menge mehr, dessen ich mich aber jetzt nicht mehr erinnere, da ich es diesmal nicht beachtete. Ich hörte seine theilnehmende Stimme sich langsam von mir entfernen, aber so groß er auch war – ihn hörte ich nicht. Er hatte das negative Verdienst, vollkommen geräuschlos zu sein. Ich weiß weder, wann er die Thür öffnete, noch wann er sie schloß. Ich wagte nach einem Zwischenraum der Stille die Augen zu öffnen und er war fort.

Ich klingelte Louis und zog mich in mein Badezimmer zurück. Laues, durch aromatischen Essig gestärktes Wasser für mich und reichliche Räucherung des Zimmers waren offenbar die zu empfehlenden Vorsichtsmaßregeln, und ich wandte sie natürlich an. Es freut mich, sagen zu können, daß dieselben sich wirksam erwiesen. Ich genoß meine gewöhnliche Siesta, wonach ich frisch und kühl erwachte. Meine ersten Fragen galten dem Grafen. Waren wir ihn wirklich los geworden? Ja – er war mit dem Nachmittagzuge abgereist. Hatte er gefrühstückt, und was? Nichts als Fruchttörtchen mit Sahne. Welch ein Mensch! Welch eine Verdauung!

Erwartet man noch fernere Aufschlüsse von mir? Ich glaube nicht. Ich denke, hier bis an die mir vorgezeichneten Grenzen gekommen zu sein. Die erschütternden Ereignisse, welche sich später zutrugen, liegen, wie ich so glücklich bin sagen zu können, nicht innerhalb meiner Erfahrungen. Ich bitte und flehe Jeden an, nicht so unbeschreiblich gefühllos zu sein, mir einen Theil der Schuld an diesen Ereignissen beizulegen. Ich that Alles in der besten Absicht. Man muß mich nicht für ein beklagenswerthes Unglück verantwortlich machen, das unmöglich vorauszusehen war. Es hat mich völlig daniedergestreckt; ich habe mehr dadurch gelitten, als sonst irgend Jemand. Mein Kammerdiener Louis (der mir wirklich auf seine ungebildete Art ergeben ist) meint, ich werde mich nie vollkommen wieder davon erholen. Er sieht mich in diesem Augenblicke mit meinem Taschentuche vor den Augen ihm dictiren. Ich muß aus Billigkeit gegen mich selbst wiederholen, daß es nicht meine Schuld gewesen, und daß es mich gänzlich niedergebeugt und mir das Herz gebrochen hat. Mehr kann ich nicht sagen.

3 - Die Art und Weise, wie man sich Mr. Fairlie’s Aussage und andere Aussagen verschaffte, welche in Kurzem folgen werden, bildet den Gegenstand einer Erklärung, welche in einem spätern Theile der Erzählung erscheinen wird. –  Anmerkung d. Verfassers.



Kapiteltrenner

Aussage der Elisa Michelsson, Haushälterin zu Blackwater Park

Man fordert mich auf, genau anzugeben, was ich über den Fortgang von Miß Halcombe’s Krankheit und über die Umstände weiß, unter welchen Lady Glyde Blackwater Park verließ, um nach London zu reisen.

Der Grund für diese Aufforderung ist, daß man meines Zeugnisses im Interesse der Wahrheit bedarf. Als Witwe eines Geistlichen der englischen Hochkirche (aber durch Unglück auf die Nothwendigkeit zurückgeführt, eine Stelle anzunehmen) habe ich gelernt, die Rechte der Wahrheit über alle anderen Rücksichten zu stellen. Ich füge mich daher einer Bitte, welche zu erfüllen ich andernfalls, um mich nicht an höchst betrübenden Familienangelegenheiten zu betheiligen, gezögert haben würde.

Ich habe mir damals kein Memorandum gemacht und kann deshalb mit Bestimmtheit kein Datum angeben; aber ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sage, daß Miß Halcombe’s Krankheit in der ersten Woche des Juli begann. Man frühstückte spät in Blackwater Park, zuweilen erst um zehn, nie aber vor halb zehn Uhr. An dem Morgen, von dem ich jetzt spreche, erschien Miß Halcombe (die sonst fast immer zuerst unten war) nicht am Frühstückstische. Nachdem die Herrschaften eine Viertelstunde auf sie gewartet hatten, schickten sie das Oberstubenmädchen zu ihr hinaus, welches aber ganz erschrocken wieder aus der Stube gestürzt kam. Ich begegnete ihr auf der Treppe und ging sogleich in Miß Halcombe’s Zimmer, um zu sehen, was es gäbe. Die arme Dame war nicht im Stande, es mir zu sagen. Sie ging mit einer Feder in der Hand, phantasirend und in heftigem Fieber in der Stube auf und ab.

Lady Glyde (da ich nicht mehr in Sir Percival’s Diensten bin, darf ich, ohne die Schicklichkeit zu verletzen, meine frühere Herrin bei ihrem Namen nennen, anstatt Mylady zu sagen) war die Erste, die aus ihrem Schlafzimmer herbeieilte. Sie war so furchtbar bestürzt und ergriffen, daß eine Frage an sie vergebens gewesen wäre. Graf Fosco und seine Gemahlin, welche gleich nach ihr heraufkamen, waren beide äußerst dienstfertig und gütig. Die Frau Gräfin half mir, Miß Halcombe in ihr Bett zu legen, und Seine Gnaden der Herr Graf blieb im Wohnzimmer und nachdem er sich seinen Medicinkasten hatte bringen lassen, mischte er einen Trank und eine kühlende Waschung für ihren Kopf, damit keine Zeit verloren würde, bis der Arzt käme. Wir kühlten ihren Kopf mit der Waschung, konnten sie aber nicht überreden, die Medicin zu nehmen. Sir Percival erbot sich, den Arzt holen zu lassen. Er schickte einen Reitknecht zu Pferde an den nächsten Arzt ab, welcher Mr. Dawson zu Oak Lodge war.«

Mr. Dawson kam nach weniger als einer Stunde an. Er war ein achtbarer, ältlicher Mann, der in der ganzen Umgegend bekannt war, und wir waren sehr erschrocken, als er den Anfall einen höchst ernsten nannte. Seine Gnaden der Herr Graf unterhielt sich sehr freundlich mit Mr. Dawson und sprach seine Ansichten mit einer verständigen Unbefangenheit aus, Mr. Dawson frug – nicht sehr höflich – ob der Rath des Herrn Grafen der Rath eines Arztes sei, und als Seine Gnaden ihm sagte, es sei der Rath eines Mannes, welcher die Medicin aus Liebhaberei studirt, entgegnete er, daß er nicht gewohnt sei, Consultationen mit Dilettanten-Aerzten zu halten, Der Graf lächelte mit echt christlicher Milde und verließ das Zimmer. Doch ehe er ging, sagte er mir, falls man seiner im Verlaufe des Tages bedürfe, würde er im Boothause beim See zu finden sei. Warum er gerade dorthin ging, kann ich nicht sagen. Jedenfalls aber ging er und blieb den ganzen Tag bis Abends sieben Uhr, wo man zu Tische ging, fort. Vielleicht wollte er das Beispiel geben, Alles im Hause so ruhig wie möglich zu halten. Es lag dies ganz in seinem Charakter. Er war ein außerordentlich rücksichtsvoller Herr.

Miß Halcombe verbrachte eine sehr schlimme Nacht, während welcher das Fieber abwechselnd kam und ging und gegen Morgen, anstatt sich zu legen, schlimmer wurde. Da in der Nachbarschaft keine Krankenwärterin zu finden war, die sie hätte pflegen können, übernahmen Ihre Gnaden die Frau Gräfin und ich diese Pflicht, indem wir einander ablösten. Lady Glyde war unweise genug, darauf zu bestehen, mit uns aufzusitzen. Sie war viel zu nervenschwach und bei zu schlechter Gesundheit, um die Besorgniß um Miß Halcombe mit Ruhe zu ertragen. Sie that sich bloß selbst Schaden, ohne ihrer Schwester von dem geringsten Nutzen zu sein. Es hat gewiß nie eine sanftere, liebevollere Dame gelebt, aber sie weinte und ängstigte sich – zwei Schwachheiten, die sich durchaus nicht für Krankenstuben eignen.

Sir Percival und der Graf kamen am Morgen, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Sir Percival schien mir (wahrscheinlich aus Kummer über den Schmerz seiner Gemahlin und über Miß Halcombe’s Krankheit) sehr verwirrt und unruhig. Der Herr Graf dagegen bewies eine sehr angemessene Fassung und Theilnahme. Er hielt seinen Strohhut in der einen und ein Buch in der andern Hand, und ich hörte ihn zu Sir Percival sagen, er werde wieder nach dem Boothause gehen, um zu studiren. »Laß uns alle mögliche Ruhe im Hause halten,« sagte er, »laß uns nicht im Hause rauchen, mein Freund, jetzt da Miß Halcombe krank ist. Geh’ Du Deiner Wege, und ich will meiner Wege gehen. Wenn ich studire, bin ich am liebsten allein. Guten Morgen, Mrs. Michelson.«

Sir Percival war nicht höflich genug –vielleicht wäre es besser, wenn ich sagte: nicht gefaßt genug – mich mit derselben höflichen Aufmerksamkeit zu grüßen. In der That die einzige Person im ganzen Hause, welche mir damals oder je auf dem Fuße einer Dame in zurückgekommenen Verhältnissen begegnete, war der Graf. Sein Benehmen war das eines wahren Edelmannes: er war rücksichtsvoll gegen Alle. Sogar das junge Frauenzimmer, (Fanny hieß sie) welches Lady Glyde bediente, stand nicht zu tief unter seiner Beachtung. Als Sir Percival sie fortschickte, war der Herr Graf (der mir eben seine allerliebsten kleinen Vögel zeigte) auf das Freundlichste besorgt, zu wissen, was aus ihr geworden, wo sie den Tag zubringen werde, bis sie Blackwater Park verlassen könne, und dergleichen mehr. Es ist hauptsächlich in solchen zarten kleinen Aufmerksamkeiten, daß sich die Vorzüge aristokratischer Geburt am deutlichsten zeigen. Ich mache keine Entschuldigungen wegen Anführung dieser Einzelheiten; ich erwähne ihrer absichtlich, um dem Herrn Grafen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, da ich weiß, daß gewisse Leute seinen Charakter in einem etwas unvortheilhaften Lichte sehen. Ein Edelmann, der eine Dame in zurückgekommenen Verhältnissen achten und väterliche Theilnahme an dem Schicksale einer armen Kammerjungfer bezeigen kann, beweist, daß er Grundsätze von zu erhabener Natur besitzt, als daß man sie auf leichtfertige Weise in Zweifel ziehen könnte. Ich enthalte mich aller Ansichten und beschränke mich auf bloße Thatsachen. Es ist mein Lebelang mein Bestreben gewesen, nicht zu richten, auf daß ich nicht gerichtet werde. Es bildete dies den Text zu einer der schönsten Predigten meines lieben Mannes. Ich lese diese Predigt wiederholt – in meinem eigenen Exemplare der in den ersten Wochen meines Witwenstandes auf Subscription gedruckten Ausgabe – und sie gewährt mir jedesmal erneuerte geistige Erquickung und Erbauung.

Miß Halcombe’s Zustand besserte sich nicht, und die zweite Nacht war wo möglich noch schlimmer, als die erste. Mr. Dawson kam mit regelmäßiger Beständigkeit. Die praktischen Pflichten des Pflegens wurden noch immer von der Frau Gräfin und mir getheilt, während Lady Glyde darauf bestand, mit uns aufzusitzen, obgleich wir Beide sie auf das Dringendste baten, sich etwas Erholung zu gönnen. »Mein Platz ist an Mariannen’s Bette,« war ihre einzige Antwort, »und ob ich krank bin oder wohl – Nichts soll mich bewegen, sie aus den Augen zu verlieren.«

Gegen Mittag ging ich hinunter, um einigen meiner regelmäßigen Pflichten nachzukommen. Eine Stunde später, als ich wieder ins Krankenzimmer zurückkehrte, sah ich den Grafen (welcher zum dritten Male früh des Morgens ausgegangen war) in den Flur kommen, und zwar dem Anscheine nach in der besten Laune. Sir Percival steckte zu gleicher Zeit den Kopf durch die Thür der Bibliothek und sagte mit großem Eifer folgende Worte zu seinem hohen Freunde:

»Hast Du sie gefunden?«

Ein zufriedenes Lächeln zeichnete tausend Grübchen in Seiner Gnaden großem Gesichte, aber er gab keine Antwort. In demselben Augenblicke wandte Sir Percival den Kopf um, sah, daß ich auf die Treppe zuging, und blickte mich auf höchst ungezogene, zornige Weise an.

»Komm hier herein und erzähle mir das Ganze,« sagte er zum Grafen. »Wenn man Weiber im Hause hat, kann man stets sicher sein, sie auf den Treppen zu sehen.«

»Mein lieber Percival,« sagte der Graf gütig, »Mrs. Michelson hat ihre Pflichten. Ich bitte Dich, sie für ihre höchst bewunderungswürdige Ausübung derselben zu achten, wie ich es thue. Wie geht es unserer Leidenden, Mrs. Michelson?«

»Nicht besser, Mylord, wie ich zu meinem Bedauern sagen muß.«

»Traurig – sehr traurig!« sagte der Graf. »Sie sehen angegriffen aus, Mrs. Michelson. Es ist wirklich ·Zeit, daß Sie und meine Frau Hülfe in der Pflege bekommen. Ich denke, daß ich im Stande sein werde, Ihnen diese Hülfe zu verschaffen. Es haben sich Sachen zugetragen, welche die Gräfin Fosco nöthigen werden, entweder morgen oder übermorgen nach London zu reisen, Sie wird früh abreisen und Abends zurückkehren und wird zu ihrer Ablösung eine Krankenwärterin mitbringen, welche vorzügliche Eigenschaften als solche besitzt und augenblicklich frei ist. Sie ist meiner Frau als eine Person bekannt, auf die man sich unbedingt verlassen kann. Bitte, sprechen Sie hierüber nicht zu dem Arzte, ehe sie da ist; denn er wird eine Krankenwärterin meiner Wahl jedenfalls mit scheelem Auge ansehen. Sobald sie aber im Hause erscheint, wird sie für sich selber sprechen, und Mr. Dawson wird genöthigt sein, zuzugeben, daß man keine Entschuldigung haben würde, falls man sich nicht ihrer bediente. Lady Glyde wird dasselbe sagen. Bitte, bestellen Sie Lady Glyde meine besten Empfehlungen und versichern sie meiner aufrichtigsten Theilnahme.«

Ich sprach meine dankbare Anerkennung für Sr. Gnaden gütige Rücksichten aus, Sir Percival unterbrach mich jedoch (ich bedaure, sagen zu müssen, daß er sich dabei eines profanen Ausdruckes bediente) und rief seinem hohen Freunde zu, in die Bibliothek zu kommen und ihn nicht ewig warten zu lassen.

Ich ging die Treppe hinauf. Wir sind arme, irrende Geschöpfe, und wie fest auch die Grundsätze einer Frau sein mögen, sie schützen sie nicht immer gegen die Versuchung einer müßigen Neugier. Es beschämt mich aufrichtig, bekennen zu müssen, daß auch meine Grundsätze bei dieser Gelegenheit einer eitlen Neugier unterlagen, welche mich unpassend wißbegierig über die Frage machte, die Sir Percival von der Thür aus an seinen Freund gerichtet hatte. Wen sollte der Graf während seiner Morgenstudien im Parke gefunden haben? Ein weibliches Wesen, nach Sir Percival’s Ausdrücken zu urtheilen. Ich traute dem Grafen keine Unschicklichkeit zu – dazu kannte ich seinen moralischen Charakter zu gut. Die einzige Frage, die ich mir wiederholte, war: hatte er sie gefunden?

Doch ich fahre fort. Die Nacht verging abermals, ohne Miß Halcombe Besserung zu bringen. Am folgenden Tage schien sie sich jedoch ein wenig zu erholen. Am Morgen darauf reiste die Frau Gräfin, ohne daß ich sie zu irgend Jemanden den Zweck ihrer Reise hatte erwähnen hören, mit dem ersten Zuge nach London, und ihr hoher Gemahl begleitete sie mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit zur Station.

Es war jetzt Miß Halcombe’s Pflege mir ganz allein überlassen und zugleich die Aussicht, da ihre Schwester trotz aller Ueberredung nicht von ihrem Bette weichen wollte, zunächst auch Lady Glyde in Pflege zu bekommen.

Der einzige Umstand von Wichtigkeit; welcher sich im Verlaufe des Tages zutrug, war ein abermaliger Wortstreit zwischen dem Grafen und dem Arzte.

Als Se. Gnaden von der Eisenbahnstation zurückkehrte, kam derselbe in Miß Halcombe’s Wohnzimmer hinaus, um sich, wie gewöhnlich, nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ich ging hinaus, um mit ihm zu sprechen, da Lady Glyde sowohl, wie Mr. Dawson in dem Augenblicke bei der Kranken waren. Der Herr Graf legte mir viele Fragen in Bezug auf die Behandlung und die Symptome vor. Ich sagte ihm, daß die Behandlung die sei, welche man mit dem Ausdrucke »salinisch« bezeichne, und daß die Symptome zwischen den Fieberanfällen allerdings auf eine zunehmende Schwäche und Erschöpfung hindeuteten. Gerade, als ich dieses letzten Umstandes erwähnte, trat Mr. Dawson aus dem Schlafzimmer.

»Guten Morgen, Sir,« sagte Se. Gnaden, indem er höchst leutselig auf den Doctor zuging und ihm mit einer vornehmen Entschlossenheit den Weg vertrat, die vollkommen unwiderstehlich war. »Ich fürchte sehr, daß Sie noch immer keine Besserung in den Symptomen gefunden haben?«

»Ich finde im Gegentheil eine entschiedene Besserung,« sagte Mr. Dawson.

»Sie bestehen also noch immer auf Schwächung in diesem Fieberanfalle?« fuhr Se. Gnaden fort.

»Ich bestehe auf einer Behandlung, welche ich durch Berufserfahrungen gerechtfertiget finde,« sagte Mr. Dawson.

