John Jagos Geist



Zehntes Kapitel - Der Sheriff und der Gefängnisdirektor

Die Frage der Zeit war jetzt eine sehr ernste auf Morwick Farm. In sechs Wochen sollten die Assisen in Narrabee beginnen. Während dieser Periode ereignete sich nichts Neues von Wichtigkeit. Wir erhielten ein Menge müßiger Zuschriften in Bezug auf den John Jago betreffenden Aufruf, aber keine positive Nachricht. Nicht die leiseste Spur des Vermissten kam zum Vorschein und Niemand bezweifelte die Behauptung der Anklage, daß sein Körper in dem Kalkofen vernichtet worden sei. Silas Meadowcroft hielt an dem entsetzlichen Bekenntnis, welches er abgelegt, unerschütterlich fest, wogegen sein Bruder Ambrosius mit gleicher Entschlossenheit seine Unschuld behauptete und die Aussage wiederholte, die er bereits gemacht hatte.

Ich begleitete Naomi in regelmäßigen Zwischenräumen zu ihm ins Gefängnis. Als der Tag herannahte, an dem der Prozess beginnen sollte, schien er in seiner Entschlossenheit etwas schwankend zu werden. Sein Wesen wurde ruhelos und er zeigte sich bei der geringsten Veranlassung verletzt und argwöhnisch. Diese Wandlung deutete nicht notwendig ein .Schuldbewusstsein an; sie konnte auch die Wirkung der sehr natürlichen nervösen Aufregung beim Herannahen des Prozesses sein. Auch Naomi bemerkte die Veränderung ihres Verlobten, wodurch ihre Angst zwar gesteigert, aber ihr Vertrauen zu ihm in keiner Weise erschüttert wurde. Außer während der Mahlzeiten, war ich in der Zeit, von der ich jetzt schreibe, fast beständig allein mit der reizenden Amerikanerin.

Miß Meadowcroft forschte in den Zeitungen nach Nachrichten über John Jago in der Einsamkeit ihres Zimmers; Mr. Meadowcroft wollte Niemand sehen als seine Tochter, seinen Arzt und hier und da einen alten Freund. Ich bin später zu der Überzeugung gekommen, daß Naomi in jenen Tagen unseres vertrauten Verkehrs die wahre Natur der Gefühle entdeckte, welche sie mir einflößte. Aber sie behielt ihr Geheimnis für sich; ihr Benehmen gegen mich blieb beständig das einer Schwester und sie überschritt niemals auch nur um ein Haar breit die sichere Grenze eines geschwisterlichen Verhältnisses

Die Gerichtssitzungen nahmen ihren Anfang. Nach dem Zeugenverhör und der Prüfung von Silas Bekenntnis hielten die Geschworenen die Anklage gegen beide Gefangenen aufrecht. Der zum Beginn des Prozesses angesetzte Tag war der erste der folgenden Woche.

Ich hatte Naomi auf die Entscheidung der Jury sorglich vorbereitet und sie trug den neuen Schlag mit Fassung.

»Wenn es Ihnen noch nicht zuwider ist, so kommen Sie morgen mit mir ins Gefängnis.« sagte sie. »Ambrosius wird ein wenig Trost bedürfen.« Sie machte eine Pause und sah die neu eingelaufenen Briefe durch, welche auf dem Tisch lagen. »Noch immer keine Kunde von Jago,« sprach sie weiter. »Und alle Zeitungen haben die Bekanntmachung abgedruckt. Ich war so fest überzeugt, daß wir sofort von ihm hören würden.«

»Sind Sie noch sicher, daß er lebt?« wagte ich zu fragen.

»Ich bin dessen ebenso sicher wie vorher, « gab sie mit Entschiedenheit zur Antwort. »Er hält sich irgend wo versteckt — oder vielleicht geht er verkleidet herum. Wenn wir nun beim Beginn des Prozesses nichts mehr als jetzt von ihm wissen? — Wenn die Jury s—« Sie hielt schaudernd inne. Der Tod — der schmachvolle Tod auf dem Schafott — konnte die fürchterliche Folge des Urteilsspruchs der Geschworenen sein. »Wir haben lange genug auf Nachricht gewartet,« nahm Naomi wieder das Wort. »Wir müssen jetzt die Spur John Jagos selber suchen.. Wir haben noch eine Woche, ehe der Prozess beginnt. Wer will mir helfen nach ihm zu forschen? Wollen Sie es sein, Freund Lefrank?«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich dazu bereit war, wenn ich auch nichts davon erwartete.

