In der Dämmerstunde

Die Erzählung der Nonne: Gabriels Hochzeit



Zweites Kapitel.

Der Fischer tropfte vom Kopfe bis zu den Füßen, er war ganz durchnässt; sein Gesicht war bleich und ausdruckslos und die Gefahren der Nacht mussten ihm nicht viel Angst verursacht haben.

Er hatte seinen Sohn, den kleinen Pierre, in seinen Armen.

Perrine stieß einen Schrei aus, als sie ihn erblickte.

»Seht uns nur an,« begann der Fischer, und legte seine Bürde vor dem Herd nieder. »Ihr hättet uns nie wiedergesehen, denn wir hielten uns schon selbst für verloren; aber es rettete uns ein Wunder.«

Dann nahm er eine Flasche aus der Tasche und sagte:

»Hätte ich nur ein wenig Branntwein!«

Er stellte die Flasche neben sich und ging dann an das Bett des Vaters.

Perrine sah ihm nach und wunderte sich darüber, wie ernst Gabriel auf seinen Vater blickte. Er zog sich Iangsam von ihm zurück bis an die Wand der Hütte, — aber er sprach kein Wort zu dem Angekommenen.

Francois achtete nicht auf seinen Sohn; er legte seine Hand auf das Deckbett.

»Ist hier Etwas geschehen?« fragte er.

Gabriel vermochte nicht zu antworten;

Perrine sah es und sie sagte: »Der arme Gabriel ist so erschrocken, weil der Großvater stirbt.« —

»Todt!« rief Francois, ohne dass seine Stimme Trauer verriet. »Wie verlebte er denn die Nacht? Phantasierte er, wie Schwerkranke dies zu tun pflegen?«

»Er war sehr bewegt und sprach von Geistererscheinungen und anderen wunderlichen Dingen. Gabriel! Gabriels sieh nur, der Großvater lebt!« rief Perrine.

In diesem Moment richtete sich der Blick des Sterbenden auf Francois; die welken Lippen zitterten, als ob sie sprechen wollten. Francois trat entsetzt von dem Bette fort.

Gabriel sprang schnell herbei, nahm die Flasche von dem Tische und goss die letzten Tropfen in den geöffneten Mund des Sterbenden.

Die Augen des Greises öffneten sich wieder und blieben auf Francois haften, der bei dem Kamin stand. Gabriel wurde von Schreck ergriffen und er flüsterte Perrine schnell zu:

»Geh’ in das andere Zimmer und nimm die Kinder mit. Wir haben vielleicht noch Etwas zu sprechen, was Du nicht hören sollst.«

»Den Großvater friert.« begann Francois, »fasse an das Bett an, wir wollen es näher an das Feuer tragen.«

»Nein, nein! Berühre mich nicht,« rief der Alte. »Gabriel! Lass ihn mir nicht nahe kommen! Ist es sein Geist, oder ist es er selbst?«

Als Gabriel antworten wollte, ging die Tür auf und es kamen die Nachbarsleute herein und fragten neugierig, nicht etwa teilnahmsvoll, denn Francois war ja nicht beliebt, wie er sich mit seinem Sohne Pierre gerettet habe. Der Fischer stellte sich in die Tür seiner Hütte und antwortete kurz auf die verschiedenen Fragen.

Während er beschäftigt war, sagte der Großvater zu Gabriel:

»Mein Enkel, was habe ich Dir diese Nacht erzählt? Sagte ich, Dein Vater sei ertrunken? Ja, ja! Da steht er nun, und ich sagte Dir die Unwahrheit. Ach, ich armer, alter Mann bin so schwach in meinem Kopfe! Ich sagte doch weiter nichts Schreckliches, Gabriel? Ich sprach doch nicht von Verbrechen? Nicht von Blutschuld? Ich weiß nichts von solchen Dingen! Der Kaufmannstisch ist nichts als ein alter, schwerer Stein. Ich war durch den Sturm so erschreckt. Jetzt ist mein Kopf wieder leichter geworden. Lache über den Unsinn, den der Großvater Dir mitteilte, Gabriel! Höre nur, ich lache auch! Mir ist so hell und klar im Kopfe.«

Er hielt plötzlich mit dem Sprechen ein.