»Erlauben Sie mir eine Frage in Bezug auf den umfassenden Gegenstand von Berufserfahrungen,« sagte der Graf. »Ich unterstehe mich nicht, Ihnen Rath anzubieten – nur, eine Frage an Sie zu richten. Sie leben in einiger Entfernung, Sir, von den gigantischen Mittelpunkten wissenschaftlicher Thätigkeit: von London und Paris. Haben Sie nicht davon gehört, daß man die schwächende Wirkung des Fiebers dadurch wieder gut zu machen sucht, daß man den erschöpften Patienten durch Rum, Wein, Ammonium oder Chinin stärkt? Ist diese neue Ketzerei der höchsten medicinischen Autoritäten je bis zu Ihren Ohren gedrungen oder nicht?«

»Sobald ein practischer Arzt mir diese Frage vorlegt, werde ich das Vergnügen haben, ihm dieselbe zu beantworten,« sagte der Doctor, indem er die Thür öffnete, um hinaus zu gehen. »Sie sind kein practischer Arzt und werden mich entschuldigen, wenn ich  Ihnen nicht darauf antworte.«

Indem der Graf diesen unverzeihlich unhöflichen Streich auf den einen Backen hinnahm, hielt er augenblicklich als echter Christ auch den zweiten hin und sagte mit aller Freundlichkeit: »Guten Morgen, Mr. Dawson.«

Wenn mein lieber verstorbener Mann das Glück gehabt hätte, Se. Gnaden zu kennen, wie sehr würden er und der Herr Graf einander da geachtet haben!

Ihro Gnaden die Frau Gräfin kehrte an demselben Abende mit demselben Zuge wieder zurück und brachte die Krankenwärterin aus London mit. Man sagte mir, daß der Name dieser Person Mrs. Rubelle sei. Ihr Aussehen und ihr unvollkommenes Englisch belehrten mich, daß sie eine Ausländerin sei.

Ich habe mich stets bemüht, eine menschenfreundliche Nachsicht für Ausländer zu fühlen. Sie besitzen nicht unsere Segnungen und Vortheile und sind meistens in den blinden Irrthümern des Papstthumes aufgewachsen. Es ist außerdem stets mein Grundsatz und meine Gewohnheit gewesen, wie es auch meines lieben Mannes Grundsatz und Gewohnheit war (siehe Predigt XXIX in der Sammlung Sr. Ehrwürden weiland Samuel Michelson’s, Dr. ph.), Andere so zu behandeln, wie ich von ihnen behandelt zu werden wünsche. Deshalb erwähne ich hier Nichts darüber, daß Mrs. Rubelle mir als eine kleine, steife, listige Person von ungefähr funfzig Jahren auffiel, mit einer dunkeln, braunen oder creolische Hautfarbe und wachsamen, hellgrauen Augen, noch daß ihr Anzug, obgleich derselbe aus der einfachsten schwarzen Seide bestand, für eine Person in ihrer Stellung von unpassend schwerem Stoffe und mit unnöthig geschmackvollem Besatze verziert war. Ich möchte nicht, daß so Etwas von mir gesagt würde, und es ist daher meine Pflicht, es auch nicht von Mrs. Rubelle zu sagen. Ich will blos erwähnen, daß ihr Wesen – wenn nicht gerade unangenehm steif – aber doch auffallend ruhig und zurückhaltend war; daß sie viel umherblickte und sehr wenig sprach, was natürlich ebenso sehr die Folge ihrer Bescheidenheit, als des Mißtrauens gegen ihre Stellung in Blackwater Park sein mochte; und daß sie das Abendessen ausschlug (was vielleicht sonderbar war, aber doch nicht verdächtig?), obgleich ich selbst sie mit der größten Höflichkeit einlud, dieses Mahl in meinem Zimmer mit mir zu theilen.

Auf des Grafen besonderen Wunsch (und dies war wieder Sr. Gnaden Versöhnlichkeit so ähnlich!) wurde bestimmt, daß Mrs. Rubelle ihre Pflichten nicht eher beginnen solle, als bis der Arzt sie am nächsten Morgen gesehen und seine Zustimmung gegeben habe. Ich wachte diese Nacht. Lady Glyde schien sehr dagegen, daß die neue Wärterin zu Miß Halcombe gelassen würde. Ein solcher Mangel an Rücksicht gegen eine Fremde von Seiten einer Dame ihrer Erziehung und feinen Bildung überraschte mich. Ich wagte die Bemerkung: »Mylady, wir sollten nicht voreilig in unserm Urtheile über untergeordnete Personen sein – namentlich, wenn dieselben aus fremdem Lande kommen.« Lady Glyde schien nicht auf mich zu achten. Sie seufzte blos und küßte Miß Halcombe’s Hand, welche auf der Bettdecke ruhte. Kein sehr vernünftiges Benehmen in einer Krankenstube und mit einer Patientin, die man so wenig als möglich aufregen sollte. Aber die arme Lady Glyde verstand Nichts vom Krankenpflegen – durchaus gar Nichts, wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß.

Am folgenden Morgen wurde Mrs. Rubelle in das Wohnzimmer geschickt, um von dem Arzte in Augenschein genommen zu werden, wenn er durch dasselbe in Miß Halcombe’s Schlafzimmer gehen würde. Ich ließ Lady Glyde bei Miß Halcombe, welche in diesem Augenblicke in sanftem Schlummer lag, und ging zu Mrs. Rubelle, damit sie sich in Bezug auf die Ungewißheit ihrer Lage nicht fremd und ängstlich fühlen möge. Sie schien es jedoch nicht in diesem Lichte zu sehen. Sie schien schon vorher vollkommen überzeugt, daß Mr. Dawson ihre Dienste annehmen – werde, und setzte sich ruhig ans Fenster, wo sie sich allem Anscheine nach sehr an der frischen Landluft erquickte. Manche Leute hätten in diesem Benehmen vielleicht eine freche Sicherheit gesehen. Ich bitte jedoch zu bemerken, daß ich nicht so lieblos war und vielmehr einen ungewöhnlich starken Geist darin erkannte.

Anstatt daß der Arzt zu uns herauf kam, ließ man mich zum Arzte rufen. Mir erschien diese Veränderung der Dinge etwas sonderbar, aber Mrs. Rubelle schien vollkommen unberührt dadurch. Als ich sie verließ, saß sie noch immer ruhig am Fenster und erquickte sich schweigend an der Landluft.

Mr. Dawson erwartete mich allein im Frühstückszimmer.

»In Betreff dieser neuen Wärterin, Mrs. Michelson, …« sagte der Doctor.

»Ja, Sir?«

»… Höre ich, daß die Frau jenes dicken alten Ausländers, der sich fortwährend in meine Angelegenheiten mischt, sie mit aus London gebracht hat. Mrs. Michelson, der dicke alte Ausländer ist ein Quacksalber.«

Dies war sehr grob, und ich war natürlich entrüstet darüber.

»Wissen Sie, Sir,« sagte ich, »daß Sie von einem Edelmann sprechen?«

»Bah! Er ist nicht der erste Quacksalber, der einen Titel besessen hätte. Die bestehen aus lauter Grafen – zum Henker mit ihnen!«

»Er würde nicht der Freund von Sir Percival Glyde sein, Sir, wenn er nicht der höchsten Aristokratie – die englische natürlich ausgenommen – angehörte.«

»Schon gut, Mrs. Michelson, nennen Sie ihn, wie Sie wollen, und lassen Sie uns wieder auf die Wärterin zurückkommen. Ich habe bereits Einwendungen gegen sie gemacht.«

»Ohne sie gesehen zu haben, Sir?«

»Ja wohl; ohne sie gesehen zu haben. Sie mag sie beste Wärterin von der Welt sein, aber sie ist nicht die Wärterin meiner Wahl. Ich habe diese Einwendung gegen Sir Percival als den Herrn des Hauses gemacht. Aber er stimmt mir nicht bei. Er sagt, eine Wärterin meiner Wahl würde ebensogut eine Fremde aus London gewesen sein, und er meint, wir müßten’s mit der Frau versuchen, nachdem Lady Glyde’s Tante sich die Mühe genommen, sie aus London zu holen. Das ist eigentlich billig, und ich kann nicht wohl Nein sagen. Aber ich habe es zur Bedingung gemacht, daß sie augenblicklich fortgeschickt wird, sowie ich Ursache finde, unzufrieden mit ihr zu sein. Da dies ein Vorschlag ist, zu dem ich als ärztlicher Rathgeber berechtigt bin, so hat Sir Percival seine Einwilligung dazu gegeben. Jetzt, Mrs. Michelson, weiß ich, daß ich mich auf Sie verlassen kann, und ich fordere Sie deshalb auf, die Wärterin während der ersten paar Tage scharf zu beobachten und danach zu sehen, daß sie Miß Halcombe keine Medicin giebt, die ich nicht verordnet habe. Dieser ausländische Edelmann, für den Sie solche Bewunderung hegen, stirbt vor Sehnsucht, seine Quacksalbereien (unter andern auch den Magnetismus) an meiner Patientin zu versuchen, und eine Wärterin, die seine Frau hergebracht hat, mag nur zu bereit sein, ihm zu helfen. Verstehen Sie mich? Gut, dann können wir hinauf gehen. Ist die Wärterin da? Ich will mit ihr sprechen, ehe sie ins Krankenzimmer geht.«

Wir fanden Mrs. Rubelle noch an derselben Stelle, wo ich sie verlassen. Als ich sie dem Arzte vorstellte, schien sie weder durch seine zweifelhaften Blicke, noch durch seine scharfen Fragen im Geringsten verlegen zu werden. Sie antwortete ihm mit großer Ruhe in gebrochenem Englisch, und obgleich er Alles that, um sie verwirrt zu machen, verrieth sie soweit doch nicht die kleinste Unwissenheit über ihre Pflichten. Dies war ohne Zweifel eine Folge von Geistesstärke, und durchaus nicht von frecher Sicherheit, wie ich schon vorhin bemerkte.

Wir gingen Alle ins Schlafzimmer. Mrs. Rubelle blickte die Kranke sehr aufmerksam an; verbeugte sich gegen Lady Glyde, ordnete ein paar Gegenstände im Zimmer und nahm dann ruhig in einem Winkel Platz, bis man ihrer bedürfen würde. Mylady schien erschrocken und verdrießlich über das Eintreten der fremden Wärterin. Niemand sprach aus Besorgniß, Miß Halcombe, die noch immer schlummerte, aufzuwecken – ausgenommen der Doctor, der sich flüsternd erkundigte, wie sie die Nacht zugebracht habe. Ich antwortete leise, »ziemlich wie gewöhnlich,« worauf Mr. Dawson hinausging. Lady Glyde folgte ihm, vermuthlich um mit ihm über Mrs. Rubelle zu sprechen. Was mich betraf, so war ich bereits mit mir darüber einig geworden, daß diese ruhige fremde Person ihre Stelle behaupten werde. Sie nahm sich ersichtlich sehr zusammen und verstand jedenfalls ihr Geschäft. Bis dahin hätte ich selbst kaum bessere Dienste am Bette leisten können.

Indem ich mich der mir von Mr. Dawson gegebenen Warnung erinnerte, beobachtete ich Mrs. Rubelle während der ersten drei bis vier Tage in gewissen Zwischenräumen sehr scharf. Ich trat zu wiederholten Malen leise und plötzlich ins Zimmer, ertappte sie aber nie bei irgend einer verdächtigen Handlung. Lady Glyde, welche sie ebenso aufmerksam beobachtete, wie ich, wurde ebenfalls nie Etwas gewahr. Ich bemerkte nie, daß die Medicinflaschen vertauscht waren; ich sah Mrs. Rubelle nie ein Wort zu dem Grafen sprechen, noch den Grafen zu ihr. Sie behandelte Miß Halcombe unbestritten mit Sorgfalt und Umsicht. Die arme Dame schwankte zwischen einer Art schläfriger Erschöpfung, die halb Ohnmacht und halb Schlummer war, und Anfällen von Fieber hin und her, die mehr oder weniger von Geistesverwirrung begleitet waren. Mrs. Rubelle störte sie in ersterem Zustande niemals, noch erschreckte sie dieselbe in letzterem, indem sie zu plötzlich in ihrer Eigenschaft als Fremde ans Bett getreten wäre. Ehre dem Ehre gebühret (sei es nun ein Engländer oder ein Ausländer) – ich muß Mrs. Rubelle mein unparteiisches Lob geben. Sie war außerordentlich wenig mittheilsam über sich selbst und auf eine zu entschiedene Weise unabhängig von dem Rathe erfahrener Leute, welche die Pflichten eines Krankenzimmers kannten – aber sie war dessenungeachtet eine gute Krankenwärterin, und niemals fanden weder Lady Glyde noch Mr. Dawson den Schatten einer Ursache, unzufrieden mit ihr zu sein.

Der nächste Umstand von Wichtigkeit, welcher sich im Hause ereignete, war eine kurze Abwesenheit des Grafen, der in Geschäften nach London gerufen wurde. Er reiste am vierten Tage (glaube ich) nach Mrs. Rubelle’s Ankunft ab und sprach beim Abschiede sehr ernstliche Worte zu Lady Glyde in Rücksicht auf Miß Halcombe.

»Vertrauen Sie Mr. Dawson noch ein paar Tage länger, wenn Sie wollen,« sagte er. »Falls sich aber dann noch keine Besserung spüren läßt, da lassen Sie sofort geschickten ärztlichen Beistand aus London kommen, den dieser Maulesel von einem Doctor annehmen muß, ob er nun will oder nicht. Beleidigen Sie Mr. Dawson und retten Sie Miß Halcombe. Ich sage dies im Ernste, auf mein Ehrenwort und aus dem Grunde meines Herzens·«

Se. Gnaden sprach mit tiefem Gefühle und großer Güte. Die Nerven der armen Lady Glyde waren in dem Grade erschüttert, daß sie ganz erschrocken vor ihm schien. Sie zitterte am ganzen Körper und ließ ihn gehen, ohne ein einziges Wort zu erwidern. Sie wandte sich zu mir, als er fort war, und sagte: »O, Mrs. Michelson, mir bricht das Herz um meine Schwester, und ich habe keinen Freund, mit dem ich mich berathen könnte. Glauben Sie, daß Mr. Dawson sich täuscht? Er sagte mir heute Morgen selbst, es sei keine Gefahr mehr da und keine Nothwendigkeit, ferneren Rath herbeizurufen.«

»Mit aller Achtung vor Mr. Dawson,« sagte ich, »würde ich doch an Ew. Gnaden Stelle nicht des Herrn Grafen Rath vergessen.«

Lady Glyde wandte sich plötzlich und mit einem Ausdrucke der Verzweiflung von mir ab, den ich mir nicht zu erklären vermochte.

»Seinen Rath!« sagte sie zu sich selbst. »Gott helfe uns – seinen Rath!«

Der Graf blieb, soviel ich mich entsinne, wohl beinah eine Woche von Blackwater Park abwesend.

Sir Percival schien in manchen Beziehungen den Verlust seines Freundes zu empfinden, und auch, wie mir schien, sehr gedrückt und verstimmt zu sein über die Krankheit und Sorge im Hause. Zuweilen war er so unruhig, daß ich nicht umhin konnte, es zu bemerken; er kam und ging und wanderte dann fortwährend in den Anlagen umher. Seine Erkundigungen nach Miß Halcombe und seiner Gemahlin (deren schwankende Gesundheit ihm aufrichtige Besorgniß zu verursachen schien) waren unausgesetzt. Ich glaube, sein Herz war sehr erweicht. Wäre ein geistlicher Freund – etwa ein solcher, wie Sir Percival ihn in meinem verstorbenen, vortrefflichen Manne gefunden haben würde – um diese Zeit um ihn gewesen, so hätte dies erfreulichen moralischen Einfluß auf Sir Percival üben müssen. Ich täusche mich selten in einem Punkte dieser Art, da ich in meinen glücklichen Tagen des Ehestandes Erfahrungen gemacht habe, die mich leiten.

Ihro Gnaden die Frau Gräfin, die jetzt die einzige Gesellschaft für Sir Percival unten war, vernachlässigte ihn einigermaßen, wie es mich dünkte. Oder vielleicht vernachlässigte er sie. Ein Fremder hätte fast vermuthen können, daß diese Beiden, jetzt, wo sie allein waren, einander förmlich auswichen. Dies konnte natürlich nicht der Fall sein. Aber dennoch machte es sich so, daß die Gräfin stets das Gabelfrühstück zu ihrem Diner machte und gegen Abend hinauf kam, obgleich Mrs. Rubelle ihr jetzt die Pflichten der Pflege ganz abgenommen hatte. Sir Percival speiste allein, und ich hörte William (den Bedienten in Civil) die Bemerkung machen, daß sein Herr nur halbe Rationen an Speise, aber doppelte an Wein zu sich nehme. Ich lege solchen impertinenten Bemerkungen von Bedienten keine Wichtigkeit bei. Ich verwies ihm dieselbe damals und wünsche hiermit zu verstehen zu geben, daß ich sie auch jetzt noch tadle.

Im Verlaufe der nächsten paar Tage schien es uns allerdings Allen, als ob Miß Halcombe sich ein wenig erholte. Unser Zutrauen zu Mr. Dawson erwachte wieder; er schien mir voll Zuversicht zu sein und versicherte Lady Glyde, als sie mit ihm über die Sache sprach, daß er selbst vorschlagen würde, noch einen Arzt herbeizurufen, sobald er nur den Schatten eines Zweifels in sich erwachen fühlte.«

Die Einzige von uns, der diese Worte keine Beruhigung zu sein schienen, war die Gräfin. Sie sagte heimlich zu mir, daß sie sich nach Mr. Dawson’s Reden nicht über Miß Halcombe’s Zustand beruhigen könne, und daß sie voll Besorgniß der Rückkehr ihres Mannes entgegensehe, um dessen Meinung zu hören. Diese Rückkehr sollte, wie sie seine Briefe unterrichteten, in drei Tagen stattfinden. Der Herr Graf und die Frau Gräfin unterhielten während der Abwesenheit des Ersteren einen regelmäßigen täglichen Briefwechsel. Sie waren in dieser Beziehung, wie in jeder andern, ein Muster für alle Eheleute.

Am Abend des dritten Tages bemerkte ich eine Veränderung an Miß Halcombe, die mich ernstlich besorgt machte. Mrs. Rubelle bemerkte dieselbe ebenfalls. Wir sagten indessen Nichts davon zu Lady Glyde, die, völlig von Erschöpfung überwältigt, auf dem Sopha im Wohnzimmer eingeschlafen war.

Mr. Dawson machte seinen Abendbesuch später als gewöhnlich. Sowie er seiner Patientin ansichtig wurde, sah ich, daß sich sein Gesicht veränderte. Er versuchte, dies zu verbergen; aber er sah sowohl verlegen als erschrocken aus Es wurde ein Bote nach seiner Wohnung geschickt, um seinen Arzneikasten zu holen, desinficirende Vorkehrungen wurden im Zimmer angewandt, und es wurde ihm auf seine eigene Anordnung im Hause ein Bett gemacht. »Ist das Fieber ansteckend geworden?« flüsterte ich ihm zu. »Ich fürchte es,« entgegnete er; »doch werden wir morgen früh besser im Stande sein, darüber zu urtheilen.«

Auf Mr. Dawson’s eignen Befehl wurde Lady Glyde über diese beunruhigende Veränderung in Unwissenheit gelassen. Er selbst verbot ihr aus Rücksicht für ihre Gesundheit, diesen Abend zu uns ins Schlafzimmer zu kommen. Sie versuchte, sich dem zu widersetzen – es gab eitlen traurigen Auftritt – aber es unterstützte ihn seine ärztliche Autorität, und er gewann die Oberhand·

Nächsten Morgen um elf Uhr wurde einer der Bedienten mit einem Briefe an einen Arzt in London abgeschickt, mit dem Befehle, den neuen Doctor mit dem nächstmöglichen Zuge mit zurückzubringen. Eine halbe Stunde nachdem der Bote fort war, langte der Graf wieder in Blackwater Park an.

Die Gräfin brachte ihn sogleich auf eigene Verantwortung herein, um die Kranke zu sehen. Ich sah in diesem Verfahren durchaus nichts Unpassendes. Se. Gnaden war ein verheiratheter Mann und alt genug, um Miß Halcombe’s Vater zu sein; außerdem sah er sie in Gegenwart einer weiblichen Anverwandten, der Tante von Lady Glyde. Dennoch aber protestirte Mr. Dawson gegen seine Anwesenheit im Zimmer, aber ich konnte deutlich wahrnehmen, daß der Doctor selbst zu sehr beunruhigt war, um bei dieser Gelegenheit ernstlichen Widerstand zu bieten.

Die arme kranke Dame kannte Niemanden mehr von Denen, die sie umgaben. Sie schien ihre Freunde für Feinde anzusehen. Als der Graf sich ihrem Bette nahte, heftete sie ihre Augen, die bisher wild umher gewandert waren, mit einem so furchtbaren Stieren des Entsetzens auf sein Gesicht, daß ich es bis zu meiner letzten Stunde nicht vergessen werde. Der Graf setzte sich neben ihr nieder, fühlte ihren Puls und ihre Schläfe, betrachtete sie sehr aufmerksam und wandte sich dann mit einem solchen Ausdrucke von Entrüstung und Verachtung gegen den Doctor um, daß diesem die Worte auf den Lippen erstarben, und er einen Augenblick bleich vor Zorn und Bestürzung dastand – bleich und völlig sprachlos.

Dann wandte sich Se. Gnaden zu mir.

»Wann fand diese Veränderung statt?« fragte er.

Ich gab ihm die Zeit an.

»Ist Lady Glyde seitdem im Zimmer gewesen?«

Ich sagte ihm, daß sie nicht dagewesen. Der Arzt habe es ihr gestern Abend ausdrücklich untersagt und den Befehl heute Morgen wiederholt.

»Hat man Sie und Mrs. Rubelle mit der ganzen Größe des Unheils bekannt gemacht?« war seine nächste Frage.

Ich entgegnete, wir wüßten, daß die Krankheit eine ansteckende sei. Er unterbrach mich, ehe ich noch ein Wort hinzufügen konnte.

»Es ist Typhus«, sagte er.

In der Minute, welche unter diesen Fragen und Antworten verging, erholte Mr. Dawson sich wieder und wandte sich mit seiner gewohnten Festigkeit zum Grafen.

»Es ist kein Typhus«, sagte er scharf. »Ich protestire gegen diese Einmischung, Sir. Es hat hier Niemand außer mir das Recht, Fragen zu thun. Ich habe nach meinen besten Kräften meine Pflicht gethan –«

Der Graf unterbrach ihn, nicht durch Worte, sondern indem er blos auf das Bett hindeutete. Mr. Dawson schien diesen stillen Widerspruch gegen seine Fähigkeiten zu fühlen und dadurch nur noch gereizter zu werden.

»Ich sage, daß ich meine Pflicht gethan habe,« wiederholte er »Man hat nach einem Arzte in London geschickt. Mit ihm will ich über die Art des Fiebers consultiren und mit sonst Niemandem. Ich bestehe darauf, daß Sie das Zimmer verlassen.«

»Ich betrat dieses Zimmer, Sir, im heiligen Interesse der Menschlichkeit,« sagte der Graf, »und will es in demselben Interesse abermals betreten, falls die Ankunft des Arztes sich verzögert. Ich sage Ihnen nochmals, daß das Fieber sich in Typhus verwandelt hat, und daß Sie durch Ihre Behandlung für diese traurige Veränderung verantwortlich sind. Falls diese unglückliche Dame sterben sollte, will ich es vor einem Gerichtshofe bezeugen, daß Ihre Unwissenheit und Hartnäckigkeit ihren Tod herbeigeführt haben.«

Ehe noch Mr. Dawson ihm antworten und ehe der Graf uns verlassen konnte, öffnete sich die Thür des Wohnzimmers, und Lady Glyde erschien auf der Schwelle.

»Ich muß und will hereinkommen,« sagte sie mit ungewohnter Festigkeit.

Anstatt sie aufzuhalten, trat der Graf ins Wohnzimmer und machte Platz für sie. Bei allen anderen Gelegenheiten war er der letzte Mann in der Welt, der Etwas vergessen hätte; aber in der Ueberraschung des Augenblicks vergaß er offenbar, daß Typhus ansteckend sei, und zugleich die dringende Nothwendigkeit, Lady Glyde zu zwingen, sich in Acht zu nehmen.

Zu meiner Verwunderung bewies Mr. Dawson mehr Geistesgegenwart. Er hielt Mylady beim ersten Schritte, den sie dem Bette zu that, zurück.

»Ich bedaure aufrichtig – es schmerzt mich aufrichtig,« sagte er. »Ich fürchte, das Fieber ist ansteckend. Bis ich mich aber vom Gegentheil überzeugt habe, bitte ich Sie inständigst, nicht ins Zimmer zu kommen.«

Sie kämpfte einen Augenblick, dann sanken plötzlich ihre Arme zu ihren Seiten nieder, und sie fiel vorwärts. Sie war in Ohnmacht gefallen. Die Gräfin und ich nahmen sie dem Doctor ab und trugen sie in ihr Zimmer. Der Graf ging uns voran und wartete dann im Corridor, bis ich wieder herauskam und ihm sagte, daß sie wieder zu sich gekommen sei. Ich kehrte zum Doctor zurück, um ihm auf Lady Glyde’s Befehl zu sagen, daß sie ihn augenblicklich sprechen müsse.« Er ging sofort, um Mylady’s Aufregung zu beruhigen und sie von der Ankunft des Arztes, die in wenigen Stunden erfolgen müsse, in Kenntniß zu setzen. Diese Stunden vergingen sehr langsam. Sir Percival und der Graf waren zusammen unten und ließen sich von Zeit zu Zeit nach dem Befinden der Damen erkundigen. Endlich zwischen fünf und sechs Uhr langte zu unserer, großen Erleichterung der Arzt an.

Er war ein jüngerer Mann als Mr. Dawson, aber sehr ernst und entschlossen. Was er von der vorherigen Behandlung dachte, kann ich nicht sagen; aber es fiel mir auf, daß er mir und Mrs. Rubelle weit mehr Fragen vorlegte, als dem Doctor, und daß er nicht mit vieler Aufmerksamkeit anhörte, was Mr. Dawson sagte, während er die Patientin betrachtete. Nach diesen meinen Bemerkungen begann ich zu argwöhnen, daß der Graf von Anfang an in Bezug auf die Krankheit Recht gehabt hatte, und diese Vermuthung wurde natürlich bestätigt, als Mr. Dawson nach einigem Verzuge die eine wichtige Frage that, welche zu lösender Arzt aus London geholt worden war.

»Was halten Sie von dem Fieber?« fragte er.

»Es ist Typhus,« entgegnete der Arzt, »Typhus ohne den geringsten Zweifel.«

Jene ruhige Ausländerin, Mrs. Rubelle, faltete ihre dünnen braunen Hände und sah mich mit einem bedeutsamen Lächeln an. Der Graf selbst hätte kaum zufriedener aussehen können, falls er im Zimmer gewesen und so die Bestätigung seiner Ansichten vernommen hätte.

Nachdem der Arzt uns einige nützliche Anweisungen in Bezug auf die Pflege der Kranken gegeben und versprochen hatte, daß er nach Verlauf von fünf Tagen wiederkommen werde, zog er sich mit Mr. Dawson zurück, um sich allein mit ihm zu besprechen. Er wollte in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit von Miß Halcombe’s Genesung keine Meinung aussprechen, da es, wie er sagte, in dem gegenwärtigen Stadium der Krankheit unmöglich sei, mit Bestimmtheit zu urtheilen.

Die fünf Tage vergingen uns in großer Besorgniß.

Die Gräfin Fosco und ich lösten Mrs. Rubelle abwechselnd ab, denn Miß Halcombe’s Zustand wurde immer schlimmer und erforderte unsere äußerste Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Es war eine sehr, sehr schwere Zeit. Lady Glyde (welche, wie Mr. Dawson sagte, die fortwährende Spannung über den Zustand ihrer Schwester aufrecht erhielt) erholte sich auf wunderbare Weise und bewies eine Festigkeit und Entschlossenheit, die ich ihr nimmer zugetraut hätte. Sie bestand darauf, täglich drei oder vier Mal ins Zimmer zu kommen und Miß Halcombe mit eignen Augen zu sehen, indem sie versprach, nicht zu nahe an das Bett zu treten, falls der Doctor ihr in soweit willfahren wolle. Mr. Dawson gab seine Erlaubniß hierzu mit großem Widerstreben; ich denke mir, er sah wohl ein, daß es nutzlos sein würde, ferner mit ihr darüber zu streiten. Sie kam jeden Tag und hielt ihr Versprechen mit großer Selbstverleugnung. Es war mir persönlich so schmerzlich (denn es erinnerte mich an meinen eigenen Kummer während meines lieben Mannes letzter Krankheit), zu sehen, wie sehr sie unter diesen Umständen litt, daß ich aufrichtig bitte, mir ein ferneres Verweilen bei diesem Gegenstande zu ersparen. Es ist mir eine weit angenehmere Aufgabe, zu berichten, daß keine neuen Uneinigkeiten zwischen Mr. Dawson und dem Grafen stattfanden. Se. Gnaden ließ alle Erkundigungen durch die zweite Hand anstellen und blieb fortwährend unten bei Sir Percival.

Am fünften Tage kam der Arzt wieder und gab uns einige Hoffnung. Er sagte, der zehnte Tag, von dem an gerechnet, an welchem der Typhus zuerst aufgetreten sei, werde wahrscheinlich den Erfolg der Krankheit entscheiden, und versprach uns für diesen Tag seinen dritten Besuch. Die Zwischenzeit verging wie vorher – ausgenommen, daß der Graf eines Morgens abermals nach London reiste und Abends wieder zurückkehrte.

Am zehnten Tage erlöste die barmherzige Vorsehung unser ganzes Haus von aller ferneren Angst und Sorge. Der Arzt gab uns die Versicherung; daß Miß Halcombe völlig außer Gefahr sei.

»Sie bedarf jetzt keines Arztes mehr, – Alles, was sie jetzt noch braucht, ist sorgfältige Aufsicht und Pflege, und Beides wird ihr zu Theil, wie ich sehe.«

Dies waren seine eigenen Worte. An jenem Abend las ich meines lieben Mannes rührende Predigt über Genesung von der Krankheit, und sie that mir (in geistlichem Sinne zu sprechen) wohler und machte mich glücklicher, als dies je vorher der Fall gewesen.

Die Wirkung dieser guten Nachricht auf die arme Lady Glyde war zu meinem Bedauern förmlich überwältigend. Sie war zu schwach, um diese heftige Reaction zu ertragen, und in ein paar Tagen darauf verfiel sie in einen Zustand der Schwäche und Abgespanntheit, welcher ihr nicht gestattete, ihr Zimmer zu verlassen. Ruhe und später vielleicht eine Luftveränderung waren die einzigen Mittel, die Mr. Dawson für sie empfehlen konnte. Es war ein Glück, daß es nicht schlimmer mit ihr war; denn noch an demselben Tage, an welchem sie sich in ihr Zimmer zurückziehen mußte, hatten der Graf und Mr. Dawson wieder einen Wortwechsel, und diesmal war derselbe so ernster Art, daß Mr. Dawson das Haus verließ.

Ich war nicht gegenwärtig, als die Veruneinigung stattfand; aber ich hörte später, daß sie über die Nahrung entstand, welcher Miß Halcombe während ihrer Genesung bedürfe, um sich nach der Erschöpfung des Fiebers wieder zu kräftigen. Mr. Dawson war jetzt, da seine Patientin außer Gefahr, noch weniger als vorher geneigt, sich unberufenen Ansichten zu fügen; und der Graf (ich begreife nicht warum) verlor alle Selbstbeherrschung, die er sich bei früheren Gelegenheiten auf so verständige Weise bewahrt hatte, und verhöhnte den Doctor wiederholt über sein Versehen in Bezug auf das Fieber, als dasselbe sich in Typhus verwandelt hatte. Die unglückselige Geschichte endete damit, daß Mr. Dawson an Sir Percival appellirte und drohte (da Miß Halcombe jetzt außer Gefahr sei) Blackwater Park ganz zu verlassen, falls nicht dem Grafen von diesem Augenblicke an entschieden alle weitere Einmischung untersagt werde. Sir Percival’s Antwort (obgleich keine beabsichtigte Unhöflichkeit) hatte nur dazu gedient, die Sache noch zu verschlimmern; und Mr. Dawson hatte in Folge der unerhörten Behandlung, die ihm vom Grafen Fosco zu Theil geworden, das Haus verlassen und am folgenden Morgen seine Rechnung eingesandt.

Wir waren also jetzt ohne ärztlichen Beistand. Obgleich wir in Wirklichkeit um denselben nicht mehr benöthigt waren – da, wie der Arzt bemerkt hatte, Pflege und Aufmerksamkeit jetzt Alles war, was Miß Halcombe bedurfte – so hätte ich doch, falls meine Autorität für Etwas gegolten hätte, der Form halber aus dem einen oder andern Viertel von London wieder einen Arzt herzugerufen.

Doch schien Sir Percival die Sache nicht in diesem Lichte zu sehen. Er sagte, es werde früh genug sein, einen neuen Arzt zu holen, falls Miß Halcombe einen Rückfall bekäme. Inzwischen sei ja der Graf da, den wir in kleinern Schwierigkeiten um Rath fragen könnten, und es sei unnöthig, unsere Patientin in ihrem gegenwärtigen nervenschwachen Zustande durch Anwesenheit eines Fremden bei ihrem Bette zu stören und aufzuregen. Es war ohne Zweifel viel Verständiges in diesen Erwägungen; aber ich blieb dessenungeachtet ein wenig ängstlich. Außerdem schien es mir nicht ganz billig, Lady Glyde die Abwesenheit des Arztes zu verhehlen, wie wir es thaten. Ich gebe zu, daß es eine wohlgemeinte Täuschung war – denn ihr Zustand war nicht der Art, daß sie neue Besorgnisse hätte ertragen können. Aber es war immer eine Täuschung und als solche für Leute von meinen Grundsätzen, milde ausgedrückt, ein zweifelhaftes Verfahren.

Ein zweiter Umstand, der sich an demselben Tage zutrug und mich unbeschreiblich überraschte – ein Umstand, der mir unbegreiflich war, vergrößerte noch um ein Bedeutendes das Gefühl der Unruhe, das jetzt auf meinem Gemüthe lastete.

Ich wurde zu Sir Percival in die Bibliothek beschieden. Der Graf, welcher bei ihm war, als ich eintrat, erhob sich augenblicklich und ließ uns allein im Zimmer. Sir Percival war so höflich, mich zum Sitzen aufzufordern und redete mich dann zu meinem Erstaunen folgendermaßen an:

»Ich habe über eine Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen, Mrs. Michelson, über die ich schon seit einiger Zeit meinen Entschluß gefaßt hatte, und von der ich schon früher mit Ihnen gesprochen haben würde, wenn nicht Kummer und Krankheit ins Haus eingezogen wären. Mit wenig Worten: ich fühle mich bewogen, den hiesigen Haushalt sofort aufzugeben, indem ich das Haus selbst natürlich, wie sonst, Ihrer Aufsicht übergebe. Sobald Lady Glyde und Miß Halcombe im Stande sind zu reisen, müssen beide Damen eine Luftveränderung genießen. Meine Verwandten, der Graf und die Gräfin Fosco, werden uns schon vorher verlassen und eine Wohnung in der Umgegend von London beziehen. Mein Zweck, indem ich keine Gäste mehr in diesem Hause empfange, ist, so sparsam wie möglich zu leben. Ich tadle Sie nicht – aber meine Ausgaben hier sind bei Weitem zu groß. Kurz, ich werde die Pferde verkaufen und sofort die ganze Dienerschaft entlassen. Ich thue nie Etwas zur Hälfte, wie Sie wissen, und es ist meine Absicht, daß das Haus morgen um diese Zeit von einem Rudel unnützer Leute befreit sei.«

Ich hörte ihm wie angewurzelt vor Erstaunen zu.

