Die Blinde



Erstes Kapitel - Der Zwischentag

Am Tage vor dem zweiten Erscheinen des Herrn Grosse und der Operation an Lucilla’s Augen ereigneten sich zwei Vorfälle, deren ich hier gedenken muß. Der erste dieser Verfälle war das Eintreffen eines zweiten Briefes Von Oscar an mich am frühen Morgen. Wie viele blöde Menschen hatte er eine wahre Manie, sobald ihn eine Sache in Verlegenheit setzte, sich lieber mühsam schriftlich, als in bequemer mündlicher Unterhaltung auszusprechen·

Oscar’s diesmaliger Brief benachrichtigte mich, daß er mit dem ersten Morgenzuge nach London gegangen sei, und dass der Zweck dieser plötzlichen Abreise der sei, sich über seine gegenwärtige Lage Lucilla’s gegenüber gegen einen Herrn auszusprechen, der mit den Eigenheiten der Blinden sehr vertraut sei. Mit andern Worten, er hatte sich entschlossen, Herrn Sebright’s Rath zu erbitten.

»Ich habe Herrn Sebright«, schrieb Oscar, »so gern, wie ich Herrn Grosse verabscheue. Die kurze Unterhaltung, die ich mit ihm hatte, hat mir durch seine darin offenbarte Güte und Delicatesse den angenehmsten Eindruck hinterlassen. Wenn ich diesem geschickten Arzt die peinliche Lage, in der ich mich befinde, offen mittheile, so wird er, glaube ich, vermöge seiner Erfahrungen im Stande sein, ein ganz neues Licht auf Lucilla’s gegenwärtigen Gemüthszustand und auf die Veränderungen zu werfen, auf die wir uns bei ihr gefaßt machen müssen, wenn sie wirklich ihr Augenlicht wieder erhält. Das Ergebniß dieser Aufklärung kann von unberechenbarem Nutzen werden, indem es mich belehrt, wie ich mit der geringsten Beeinträchtigung meiner und ihrer Interessen ihr die Wahrheit mittheilen kann. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich Ihren Rath unterschätze. Ich möchte mich nur, bevor ich mein Bekenntniß wage, durch den Rath einer wissenschaftlichen Autorität doppelt gewaffnet haben.«

Ich las aus alledem nur heraus, daß der charakterschwache Oscar sein Gewissen durch einen neuen Aufschub beruhigen wollte und daß sein absurder Einfall, Herrn Sebright um Rath zu fragen, nichts anderes sei, als eine neue und scheinbar plausible Entschuldigung für die abermalige Vertagung des von ihm so gefürchteten Moments. Sein Brief endigte damit, daß er mir die strengste Verschwiegenheit auferlegte und mich bat, es möglich zu machen, daß er mich bei seiner Rückkehr nach Dimchurch mit dem Abendzuge allein sprechen könne.

Ich bekenne, daß ich auf das Ergebniß der beabsichtigten Consultation zwischen dem rathlosen Oscar und dem so entschiedenen Herrn Sebright neugierig war und richtete es daher so ein, daß ich gegen acht Uhr Abends auf dem Wege nach der entfernten Eisenbahnstation allein spazieren ging.

Der zweite Vorfall des Tages war eine vertrauliche Unterhaltung zwischen Lucilla und mir über den Gegenstand, der uns jetzt beide ausschließlich präoccupirte — über die unendlich wichtige Frage der Wiederherstellung ihrer Sehkraft.Das arme Mädchen theilte mir beim Frühstück ihr neu erwecktes Mißtrauen gegen Oscar mit. Er hatte sich wegen seiner Reise nach London bei ihr mit der üblichen Redensart, daß er »Geschäfte« habe, entschuldigt. Sie argwöhnte, da sie wußte, wie er über die Sache dachte, sofort, daß er im Geheimen darauf bedacht sei, Herrn Grosse an der von ihm vorzunehmenden Operation zu verhindern. Es gelang mir, sie über diese Besorgniß dadurch zu beruhigen, daß ich ihr mittheilte, Oscar könne, wie er es mir geschrieben hatte, den deutschen Augenarzt nicht leiden und mißtraue ihm.

»Was er auch in London thun möge«, sagte ich, »darüber können Sie sich beruhigen, liebe Lucilla, ich stehe Ihnen dafür, daß er siec nicht in Herrn Grosses Nähe wagen wird.«

Nach einer langen Pause, die diesen Worten folgte, richtete sich Lucilla plötzlich wieder auf und that abermals eine Aeußerung in Betreff Oscar’s, welche mir eine neue Eigenthümlichkeit der Empfindungsweise, wie sie nur Blinden eigen ist, offenbarte.

»Wissen Sie was?« sagte sie, »wenn ich nicht Oscar heirathen wollte, so zweifle ich, ob ich daran gedacht haben würde, einen Augenarzt nach Dimchurch kommen zu lassen.«

»Ich verstehe Sie nicht recht«, antwortete ich, »Sie können doch unmöglich sagen wollen, daß Sie sich unter irgend welchen Umständen nicht gefreut haben würden, Ihr Augenlicht wieder zu erlangen?«

»Allerdings will ich das sagen«, erwiderte sie.

»Was, Sie, die Sie von Ihrer frühesten Jugend an blind gewesen sind« legen keinen Werth darauf, wieder zu sehen?«

»Ich lege nur Werth darauf, Oscar zu sehen. Und was mehr ist, ich lege nur Werth darauf, ihn zu sehen, weil ich ihn liebe. Ich glaube wirklich nicht, daß es mir, wenn das nicht wäre, irgend ein besonderes Vergnügen gewähren würde, mich meiner Augen zu bedienen. Ich bin so lange blind gewesen! Ich habe es gelernt, mich ohne meine Augen zu behelfen.«

»Unmöglich! ich kann unmöglich glauben, liebe Lucilla, daß Sie das im Ernste meinen!«

Sie lachte und trank ruhig ihren Thee.

»Ihr Leute« die Ihr sehen könnt, legt einen so albernen Werth auf Eure Augen. Ich setze meinen Tastsinn gegen Ihre Augen als den bei Weitem zuverlässigeren und intelligenteren von beiden Sinnen ein. Wenn die Liebe zu Oscar nicht meine Gefühle so ausschließlich erfüllte, wissen Sie, was ich, wenn es möglich wäre, der Wiederherstellung meiner Sehkraft bei Weitem vorgezogen hätte? Aber«, fügte sie im Tone komischer Resignation hinzu, »es ist leider nicht möglich.«

»Was ist unmöglich?«

Sie erhob plötzlich ihre beiden Arme über den Frühstückstisch und sagte:

»Was ich gewünscht hätte, wäre eine ganz unerhörte Verlängerung dieser beiden Arme gewesen. Dann könnte ich mit meinen Händen besser erkennen, was in der Ferne vorgeht, als Ihr mit Euren Augen und Euren Ferngläsern. Welche Zweifel würde ich nicht zum Beispiel in Betreff des Planetensystems für die Sehenden beseitigen können, wenn ich nur weit genug reichen könnte, um die Sterne zu berühren.«

»Wie können Sie nur solchen Unsinn reden, Lucilla?«

»Rede ich denn Unsinn? Sagen Sie mir doch, wer sich im Dunkeln besser zurechtfinden kann, ich mit meinem Tastsinn, oder Sie mit Ihren Augen? Wer von uns Beiden, Sie oder ich, hat einen Sinn, auf den man sich alle Zeit, bei Tage wie bei Nacht, verlassen kann? Wenn Oscar nicht wäre, und ich rede jetzt vollkommen wahrhaft, würde ich viel lieber den Sinn, den ich bereits besitze, vervollkommnen, als mir einen neuen Sinn aneignen. Bevor ich Oscar kannte, habe ich, das kann ich aufrichtig versichern, niemals Jemanden um seine Augen beneidet.«

»Sie setzen mich in Erstaunen« Lucilla.«

Sie klapperte ungeduldig mit ihrem Theelöffel in der leeren Tasse hin und her.

»Können Sie sich selbst bei hellem Tageslicht immer auf Ihre Augen verlassen?« brach sie aus. »Wie oft täuschen dieselben Sie über die einfachsten Dinge? Was war es doch, worüber Ihr Alle neulich im Garten disputirtet, als Ihr nach einem entfernten Punkt sahet?«

»Ja richtig, wir betrachteten die Aussicht jenseits der Baumallee an der anderen Seite der Kirchhofsmauer.«

»Ein Gegenstand in der Allee hatte Eure Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, nicht wahr?«

»Jawohl, ein Gegenstand am unteren Ende derselben.«

»Ich hörte Euch hier oben disputiren. Trotz Eurer wundervollen Augen waret Ihr Alle verschiedener Ansicht. Mein Vater sagte, es bewege sich; Sie sagten, es stehe still; Oscar behauptete, es sei ein Mensch; meine Stiefmutter erklärte es für ein Kalb; Nugent lief hin, um den merkwürdigen Gegenstand in der Nähe zu untersuchen. Und was fand er? Den Stumpf eines alten Baumes, den der Wind in der Nacht zerschmettert und quer über den Weg geworfen hatte. Warum soll ich Leute um einen Sinn beneiden, der ihnen solche Streiche spielt? Nein, nein, Herr Grosse soll mir den Staar stechen, wie er es nennt, weil ich einen Mann heirathen will, den ich liebe und weil ich närrisch genug bin, mir einzubilden, daß ich ihn noch mehr lieben werde, wenn ich ihn sehen kann. Vielleicht habe ich ganz Unrecht«, fügte sie schelmisch hinzu, »vielleicht werde ich ihn schließlich nicht halb so lieb haben wie jetzt.«

Ich dachte an Oscar’s Gesicht, und mich überkam eine wahre Angst, daß ihre Worte vielleicht einen viel ernsteren Sinn haben möchten, als sie selbst ahne. Ich versuchte es, einen anderen Gegenstand aufs Tapet zu bringen. Aber nein! Ihre reiche Einbildungskraft hatte sich schon wieder in eine andere Region verstiegen, bevor ich ein Wort sagen konnte.

»Ich stelle mir«, sagte sie nachdenklich, »unter »hell« alles Schöne und Himmlische, und unter »dunkel« alles Gemeine, Schreckliche und Teuflische vor. Ich bin begierig, wie »heil« und »dunkel« mir erscheinen werden, wenn ich werde sehen können.«

»Ich glaube«, antwortete ich, »die Wirklichkeit wird Ihrer Vorstellung durchaus nicht entsprechen und Sie in das höchste Erstaunen versetzen.«

Sie fuhr zusammen. Ich hatte sie unabsichtlich beunruhigt.

»Ist denn Oscar’s Gesicht ganz anders, als ich es mir jetzt vorstelle?« fragte sie in plötzlich verändertem Ton. »Meinen Sie, daß ich bisher keine richtige Vorstellung von ihm gehabt habe?«

Ich versuchte es abermals, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Was konnte ich Angesichts der am nächsten Tage vorzunehmenden Operation und der Warnung des deutschen Arztes, sie nicht aufzuregen, anders thun?

Aber es war ganz vergebens.

Sie fuhr, ohne sich durch mich stören zu lassen, fort: »Habe ich kein Mittel, mir ein richtiges Bild von Oscar zu machen? Ich kann mein eigenes Gesicht ja auch nur berühren und doch weiß ich, wie lang und wie breit es ist, ich weiß, wie groß die Gesichtszüge sind und wo sie liegen. Und ebenso ist es mit Oscar’s Gesicht; ich vergleiche dasselbe mit dem meinigen. Kein noch so feines Detail entgeht mir. Ich sehe ihn in meinem Geist so deutlich, wie Sie mich jetzt vor sich sehen. Meinen Sie, daß, wenn ich ihn mit meinen Augen sehe, ich etwas für mich ganz Neues entdecken werde? Ich glaube es nicht!« Sie fuhr ungeduldig von ihrem Sitze auf und ging im Zimmer auf und ab.

»O!« rief sie, mit dem Fuß stampfend, »warum kann ich nicht eine hinreichende Portion Opium oder Chloroform nehmen, um sechs Wochen lang zu schlafen und erst wieder zum Leben erwachen, wenn der deutsche Arzt kommt, mir die Binde von den Augen zu nehmen!« Sie setzte sich nieder und warf ganz plötzlich eine rein sittliche Frage auf. »Beantworten Sie mir folgende Frage«, sagte sie, »ist nicht die größte Tugend die, welche am schwersten zu üben ist?«

»Ich glaube ja«, erwiderte ich.

Ungestüm und boshaft trommelte sie, so stark sie konnte, mit beiden Händen auf den Tisch.

»Dann, Madame Pratolungo«, sagte sie, »ist die größte Tugend die Geduld. O, liebe Freundin, wie ich die größte aller Tugenden diesen Augenblick hasse!«

Damit hatte dieses Gespräch ein Ende und die Unterhaltung nahm endlich eine andere Wendung.

Als ich später über die sonderbaren Dinge nachdachte, welche Lucilla zu mir gesagt hatte, fand ich in dem am Frühstückstisch Vorgefallenen einen Trost. Wenn Herrn Sebrigth Aussichten sich als die richtigen erweisen, und die Operation schließlich doch fehlschlagen sollte, so hatte ich Lucilla’s Wort dafür, daß Blindheit an und für sich dem Blinden nicht als das schreckliche Unglück erscheint, als welches wir Uebrigen uns dieselbe vorstellen — weil wir sehen können.

Gegen halb sieben Uhr Abends ging ich, meiner Absicht gemäß, allein aus, um Oscar bei seiner Rückkehr von London zu begegnen.

Aus weiter Entfernung sah ich ihn mir entgegen kommen. Er ging rascher als gewöhnlich und sang dabei. Trotz seiner fahlen Gesichtsfarbe strahlte das Gesicht des armen Menschen von Glück, als er sich mir näherte. In ausgelassener Lustigkeit schwang er seinen Spazierstock in der Luft. »Gute Nachrichten«, rief er mir so laut er konnte entgegen. »Herr Sebright hat mich wieder zu einem glücklichen Menschen gemacht.« Nie war Oscar, mir in seinem Wesen Nugent so ähnlich erschienen wie jetzt, als wir aufeinander zutraten und er mir die Hand reichte.

»Erzählen Sie mir Alles«, sagte ich.

Er gab mir seinen Arm und so gingen wir, die ganze Zeit im lebhaften Gespräch begriffen, langsam nach Dimchurch zurück.

»Für’s Erste«, fing er an, »ist Herr Sebright fester als je von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt. Er hält es für unzweifelhaft, daß die Operation fehlschlagen wird.«

»Sind das Ihre guten Nachrichten?« fragte ich im vorwurfsvollen Ton.

»Nein«, antwortete er, »wiewohl es, zu meiner Schande sei’s gesagt, eine Zeit gab, wo ich beinahe hoffte, die Operation werde mißlingen. Herr Sebright hat mich in eine bessere Stimmung versetzt. Ich habe wenig oder nichts von einem Gelingen der Operation zu fürchten, wenn dieselbe merkwürdigerweise doch gelingen sollte. Ich erinnere Sie an Sebright’s Ansicht nur deshalb, um Ihnen eine richtige Vorstellung von dem Ton zu geben, welchen er im Beginn unserer Unterhaltung annahm. Nur unter Protest ließ er sich auf eine nähere Erörterung der Eventualität ein, deren Eintritt Lucilla und Herr Grosse als sicher betrachten. Wenn die Mittheilung Ihrer Lage dadurch bedingt ist, sagte er, so räume ich ein, daß es kaum möglich ist, daß sie innerhalb der beiden nächsten Monate im Stande sein wird, Sie zu sehen. Jetzt fangen Sie an. Ich fing damit an, ihm meine Verlobung mitzutheilen.«

»Soll ich Ihnen vorher sagen, wie Herr Sebright diese Mittheilung aufnahm?« sagte ich, »er schwieg und verneigte sich gegen Sie.«

Oscar lachte, »ganz richtig!« sagte er. »Dann erzählte ich ihm von Lucilla’s merkwürdiger Antipathie gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe und gegen dunkle Farben überhaupt. Können Sie auch errathen, was er nach dieser Mittheilung sagte?«

Ich gestand, daß meine Beobachtung von Herrn Sebrights Charakter nicht hinreiche, das zu errathen.

»Er sagte, diese Antipathie sei nach seiner Erfahrung bei den Blinden sehr verbreitet. Es sei das eine der vielen sonderbaren Wirkungen der Blindheit auf das Gemüth »Das körperliche Leiden«, sagte er, »übt seine geheimnißvollen moralischen Wirkungen. Wir können das beobachten, aber nicht erklären. Die besondere von Ihnen erwähnte Antipathie ist unheilbar, außer wenn der mit derselben behaftete Blinde seine Sehkraft wieder erlangt. Bei diesen Worten hielt er inne; ich bat ihn dringend, fortzufahren. Aber nein! er weigerte sich, fortzufahren, bis ich ihm Alles, was ich zu sagen habe, mitgetheilt haben würde. Ich hatte ihm noch mein Bekenntniß abzulegen, und das that ich jetzt.«

»Haben Sie ihm nichts verheimlicht?«

»Nichts, ich bekannte ihm offen meine Schwachheit. Ich sagte ihm, daß Lucilla noch fest überzeugt sei, daß Nugent’s Gesicht und nicht das meinige entstellt sei. Und dann fragte ich ihn: »Was soll ich thun?«

»Und was antwortete er Ihnen darauf?«

»Folgendes: Wenn Sie mich fragen, was sie thun sollen, im Falle sie blind bleibt — und ich wiederhole Ihnen, daß dieser Fall eintreten wird — so muß ich es ablehnen, Ihnen einen Rath zu ertheilen. In diesem Falle müssen Ihr eigenes Gewissen und ihr eigenes Ehrgefühl die Frage entscheiden. Wenn Sie mich dagegen fragen, was Sie thun sollen, wenn sie ihre Sehkraft wieder erlangen sollte, so kann ich Ihnen rückhaltslos die entschiedenste Antwort geben. Thun Sie jetzt nichts »und warten Sie ruhig, bis sie wieder sehen kann. Das waren seine eigenen Worte. O, welche Last mir damit vom Herzen genommen war! Ich bat ihn, die Worte zu wiederholen, ich gestehe, ich wagte es kaum, meinen Ohren zu trauen.«

Ich begriff Oscar’s gehobene Stimmung besser, als Herrn Sebrights Rath.

»Begründete er seinen Rath« fragte ich.

»Sie sollen seine Gründe gleich hören. Er bestand zunächst darauf, daß ich meine Stellung, wie sie in diesem Augenblick sei, ganz begreife. Die erste Bedingung des Gelingens der Operation, sagte er, ist, wie Herr Grosse Ihnen gesagt hat, die vollständigste Ruhe der Patientin. Wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nach Dimchurch heute Abend der jungen Dame Ihr Bekenntniß ablegen wollten, so würden Sie sie in einen Zustand der Aufregung versetzen, welcher es meinem deutschen Collegen unmöglich machen würde, sie morgen zu operieren. Wenn sie dagegen Ihr Geständniß verschieben, so sind Sie durch die Bedingungen der Kur genöthigt, zu schweigen, bis die ärztliche Behandlung ihr Ende erreicht hat. So liegen die Dinge für Sie. Ich rathe Ihnen, das Letztere zu thun. Warten Sie und lassen Eie die übrigen in Ihr Geheimniß eingeweihten Personen warten, bis das Ergebniß der Operation feststeht. Hier unterbrach ich ihn. Sind Sie der Meinung, daß ich in dem Moment, wo sie zum ersten Male ihre Augen wird gebrauchen können, gegenwärtig sein soll? fragte ich. Soll ich mich vor ihr blicken lassen, ohne daß sie vorher auf meine Gesichtsfarbe vorbereitet worden ist?«

Jetzt waren wir bei dem interessantesten Punkt der ganzen Frage angelangt. Die Engländer stehen, wenn sie sich auf einem Spaziergange mit einem Freunde unterhalten, auch wenn das Gespräch die interessanteste Wendung nimmt, niemals still. Wir Ausländer dagegen bleiben bei solchen Gelegenheiten einen Augenblick stehen. Oscar schien ganz überrascht, als ich ihn plötzlich mitten auf der Landstraße zum Stillstehen zwang.

»Was gibt’s?« fragte er.

»Gehen Sie weiter«, sagte ich ungeduldig. »Ich kann nicht weiter«, erwiderte er, »Sie halten mich ja fest.« Ich hielt ihn noch fester und hieß ihn noch energischer weitergehen. Oscar mußte sich darin ergeben, nach ausländischer Sitte auf der Landstraße stillzustehen.

»Herr Sebright erwiderte meine Frage mit einer andern Frage«, nahm er wieder auf. »Er fragte mich, wie ich Lucilla auf meine Gesichtsfarbe vorbereiten wolle.« »Und was antworteten Sie?« »Ich sagte ihm, ich habe die Absicht gehabt, mich wegen meiner Entfernung von Dimchurch zu entschuldigen, und dann, wenn ich einmal fort sei, Lucilla schriftlich auf das vorzubereiten, was sie bei meiner Rückkehr an mir sehen werde.«

»Und was meinte er dazu?« »Er wollte nichts davon hören. Er sagte: Ich kann Ihnen nur dringend anempfehlen, im ersten Moment, wo sie, wenn dieser Moment überall eintreten wird, zu sehen im Stande sein wird, anwesend zu sein. Ich lege den größten Werth darauf, daß sie in den Stand gesetzt werde, die abscheuliche und abgeschmackte Vorstellung, die ihr jetzt von einem Gesichte wie dem Ihrigen vorschwebt, sobald wie möglich durch Ihren Anblick zu berichtigen.«

Wir hatten uns eben wieder in Bewegung gesetzt, als gewisse Worte in diesem letzten Satz mich erschreckten. Ich blieb wieder stehen.

»Abscheuliche und abgeschmackte Vorstellung«, wiederholte ich, indem mir sofort meine diesen Morgen mit Lucilla geführte Unterhaltung einfiel. »Was dachte sich Herr Sebright dabei, als er sich solcher Ausdrücke bediente?«

»Gerade das fragte ich ihn auch. Seine Antwort wird Sie interessieren; sie führte ihn auf eine nähere Angabe seiner Gründe, nach denen Sie vorhin fragten. Wollen wir weiter gehen?«

Meine noch eben wie festgebannten ausländischen Füße setzten sich wieder in Bewegung und wir gingen weiter.

»Als ich«, fuhr Oscar fort, »mit Herrn Sebright von Lucilla’s eingewurzeltem Vorurtheil gesprochen, hatte er mich durch die Bemerkung überrascht, daß ein solches Vorurtheil nach seiner Erfahrung bei Blinden sehr gewöhnlich und nur durch die Wiederherstellung von Lucilla’s Sehkraft heilbar sei. Zur Unterstützung dieser Behauptungen erzählte er mir jetzt zwei interessante Fälle aus seiner Praxis. Der erste Fall war der der kleinen Tochter eines indischen Offiziers, welche wie Lucilla seit ihrer Kindheit blind war. Nachdem er sie mit Erfolg operirt, trat endlich der Augenblick ein, wo er seiner Patientin erlauben konnte, ihre Augenkraft zu versuchen — das heißt zu versuchen, ob sie anfänglich hinlänglich gut sehen könne, um dunkle von hellen Gegenständen zu unterscheiden. Unter den Mitgliedern der Familie und der Dienerschaft, die sich versammelt hatten, um im Augenblick der Abnahme der Binde von den Augen des operierten Mädchens zugegen zu sein, befand sich eine indische Amme, welche mit der Familie nach England gekommen war. Die erste Person, welche das Kind sah, war seine Mutter, eine schöne Frau. Sie faltete ihre kleinen Hände voll Erstaunen, das war Alles. Im nächsten Augenblick aber sah sie die dunkelfarbige indische Amme und — stieß sofort einen Schrei des Entsetzens aus. Herr Sebright gestand mir, daß er sich das nicht habe erklären können. Das Kind konnte unmöglich mit Farben bestimmte Begriffe verbinden. Und doch trat hier bei einem zehnjährigen Kinde der Haß und Widerwille gegen dunkle Gegenstände — dieser den Blinden eigenthümliche Haß und Widerwille — unzweideutig zu Tage. Mein erster Gedanke bei dieser Erzählung war der an mich selbst und an meine Aussichten bei Lucilla. Meine erste Frage war: Gewöhnte sich das Kind an den Anblick der Amme? Seine Antwort lautete wörtlich: Nach Verlauf einer Woche fand ich das Kind so ruhig auf dem Schooß der Amme sitzen, wie ich hier auf diesem Stuhl sitze. Das ist ermuthigend nicht wahr?«

»Gewiß, höchst ermuthigend — das kann Niemand bestreiten.

»Das zweite Beispiel war noch merkwürdiger. Hier handelte es sich um den Fall eines erwachsenen Mannes und der Zweck der Mittheilung war, mir zu zeigen, welche sonderbar phantastische Vorstellungen sich die Blinden von den sie umgebenden Menschen machen. Der Patient war verheirathet und sollte, wie Lucilla mich, seine Frau zum ersten Male sehen. Man hatte ihn vor seiner Verheirathung mitgetheilt, daß ihr Ge sicht durch eine Narbe auf einer Backe entstellt sei. Die arme Frau, ach wie gut kann ich mich an ihre Stelle versetzen, zitterte bei dem Gedanken an den Verhängnißvollen Augenblick. Der Mann, der sie zärtlich geliebt hatte, so lange er blind war, würde sie vielleicht hassen, wenn er ihr durch eine Narbe entstelltes Gesicht sähe. Ihr Gatte selbst suchte sie zu trösten, sobald die Operation beschlossen war. Er erklärte, sein Tastsinn und die Schilderungen Anderer hätten ihn in den Stand gesetzt, sich ein vollständiges und getreues Bild von dem Gesicht seiner Frau zu machen. Vergebens bemühte sich Sebright, ihm vorzustellen, wie es physisch unmöglich sei, daß er sich eine wirklich correcte Vorstellung von irgend einem belebten oder unbelebten Gegenstands den er nie gesehen hatte, mache. Er wollte nichts davon hören. Er hielt sich des Erfolges für so sicher, daß er die Hände seiner Frau, um sie zu ermuthigen, in den seinigen hielt, als ihm die Binde abgenommen wurde. Bei dem ersten Blick auf seine Frau aber er stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank ohnmächtig in seinen Stuhl zurück. Die arme Frau war in Verzweiflung. Herr Sebright that sein Bestes, sie zu beruhigen und wartete, bis ihr Gatte wieder im Stande sein würde, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Da stellte es sich denn heraus, daß er sich in seiner Blindheit eine der Wirklichkeit so wenig entsprechende, so possierliche und schreckliche Vorstellung von seiner Frau gemacht hatte, daß man nicht recht wußte, ob man darüber lachen oder sich darüber entsetzen mußte. Im Vergleich mit dieser ihm vertraut gewordenen Vorstellung war sie schön wie ein Engel — und doch wurde er, eben weil er sich einmal an diese Vorstellung gewöhnt hatte, von ihrem ersten Anblick angewidert und erschreckt. Nach Verlauf weniger Wochen war er im Stande, seine Frau mit anderen Frauen zu vergleichen, Gemälde zu betrachten und Schönheit von Häßlichkeit zu unterscheiden und von jener Zeit an haben die Leute so glücklich mit einander gelebt, wie je ein Ehepaar in der Welt.« Ich war nicht ganz sicher, worauf dieses letzte Beispiel abzielte. Es beunruhigte mich, wenn ich an Lucilla dachte. Ich stand wieder still.

»Welche Anwendungen machte Herr Sebright von diesem zweiten Fall auf Sie und Lucilla?« fragte ich.

»Das sollen Sie gleich hören«, erwiderte Oscar. »Er berief sich zunächst auf den Fall, um durch denselben seine Behauptung zu unterstützen, daß Lucilla’s Vorstellung von mir meiner wirklichen Erscheinung völlig unähnlich sein müsse. Er fragte mich, ob ich jetzt überzeugt sei, daß sie keinen richtigen Begriff von Gesichtern und Farben haben könne, und ob ich nicht mit ihm der Ansicht sei, daß ihre Vorstellung von dem Mann mit dem blauen Gesicht höchst wahrscheinlich in ihrer phantastischen Häßlichkeit der Wirklichkeit durchaus nicht entspräche? Natürlich stimmte ich ihm darin, nach dem was er mir mitgetheilt hatte, völlig bei. »Nun gut«, sagte Herr Sebright, »jetzt lassen Sie uns nicht vergessen, daß ein wichtiger Unterschied zwischen Fräulein Finch und dem Ihnen eben erzählten Fall besteht. Die Vorstellung des blinden Gatten von seiner Frau war ihm lieb geworden, sein Entsetzen bei ihrem ersten Anblick nur dadurch zu erklären. Dagegen ist die Vorstellung, die Fräulein Finch sich in ihrer Blindheit von dem blauen Gesicht macht, ihr verhaßt, sie verwünscht sie. Darf man daraus nicht mit Fug schließen, daß der erste Anblick Ihrer wirklichen Erscheinung sie nicht entsetzen, sondern wohlthätig berühren wird? Meine Erfahrungen berechtigen mich zu diesem Schluß und ich rathe Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, in dem Augenblick, wo Fräulein Finch die Binde von den Augen genommen werden wird, zugegen zu sein. Selbst wenn ich mich darin irren sollte, selbst wenn sie sich nicht sofort mit Ihrem Anblick sollte aussöhnen können, so können Sie doch aus dem anderen Beispiel, von dem Kinde und der indischen Amme die Ueberzeugung schöpfen, daß es sich hier nur um eine Frage der Zeit handelt. Früher oder später wird sie die Entdeckung aufnehmen, wie es jedes andere junge Mädchen thäte. Zuerst wird sie entrüstet über Ihre Täuschung sein und schließlich wird sie Ihnen, wenn Sie ihrer Neigung gewiß sind, verzeihen. Das ist meine Ansicht von Ihrer Lage und das sind die Gründe, auf welche ich dieselbe stütze. Inzwischen beharre ich bei meiner ursprünglichen Ansicht. Ich bin fest überzeugt, daß Sie nie in den Fall kommen werden, meinen Rath zu befolgen. Die Chancen sind hundert gegen eins, daß sie, wenn ihr die Binde von den Augen genommen wird, so wenig im Stande sein wird, Sie zu sehen, wie sie es jetzt ist.« Das waren seine letzten Worte und darauf verließ ich ihn.«

Oscar und ich gingen nun eine kleine Strecke schweigend neben einander her.

Ich konnte nichts gegen Herrn Sebrights Gründe sagen; es war unmöglich, die Erfahrungen, denen diese Gründe entnommen waren, in Zweifel zu ziehen. Ich war überzeugt, daß sein Rath sich bei den meisten Blinden als gut erwiesen haben würde und daß seine Schlüsse eine vollkommene Berechtigung hatten. Aber Lucilla war kein gewöhnlicher Charakter. Ich kannte sie besser, als Herr Sebright, und je mehr ich an die Zukunft dachte, desto weniger vermochte ich Oscar’s hoffnungsvolle Anschauungen zu theilen. Sie war gerade die Person, im kritischen Augenblick etwas zu sagen oder zu thun, was die klügste Voraussicht Lügen strafen würde. Niemals waren mir Oscar’s Aussichten trüber erschienen, als eben in jenem Augenblick.

Es wäre unnütz und grausam gewesen, ihm zu sagen, was ich eben hier ausgesprochen habe. Ich suchte ein möglichst vergnügtes Gesicht zu machen und fragte, ob er Herrn Sebright’s Rath zu befolgen gedenke. »Ja«, sagte er, »das heißt mit seinem gewissen Vorbehalt, der mir erst einfiel, nachdem ich sein Haus verlassen hatte.«

»Darf ich fragen, worin dieser Vorbehalt besteht?«

»Gewiß. Ich denke Nugent zu bitten, Dimchurch zu verlassen, bevor Lucilla zum ersten Male nach der Operation ihre Sehkraft erprobt. Das wird er mir zu Gefallen thun, das weiß ich gewiß.»

»Und wenn er es gethan haben wird, was dann?«

»Dann denke ich, wie mir Herr Sebright gerathen hat, bei der Abnahme der Binde zugegen zu sein.«

»Nachdem Sie», schaltete ich ein, »Lucilla vorhergesagt haben, daß Sie im Zimmer sind?« »Nein, dann werde ich die Vorsicht gebrauchen, aus die ich eben anspielte. Ich beabsichtige Lucilla unter dem Eindruck zu lassen, daß ich Dimchurch verlassen habe und daß es Nugent’s Gesicht ist, das sie zuerst sehen wird. Wenn es sich dann zeigt, daß Herr Sebright Recht gehabt hat und ihre erste Empfindung die der Befreiung von einer Furcht ist, werde ich ihr noch an demselben Tage die Wahrheit gestehen. Wenn nicht, so werde ich mit meinem Geständniß warten, bis sie sich mit meinem Anblick ausgesöhnt hat. Auf diese Weise bin ich auf jede mögliche Wendung der Sache vorbereitet. Das ist einer der wenigen guten Gedanken, auf die mein dummer Kopf verfallen ist, seit ich in Dimchurch bin.« Er sprach diese letzten Worte mit einer so harmlos triumphirenden Miene, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, ihm zu sagen, was ich von seinem Plan halte. Alles, was ich sagte, war: »Vergessen Sie nicht, Oscar daß das Gelingen eines noch so fein ersonnenen Planes immer von Umständen abhängt. Im letzten Augenblick kann sich etwas ereignen, was Sie zwingen würde, die Wahrheit zu sagen.«

Als ich diese letzte Warnung an ihn ergehen ließ, hatten wir das Pfarrhaus in Sicht bekommen. Nugent schlenderte, um nach uns auszusehen, die Landstraße auf und ab. Ich verließ Oscar, damit er seinem Bruder seinen Bericht abstatten könne und ging in’s Haus.

Lucilla saß, als ich in’s Wohnzimmer trat, am Clavier. Sie spielte und, was sie selten that, sang dazu. Was sie sang war von ihr gedichtet und componirt. »Ich werde ihn sehen! Ich werde ihn sehen!« so lauteten die Anfangs- und Endworte der Composition. Sie sang diese Worte auf alle ihr erinnerlichen frohen Melodien. Auch ihre Hände schienen freudig aufgeregt und schienen jeden Augenblick die Saiten zersprengen zu wollen. Noch nie, so lange ich im Pfarrhause war, hatte ich so laute Musik in unserm Wohnzimmer gehört. Sie war in einem Freudenfieber, das mich in meinem Böses ahnenden Gemüthe höchst peinlich berührte. Ich zog sie gewaltsam von dem Clavier fort und schloß dasselbe.«

»Um’s Himmelswillen, beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Wollen Sie sich denn so aufregen, daß Sie ganz erschöpft sein werden, wenn Herr Grosse morgen kommt?«

Diese Ermahnung brachte sie sofort zur Besinnung. Mit der Plötzlichkeit, die wir sonst nur bei Kindern beobachten, wurde sie auf einmal ganz ruhig.

»Ich hatte das vergessen«, sagte sie, indem sie sich mit einem traurigen Gesicht in eine Ecke setzte. »Er wäre im Stande sich zu weigern, die Operation vorzunehmen. O, liebe Freundin, bringen Sie mich auf irgend eine Weise zur Ruhe. Nehmen Sie ein Buch und lesen Sie mir etwas vor.«

Ich nahm ein Buch zur Hand. O, der arme Autor! Weder sie noch ich nahmen die mindeste Notiz von ihm. Noch schlimmer, wir schalten ihn, weil er uns nicht interessierte, klappten ihn dann heftig zu und stellten ihn rücksichtslos auf den Kopf an seinen Platz auf dem Bücherbrett und gingen zu Bett.

Als ich in ihr Schlafzimmer trat, um ihr gute Nacht zu sagen, stand sie am Fenster.Das milde Mondlicht ergoß sich zärtlich über ihr liebliches Gesicht. »Du Mond, den ich nie gesehen habe«, murmelte sie leise vor sich hin, »ich fühle, daß Du mich ansiehst. Wird die Zeit kommen, wo ich Dich wieder ansehen werde?« Sie trat vom Fenster zurück und legte meine Finger eifrig an ihren Puls. »Bin ich jetzt wieder ganz ruhig?« fragte sie. »Wird er mich morgen wohl ruhig genug finden? Fühlen Sie, fühlen Sie, er geht jetzt ganz ruhig?« Ich fühlte ihn, er ging rascher und rascher. »Der Schlaf wird ihn beruhigen«, sagte ich und küßte sie.

Sie schlief gut. Ich aber brachte eine so elende Nacht zu und stand so völlig erschöpft auf, daß ich genöthigt war, mich nach dem Frühstück wieder zu legen. Lucilla redete mir zu, es zu thun.

»Herr Grosse wird erst Nachmittags eintreffen«, sagte sie, »ruhen Sie sich aus bis er kommt.«

Wir hatten aber unsere Rechnung ohne Rücksicht auf den excentrischen Charakter unseres deutschen Arztes gemacht. Mit Ausnahme seiner Berufsgeschäfte that Herr Grosse alles nach Impulsen und nichts nach einer vorgeschriebenen Regel.

Ich war noch nicht lange in einen unruhigen, unerquickenden Schlaf versunken, als ich Zillah’s Hand auf meiner Schulter fühlte und ihre Stimme vernahm.

»Bitte, stehen Sie auf, Madame; er ist da, er ist mit dem Morgenzug von London gekommen.«

Ich eilte in’s Wohnzimmer.

Da saß Herr Grosse am Tisch, vor sich ein offenes chirurgisches Besteck und liebäugelte mit seinen wilden Augen mit einer gräulichen Schaar von Scheeren, Sonden und Messern, während sein danebenstehender schäbiger Hut mit einem unordentlichen Packen von Charpie und Binden vollgestopft war. Und bei ihm stand Lucilla über ihn gebeugt, die eine Hand vertraulich auf seine Schulter gelegt und mit der andern eines seiner schrecklichen Instrumente geschickt betastend, um sich einen Begriff von der Gestalt desselben zu machen.


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