Sein Gesicht wurde noch fahler, er röchelte einige Mal, dann wurde er still. Der alte Mann war mit einer Lüge auf den Lippen gestorben.

Gabriel sah, dass sein Vater sich an die Tür der Hütte lehnte; wie lange er schon so da gestanden haben mochte, ob er die letzten Worte des Greises vernommen hatte, wusste er nicht; er sah nur, dass sein Vater ihn mit sonderbaren Blicken ansah, und er schauderte.

»Was sagte Dir der Großvater in dieser Nacht? fragte er den Sohn.

Gabriel antwortete nicht. Sein Geist schien durch die erlebten Schrecken vernichtet zu sein, er schien ohnmächtig werden zu wollen.

»Ist Deine Zunge verwundet wie Dein Arm?« fragte sein Vater mit Bitterkeit. »Ich komme hier zurück, durch ein Wunder von dem Tode errettet, und Du sprichst nicht ein Wort zu mir. Wolltest Du, dass ich statt des alten Mannes gestorben wäre?«

Er durchschritt das Zimmer und blieb wieder mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt stehen und sagte:

»Keiner von uns wird eher den Platz verlassen, bis ich weiß, was Du in dieser Nacht hörtest! Du weißt, dass ich jetzt zu dem Priester gehen muss, um ihm des Großvaters Tod anzuzeigen. Wenn ich diese Pflicht nun nicht erfülle, so wirst Du die Schuld daran tragen. Sprich, Dummkopf! oder Du sollst es in der Stunde Deines Absterbens bereuen! Sprich, was erzählte der Großvater in Geistesabwesenheit?«

»Er sprach von dem Verbrechen eines Andern!« erwiderte Gabriel langsam und ernst. »Diesen Morgen leugnete er, was er in der Nacht gesprochen; aber in der Nacht sprach er die Wahrheit!«

»Die Wahrheit?« wiederholte Francois. »Was, die Wahrheit?«

Er schwieg und seine Augen fielen auf den Toten, und es entstand eine unangenehme Stille in dem Zimmer. Francois betrachtete seinen Sohn wiederholt.

In wenigen Minuten veränderte er seine Stimme und sagte:

»Der Himmel vergib es mir; aber ich könnte in diesem Augenblick mich fast selbst auslachen, dass ich wie ein Narr handelte. Er leugnete seine Aussage? Der arme, alte Mann! Ja, manchmal kommt der Verstand kurz vor dem Tode wieder, ihm ging es auch so. Ich erlebte gerade solche Wunderdinge wie Du, Gabriel, in dieser Nacht. Wo ist Perrine? Warum hast Du sie fortgeschickt? Komm herein, Perrine, fürchte Dich nicht! Früher oder später müssen wir uns Alle mit dem Tode bekannt machen. Gib her die Hand, Gabriel, denken wir nicht mehr an die Vergangenheit! Du willst nicht? Du bist noch ärgerlich darüber, was ich Dir eben sagte? Doch Du wirst anders denken, wenn ich nun zurückkehre.« Mit diesen Worten ging Francois hinaus.

»Wohin gehst Du?« fragte Gabriel seinen Vater.

»Ich gehe zu dem Priester und zeige ihm an, dass eines seiner Pfarrkinder gestorben ist. Das ist meine Pflicht und ich vollziehe sie nun zunächst.«

Gabriel sah, wie sein Vater sich entfernte und wurde sehr traurig und still. Es tauchten Zweifel an der Wahrheit der Aussage des Sterbenden in ihm auf.

Er befand sich in einem bejammernswerten Zustande. Aber es gab ja einen Ausweg, die Wahrheit zu ergründen. Er wollte ihn gleich benutzen, wollte während der Abwesenheit seines Vaters zu dem »Kaufmannstisch« gehen und die bezeichnete Stelle untersuchen. —

Er rief Perrine zu, dass sie den Toten bewachen möge, er würde gleich zurückkehren; ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er davon.