Wir kamen überein, noch denselben Tag um Einlass in das Gefängnis nachzusuchen und sobald wir Ambrosius gesprochen, uns gleich an die beabsichtigten Nachforschungen zu machen.Wie diese Nachforschungen anzustellen wären, war mehr als ich und Naomi sagen konnten.Wir wollten damit beginnen, daß wir uns an die Polizei wandten, damit sie uns helfe John Jago ausfindig zu machen, und das weitere wollten mir den Umständen überlassen. Gab es jemals ein hoffnungsloseres Programm als dieses?

Gleich zu Anfang erklärten sich die Umstände gegen uns. Ich suchte wie gewöhnlich um die Erlaubnis nach, den Gefangenen zu sehen, und zum ersten Male ward dieselbe verweigert, ohne daß uns von der betreffenden Behörde ein Grund dafür angegeben wurde. So viel ich auch fragen mochte, die einzige Antwort, die ich erhielt. war: »Nicht heute.«

Auf Naomis Vorschlag gingen wir nach dem Gefängnis, um dort die Aufklärung zu erlangen, welche uns auf dem Bureau verweigert wurde. Der Schließer, welcher heut an dem äußern Thor die Wache hatte, gehörte zu Naomis zahlreichen Bewunderern. Er löste uns das Rätsel in vorsichtigem Geflüster. Der Sheriff und der Direktor des Gefängnisses hatten eben eine geheime Unterredung mit Ambrosius in dessen Zelle; sie hatten ausdrücklich befohlen, daß Niemand außer ihnen den Gefangenen heute sprechen dürfe.

Was bedeutete das? Verwundert kehrten wir nach der Farm zurück. Hier machte Naomi gewisse Entdeckungen, als sie zufällig mit einer der Mägde darüber sprach.

Früh Morgens hatte ein alter Freund der Familie den Sheriff nach Morwick Farm gebracht und der Beamte hatte mit Mr. Meadowcroft und dessen Tochter eine lange Unterredung gehabt. Von der Farm war der Sheriff direkt nach dem Gefängnis gegangen und mit dem Direktor zusammen in die Zelle des Gefangenen. Hatte man Ambrosius irgend wie heimlich beeinflussen wollen? Der äußere Anschein erregte unwillkürlich diesen Verdacht.Vorausgesetzt daß wirklich eine Beeinflussung stattgefunden, so war die nächste Frage: was hatte man dadurch bezweckt? Wir konnten nichts tun als abwarten.

Unsere Ungeduld wurde bald befriedigt.

Die Begebenheiten des folgenden Tages klärten uns in sehr unerwarteter Weise auf. Ehe noch die Sonne im Mittag stand, brachten die Nachbarn erstaunliche Neuigkeiten vom Gefängnis nach der Farm. Ambrosius Meadowcroft hatte sich selbst des an John Jago verübten Mordes schuldig bekannt! Er hatte das Geständnis in Gegenwart, des Sheriffs und des Direktors selbigen Tages unterzeichnet.

Ich sah das Dokument. Es ist unnötig, es hier wieder zu geben. Ambrosius bestätigte, in der Hauptsache, was Silas ausgesagt hatte, behauptete jedoch, von Jago zu dem Schlage gereizt worden zu sein, so daß sein Vergehen gegen das Gesetz nicht Mord, sondern Totschlag gewesen wäre. Schilderte sein Bekenntnis wirklich den wahren Hergang der Szene am Kalkofen, oder hatte der Gefängnisdirektor Ambrosius im Interesse der Familie dieses verzweifelte Mittel an die Hand gegeben, um dem schmachvollen Tode auf dem Schafott zu entrinnen? Der Sheriff sowie der Direktor bewahrten undurchdringlich.es Schweigen, bis sie bei den Verhandlungen, gesetzlich aufgefordert, zu sprechen genötigt waren.

Wer sollte Naomi das Letzte und Traurigste, was über sie hereingebrochen, mitteilen? Mit der heimlichen Liebe für sie im Herzen, fühlte ich ein unbesiegbares Widerstreben Derjenige zu sein, der Ambrosius Meadowcrofts Gemeinheit seiner Verlobten hinterbrachte. Hatte ihr irgend ein anderes Mitglied der Familie mitgeteilt, was sich zugetragen? Der Verteidiger konnte meine Frage beantworten — Miß Meadowcroft hatte es ihr gesagt.