»Wollen Sie damit sagen, Sir Percival, daß ich die Hausbedienung, die unter meiner Aufsicht steht, entlassen soll, ohne ihr, wie üblich, einen Monat vorher zu kündigen?« fragte ich.

»Allerdings. Wir werden wahrscheinlich Alle, ehe ein Monat verflossen ist, das Haus verlassen haben, und ich beabsichtige durchaus nicht, eine Menge von Bedienten hier in Müßigkeit zu erhalten.«

»Wer soll die Küche besorgen, Sir Percival, so lange Sie noch hier bleiben?«

»Margaret Porcher kann kochen und braten – behalten Sie sie hier. Wozu brauche ich einen Koch, wenn ich keine Mittagsgesellschaften zu geben beabsichtige?«

»Die Person, welche Sie eben genannt haben, Sir Percival, ist die allerunverständigste von allen Stubenmädchen –«

»Behalten Sie sie, sage ich Ihnen, und lassen Sie eine Frau aus dem Dorfe kommen, die das Aufwaschen besorgt und wieder fortgeht. Es muß und soll eine augenblickliche Einschränkung in meinen wöchentlichen Ausgaben stattfinden. Ich habe Sie nicht rufen lassen, damit Sie mir Einwendungen machen, Mrs. Michelson, sondern damit Sie meine Wünsche in Rücksicht auf Sparsamkeit ausführen. Sie werden morgen die ganze faule Bande von Hausdienern – die Porcher ausgenommen – entlassen. Die Porcher hat die Constitution eines Pferdes, und wie ein Pferd soll sie arbeiten.«

»Sie werden mich entschuldigen, Sir Percival, wenn ich Sie daran erinnere, daß die Dienerschaft ihren Lohn für einen Monat haben muß, falls ich ihr nicht einen Monat vorher aufsage?«

»Geben Sie ihn ihr! Ein Monatslohn erspart mir eines Monats Verschwendung und Prasserei in der Bedientenstube.«

Diese letzte Bemerkung enthielt eine höchst beleidigende Verleumdung gegen mein Haushaltungssystem. Ich hatte zu viel Selbstachtung, um mich gegen eine so grobe Beschuldigung zu vertheidigen. Christliche Rücksicht für Lady Glyde’s und Miß Halcombe’s hülflose Lage und auf die ernstlichen Beschwerlichkeiten, die aus meiner Abwesenheit für sie erwachsen konnten, hielten mich allein davon ab, sofort mein Amt niederzulegen. Ich erhob mich sogleich. Es hätte mich in meinen eignen Augen heruntergesetzt, wenn ich hiernach die Unterredung noch einen Augenblick länger hätte dauern lassen.

»Nach dieser letzten Bemerkung, Sir Percival, habe ich Nichts weiter zu sagen. Ihre Befehle sollen erfüllt werden.« Mit diesen Worten machte ich eine kalte Verbeugung und ging aus dem Zimmer.

Am folgenden Tage ging die ganze Dienerschaft ab. Sir Percival selbst lohnte die Reitknechte und Stallleute ab und schickte sie mit allen Pferden, ein einziges ausgenommen, nach London. Die einzigen Personen, welche zurückblieben, waren Margaret Porcher, ich und der Gärtner. Dieser Letztere wohnte jedoch in seinem eignen Hause, und er mußte nach dem einen im Stalle zurückgebliebenen Pferde sehen.

In dieser einsamen Verlassenheit des Hauses, wo die Herrin desselben krank in ihrem Zimmer lag, während Miß Halcombe noch immer so hülflos wie ein Kind war, und der Doctor uns in Feindschaft verlassen hatte, war es gewiß nicht zum Verwundern, daß ich niedergeschlagen wurde und es schwer fand, meine gewohnte Fassung beizubehalten. Ich war ängstlich in meinem Gemüthe, und ich wünschte den beiden armen Damen eine schnelle Genesung und mich selbst fort aus Blackwater Park.

Das nächste Ereigniß, das sich zutrug, war so sonderbarer Art, daß es mir ein Gefühl abergläubischen Erstaunens verursacht haben würde, falls nicht feste religiöse Grundsätze meinen Geist gegen eine derartige heidnische Schwäche gestärkt hätten. Dem unbehaglichen Gefühle, daß Etwas in der Familie nicht ganz richtig sei, in welchem ich mich aus Blackwater Park fortgewünscht hatte, folgte, so seltsam dies auch scheinen mag, wirklich meine Abreise vom Hause. Allerdings war es nur eine kurze Abwesenheit, doch war das Zusammentreffen meiner Meinung nach deshalb nicht weniger bemerkenswerth.

Meine Abreise fand unter folgenden Umständen statt:

An dem Tage, an welchem alle Diener das Haus verlassen, wurde ich abermals zu Sir Percival beschieden. Die unverdiente beleidigende Anspielung, welche er auf meine Haushaltungsweise gemacht, verhinderte mich nicht, wie ich mich zu sagen freue, ihm nach besten Kräften Böses mit Gutem zu vergelten, indem ich seinem Wunsche so bereitwillig und achtungsvoll, wie immer, nachkam. Bei der gefallenen Natur, welche wir Alle theilen, kostete es mich allerdings einige Anstrengung, meine Gefühle zu bekämpfen. Da ich aber an Selbstüberwindung gewöhnt bin, gelang es mir, dies Opfer zu bringen.

Ich fand den Grafen Fosco abermals bei Sir Percival. Doch blieb der Graf diesmal bei der Unterredung anwesend und half Sir Percival seine Pläne entfalten.

Der Gegenstand, auf den sie jetzt meine Aufmerksamkeit lenkten, bezog sich auf die gesunde Luftveränderung, von der wir Alle so große Vortheile für Lady Glyde’s und Miß Halcombe’s Genesung hofften. Sir Percival sagte, daß beide Damen wahrscheinlich (in Folge einer Einladung von Frederick Fairlie Esquire) den Herbst zu Limmeridge in Cumberland zubringen würden. Er sei jedoch der Ansicht, und der Graf (welcher hier das Wort nahm und bis zu Ende der Unterredung behielt) stimmte hierin mit ihm überein, daß es von großem Vortheile für sie sein würde, wenn sie, ehe sie nach dem Norden aufbrächen, erst auf eine Weile das milde Klima von Torquay genössen. Man wünsche daher ernstlich, an diesem Orte eine Wohnung zu miethen, welche alle Bequemlichkeiten und Vortheile bieten würde, derer die Damen so sehr bedürften; doch sei die Schwierigkeit die, eine erfahrene Person zu finden, welche im Stande sei, eine Wohnung zu wählen, wie sie ihrer bedurften. In dieser dringenden Lage wünschte der Graf – in Sir Percival’s Auftrage – zu hören, ob ich Etwas dawider habe, den Damen meinen Beistand zu leisten, indem ich selbst in ihrem Interesse die Reise nach Torquay machte.

Es war für Jemand in meiner Stellung unmöglich, einen in solchen Ausdrücken gemachten Vorschlag entschieden abzuschlagen.

Ich konnte blos wagen, auf die ernstliche Unangemessenheit meiner Abreise von Blackwater Park bei der außergewöhnlichen Abwesenheit aller Diener mit Ausnahme von Margaret Porcher hinzudeuten. Aber Sir Percival sowohl wie der Graf erklärten, daß sie die Unbequemlichkeit im Interesse der kranken Damen sehr gern ertragen wollten. Ich machte dann den achtungsvollen Vorschlag, daß man an einen Hausagenten in Torquay schriebe; aber man erinnerte mich daran, daß es eine Unvorsichtigkeit sein würde, ein Haus zu miethen, das man nicht vorher gesehen habe. Man sagte mir außerdem, daß die Gräfin (welche andernfalls selbst die Reise nach Devonshire gemacht haben würde) ihre Nichte in ihrem gegenwärtigen Zustande nicht verlassen könne, und daß Sir Percival und der Graf Geschäfte mit einander hätten, die sie nöthigten, in Blackwater Park zu bleiben. Kurz, es wurde mir klar gemacht, daß, falls ich die Sache nicht übernähme,·Niemand anders da sei, dem man sie anvertrauen könne. Unter diesen Verhältnissen konnte ich blos Sir Percival ankündigen, daß meine Dienste Miß Halcombe und Lady Glyde zu Gebote stünden.

Es wurde darauf ausgemacht, daß ich am nächsten Morgen abreisen, den darauf folgenden Tag mich mit Untersuchung der passendsten Häuser in Torquay beschäftigen und am dritten mit meinem Berichte zurückkehren sollte. Se. Gnaden schrieb ein Memorandum für mich, das die verschiedenen Erfordernisse angab, welche das von mir zu miethende Haus besitzen mußte, und Sir Percival fügte eine Anmerkung in Bezug auf die pecuniäre Grenze bei.

Meine eigne Ansicht, als ich diese Instruktionen durchlas, ging dahin, daß in keinem Badeorte in ganz England eine Wohnung zu finden sei, wie die, welche hier beschrieben war; und daß man sie, selbst wenn man sie zufälligerweise entdeckte, nimmer für irgend welchen Zeitraum unter den mir vorgeschriebenen Bedingungen erhalten würde. Ich machte beide Herren auf diese Schwierigkeit aufmerksam, aber Sir Percival (welcher es übernahm, mir zu antworten) schien dieselbe nicht einzusehen. Es war nicht meine Sache, den Punkt zu bestreiten, und ich sagte Nichts weiter; aber ich war fest überzeugt, daß das Geschäft, in welchem man mich fortschickte, so mit Schwierigkeiten behaftet war, daß es mir schon ehe ich abreiste, als hoffnungslos erschien.

Vor meiner Abreise überzeugte ich mich indessen, daß Miß Halcombe Fortschritte in der Genesung machte. Doch drückte sich in ihrem Gesichte eine schmerzliche Sorge aus, die mich fürchten ließ, daß sie nicht ganz ruhig im Gemüthe sei. Jedenfalls aber erholte sie sich körperlich schneller, als ich hätte erwarten können, und sie schickte Lady Glyde liebevolle kleine Botschaften, daß sie bereits wieder ganz wohl sei und sie nur bitte, sich nicht zu früh anzustrengen. Ich überließ sie der Sorgfalt von Mrs. Rubelle, die noch immer ebenso unabhängig von allen Uebrigen im Hause war, wie vorher. Als ich an Lady Glyde’s Thür klopfte, sagte man mir, daß sie noch immer in einem sehr traurigen Zustande der Schwäche und Abspannung sei; es war die Gräfin, die mich hiervon unterrichtete, und welche zur Zeit ihrer Nichte in ihrem Zimmer Gesellschaft leistete.

Sir Percival und der Graf gingen zusammen auf dem Wege zur Wohnung des Parkhüters spazieren, als ich abfuhr. Ich machte ihnen meine Verbeugung und verließ das Haus, in dem jetzt kein einziges dienendes Wesen blieb, als die Porcher.

Jeder Mensch muß fühlen, was ich damals selbst empfand: daß diese Umstände mehr als ungewöhnlich – daß sie beinahe verdächtig waren. Aber man erlaube mir zu wiederholen, daß es mir in meiner abhängigen Stellung unmöglich war, anders zu handeln, als ich that.

Der Erfolg meiner Reise nach Torquay war genau der, welchen ich vorausgesehen hatte. Es war in dem ganzen Orte keine Wohnung zu finden, wie ich sie zu miethen beauftragt war, und der Preis, den man mir zu bieten gestattet, war viel zu niedrig, als daß man mir die Wohnung dafür gelassen hätte, selbst wenn sie gefunden worden. Ich kehrte am dritten Tage nach Blackwater Park zurück und benachrichtigte Sir Percival, welcher mir an der Thür begegnete, daß meine Reise eine vergebliche gewesen. Er schien zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um sich um das Mißlingen meines Auftrages zu bekümmern, und seine ersten Worte unterrichteten mich, daß sogar in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit sich eine große Veränderung im Hause zugetragen habe.

Der Graf und die Gräfin Fosco hatten Blackwater Park verlassen und ihre neue Wohnung in St. John’s Wood bezogen.

Ich erfuhr Nichts über die Ursache dieser plötzlichen Abreise – sondern nur, daß der Graf ganz besonders freundliche Grüße für mich zurückgelassen habe. Als ich Sir Percival zu fragen wagte, ob Lady Glyde in Abwesenheit der Gräfin jetzt Jemanden habe, der ihr aufwartete, erwiderte er, sie habe Margaret Porcher, und fügte dann hinzu, daß man eine Frau aus dem Dorfe habe kommen lassen, um die Arbeit in der Küche zu verrichten.

Ich war wirklich entrüstet über diese Antwort – es lag eine so grelle Unschicklichkeit darin, eine untere Stubenmagd in einem Vertrauensposten bei Lady Glyde anzustellen. Ich ging sofort hinauf und traf die Margaret auf dem Schlafstuben-Vorsaal. Man hatte ihrer Dienste nicht bedurft (natürlich nicht); ihre Herrin habe sich am Morgen wohl genug befunden, um ihr Bett zu verlassen. Ich erkundigte mich zunächst nach Miß Halcombe, erhielt jedoch eine so verdrießliche, unverständliche Antwort, daß ich dadurch um Nichts klüger wurde. Ich enthielt mich einer Wiederholung meiner Frage, um mich nicht etwa einer impertinenten Antwort auszusetzen. Es war für eine Person in meiner Stellung in jeder Beziehung passender, mich sofort zu Lady Glyde zu begeben.

Ich fand, daß Mylady sich allerdings während der letzten drei Tage bedeutend erholt hatte. Obgleich noch immer matt und nervenschwach, war sie doch im Stande, sich ohne Hülfe zu erheben und mit langsamen Schritten in ihrem Zimmer umher zugehen, ohne eine schlimmere Wirkung davon zu verspüren, als die einer leichten Ermüdung. Sie hatte den Morgen einige Besorgniß um Miß Halcombe gefühlt, da sie durch Niemanden Nachrichten von ihr erhalten. Mir erschien dies als ein höchst tadelnswerther Mangel an Aufmerksamkeit von Mrs. Rubelle, doch sagte ich Nichts, sondern blieb bei Lady Glyde und half ihr Toilette machen. Als sie damit fertig war, verließen wir zusammen das Zimmer, um zu Miß Halcombe zu gehen.

Im Corridor trafen wir Sir Percival. Er sah aus, als ob er uns dort erwartet habe.

»Wohin gehst Du?« sagte er zu Lady Glyde.

»Nach Mariannen’s Zimmer,« antwortete sie.

»Es mag Dir vielleicht eine Täuschung ersparen,« bemerkte Sir Percival, »wenn ich Dir sage, daß Du sie dort nicht finden wirst.«

»Daß ich sie nicht finden werde?«

»Nein. Sie hat gestern mit Fosco und seiner Frau das Haus verlassen.«

Lady Glyde war nicht stark genug, um den Schlag dieser sonderbaren Nachricht zu ertragen. Sie erbleichte, daß es zum Erschrecken war, und lehnte sich an die Wand, indem sie in tiefem Schweigen ihren Gemahl anblickte.

Ich selbst war so überrascht, daß ich kaum wußte, was ich sagen sollte. Ich frug Sir Percival, ob er wirklich damit sagen wolle, daß Miß Halcombe Blackwater Park verlassen habe.

»Ganz gewiß,« entgegnete er.

»In ihrem Zustande, Sir Percival! und ohne Lady Glyde von ihrer Absicht in Kenntniß zu setzen!«

Ehe er noch eine Antwort geben konnte, erholte Mylady sich wieder etwas und sprach.

»Unmöglich!« rief sie mit lauter, erschrockener Stimme, indem sie sich ein paar Schritte von der Wand entfernte. »Wo war der Arzt? Wo war Mr. Dawson, als Marianne fortging?«

»Wir bedurften Mr. Dawson’s nicht, und er war nicht hier,« sagte Sir Percival. »Er verließ uns aus eignem Antriebe, was hinlänglichen Beweis liefert, daß sie wohl genug war, um die Reise zu machen. Wie Du mich angaffst! Wenn Du mir nicht glauben willst, daß sie fort ist, so sieh selbst nach. Oeffne ihre Zimmerthür und all die andern Thüren, wenn Du willst.«

Sie nahm ihn beim Worte, und ich folgte ihr. Es war Niemand in Miß Halcombe’s Zimmer außer Margaret Porcher, die dort aufräumte. Und es war Niemand in den Fremdenstuben und im Toilettenzimmer, als wir in denselben nachsahen. Sir Percival erwartete uns wieder im Corridor. Als wir das letzte Zimmer, in dem wir nachgesucht hatten, verließen, flüsterte Lady Glyde mir zu: »Gehen Sie nicht fort, Mrs. Michelson! Um Gotteswillen, verlassen Sie mich nicht!«

Ehe ich noch ein Wort der Erwiderung sagen konnte, war sie schon draußen im Corridor und sprach mit ihrem Gemahle.

»Was soll dies bedeuten, Sir Percival! Ich bestehe darauf – ich bitte und flehe Sie an, mir zu sagen, was es bedeuten soll!«

»Es bedeutet,« entgegnete er, »daß Miß Halcombe gestern Morgen wohl genug war, um aufzusitzen und sich ankleiden zu lassen, und daß sie darauf bestand, die Gelegenheit zu benutzen und Fosco nach London zu begleiten.«

»Nach London!«

»Ja, auf der Durchreise nach Limmeridge.«

Lady Glyde wandte sich zu mir.

»Sie sahen Miß Halcombe zuletzt,« sagte sie. »Fanden Sie, daß sie aussah, als ob sie im Stande sein würde, in vierundzwanzig Stunden eine Reise anzutreten?«

»Meiner Ansicht nach nicht, Mylady.« Sir Percival wandte sich jetzt seinerseits ebenfalls zu mir.

»Haben Sie, ehe Sie abreisten,« sagte er, »zu der Wärterin geäußert, Miß Halcombe sehe weit wohler aus, oder haben Sie das nicht gesagt?«

»Die Bemerkung habe ich allerdings gethan, Sir Percival.«

Er wandte sich, sowie ich ihm diese Antwort gegeben, schnell wieder zu Mylady.

»Vergleiche die eine von Mrs. Michelson’s Ansichten ruhig mit der andern,« sagte er, »und versuche, vernünftig und klar über die Sache zu denken. Glaubst Du, daß, falls sie nicht wohl genug gewesen wäre, um die Reise zu ertragen, wir riskirt hätten, sie reisen zu lassen? Sie hat drei zuverlässige Leute um sich, die nach ihr sehen – Fosco, Deine Tante und Mrs. Rubelle, die ausdrücklich zu dem Zwecke mitreiste. Sie nahmen ein ganzes Coupé und machten auf dem einen langen Sitze ein Lager für sie, falls sie sich vom Aufsitzen ermüdet fühlen sollte. Heute setzen Fosco und Mrs. Rubelle mit ihr die Reise nach Cumberland fort.«

»Warum geht Marianne nach Limmeridge und läßt mich hier allein?« sagte Mylady, Sir Percival unterbrechend.

»Weil Dein Onkel Dich nicht aufnehmen will, ohne vorher mit Deiner Schwester gesprochen zu haben,« entgegnete er. »Hast Du den Brief vergessen, den er ihr zu Anfange ihrer Krankheit schrieb? Man zeigte ihn Dir doch – Du lasest ihn und solltest Dich dessen entsinnen.«

»Ich erinnere mich.«

»Warum wunderst Du Dich dann darüber, daß sie Dich verlassen hat? Dich verlangt’s, nach Limmeridge zurückzukehren, und Deine Schwester ist hingereist, um Dir Deines Onkels Erlaubniß hierzu nach seinen eignen Bedingungen zu verschaffen.«

Die Augen der armen Lady Glyde füllten sich mit Thränen.

»Marianne hat mich noch niemals verlassen,« sagte sie, »ohne mir Lebewohl zu sagen.«

»Sie würde Dir auch diesmal Lebewohl gesagt haben,« entgegnete Sir Percival, »hätte sie nicht für Dich und für sich selbst gefürchtet. Sie wußte, daß Du suchen würdest, sie zurückzuhalten, und daß Du sie durch Thränen betrüben würdest. Hast Du sonst noch Einwendungen zu machen? Dann mußt Du hinunter kommen und mir Deine Fragen im Eßzimmer vorlegen. Diese ewigen Quälereien langweilen mich. Ich muß ein Glas Wein haben.«

Er verließ uns plötzlich.

Seine Manier während dieser ganzen seltsamen Unterhaltung war vollkommen verschieden gewesen von dem, was sie gewöhnlich war. Er schien alle Augenblicke fast ebenso aufgeregt und ängstlich, wie seine Gemahlin selbst. Ich hätte mir nimmer gedacht, daß er eine so schwache Gesundheit gehabt, oder so leicht außer Fassung zu bringen gewesen wäre.

Ich versuchte Lady Glyde zu überreden, in ihr Zimmer zurückzukehren; doch war dies nutzlos. Sie blieb im Vorsaale stehen und hatte das Aussehen, als ob sie von einem panischen Schrecken ergriffen sei.

»Es ist meiner Schwester Etwas zugestoßen!« sagte sie.

»Bitte, bedenken Sie, Mylady, welche erstaunliche Energie Miß Halcombe besitzt,« sagte ich. »Sie ist wohl im Stande, eine Anstrengung zu machen, der andere Damen in ihrer Lage nicht gewachsen wären. Ich hoffe und glaube, daß nichts Unrechtes geschehen ist – gewiß ich glaube es.«

»Ich muß Mariannen nachreisen,« sagte Mylady mit demselben erschrockenen Blicke. »Ich muß hin, wo sie ist; ich muß mit meinen eignen Augen sehen, daß sie gesund und am Leben ist. Kommen Sie! Kommen Sie mit mir zu Sir Percival hinunter.«

Ich zögerte, aus Furcht, daß meine Gegenwart als eine Zudringlichkeit angesehen werden möchte; ich wagte Mylady dies vorzustellen, aber sie war taub gegen mich. Sie hielt meinen Arm fest genug, um mich zu zwingen, sie hinunter zu begleiten, und hing sich mit all der wenigen Kraft, die ihr noch blieb, an mich, als ich die Thür des Eßzimmers für sie öffnete.

Sir Percival saß am Tische, und vor ihm auf demselben stand eine Caraffe mit Wein. Als wir eintraten, führte er das Glas an seine Lippen und leerte es in einem Zuge. Da ich bemerkte, daß er mich zornig anblickte, indem er es wieder niedersetzte, versuchte ich, eine Entschuldigung für meine Anwesenheit im Zimmer zu machen.

»Denken Sie etwa, daß hier Geheimnisse vorgehen?« rief er plötzlich aus; »da irren Sie sich – es ist hier nichts Verstecktes, Nichts, das Ihnen oder sonst irgend Jemandem verhehlt würde.« Nachdem er diese seltsamen Worte mit lauter, strenger Stimme ausgesprochen, füllte er sein Glas wieder und fragte Lady Glyde, was sie von ihm wolle.

»Wenn meine Schwester im Stande ist, zu reisen, so bin ich es ebenfalls,« sagte Mylady mit größerer Festigkeit, als sie noch bisher gezeigt hatte. »Ich bitte Dich, mich für meine Besorgniß um Mariannen zu entschuldigen, und mir zu erlauben, ihr sofort mit dem Nachmittagszuge nachzureisen.«

»Du wirst bis morgen warten müssen,« entgegnete Sir Percival, »und dann, wenn ich Dich nicht vom Gegentheil unterrichte, kannst Du reisen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß irgend Etwas dazwischen kommen wird, und will deshalb mit der Abendpost an Fosco schreiben.«

Er sagte diese letzten Worte, indem er sein Glas gegen das Licht hielt und den darin funkelnden Wein anschaute, anstatt seine Frau anzusehen. Er sah sie in der That während der ganzen Unterredung nicht an. Ein so merkwürdiger Mangel an Aufmerksamkeit fiel mir, ich muß es gestehen, bei einem Manne von Percival’s Range und Bildung sehr schmerzlich auf.

»Wozu wolltest Du an Graf Fosco schreiben?« frug sie im größten Erstaunen.

»Um ihm zu sagen, daß er Dich mit dem Mittagszuge erwarten möge,« sagte Sir Percival. »Er wird Dich an der Station empfangen und Dich von da mitnehmen, damit Du die Nacht im Hause Deiner Tante in St. John’s Wood schläfst.«

Lady Glyde’s Hand fing heftig auf meinem Arme zu zittern an – ich begriff nicht warum.

»Es ist nicht nöthig, daß Graf Fosco mich auf der Station abholt,« sagte sie, »ich will die Nacht lieber in London bleiben.«

»Du mußt es aber. Du kannst die ganze Reise nach Cumberland nicht in einem Tage machen. Du mußt die Nacht in London schlafen – und ich will nicht, daß Du allein in ein Hotel gehst. Fosco hat Deinem Onkel das Anerbieten gemacht, Dich in seinem Hause zu empfangen, und Dein Onkel hat es angenommen. Da, da ist ein Brief von ihm an Dich. Ich hätte ihn Dir heute Morgen hinaufschicken sollen, aber ich vergaß es. Lies ihn und sieh, was Mr. Fairlie selbst Dir darüber schreibt.«

Lady Glyde blickte den Brief einen Augenblick an und reichte ihn dann mir hin.

»Lesen Sie ihn,« sagte sie mit matter Stimme, »ich weiß nicht, was mir fehlt – ich kann ihn nicht selbst lesen.«

Das Billet enthielt blos drei Zeilen – es war so kurz und theilnahmlos, daß ich darüber erstaunte. Falls mich mein Gedächtniß nicht täuscht, enthielt es Nichts als folgende Worte:

»Liebste Laura – bitte, komm, sobald es Dir gefällt. Verkürze die Reise, indem Du in London im Hause Deiner Tante schläfst. Bedaure zu hören, daß die gute Marianne krank ist.

Herzlich der Deine, Frederick Fairlie

»Ich möchte lieber nicht dorthin gehen – ich möchte die Nacht lieber nicht in London bleiben,« sagte Mylady eifrig, ehe ich noch mit dem Lesen des Billets zu Ende, so kurz dasselbe auch war. »Schreibe nicht an Graf Fosco! Bitte, bitte, schreibe nicht an ihn!«

Sir Percival nahm nochmals die Weincaraffe zur Hand und füllte sein Glas, aber mit solchem Ungeschick, daß er es umstieß und den Wein über den Tisch hingoß. »Mir scheint, ich werde blind,« brummte er mit seltsam flüsternder Stimme vor sich hin. Er stellte das Glas langsam wieder auf, füllte es und leerte es abermals mit einem Zuge. Ich begann, nach seinem Wesen und Aussehen zu fürchten, daß ihm der Wein zu Kopf steige.

»Bitte, schreibe nicht an Graf Fosco!« bat Lady Glyde dringender denn je.

»Ich möchte wissen, warum nicht!« rief Sir Percival mit einem plötzlichen Zornesausbruche aus, der uns Beide erschreckte. »Wo kannst Du wohl mit größerer Schicklichkeit die Nacht in London zubringen, als in dem Hause, welches Dein Onkel selbst dazu bestimmt hat – im Hause Deiner Tante? Frage Mrs. Michelson.«

Das vorgeschlagene Arrangement war so ohne Frage das richtigste und passendste, daß ich durchaus Nichts dagegen einwenden konnte. So sehr ich auch in andern Beziehungen mit Lady Glyde sympathisirte, ihre ungerechten Vorurtheile gegen Graf Fosco konnte ich nicht theilen. Es ist mir noch nie eine Dame von ihrem Range und ihrer Bildung vorgekommen, bei der ich eine so beklagenswerthe Engherzigkeit gegen Ausländer gefunden hätte. Weder das Billet ihres Onkels, noch Sir Percival’s zunehmende Ungeduld schienen den geringsten Eindruck auf sie zu machen. Sie weigerte sich immer wieder, die Nacht in London zu bleiben, und wiederholte ihre Bitten an ihren Gemahl, doch nicht an den Grafen Fosco zu schreiben.

»Hör’ auf!« sagte Sir Percival, indem er uns unhöflich den Rücken zuwandte. »Wenn Du selbst nicht Verstand genug hast, um einzusehen, was gut für Dich ist, so müssen Andere dies für Dich einsehen. Ich habe es nun einmal so bestimmt und damit Punktum Du sollst blos thun, was Miß Halcombe bereits vor Dir gethan –«

»Marianne!« wiederholte Mylady in verwirrtem Erstaunen, »Marianne hätte in Graf Fosco’s Hause die Nacht zugebracht?!«

»Ja, in Graf Fosco’s Hause. Sie schlief dort vergangene Nacht, um nicht die ganze Reise mit einemmale zu machen. Und Du sollst ihrem Beispiele folgen und thun, was Dein Onkel Dir sagt. Du sollst morgen Abend in Fosco’s Hause ausruhen, um die Reise zu verkürzen, wie Deine Schwester gethan hat. Mache mir nicht zu viele Einwendungen, oder Du wirst es noch dahin bringen, daß ich es bereue, Dich überhaupt fortzulassen!«

Er sprang auf und ging schnell durch die offene Glasthür auf die Veranda hinaus.

»Wollen Sie mich entschuldigen, Mylady,« sagte ich, »wenn ich vorzuschlagen wage, daß wir lieber nicht hier bleiben, bis Sir Percival zurückkommt? Ich fürchte sehr, daß er vom Weine erregt ist.«

Sie willigte mit zerstreutem, matten Wesen ein, das Zimmer zu verlassen.

Sobald wir Beide wieder oben angelangt waren, that ich mein Möglichstes, um Mylady zu beruhigen. Ich erinnerte sie daran, daß Mr. Fairlie’s Briefe an Miß Halcombe und an sie jedenfalls das vorgeschriebene Verfahren billigten, ja es sogar nothwendig machten. Sie stimmte hierin mit mir überein und gab sogar zu, daß beide Briefe genau in dem eigenthümlichen Geiste ihres Onkels geschrieben seien – aber ihre Sorge um Miß Halcombe und ihre unbegreifliche Angst vor einer Nacht in Graf Fosco’s Hause in London, blieben ungeachtet all’ meiner dringenden Gegenvorstellungen, dieselben. Ich hielt es für meine Pflicht, gegen Lady Glyde’s ungünstige Meinung von Sr. Gnaden zu protestiren, und ich that es mit aller Achtung und Nachsicht.

»Mylady werden mir verzeihen, daß ich mir die Freiheit nehme,« bemerkte ich zum Schlusse, »aber es steht geschrieben: An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen. Des Grafen unausgesetzte Güte und Aufmerksamkeit gleich vom Anfange von Miß Halcombe’s Krankheit an verdienen wirklich unser ganzes Zutrauen und die größte Achtung. Selbst Sr. Gnaden ernstliche Entzweiung mit Mr. Dawson war ganz und gar seiner Sorge um Miß Halcombe zuzuschreiben.«

»Welche Entzweiung?« frug Mylady mit einem plötzlichen Ausdrucke des Interesses.

Ich theilte ihr die unglücklichen Umstände mit, unter welchen Mr. Dawson sich zurückgezogen hatte – und zwar um so bereitwilliger, weil ich es durchaus nicht billigte, daß Sir Percival fortfuhr, Lady Glyde zu verhehlen (wie er es in meiner Gegenwart gethan), was sich zugetragen hatte.

Mylady stand heftig und allem Anscheine nach durch Das, was ich ihr erzählt, doppelt aufgeregt und beunruhigt auf.

»Dies ist schlimm! schlimmer noch, als ich gedacht hatte!« sagte sie, indem sie in höchster Bestürzung im Zimmer auf und ab ging. »Der Graf wußte, daß Mr. Dawson nimmermehr in Marianne’s Reise willigen würde, und beleidigte ihn absichtlich, um ihn aus dem Hause zu schaffen.«

»O Mylady! Mylady;!« sagte ich in vorstellendem Tone.

»Mrs. Michelson!« fuhr sie heftig fort, »keine Worte, die je gesprochen werden können, werden mich überzeugen, daß meine Schwester sich mit ihrer Zustimmung im Hause und in der Gewalt jenes Mannes befindet. Mein Entsetzen vor ihm ist der Art, daß Nichts, was Sir Percival sagen oder mein Onkel schreiben könnte, mich bewegen sollte – falls ich blos meine eigenen Gefühle zu berücksichtigen hätte – unter seinem Dache zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Aber meine Angst der Ungewißheit um Mariannen giebt mir den Muth, ihr zu folgen, wohin es auch sei – ja selbst bis in Graf Fosco’s Haus.«

Ich hielt es hier für Recht zu erwähnen, daß Miß Halcombe nach Sir Percival’s Angabe bereits nach Cumberland abgereist sein müsse.

»Ich wage es nicht zu glauben!« entgegnete Mylady. »Ich fürchte, sie ist noch immer in jenes Mannes Hause. Falls ich mich täusche – falls sie wirklich schon auf dem Wege nach Limmeridge ist – bin ich entschlossen, morgen Nacht nicht unter Graf Fosco’s Dache zu schlafen. Die liebste Freundin, die ich, nächst meiner Schwester, in der Welt besitze, wohnt nahe bei London. Sie haben mich und Miß Halcombe doch von Mrs. Vesey sprechen hören? Ich werde an sie schreiben und ihr sagen, daß ich die Nacht in ihrem Hause zubringen will. Ich weiß nicht, wie ich zu ihr gelangen – weiß nicht, wie ich dem Grafen ausweichen soll, aber zu ihr will ich fliehen, sollte meine Schwester bereits nach Cumberland abgereist sein. Alles, worum ich Sie bitte, ist, daß Sie Sorge tragen, daß mein Brief an Mrs. Vesey ebenso sicher heute Abend nach London abgeht, wie Sir Percival’s Brief an Graf Fosco. Ich habe Grund, mich nicht auf die Posttasche zu verlassen. Wollen Sie mein Geheimniß bewahren und mir hierin helfen? Es wird vielleicht die letzte Gefälligkeit sein, um die ich Sie je ersuchen werde.«

Ich zögerte – es kam mir Alles sehr seltsam vor – ich fürchtete beinah, daß Mylady’s Geist durch die kürzlich ausgestandenen Sorgen und Leiden ein wenig zerrüttet sei. Doch endete ich damit, daß ich auf eigene Gefahr hin einwilligte. Wäre der Brief an eine fremde Person oder an irgend Jemand anders, als die mir dem Rufe nach so wohlbekannte Mrs. Vesey gerichtet gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich geweigert. Ich danke Gott – wenn ich bedenke, was sich später ereignete – ich danke Gott, daß ich Lady Glyde weder diesen noch irgend einen andern Wunsch versagte, den sie während dieses letzten Tages ihres Aufenthaltes in Blackwater Park aussprach.

Sie schrieb den Brief und übergab ihn mir. Abends trug ich ihn selbst ins Dorf und that ihn in den Briefkasten.

Wir hatten während des ganzen übrigen Tages Sir Percival nicht wieder zu Gesicht bekommen. Ich schlief auf Lady Glyde’s Wunsch in dem Zimmer neben dem ihrigen, und die Thür zwischen beiden Zimmern blieb offen stehen. Es lag in der Einsamkeit und Leere des Hauses etwas so Sonderbares und Unangenehmes, daß ich meinerseits froh war, eine Gefährtin in der Nähe zu haben. Mylady blieb spät auf, indem sie beschäftigt war, Briefe zu lesen und zu verbrennen, und aus ihren Auszügen und Schränkchen kleine Gegenstände, die ihr werth waren, herauszunehmen, als ob sie nicht erwarte, je nach Blackwater Park zurückzukehren. Ihr Schlaf, als sie sich endlich zu Bette gelegt, war sehr unruhig: sie schrie mehrere Male laut auf, einmal so laut, daß sie selbst darüber erwachte. Welcher Art aber ihre Träume sein mochten, mir theilte sie dieselben nicht mit. Vielleicht hatte ich in meiner Stellung nicht das Recht, Dies von ihr zu erwarten. Es kommt jetzt wenig darauf an. Ich war sehr bekümmert um sie – gewiß, ich war dessenungeachtet von ganzem Herzen bekümmert um sie.

Der folgende Tag war schön und sonnenhell. Sir Percival kam nach dem Frühstücke zu uns herauf und benachrichtigte uns, daß der Wagen um ein Viertel vor zwölf Uhr vor der Thüre sein werde – der Zug, mit dem wir nach London gehen wollten, hielt zwanzig Minuten nach zwölf bei unserer Station an. Er sagte, er sei genöthigt, auszugehen, fügte aber hinzu, daß er vor ihrer Abreise zurückzusein hoffe. Falls er aber durch irgend einen Zufall hieran verhindert würde, so sollte ich sie nach der Station begleiten und Sorge tragen, daß sie nicht zu spät käme. Sir Percival gab uns diese Instructionen, indem er sehr hastig sprach und fortwährend aufgeregt im Zimmer auf und ab ging. Mylady blickte ihm aufmerksam nach, wohin er ging. Er sah sie nicht ein einziges Mal an.

Sie sprach erst, als er geendet, und hielt ihn dann zurück, als er aus der Thür gehen wollte, indem sie ihm die Hand hinreichte.

»Ich werde Dich nicht mehr sehen,« sagte sie sehr deutlich; »hier scheiden wir – vielleicht auf immer. Willst Du versuchen, mir zu vergeben, Percival, so von Herzen, wie ich Dir vergebe?«

Es zog sich eine furchtbare Blässe über sein Gesicht, und große Schweißperlen standen ihm auf der kahlen Stirn. »Ich werde zurückkommen,« sagte er und eilte nach der Thür, als ob die Worte seiner Frau ihn hinausgejagt hätten.

Ich hatte Sir Percival nie sehr gern gehabt, aber die Art und Weise, in der er Lady Glyde verließ, verursachte mir förmlich Scham, daß ich je sein Brod gegessen und in seinem Dienste gelebt hatte. Ich wollte der armen Dame ein paar trostreiche, christliche Worte sagen, aber es lag Etwas in ihrem Gesichte, als sie ihrem Manne nachblickte, bis er die Thür hinter sich geschlossen hatte, das mich umstimmte und zu schweigen bewog.

Zur bestimmten Zeit fuhr der Wagen vor. Mylady hatte Recht: Sir Percival kam nicht zurück. Wir warteten bis zum letzten Augenblicke auf ihn – aber vergebens.

Es ruhte keine positive Verantwortlichkeit auf mir, und doch war ich unruhigen Geistes. »Es ist doch Mylady’s freier Wille,« sagte ich, als wir durch das Thor fuhren, »daß Sie jetzt nach London reisen?«

»Ich würde hingehen, wohin man wollte, um die furchtbare Ungewißheit zu enden, die ich in diesem Augenblicke erdulde!« entgegnete sie.

Sie hatte es dahin gebracht, daß ich fast ebenso unruhig und besorgt um Miß Halcombe geworden, wie sie selbst. Ich wagte, sie um eine Zeile der Nachricht zu bitten, falls in London Alles gut ginge. Sie antwortete:

»Sehr gern, Mrs. Michelson.«

»Wir haben Alle unser Kreuz zu tragen, Mylady,« sagte ich, da ich sah, daß sie schweigsam und gedankenvoll wurde, nachdem sie mir zu schreiben versprochen hatte. Sie antwortete nicht; sie schien zu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken, um auf mich zu achten. »Ich fürchte, Mylady schliefen schlecht in der Nacht,« bemerkte ich nach einer kleinen Weile. »Ja,« sagte sie, »ich wurde durch furchtbare Träume gestört.« »Wirklich, Mylady?« Ich dachte, sie sei im Begriffe, mir ihre Träume zu erzählen; aber nein; als sie das nächste Mal wieder sprach, war es, um eine Frage zu thun. »Haben Sie den Brief an Mrs. Vesey mit eigener Hand in die Post gethan?«

»Ja, Mylady?«

»Sagte Sir Percival gestern, daß der Graf Fosco mich an der Station in London empfangen werde?«

»Ja, Mylady.«

Sie seufzte schwer auf, als ich diese letzte Antwort gab und sagte Nichts weiter.

Wir kamen kaum zwei Minuten vor Abgang des Zuges auf der Station an. Der Gärtner, welcher uns gefahren hatte, sah nach dem Gepäcke, während ich Mylady’s Billet besorgte. Es wurde bereits zur Abfahrt gepfiffen, als ich zu Mylady an den Perron zurückkehrte. Sie sah sehr seltsam aus und preßte plötzlich die Hand aufs Herz, wie wenn sie ein heftiger Schmerz oder Schreck durchfahren hätte.

»Ich wollte, Sie kämen mit mir!« sagte sie, mich hastig beim Arme ergreifend, als ich ihr das Billet übergab.

Wäre noch Zeit dazu gewesen und hätte ich den Tag vorher gefühlt, was ich jetzt fühlte, so würde ich meine Vorbereitungen getroffen haben, um sie zu begleiten, selbst wenn ich dadurch genöthigt worden wäre, Sir Percival auf der Stelle meine Dienste aufzukündigen. So aber wurden ihre Wünsche, im letzten Augenblicke ausgesprochen, mir zu spät bekannt, um ihnen zu willfahren. Sie schien dies selbst einzusehen, bevor ich noch Zeit hatte, es ihr zu erklären, und wiederholte ihren Wunsch, mich zur Reisegefährtin zu haben, nicht. Der Zug hielt vor dem Perron. Sie gab dem Gärtner, ehe sie in den Waggon stieg, ein Geschenk für seine Kinder und reichte mir auf ihre einfache, herzliche Weise die Hand.

»Sie sind sehr freundlich gegen mich und meine Schwester gewesen,« sagte sie, »sehr freundlich, da wir Beide freundlos waren. Ich werde mich Ihrer dankbar erinnern, solange ich mich noch an irgend Etwas werde erinnern können. Adieu – und Gott segne Sie!«

Sie sprach diese Worte in einem Tone und mit einem Blicke, daß mir darüber die Thränen in die Augen traten – sie sprach sie, als ob sie mir auf immer Lebewohl sagte.

»Leben Sie wohl, Lady,« sagte ich, ihr in den Wagen helfend und indem ich sie aufzumuntern suchte, »aber nur für jetzt Lebewohl; meine besten Wünsche für glücklichere Zeiten begleiten Sie!«

Sie schüttelte den Kopf und schauderte zusammen, als sie sich in den Wagen setzte. Der Schaffner schloß die Thür. »Glauben Sie an Träume?« flüsterte sie mir durchs Fenster zu. Meine Träume in der vorigen Nacht waren solche, wie ich sie noch nie gehabt habe; und das Entsetzen derselben verfolgt mich noch immer.«

Es wurde gepfiffen, ehe ich noch Etwas erwidern konnte, und der Zug setzte sich in Bewegung Ihr weißes, ruhiges Gesicht sah mich an – schaute mich noch einmal durchs Fenster kummervoll und feierlich an – sie winkte mit der Hand – und ich sah sie nicht mehr.

Gegen fünf Uhr an demselben Nachmittage setzte ich mich in meinem Zimmer, da mir inmitten meiner zahlreichen Haushaltspflichten ein wenig Zeit übrig blieb, um durch eine der Predigten meines lieben Mannes mein Gemüth etwas zu beruhigen. Zum ersten Male in meinem Leben gewahrte ich, daß meine Aufmerksamkeit von den frommen und aufrichtenden Worten abschweifte. Indem ich schloß, daß Lady Glyde’s Abreise mich weit tiefer betrübt, als ich mir zuerst eingestanden, legte ich das Buch von mir und ging hinaus, um einen kleinen Gang durch den Garten zu machen. Sir Percival war, soviel mir bekannt, noch nicht zurückgekehrt, und ich brauchte daher keinen Anstand zu nehmen, mich in den Parkanlagen sehen zu lassen.

Als ich um die Ecke des Hauses bog und den Garten sehen konnte, war ich überrascht, eine fremde Person drin spazierengehen zu sehen. Es war eine Frau, die langsam, den Rücken mir zugewendet, dem Pfade entlang ging und Blumen pflückte.

Als ich näher herankam, hörte sie mich und wandte sich um.

Mein Blut erstarrte mir in meinen Adern. Die fremde Person im Garten war Mrs. Rubelle.

Ich konnte mich weder rühren noch sprechen. Sie trat so gelassen, wie immer, mit den Blumen in der Hand zu mir heran.

»Was giebt es, Madame?« frug sie ganz ruhig.

»Sie hier?« sagte ich mühsam. »Nicht in London! Nicht in Cumberland?«

Mrs. Rubelle athmete mit einem Lächeln maliciösen Mitleids den Duft ihrer Blumen ein.

»Gewiß nicht,« sagte sie. »Ich habe Blackwater Park keinen Augenblick verlassen.«

Ich sammelte Muth und Athem zu einer zweiten Frage.

»Wo ist Miß Halcombe?«

Mrs. Rubelle lachte mir diesmal gerade ins Gesicht und antwortete:

»Miß Halcombe, Madame, hat Blackwater Park ebenfalls nicht verlassen.«

Miß Halcombe hatte Blackwater Park nicht verlassen!

Als ich diese Worte hörte, flogen meine Gedanken augenblicklich zu meinem Scheiben von Lady Glyde zurück. Ich kann kaum sagen, daß ich mir Vorwürfe machte, aber in dem Augenblicke hätte ich gern die sauren Ersparnisse von vielen Jahren darum gegeben, wenn ich vier Stunden früher gewußt hätte, was ich jetzt wußte.

Mrs. Rubelle stand ruhig da und machte sich mit ihren Blumen zu schaffen, als ob sie erwarte, daß ich Etwas sagen werde.

Ich konnte Nichts sagen. Ich dachte an Lady Glyde’s erschöpfte Kräfte und schwache Gesundheit und zitterte bei dem Gedanken an den Augenblick, wo der Schlag dieser Entdeckung auf sie fallen würde. Meine Befürchtungen für die gute Dame ließen mich ein paar Minuten völlig verstummen. Nach Verlauf derselben blickte Mrs. Rubelle seitwärts von ihren Blumen auf und sagte: »Hier kommt Sir Percival von seinem Ritte zurück, Madame.«

Ich sah ihn ebensobald, wie sie ihn gesehen. Er kam auf uns zu, indem er grimmig mit der Reitpeitsche in die Blumen hieb. Als er nahe genug herangekommen war, um mein Gesicht zu sehen, stand er still, schlug mit der Peitsche an seine Stiefeln und brach in ein so rauhes, widriges Lachen aus, daß die Vögel erschrocken aus dem Baume herausflatterten, neben welchem er stand.

»Nun, Mrs. Michelson,« sagte er, »sind Sie endlich dahinter gekommen?«

Ich erwiderte Nichts, und er wandte sich gegen Mrs. Rubelle.

»Wann ließen Sie sich im Garten sehen?«

»Vor ungefähr einer halben Stunde, Sir. Sie sagten, ich könne meine Freiheit haben, sobald Lady Glyde nach London abgereist sei.«

»Ganz recht. Ich tadle Sie nicht. Es war eine blose Frage.« Er schwieg einen Augenblick und wandte sich dann wieder zu mir. Sie können’s nicht glauben, wie?« sagte er spöttisch. »Hier! kommen Sie mit und sehen es selbst.«

Er ging voran bis zur Vorderseite des Hauses. Ich folgte ihm und Mrs. Rubelle mir. Nachdem wir durch die eisernen Thore gegangen, stand er still und wies mit der Peitsche auf das unbewohnte Centrum des Gebäudes.

»Da!« sagte er, »sehen Sie nach den Fenstern der ersten Etage hinauf. Sie wissen die alten Elisabethischen Schlafzimmer? Miß Halcombe befindet sich in diesem Augenblicke sicher und gemüthlich in dem besten derselben. Führen Sie sie hinein, Mrs. Rubelle (Sie haben doch Ihren Schlüssel?); führen Sie Mrs. Michelson hinein, damit ihre eigenen Augen sie überzeugen, daß diesmal keine Täuschung stattfindet.«

Der Ton, in welchem er zu mir sprach, und die wenigen Minuten, die verflossen waren, seit wir den Garten verlassen, halfen mir, mich wieder zu sammeln. Was ich in diesem kritischen Augenblicke möglicherweise gethan, falls ich mein ganzes Leben im Dienste zugebracht hätte, kann ich nicht sagen. So aber, da ich die Gefühle, die Grundsätze und Erziehung einer gebildeten Dame besaß, konnte ich natürlich über das richtige Verfahren keinen Augenblick im Zweifel sein. Meine Pflicht gegen mich selbst sowohl, wie meine Pflicht gegen Lady Glyde verboten mir, im Dienste eines Mannes zu bleiben, der uns Beide auf so schnöde Weise durch eine Reihe von Unwahrheiten hintergangen hatte.

»Ich muß um Erlaubniß bitten, Sir Percival,« sagte ich·, »ein paar Worte allein mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich werde danach bereit sein, mit dieser Frau zu Miß Halcombe zu gehen.«

Mrs. Rubelle, auf welche ich mit einer leichten Kopfbewegung hingedeutet hatte, roch mit einer impertinenten Miene an ihrem Blumenstrauß und ging dann mit ihrer gewohnten Gelassenheit der Hausthür zu.

»Nun,« sagte Sir Percival scharf, »was giebt’s jetzt?«

»Ich wünsche Ihnen anzukündigen, Sir, daß ich das Amt, welches ich augenblicklich in Blackwater Park bekleide, hiermit niederlege.« Dies war genau, wie ich mich ausdrückte. Ich war entschlossen, daß meine ersten Worte zu ihm die sein sollten, welche ihm meine Dienste aufkündigten.

Er betrachtete mich mit einem seiner finstersten Blicke und fuhr wüthend mit den Händen in die Taschen seines Reitrockes.

»Warum?« sagte er; »ich möchte wissen, warum?«

»Es steht mir nicht zu, Sir Percival, eine Meinung über Das abzugeben, was sich in diesem Hause zugetragen hat. Ich wünsche Niemanden zu beleidigen, sondern blos zu bemerken, daß ich es nicht mit meiner Pflicht gegen Lady Glyde und gegen mich selbst vereinbar halte, länger in Ihren Diensten zu bleiben.«

»Ist es mit Ihrer Pflicht gegen mich vereinbar, dazustehen und geradezu Verdacht auf mich zu werfen?« schrie er auf seine allerheftigste Art. »Ich seh’ schon, wo Sie hinaus wollen. Sie haben sich Ihre eigene gemeine, hinterlistige Ansicht über eine unschuldige Täuschung gebildet, die zu ihrem eigenen Besten gegen Lady Glyde begangen worden. Es war durchaus nothwendig für ihre Gesundheit, daß sie sofort eine Luftveränderung genösse – und Sie wissen so gut wie ich, daß sie nimmer gegangen wäre, so lange sie Miß Halcombe noch hier wußte. Sie ist zu ihrem eigenen Besten getäuscht worden, und Jeder mag Das wissen. Gehen Sie, wenn Sie wollen – es sind reichlich Haushälterinnen zu haben, die vollkommen so gut sind, wie Sie. Gehen Sie wann Sie wollen – aber nehmen Sie sich in Acht, wie Sie mich und meine Angelegenheiten verlästern, sobald Sie einmal aus meinem Dienste sind. Sagen Sie die Wahrheit und Nichts, als die Wahrheit, oder es soll Ihnen schlimm ergehen! Sehen Sie Miß Halcombe selbst und überzeugen Sie sich, ob sie nicht in dem einen Theile des Hauses so gute Pflege genossen hat, wie in dem andern. Denken Sie an des Doctors eigene Worte, daß Lady Glyde sobald wie möglich eine Luftveränderung genießen müsse. Denken Sie an alles Dies und dann wagen Sie es, Etwas gegen mich und mein Verfahren zu sagen!«

Er entlud sich dieser Worte mit einer wahren Wuth  und alle in einem Athem, wobei er auf und ab ging und mit der Peitsche in der Luft umher hieb.

Doch konnte Nichts, was er sagte oder that, meine Meinung über die Reihe abscheulicher Unwahrheiten schwankend machen, welche er am gestrigen Tage in meiner Gegenwart gesprochen, noch von der grausamen Täuschung, durch welche er Lady Glyde von ihrer Schwester getrennt hatte, da Jene bereits in ihrer Angst um Miß Halcombe halb den Verstand verloren. Ich behielt diese Gedanken natürlich für mich und sagte Nichts weiter, das ihn aufreizen konnte, aber ich war nichtsdestoweniger entschlossen, meine ausgesprochene Absicht auszuführen. Eine sanfte Antwort wendet den Zorn ab, und ich unterdrückte deshalb meine eigenen Gefühle, als ich ihm eine Antwort zu geben genöthigt war.

»So lange ich in Ihren Diensten bin, Sir Percival,« sagte ich, »hoffe ich hinlänglich meine Pflicht zu kennen, um mich nicht um Ihre Beweggründe zu bekümmern, Sobald ich aber Ihren Dienst verlassen haben werde, denke ich meine Stellung gut genug zu kennen, um nicht über Dinge zu sprechen, die mich Nichts angehen –«

»Wann wollen Sie fort?« unterbrach er mich ohne alle Ceremonie. »Bilden Sie sich nicht ein, daß mir daran liegt, Sie zu behalten – daß ich mich darum betrübe, wenn Sie das Haus verlassen. Ich bin in dieser Sache von Anfang bis zu Ende vollkommen offen und gerecht. Wann wollen Sie fort?«

»Ich möchte gehen, sobald es Ihnen nur paßte, Sir Percival.«

»Das hat gar nichts damit zu thun. Ich werde morgen früh das Haus ganz und gar verlassen und kann heute Abend mit Ihnen abschließen. Falls Sie auf irgend Jemanden Rücksichten zu nehmen wünschen, so können Sie es lieber für Miß Halcombe thun. Mrs. Rubelle’s Zeit ist heute abgelaufen, und sie hat Ursache, zu wünschen, schon heute Abend in London zu sein. Falls Sie gleich abgehen, so wird kein lebendes Wesen da sein, um nach Miß Halcombe zu sehen.«

Ich hoffe, es ist unnöthig für mich zu sagen, daß es nicht in meiner Natur lag, Lady Glyde und Miß Halcombe in einer Lage zu verlassen, wie die, in der sie sich jetzt befanden. Nachdem ich mir erst entschieden von Sir Percival die Versicherung hatte geben lassen, daß Mrs. Rubelle sofort abreisen werde, falls ich ihre Stelle übernähme, und ferner seine Erlaubniß erhalten, Mr. Dawson zu seiner Patientin zurückzurufen, gab ich bereitwillig meine Zustimmung, in Blackwater Park zu bleiben, bis Miß Halcombe meiner Dienste nicht länger bedürfen würde. Es wurde ausgemacht, daß ich Sir Percival’s Advocaten eine Woche vorher davon benachrichtigte, sobald ich fortzugehen wünsche, und daß derselbe die nothwendigen Anstalten treffen solle, eine Stellvertreterin für mich einzusetzen. Die Sache war mit wenig Worten abgemacht, worauf Sir Percival mir frei ließ zu Mrs. Rubelle zurückzukehren. Diese sonderbare Ausländerin hatte während der ganzen Zeit ruhig auf der Thürschwelle gesessen und gewartet, bis ich sie würde zu Miß Halcombe begleiten können.

Ich war kaum zur Hälfte bis ans Haus gelangt, als Sir Percival, welcher in entgegengesetzter Richtung davon gegangen war, stille stand und mich wieder zurückrief.«

»Weshalb verlassen Sie meinen Dienst?« fragte er. Diese Frage war nach dem, was so eben zwischen uns vorgegangen, so merkwürdig, daß ich kaum wußte, was ich darauf erwidern sollte.

»Denken Sie an Dies: ich weiß es nicht, weshalb Sie fortgehen,« fuhr er fort. »Sie werden aber vermuthlich einen Grund dafür angeben müssen, wenn Sie eine neue Stelle antreten wollen. Was ist Ihr Grund? Das Auseinandergehen der Familie? Ist es das?«

»Ich habe nichts Entschiedenes dagegen, Sir Percival, dies als den Grund –«

»Schon gut! Das ist Alles, was ich wissen wollte. Wenn man sich also bei Ihnen erkundigt, so ist das der Grund, den Sie selbst dafür angegeben haben. Sie gehen ab in Folge des Auseinandergehens der Familie.«

Er wandte sich wieder um, ehe ich noch ein Wort erwidern konnte, und ging mit schnellen Schritten den Anlagen zu. Sein Wesen war ebenso sonderbar, wie seine Reden. Ich gestehe, daß er mich beunruhigte.

Selbst Mrs. Rubelle’s Geduld war erschöpft, als ich mich an der Hausthür zu ihr gesellte.

»Endlich!« sagte sie, indem sie mit ihren magern ausländischen Achseln zuckte. Sie ging voran in den bewohnten Theil des Hauses, dann die Treppe hinauf und öffnete mit ihrem Schlüssel die Thür am Ende des Corridors, welcher zu den alten Elisabethischen Zimmern führte – eine Thür, die noch nie geöffnet worden, so lange ich in Blackwater Park gewesen. Die Zimmer selbst waren mir wohl bekannt, da ich sie zu verschiedenen Gelegenheiten von der andern Seite des Hauses aus betreten hatte. Mrs. Rubelle stand an der dritten Thür in der alten Gallerie still, überreichte mir den Schlüssel zu derselben, sowie den Schlüssel zur Verbindungsthür und sagte mir, ich würde Miß Halcombe in diesem Zimmer finden. Ehe ich hineinging, erachtete ich es als zweckmäßig, ihr zu verstehen zu geben, daß man ihrer Aufwartung nicht mehr bedürfe. Demzufolge benachrichtigte ich sie mit wenigen kurzen Worten, daß die Pflege der kranken Dame hinfort gänzlich mir anheimfalle.

»Ich freue mich es zu hören, Madame,« sagte Mrs. Rubelle. »Ich sehne mich sehr danach, zu gehen.«

»Werden Sie heute abreisen?« fragte ich, um meiner Sache gewiß zu sein.

»Jetzt, da Sie die Pflege übernommen haben, Madame, werde ich in einer halben Stunde den Ort verlassen. Sir Percival hat die Güte gehabt, den Wagen und den Gärtner zu meiner Disposition zu stellen, sobald ich ihrer bedürfen würde. Ich werde ihrer in einer halben Stunde bedürfen, um nach der Station zu fahren. Ich habe in Erwartung dessen bereits eingepackt. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Madame.«

Sie machte einen flinken Knix und ging die Gallerie entlang, wobei sie eine Melodie vor sich hinsummte, zu der sie munter mit ihrem Blumenstrauße den Tact schlug. Ich sage es mit aufrichtiger Dankbarkeit, daß dies das Letzte war, was ich von Mrs. Rubelle sah.

Als ich ins Zimmer trat, fand ich, daß Miß Halcombe schlief. Ich betrachtete sie mit Besorgniß, während sie in dem finstern, hohen, altmodischen Bette dalag. Jedenfalls hatte sich ihr Zustand, dem Aussehen nach zu urtheilen, nicht verschlimmert, seit ich sie zuletzt gesehen, und ich muß zugeben, daß, soviel ich sehen konnte, man sie nicht vernachlässigt hatte. Das Zimmer war traurig, staubig und finster; aber das Fenster (welches auf den einsamen Hof an der Hinterseite des Hauses hinausging) war geöffnet, um die frische Luft einzulassen, und Alles, was geschehen konnte, um die Stube wohnlich zu machen, war gethan worden. Die ganze Grausamkeit des von Sir Percival ausgeübten Betruges war auf die arme Lady Glyde gefallen. Das Einzige, worin er oder Mrs. Rubelle Miß Halcombe schlecht behandelt, war, soviel ich bemerken konnte, der Umstand, daß sie sie versteckt hatten.

Ich schlich mich wieder hinaus, während die kranke Dame noch in sanftem Schlummer lag, um dem Gärtner meine Weisungen in Bezug auf das Wiederholen des Arztes zu geben. Ich bat ihn, nachdem er Mrs. Rubelle werde nach der Station gebracht haben, bei Mr. Dawson vorzufahren und ihn mit meiner Empfehlung zu bitten, zu mir zu kommen. Ich wußte, daß er meinetwegen kommen und bleiben würde, sobald er erfuhr, daß Graf Fosco das Haus verlassen.

Im Verlaufe der Zeit kehrte der Gärtner zurück und sagte, daß er zu Mr. Dawson’s Wohnung gefahren, nachdem er Mrs. Rubelle auf der Station abgesetzt habe. Der Doctor lasse mir sagen, er befinde sich selbst nicht wohl, wolle aber wo möglich am folgenden Morgen zu mir kommen.

Als er seine Botschaft ausgerichtet, war er im Begriffe zu gehen, aber ich hielt ihn zurück, um ihn zu bitten, nach dem Dunkelwerden wieder zu kommen und die Nacht in einem der leeren Schlafzimmer zu wachen, damit ich ihn rufen könne, falls irgend Etwas vorfallen sollte. Er begriff vollkommen, wie ungern ich die ganze Nacht allein in diesem einsamsten Theile des verlassenen Hauses zubringen würde, und willigte bereitwillig ein, zwischen acht und neun Uhr wiederzukommen. Er kam pünktlich, und ich hatte alle Ursache, mir zu der Vorsicht Glück zu wünschen, die mich ihn hatte bestellen lassen. Noch vor Mitternacht brach Sir Percival’s seltsame Wuth auf die heftigste und beunruhigendste Weise aus, und wäre nicht der Gärtner da gewesen, um ihn zu besänftigen, fürchte ich mich, zu denken, was hätte geschehen können.

Er war während des ganzen Nachmittags und Abends fast mit unstätem, aufgeregtem Wesen im Hause und im Garten umhergewandert, nachdem er, wie mir’s schien, bei seinem einsamen Diner eine übermäßige Menge Wein getrunken. Wie dem indessen sein mag, ich hörte seine Stimme im neuen Flügel des Hauses laut und zornig ausrufen, als ich, gerade ehe ich zu Bett gehen wollte, eine Gang durch die Gallerie machte. Der Gärtner lief augenblicklich zu ihm hinunter, und ich schloß schnell die Verbindungsthür, damit der Lärm nicht bis zu Miß Halcombe dringen und sie wecken möge. Es währte eine gute halbe Stunde, ehe der Gärtner zurückkam. Er meinte, sein Herr sei gänzlich von Sinnen – nicht durch die Aufregung vom Weine, wie ich vermuthet hatte, sondern durch eine Art Furcht oder Geistesangst, die wir uns auf keine Weise erklären konnten. Er hatte Sir Percival in der Flur gefunden, wo er heftig auf und ab ging, indem er mit jedem Anzeichen der leidenschaftlichsten Wuth schwor, er wolle keine Minute länger in einem solchen alten Kerker, wie seinem eigenen Hause bleiben, und zwar die erste Station seiner Reise sofort mitten in der Nacht antreten. Er hatte den Gärtner, als dieser sich ihm genähert, mit Flüchen und Drohungen hinausgetrieben und ihm befohlen, augenblicklich anzuspannen und den Wagen vor die Thüre zu bringen. Eine Viertelstunde später war Sir Percival zu ihm in den Hof gekommen, auf den Wagen gesprungen, und, indem er das Pferd zum Galopp gepeitscht, sei er im Mondenlichte mit kreideweißem Gesichte davongefahren. Der Gärtner hatte dann gehört, wie er dem Parkthorhüter zugeschrien und auf ihn geflucht hatte, weil er nicht schnell genug herausgekommen, um das Thor zu öffnen, und dann, wie die Räder im rasenden Laufe wieder weiter gerollt – worauf Alles still geworden – und weiter wußte er Nichts.

Am folgenden Tage, oder vielleicht ein paar Tage später (ich weiß es nicht mehr genau), hatte der Stallknecht aus dem alten Wirthshause zu Knowlesbury – unserer nächsten Stadt – den Wagen wieder zurückgebracht. Sir Percival hatte dort angehalten und war später mit dem Bahnzuge weiter gereist – wohin, konnte der Mann uns nicht sagen. Ich erhielt nie weder durch ihn selbst, noch sonst irgend Jemanden fernere Nachrichten über Sir Percival Glyde, und ich weiß nicht, ob er in diesem Augenblicke in England ist oder nicht. Er und ich sind einander nicht mehr begegnet, seit jener Nacht, wo er wie ein ausbrechender Uebelthäter aus seinem eigenen Hause entfloh, und es ist mein inbrünstiges Gebet und meine ernstliche Hoffnung, daß wir einander auch nie wieder begegnen mögen.

Mein eigener Antheil an dieser traurigen Familiengeschichte naht sich jetzt seinem Ende.

Man hat mir gesagt, daß die Einzelheiten in Bezug auf Miß Halcombe’s Erwachen und auf Das, was sich zwischen uns zutrug, als sie mich an ihrem Bette sitzen fand, für den Zweck meiner gegenwärtigen Aussage nicht von Wichtigkeit sind. Es wird genügen, wenn ich hier erwähne, daß sie selbst sich der Art und Weise unbewußt war, auf welche man sie von dem bewohnten Theile des Hauses nach dem unbewohnten geschafft hatte. Sie mußte zur Zeit in einem tiefen Schlafe gewesen sein, ob derselbe aber ein natürlicher oder künstlich herbeigeführter, war sie nicht im Stande zu sagen. Während meiner Abwesenheit in Torquay und der aller Diener vom Hause (mit Ausnahme von Margaret Porcher, deren fortwährende Beschäftigung in Essen, Trinken und Schlafen bestand) war die heimliche Wegschaffung Miß Halcombe’s von einem Theile des Hauses zum andern natürlich mit Leichtigkeit bewerkstelligt worden. Mrs. Rubelle hatte (wie ich entdeckte, da ich mich im Zimmer umsah) Mundvorräthe und sonstige Erfordernisse, wie die Mittel, um heißes Wasser oder Brühe zu bekommen, ohne genöthigt zu sein, ein Feuer anzuzünden, während der wenigen Tage ihrer Gefangenschaft mit der kranken Dame oben gehabt. Sie hatte sich geweigert, die Fragen zu beantworten, welche Miß Halcombe ihr natürlicherweise vorlegte, doch hatte sie sie in anderer Beziehung weder mit Unfreundlichkeit noch Vernachlässigung behandelt. Die Schande, sich zu einem so abscheulichen Betruge hergegeben zu haben, ist die einzige, welcher ich Mrs. Rubelle mit Gewissenhaftigkeit anklagen kann.

Man verlangt keine Einzelheiten von mir (und es ist dies eine große Erleichterung für mich) über die Wirkung der Nachricht von Lady Glyde’s Abreise auf Miß Halcombe, oder der weit traurigeren Nachrichten, welche wir nur zu bald darauf in Blackwater Park erhielten. Ich bereitete sie in beiden Fällen so zart und sorgfältig wie möglich darauf vor, indem ich nur in dem letzteren den Rath des Arztes als Leitung hatte, da Mr. Dawson während mehrerer Tage zu unwohl gewesen, um zu kommen, als ich zu ihm geschickt. Es war eine traurige Zeit; eine Zeit, an die zu denken und von der zu schreiben mich noch jetzt betrübt. Die kostbaren Segnungen religiösen Trostes, durch welche ich Miß Halcombe aufzurichten suchte, wollten lange nicht bis in ihr Herz eindringen; aber ich hoffe und glaube, daß sie endlich doch Platz darin gefunden. Ich verließ sie nicht, bis sie völlig wiederhergestellt war. Der Zug, mit dem ich jenes unglückselige Haus verließ, war derselbe, der auch sie fortführte. Wir trennten uns mit sehr traurigen Gefühlen in London. Ich ging zu einer Verwandten in Islington, und Miß Halcombe reiste nach Cumberland zu Mr. Fairlie.

Ich habe nur noch wenige Zeilen hinzuzufügen, ehe ich diese schmerzliche Aussage beende. Ich werde zu denselben durch ein Gefühl der Pflicht bestimmt.

Ich wünsche hiermit meine eigene feste Ueberzeugung auszusprechen, daß in den soeben von mir mitgetheilten Ereignissen durchaus kein Tadel irgend einer Art auf den Grafen Fosco fällt. Man sagt mir, daß ein furchtbarer Verdacht gehegt und über Sr. Gnaden Betragen sehr ernste Betrachtungen angestellt werden. Doch bleibt mein Glaube an des Grafen Unschuld völlig unerschüttert. Falls er sich mit Sir Percival vereinigte, um mich nach Torquay zu schicken, so that er Dies in einem Irrthume befangen, für den er als Ausländer und Fremder nicht getadelt werden kann. Falls er dazu beitrug, daß Mrs. Rubelle nach Blackwater Park kam, so war es sein Unglück und nicht seine Schuld, wenn diese Ausländerin schlecht genug war, sich an einem Betruge zu betheiligen, den der Herr des Hauses erdachte und ausführte. Ich protestire im Interesse der Moralität dagegen, daß leichtfertigerweise und unverdientermaßen das Verhalten des Grafen Fosco in Frage gezogen werde.

Zweitens wünsche ich, mein aufrichtiges Bedauern darüber auszusprechen, daß ich nicht im Stande bin, mich genau des Datums zu erinnern, an welchem Lady Glyde Blackwater Park verließ, um nach London zu reisen. Ich höre, daß die genaue Angabe des Tages, an welchem diese beklagenswerthe Reise unternommen wurde, von der größten Wichtigkeit ist, und habe mein Gedächtniß deshalb auf das Gewissenhafteste angestrengt; aber leider war meine Bemühung eine vergebliche. Ich kann mich nur noch entsinnen, daß es gegen Ende Juli war. Jeder weiß, wie schwer es ist, nach Verlauf einiger Zeit ein Datum bestimmt anzugeben, falls dasselbe nicht zur Zeit notirt worden. Diese Schwierigkeit ist in meinem Falle noch bedeutend durch die beunruhigenden und verwirrenden Ereignisse vergrößert, welche um die Zeit von Lady Glyde’s Abreise stattfanden. Ich wünsche von ganzem Herzen, ich hätte es mir damals notirt, oder daß meine Erinnerung an das Datum noch so lebhaft wäre wie meine Erinnerung an das Gesicht der armen Dame, als es mich zum letzten Male kummervoll durch’s Wagenfenster anblickte.



Kapiteltrenner

Aussage der Hester Pinhorn, Köchin im Dienste des Grafen Fosco

(Nach ihrer eigenen Aussage niedergeschrieben.)

Ich bedaure, sagen zu müssen, daß ich nie weder lesen noch schreiben gelernt habe. Ich habe mein Lebelang schwere Arbeit zu thun gehabt und mir stets einen guten Ruf bewahrt. Ich weiß, daß es sündhaft und gottlos ist, Etwas zu sagen, was nicht wahr ist; und ich will mich aufrichtig vorsehen, so Etwas bei dieser Gelegenheit zu thun. Ich will Alles sagen, was ich weiß, und den Herrn, der dies aufschreibt ergebenst gebeten haben, meine Sprache zu berichtigen, während er schreibt, und Entschuldigungen für mich zu machen, da ich Nichts gelernt habe.

Während dieses letzten Sommers war ich zufälligerweise (und ganz ohne meine Schuld) einige Zeit ohne Stelle; dann hörte ich, daß man in Numero 5°, Forest Road, St. John’s Wood, eine Köchin suche. Ich nahm die Stelle auf den Versuch an. Der Name meines Herrn war Fosco. Meine gnädige Frau war eine Engländerin. Er war ein Graf und sie eine Gräfin. Als ich hinkam, hatten sie ein Mädchen, das die Stubenarbeit that. Sie war nicht besonders reinlich oder ordentlich, aber sonst war weiter nichts Böses an ihr. Ich und sie waren die einzige Dienerschaft im Hause.

Ich war noch nicht lange in meiner neuen Stelle gewesen, als das Stubenmädchen zu mir in die Küche kam und mir sagte, es werde Besuch vom Lande erwartet. Dies war die Nichte meiner gnädigen Frau, und es wurde das Schlafzimmer in der ersten Etage für sie hergerichtet. Meine gnädige Frau sagte mir, daß Lady Glyde (so hieß ihre Nichte) eine schwache Gesundheit habe, und daß ich mich im Kochen darnach einrichten möge. Sie sollte am folgenden Tage eintreffen oder vielleicht den Tag darauf oder auch noch später. Es thut mir leid, sagen zu müssen, daß es unnütz ist, mich nach einem Datum oder dergleichen zu fragen. Sonntags ausgenommen, achte ich selten darauf, da ich eine arbeitsame Frau und ohne Gelehrsamkeit bin. Alles was ich weiß, ist, daß es allerdings nicht lange währte, bis Lady Glyde ankam; und zwar verursachte sie Uns gleich bei ihrer Ankunft einen schönen Schrecken! Ich weiß nicht, auf welche Art der Herr sie ins Haus brachte, da ich gerade beschäftigt war. Aber mich dünkt, es war Nachmittags, daß sie ankamen, und das Stubenmädchen öffnete ihnen die Hausthür und führte sie in die Wohnstube. Ehe sie noch lange wieder unten bei mir in der Küche gewesen, hörten wir oben einen Spektakel und ein Wesen und ein tolles Klingeln und die Stimme meiner gnädigen Frau, die um Hülfe schrie.

Wir rannten Beide hinaus, und da sahen wir die Dame auf dem Sopha liegen, mit todtenbleichem Gesichte und geballten Händen und den Kopf auf eine Seite herunter hängend. Sie hatte einen plötzlichen Schrecken gehabt, sagte meine gnädige Frau, und der Herr sagte, es seien Zufälle und Confusionen. Ich lief hinaus, da ich die Nachbarschaft etwas besser kannte, als die Andern, um den nächsten Doctor zu Hülfe zu rufen. Der nächste Doctor war Goodricke und Garth, die zusammen practicirten und, wie ich gehört habe, im ganzen St. John’s Wood einen guten Ruf und eine gute Kundschaft haben.

Mr. Goodricke war zu Hause und kam gleich mit mir.

Es währte eine Weile, bis er sich ihr nützlich machen konnte. Die arme, unglückliche Dame fiel immer aus einer Ohnmacht in die andere – und ging so zukehr, daß sie ganz erschöpft und so machtlos wurde, wie ein neugeborenes Kind. Dann legten wir sie ins Bett. Mr. Goodricke ging nach Hause, um Medicin zu holen und kam in weniger als einer Viertelstunde wieder zurück. Außer der Medicin brachte er noch ein Stückchen hohlen Mahagoniholzes mit, das wie eine Trompete geformt war, und nachdem er eine kleine Weile gewartet, hielt er es mit einem Ende auf das Herz der Dame und mit dem andern an sein Ohr, worauf er dann aufmerksam zu horchen schien. Als er damit fertig, sagte er zu meiner gnädigen Frau, die auch im Zimmer war: »Dies ist ein sehr schlimmer Fall« sagte er, »ich empfehle Ihnen, sogleich an Lady Glyde’s Angehörigen zu schreiben.« Da sagt meine gnädige Frau zu ihm, »Ist es ein Herzleiden?« und er antwortete: »Ja, und von der gefährlichsten Art.« Er erklärte ihr genau, worin die Krankheit bestünde, was ich aber nicht verstehen konnte, da ich ja nicht gelehrt bin. So viel aber weiß ich, daß er nämlich damit schloß: er fürchte; weder er noch sonst ein Doctor werde im Stande sein, ihr zu helfen.

Meine gnädige Frau fand sich ruhiger in diese schlimme Nachricht, als der Herr. Er war ein dicker, großer, sonderbarer ältlicher Mann, der sich Vögel und weiße Mäuse hielt und mit ihnen schwatzte, als ob sie Christenkinder gewesen wären. Er schien furchtbar ergriffen. »Ach! die arme Lady Glyde! Die arme, liebe Lady Glyde!« schrie er immer los, indem er in der Stube umher marschirte und seine fetten Hände rang und sich mehr wie ein Comödiant als wie ein Gentleman geberdete. Für eine Frage, die meine gnädige Frau über die Aussicht auf Genesung der armen Dame an den Doctor richtete, that er wenigstens fünfzig. Er wurde uns Allen förmlich lästig – und als er sich endlich zufrieden gab, ging er in den kleinen Hintergarten hinaus, wo er lumpige kleine Blumensträuße pflückte und mich dann bat, sie hinauf zu tragen und das Krankenzimmer damit aufzuputzen. Als ob das helfen konnte! Ich denke mir, er muß zu Zeiten ein Bischen närrisch im Kopfe gewesen sein. Aber er war kein schlechter Herr: er besaß eine ungeheuer höfliche Zunge und hatte ein lustiges, unbefangenes, schmeichelndes Wesen. Er gefiel mir viel besser, als meine gnädige Frau. Wenn es je eine harte Person gegeben hat, so war sie es.

Gegen Nachtzeit erholte sich die Dame ein wenig. Sie mußte vorher so angegriffen gewesen sein, durch die Confusionen, daß sie weder Hand noch Fuß bewegte, noch zu irgend Jemandem ein Wort sprach. Sie rührte sich jetzt im Bette und blickte verwirrt im Zimmer umher und nach uns hin. Sie mußte, als sie noch gesund war, eine hübsche Dame gewesen sein, mit blondem Haar und blauen Augen und so weiter. Sie hatte eine sehr unruhige Nacht, wenigstens sagte dies die gnädige Frau, welche die Nacht allein bei ihr wachte. Ich ging blos einmal hinein, ehe ich zu Bette ging, um zu fragen, ob ich noch Etwas thun könne, und hörte, daß sie auf unruhige, verwirrte Weise mit sich selber sprach. Sie schien so gern mit Jemand sprechen zu wollen, der irgendwo fern von ihr war. Das erstemal konnte ich den Namen nicht verstehen, und als sie ihn zum zweitenmale aussprach, klopfte gerade der Herr wie gewöhnlich den Mund voll Fragen und in der Hand einen seiner bettelhaften Blumensträuße, an die Thür.

Als ich am folgenden Morgen hineinging, war die Dame abermals völlig erschöpft und lag in einer Art matten Schlafes da. Mr. Goodricke brachte seinen Compagnon, Mr. Garth, mit, um sich mit ihm zu berathen. Sie sagten, wir dürften sie auf keinen Fall aus ihrer Ruhe stören. Ich hörte sie am andern Ende des Zimmers eine Menge Fragen an meine gnädige Frau thun: welcher Art früher der Gesundheitszustand der Dame, wer ihr Arzt gewesen, und ob sie je lange an gestörter Gemüthsruhe gelitten. Ich erinnere mich, daß meine gnädige Frau »Ja« zu der letzten Frage sagte; worauf Mr.·Goodricke Mr. Garth und Mr. Garth Mr. Goodricke ansah und Beide den Kopf schüttelten. Sie schienen der Ansicht, daß die Gemüthsunruhe mit dem Unheil im Herzen der Dame zu thun haben müsse. Sie war dem Ansehen nach nur ein sehr schwaches Wesen, die arme Dame! und konnte, wie mir schien, nie besonders kräftig gewesen sein.

Etwas später an demselben Morgen, erholte sich die Dame plötzlich und war dem Anscheine nach viel wohler. Ich wurde nicht wieder zu ihr hineingelassen – noch das Stubenmädchen – damit sie nicht, wie sie sagten, durch fremde Gesichter beunruhigt würde. Was ich von ihrem Befinden erfuhr, hörte ich von meinem Herrn. Er war in wunderbar vergnügter Laune über diese Veränderung und sah vom Garten aus mit seinem großen weißen Hut mit umgekrämpten Rande – er wollte gerade ausgehen – durch’s Küchenfenster hinein. »Meine gute Frau Köchin,« sagte er, »Lady Glyde befindet sich wohler. Ich fühle mich jetzt etwas ruhiger und will einen schönen sonnigen kleinen Sommerspaziergang machen, um meine großen Glieder etwas zu strecken. Soll ich Etwas für Sie bestellen, soll ich für Sie zu Markte gehen, Frau Köchin? Was machen Sie da? Eine schöne Fruchtpastete zum Diner? Machen Sie nur recht viel Kruste, gute Frau, recht viel kruspelige Kruste, die so schön im Munde schmilzt und krümelt.« Das war so seine Art. Er war über Sechzig und liebte Zuckerbäckerei, denk’ sich Einer!

Der Doctor kam Nachmittags wieder und sah selbst, daß die Dame wohler aufgewacht war. Er verbot uns mit ihr zu sprechen, oder sie zu uns sprechen zu lassen, falls sie sich dazu aufgelegt zeigen sollte, weil sie möglichst ruhig bleiben und möglichst viel schlafen müsse. Sie schien übrigens nie besonders zum Sprechen geneigt wenn ich sie sah, ausgenommen in der Nacht, wo ich aber nicht verstehen konnte was sie sagte, – sie schien zu sehr erschöpft, um deutlich zu sprechen. Mr. Goodricke war lange nicht so beruhigt ihretwegen, als mein Herr. Er sagte Nichts, als er herunter kam, außer daß er gegen fünf Uhr wieder vorkommen werde. Ungefähr um die Zeit (ehe mein Herr noch wieder nach Hause gekommen war), wurde heftig in der Schlafstube geklingelt; meine gnädige Frau kam auf den Vorsaal herausgelaufen und rief mir zu, schnell zu Mr. Goodricke zu laufen und ihm zu sagen, daß die Dame ohnmächtig geworden sei.

Ich hatte kaum meinen Hut aufgesetzt und mein Tuch umgebunden, als der Doctor glücklicherweise schon, wie er versprochen hatte, selbst ankam.

Ich öffnete ihm die Hausthür und begleitete ihn die Treppe hinauf. »Lady Glyde schien sich ganz wie gewöhnlich zu befinden,« sagte die gnädige Frau zu ihm an der Thür; »sie wachte und blickte auf eine sonderbare verwirrte Weise um sich, als ich sie plötzlich Etwas wie eine Art kleinen Schrei ausstoßen hörte, worauf sie augenblicklich ohnmächtig wurde.« Der Doctor trat ans Bett und beugte sich zu der kranken Dame herab. Er wurde plötzlich sehr ernst aussehen, als er sie anblickte, und legte seine Hand auf ihr Herz.

Die gnädige Frau sah ihm gespannt ins Gesicht. »Doch nicht todt?!« sagte sie flüsternd, und indem sie vom Kopf bis zu Füßen an zu zittern fing.

»Ja,« sagte der Doctor sehr ernst und ruhig. »Todt. Ich fürchtete schon gestern, als ich ihr Herz untersuchte, daß es sehr plötzlich kommen würde.« Die gnädige Frau trat, während er sprach, vom Bette zurück und zitterte immer mehr. »Todt!« flüsterte sie vor sich hin, »todt! so plötzlich! so bald schon todt! Was wird der Graf sagen!« Mr. Goodricke rieth ihr, hinunter zu gehen und sich zu fassen zu suchen.

»Sie haben die ganze Nacht gewacht,« sagte er, »und Ihre Nerven sind angegriffen. Diese Frau,« sagte er, womit er mich meinte, »diese Frau kann in der Stube bleiben, bis es mir möglich sein wird, den nothwendigen Beistand zu schicken.« Meine gnädige Frau that, was er ihr sagte.

»Ich muß den Grafen darauf vorbereiten,« sagte sie, »ich muß den Grafen mit großer Vorsicht darauf vorbereiten.«

Und mit den Worten verließ sie uns, noch immer am ganzen Körper zitternd.

»Ihr Herr ist Ausländer,« sagte Mr. Goodricke, als die gnädige Frau hinausgegangen war. »Versteht er etwas vom Registriren des Todesfalles?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir,« erwiderte ich, »aber vermuthlich nicht.«

Der Doctor überlegte einen Augenblick, und dann sagte er: »Ich thue dergleichen sonst nicht, aber in diesem Falle mag es den Familien möglicherweise Unannehmlichkeiten ersparen, wenn ich den Tod dieser Dame selbst registrire. Ich werde in einer halben Stunde am Districts-Bureau vorbeigehen und kann es dann leicht besorgen. Sagen Sie, wenn Sie so gut sein wollen, daß ich es übernommen habe.«

»Ja, Sir,« sagte ich, »und zwar mit vielem Danke für Ihre Güte, daß Sie daran gedacht haben.«

»Sie haben Nichts dagegen, hier zu bleiben, bis ich Ihnen die geeignete Person dazu herschicken kann?« sagte er.

»Nein, Sir,« sagte ich, »ich will so lange bei der armen Dame bleiben. Es konnte wohl weiter Nichts gethan werden, Sir, als gethan worden ist?«

»Nein,« sagte er, »Nichts. Sie muß schon lange, ehe ich sie sah, bedeutend gelitten haben; ihr Zustand war bereits hoffnungslos, als ich herzugerufen wurde.«

»Ach ja, du lieber Himmel!« sagte ich, »früher oder später kommt es ja mit uns Allen dahin, nicht wahr, Sir?«

Er gab hierauf keine Antwort und schien überhaupt nicht zum Sprechen ausgelegt. Er sagte »Guten Tag,« und ging.

Ich blieb dann bis zu dem Augenblicke, wo Mr. Goodricke, wie er versprochen hatte, Jemand schickte, am Bette sitzen. Die Frau, welche er schickte, hieß Jane Gould. Sie schien mir eine respectable Frau zu sein. Sie machte weiter keine Bemerkung, außer daß sie sagte, sie verstehe, was sie zu thun habe, und sie habe schon viele Todte eingelegt.

Wie mein Herr die Nachricht ertrug, als er zuerst von dem Tode der Dame hörte, ist mehr, als ich sagen kann, denn ich war nicht gegenwärtig. Als ich ihn aber wiedersah, hatte er wirklich ein furchtbar ergriffenes Aussehen. Er saß ruhig in einem Winkel, seine fetten Hände hingen auf seine dicken Kniee herab, sein Kopf tief auf der Brust und seine Augen stierten ins Leere. Er schien nicht so sehr betrübt über das, was sich zugetragen, als erschrocken und verblüfft.

Meine gnädige Frau besorgte Alles, was zur Beerdigung nothwendig war. Es muß eine Masse Geld gekostet haben; der Sarg besonders war prachtvoll anzusehen. Der Gemahl der todten Dame war, wie wir hörten, fort in der Fremde. Aber meine gnädige Frau, die ja ihre Tante war, kam mit ihren Angehörigen auf dem Lande (in Cumberland glaube ich) überein, daß sie dort mit ihrer Mutter in einem Grabe beerdigt werde.

Ich wiederhole nochmals, daß das Begräbniß auf das Anständigste hergestellt wurde, und mein Herr reiste nach Cumberland, um selbst als Leidtragender dabei zu sein. Er sah prächtig aus in seiner tiefen Trauer, mit seinem großen feierlichen Gesichte, seinem langsamen Gange und breiten Creppbande, das muß wahr sein!

Zum Schlusse muß ich als Antwort auf mir vorgelegte Fragen hinzufügen:

1) Daß weder ich noch das Stubenmädchen je gesehen haben, daß mein Herr selbst Lady Glyde Medicin gegeben hätten.

2) Daß er meines Wissens nie allein bei Lady Glyde im Zimmer war.

3) Daß ich nicht im Stande bin, zu sagen, was der Dame, wie meine gnädige Frau mir gesagt, bei ihrer Ankunft im Hause den plötzlichen Schrecken verursacht hatte. Weder mir noch dem Stubenmädchen ist die Ursache hiervon je erklärt worden.

Obige Angaben sind mir vorgelesen worden. Ich habe nichts weiter hinzuzufügen oder davon zurückzunehmen. Ich bekräftige als christliche Frau mit meinem Eide, daß dies die Wahrheit ist.

(Unterzeichnet)

Hester Pinhorn + ihr Zeichen.



Kapiteltrenner

Aussage des Arztes

»An den Registrator des engern Districts, in welchem der untengenannte Tod stattfand.

Ich bezeuge hiermit, daß ich Lady Glyde, welche an ihrem letzten Geburtstage einundzwanzig Jahre alt wurde, in ihrer Krankheit behandelte; daß ich sie am 28. Juli 1850 zuletzt gesehen, daß sie an selbigem Tage zu Nr. 5 Forest Road, St. John’s Wood starb und daß die Ursache ihres Todes

 

Ursache des Todes.

Dauer der Krankheit.

Aneurisma.

Unbekannt.

(Unterzeichnet)

Alfred Goodricke,  M. R. C. S. Eng. L. S. A.

Adresse: Croydon Gärten

St. John’s Wood.«

 

Aussage der Jane Gould.

 

Ich war die Frau, welche von Mr. Goodricke geschickt wurde, um an den irdischen Ueberresten einer Dame, welche in dem Hause, das in der vorstehenden Bescheinigung namhaft gemacht worden, gestorben, zu thun, was recht ·und nothwendig war. Ich fand die Leiche in der Obhut der Köchin, Hester Pinhorn. Ich blieb bei der Todten und bereitete dieselbe zur gehörigen Zeit für das Grab vor; später war ich anwesend, als man den Sarg, ehe er fortgefahren wurde, niederschraubte. Nachdem dies geschehen, und keinen Augenblick früher, erhielt ich, was mir zukam, und verließ dann das Haus. Falls Jemand Erkundigungen einzuziehen wünscht, so bitte ich, daß man sich deshalb an Mr. Goodricke wende. Er hat mich länger als sechs Jahre gekannt, und wird bezeugen, daß man sich darauf verlassen kann, daß ich die Wahrheit sage.

(Unterzeichnet)

Jane Gould.

 

Noch eine Aussage.

 

Zur

Erinnerung

an

LAURA

Lady Glyde,

Gemahlin des Sir Percival Glyde, Baronet,

zu Blackwater Park, Hampshire,

Und

Tochter des weiland Philipp Fairlie Esqre.,

zu Limmeridge House, in diesem Kirchspiel.

Geboren, den 27sten März 1829.

Vermählt, den 23sten December 1849.

Gestorben, den 28sten Juli 1850.



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