Von der Fischerhütte aus führten zwei Wege zu dem »Kaufmannstisch«, der eine führte durch die Heide, der andere an den Klippen entlang. Der erstere führte aber auch zu dem Dorfe und zur Kirche, und da er seinem Vater nicht begegnen wollte, wählte er den Weg längs der Klippen an der Küste. Gabriel erblickte in einiger Entfernung vor sich plötzlich einen Mann, der der Küste den Rücken zukehrte.

Der Mann war nicht nahe genug, um erkennen zu lassen, ob es Francois Sarzeau sei. Wer es aber auch sein mochte, man sah, er war ungewiss, welchen Weg er nehmen sollte. Ging er weiter, so kam er zu dem »Kaufmannstisch«, ging er rückwärts, so gelangte er zu der Kirche. Endlich entschloss sich der Mann, den Weg zur Kirche einzuschlagen.

Gabriel verließ nun seinen Beobachtungsposten zwischen den Steinen und setzte seinen Weg fort.

War dieser Mann wirklich sein Vater gewesen? — Warum zögerte aber Francois den Weg einzuschlagen, wohin ihn die Pflicht rief? Wollte Sarzeau vielleicht auch den Stein heben und das Andenken an die schreckliche Tat aus dem Wege bringen?

Unter diesen Gedanken erreichte Gabriel den alten Druidenstein, ohne einem Menschen weiter zu begegnen.

Die Sonne ging auf und die mächtigen Sturmwolken von der Nacht segelten noch immer wild an dem Horizont hin. Die Wogen tobten aber nicht mehr, sondern das Wasser glänzte wie ein glatter Spiegel. Alles in der Natur bereitete sich für einen angenehmen Tag vor.

Gabriel schauderte vor dem Gedanken, dass er jetzt eine so entsetzliche Nachforschung anstellen wollte; aber er fühlte auch gleichzeitig, dass es notwendig sei, sich von dem Zweifel zu befreien.

Der »Kaufmannstisch« bestand aus zwei riesigen Steinen, welche auf drei andern Steinen lagen, Zu jener Zeit wussten die Reisenden, welche durch die Bretagne kamen, noch nichts davon, dass diese Steinhaufen Druiden-Denkmäler seien, heute sind dieselben viel besucht, damals beachtete man sie kaum und Unkraut und Brombeeren umrankten dieselben.

Gabriels erster Blick auf den »Kaufmannstisch« belehrte ihn, dass derselbe seit Jahren nicht betreten sei; er bahnte sich jedoch entschlossen einen Pfad durch die dornigen Zweige und kniete nieder, die hohle Stelle unter den Steinen zu untersuchen.

Sein Herz schlug gewaltig und sein Atem stockte; aber er reichte einige Fuß weit mit seinen Armen links und rechts umher.

Er fühlte einen Gegenstand und ergriff ihn mit seinen zitternden Händen und brachte ihn an das helle Tageslicht. — War es vielleicht menschliches Gebein? — Nein, nein, glücklicher Weise erblickte er nur ein Stück 9e 132 trockenes Holz! Er wollte eben seinen Fund von sich schleudern als ihm eine neue Idee durch den Kopf fuhr.

Der hohle Raum unter den Steinen war dunkel, er konnte vielleicht einen darunter verborgenen Gegenstand nicht erkennen. —

Er trug, wie alle Fischer, stets Stahl, Stein und Schwamm bei sich, um sich die Pfeife in Brand zu setzen. Er machte Feuer und zündete das Stück Holz an, welches er eben gefunden hatte. Es brannte wie Papier, so trocken war es.

Gabriel beleuchtete nun jede Ecke in der Höhle, und zwar so lange, bis ihm die Flamme beinahe die Hand versengte, aber er erblickte zu seiner großen Freude nichts Verdächtiges.

Er verließ nun die Stätte, streifte sorglos durch die Heide zur Fischerhütte zurück und sagte freudig zu sich selbst: »Jetzt kann ich Perrine mit gutem Gewissen heiraten, denn ich bin der Sohn eines rechtschaffenen Mannes!«


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