Ich war empört, als ich es hörte. Miß Meadowcroft war die Letzte im Hause, dem armen Mädchen eine solche Nachricht mit Schonung mitzuteilen, sie hatte sie sicher doppelt schrecklich gemacht, durch die Art wie sie sie vorgetragen. Ich suchte Naomi überall vergebens. Sonst war sie stets für mich dagewesen; verbarg sie sich jetzt vor mir? Der Gedanke kam mir unwillkürlich, als ich, nach. dem ich vergebens an ihre Tür geklopft hatte, die Treppe herunter stieg.. Ich war entschlossen sie zu sehen, wartete einige Minuten und ging dann wieder hinauf. Oben angelangt, begegnete ich ihr, wie sie gerade aus ihrem Zimmer trat.

Sie wollte wieder zurück., aber ich fasste sie am Arm und hielt sie fest. Mit ihrer freien Hand bedeckte sie sich das Gesicht mit dem Taschentuch, damit ich es nicht sehen sollte.

»Sie sagten früher einmal, ich hätte Sie getröstet,« sprach ich in sanftem Ton. »Wollen Sie mir nicht gestatten Sie, auch jetzt zu trösten?«

Sie machte die heftigsten Anstrengungen, um los zu kommen und hielt den Kopf noch immer von mir abgewandt.

»Sehen Sie nicht, daß ich mich schäme, Ihnen ins Gesicht zu sehen?« sagte sie leise und stockend. »Lassen Sie mich gehen.«

Aber ich beharrte bei dem Versuch sie zu beruhigen. Ich zog sie nach dem Fenstersitz und sagte, daß ich warten wolle, bis sie im Stande sei, mit mir zu reden.

Sie ließ sich auf den Sitz nieder und rang die Hände in ihrem Schoß. Ihre zu Boden gesenkten Blicke vermieden es noch immer hartnäckig den meinigen zu begegnen.

»O,« rief sie, »welcher Wahn hat mich verblendet! Ist es möglich, daß ich mich jemals so erniedrigt habe, Ambrosius zu lieben?« Sie schauderte, als sie den Gedanken laut aussprach und die Tränen rollten ihr langsam über die Wangen.. »Verachten Sie mich nicht, Mr. Lefrank,« setzte sie leise hinzu.

Ich bemühte mich ehrlich, ihr das Geständnis in dem wenigst ungünstigen Lichte zu zeigen.

»Seine Widerstandskraft ist zu Ende gewesen, « sagte ich. »Er hat es getan, weil er daran verzweifelte, seine Unschuld zu beweisen — und aus Furcht vor dem Schafott.«

Sie stand aus und stampfte zornig mit dem Fuß, während ihr Gesicht vor Scham erglühte und große Tränen in ihren Augen blitzten.

»Nicht weiter von ihm!« rief sie streng. »Wenn er kein Mörder ist, so ist er doch ein Lügner und eine Memme! Als was macht er mir die meiste Schande? Ich habe mit ihm für immer gebrochen und niemals soll sein Name wieder über meine Lippen kommen!« Dabei schob sie mich heftig von sich und machte einige Schritte nach ihrer Tür, blieb dann aber stehen und kam zurück. Die edelmütige Natur des Mädchens sprach sich in den Worten aus, die sie darauf zu mir sagte. »Ich vergesse nicht, was Sie für mich getan haben, Freund Lefrank. Aber eine Frau in meiner Lage ist vor allen Dingen Frau; und wenn sie so beschämt ist wie ich es bin, so empfindet sie das sehr bitter. Geben Sie mir Ihre Hand. Gott sei mit Ihnen!« Damit küsste sie meine Hand, ehe ich es verhindern konnte und verschwand in ihrem Zimmer.

Ich setzte mich auf den Platz, den sie eben inne gehabt, und dachte an den Blick, mit welchem sie mich flüchtig angesehen., als sie meine Hand geküsst hatte. Ich vergaß darüber Ambrosius und sein Bekenntnis; ich vergaß den nahen Prozess, meine amtlichen Pflichten und meine Freunde in England. Da saß ich in meinem von mir selbst geschaffenen Narrenparadies, ohne irgend eine andere Vorstellung in meinem Geiste, als Naomis Gesicht indem Augenblicke, als sie mich zuletzt angesehen hatte.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte