Armadale



Fünftes Kapitel.

Die Stunde war neun Uhr früh, der Schauplatz ein Privatzimmer in einem der altmodischen Wirthshäuser, wie man sie noch immer auf der Boroughseite jenseits der Themse findet, das Datum Montag, den 11. August und die Person Mr. Bashwood, der auf eine Aufforderung seines Sohnes nach London gekommen und tags zuvor in dem Wirthshause eingekehrt war.

Noch nie hatte er so jämmerlich alt und hilflos ausgesehen wie jetzt. Das Wechselfieber von Hoffnung und Verzweiflung hatte ihn bis zum Schemen abgezehrt. Die scharfen Ecken seiner Gestalt waren noch schärfer geworden. Die Umrisse seines Gesichts waren zusammengeschrumpft. Sein Anzug wies mit traurigem und auffallendem Nachdruck auf die mit ihm vorgegangene Veränderung hin. In seinem ganzen Leben, selbst in seiner Jugend, hatte er sich nicht gekleidet wie jetzt. Mit einem verzweifelten Entschlusse, nichts unversucht zu lassen, wodurch er einen Eindruck auf Miß Gwilt machen könnte, hatte er seine trübseligen schwarzen Kleider abgelegt und sogar den Muth gefunden, sich mit seiner blauen Atlascravatte zu schmücken. Sein Rock war ein Reitrock von hellgrauem Tuch. Mit rachsüchtiger Schlauheit hatte er ihn nach dem Muster eines Rockes bestellt, den er Allan hatte tragen sehen. Seine Weste war weiß und seine Beinkleider von großgewürfeltem hellem Sommerzeuge. Seine Perücke war geölt und parfümiert und auf jeder Seite nach vorn gebürstet, um die Runzeln seiner Schläfe zu verbergen. Er war ein Gegenstand, über den man hätte lachen, über den man hätte weinen mögen. Selbst seine Feinde, wenn ein so elendes Geschöpf überhaupt Feinde haben könnte, würden ihm verziehen haben, hätten sie ihn in seinem neuen Anzuge gesehen. Seine Freunde, wenn ihm noch solche geblieben waren, würden weniger um ihn getrauert haben, hätten sie ihn in seinem Sarge gesehen, anstatt in der Verfassung, in welcher er sich jetzt zeigte. Unablässig, ruhelos wanderte er im Zimmer auf und ab. Bald sah er nach seiner Uhr, bald aus dem Fenster, bald auf den wohlbesetzten Frühstückstisch, immer mit dem gleichen erwartungsvollem unruhig fragenden Ausdruck in seinen Blicken. Der Kellner, der die Theemaschine brachte, hörte zum fünfzigsten Male die eine Redeformel, die der unglückselige Mensch heute Morgen aussprechen zu können schien: »Mein Sohn kommt zum Frühstück. Mein Sohn ist sehr eigen. Ich wünsche Alles vom Besten, warme Speisen und kalte Speisen und Thee und Kaffee und alle Zuthaten, Kellner, alle Zuthaten.« Zum fünfzigsten Male wiederholte er jetzt diese Worte, und zum fünfzigsten Male hatte so eben der unerschütterliche Kellner seine begütigende Antwort wiederholt; »Schon gut, Sir; Sie dürfen sich auf mich verlassen«, als sich auf der Treppe gemächliche Schritte vernehmen ließen, die Thür geöffnet ward und der langersehnte Sohn, eine saubere, schwarzlederne Tasche in der Hand, mit der sorglosesten Miene ins Zimmer geschlendert kam.

»Bravo, alter Herr!« sagte Bashwood der Jüngere, indem er mit einem höhnischen Lächeln der Ermuthigung das väterliche Costüm betrachtete. »Du kannst jeden Augenblick mit Miß Gwilt Hochzeit halten!«

Der Vater faßte die Hand des Sohnes und suchte auch zu lachen.

»Du bist so munter, Jemmy«, sagte er, sich wie in alten glücklicheren Zeiten des vertraulichen Namens bedienend. »Du warst von Kindheit an immer ein munterer Knabe, mein lieber Sohn. Komm und setze Dich; ich habe Dir ein hübsches Frühstück bestellt. Alles vom Besten! Alles vom Besten! Welch eine Freude es ist, Dich zu sehen! O du meine Güte, welch eine Freude, Dich zu sehen!« Er schwieg und setzte sich am Tische nieder; sein Gesicht glühte von der Anstrengung, die Ungeduld zu bemeistern, die ihn verzehrte. »Erzähle mir Alles von ihr!« sprudelte er heraus, plötzlich jeden Versuch der Selbstbeherrschung aufgebend. »Ich werde sterben, Jemmy, wenn ich noch länger darauf warten muß. Erzähle, erzähle!«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Bashwood der Jüngere, durch die väterliche Ungeduld nicht im mindesten gerührt. »Erst wollen wir das Frühstück und dann die Dame vornehmen. Immer sachte, alter Herr, immer sachte!«

Er legte seine Ledertasche aus einen Stuhl und nahm dann gelassen und lächelnd und ein Liedchen summend seinem Vater gegenüber Platz.

Einem gewöhnlichen Beobachter würde es nicht gelungen sein, den Charakter des jüngeren Bashwood in dessen Gesichte zu lesen. Sein jugendliches Aussehen, das durch sein helles Haar und sein rundes, bartloses Gesicht noch erhöht wurde, sein unbefangenes Wesen und stets bereites Lächeln, seine Augen, die den Augen derer, die mit ihm sprachen, stets furchtlos begegneten, Alles trug dazu bei, daß er im Allgemeinen einen günstigen Eindruck machte. Unter zehntausenden wäre es vielleicht nur einem charakterlesenden Auge gelungen, die glatte falsche Außenseite dieses Mannes zu durchdringen und ihn als das zu erkennen, was er wirklich war, als das niedrige Geschöpf, welches das noch niedrigere Bedürfniß der Gesellschaft zu seinem Dienste ausgebildet hatte. Da saß er, der geheime Spion unserer Tage, dessen Beschäftigung und dessen geheime Nachfragecomptoirs beständig im Zunehmen sind. Da saß er, der nothwendige Spürhund, wie er dem Fortschritt unserer nationalen Civilisation angehört; ein Mann, der in diesem Falle wenigstens das rechtmäßige und verständliche Produkt des Berufs war, der ihn beschäftigte; ein Mann, der in diesem Berufe auf den leisesten Verdacht hin, wenn dieser leiseste Verdacht ihn nur bezahlte, unter unsere Betten gekrochen wäre, durch Löcher gespäht hätte, die er in unsere Thüren gebohrt; ein Mann, der seinem Herrn nutzlos gewesen, hätte er in Gegenwart seines Vaters die mindeste Regung menschlicher Theilnahme empfinden können, und der verdientermaßen seine Stelle verloren haben würde, wenn er sich unter irgend welchen Verhältnissen einem Gefühle des Mitleids oder der Scham zugänglich erwiesen hätte.

»Immer sachte, alter Herr«, wiederholte er, indem er rings um den Tisch. herum die Schüsseldeckel abhob und unter dieselben sah. »Immer sachte!«

»Werde mir nicht böse, Jemmy«, bat der Vater. »Suche, wenn es Dir möglich, Dir eine Vorstellung von meiner Spannung zu machen. Ich erhielt Deinen Brief schon gestern Morgen. Nachdem er mich benachrichtigt, daß Du entdeckt habest, wer sie sei, und Du dann weiter nichts hinzufügst, habe ich die ganze Reise von Thorpe-Ambrose hierher machen und den ganzen langen fürchterlichen Abend und die ganze lange fürchterliche Nacht in dieser Erwartung durchleben müssen. Die Ungewißheit ist für Leute von meinen Jahren sehr schwer zu ertragen. Was hat Dich abgehalten, gestern Abend, nach meiner Ankunft, zu mir zu kommen, mein Sohn?«

»Ein kleines Diner in Richmond«, sagte der jüngere Bashwood. »Gib mir eine Tasse Thee.«

Mr. Bashwood versuchte der Forderung Folge zu leisten, aber die Hand, mit der er die Theekanne aufhob, zitterte so heftig, daß er fehl goß und den Thee aufs Tischtuch verschüttete. »Es thut mir sehr leid, aber ich kann mich des Zitterns nicht erwehren, wenn ich in großer Aufregung bin«, sagte der alte Mann, als sein Sohn ihm die Theekanne aus der Hand nahm. »Ich fürchte, Jemmy, Du trägst mir das bei meinem letzten Besuch in London Geschehene noch immer nach. Ich gebe zu, daß ich in meiner Weigerung, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, halsstarrig und unvernünftig war. Jetzt aber bin ich verständiger. Du hattest vollkommen Recht, die Sache ganz auf Dich zu nehmen, sowie ich Dir die verschleierte Dame zeigte, die wir aus dem Hotel kommen sahen, und ebenso Recht, als Du mich zu meinen Geschäften in Thorpe-Ambrose zurückschicktest.« Er beobachtete die Wirkung dieser Zugeständnisse auf seinen Sohn und wagte dann zagend abermals eine Bitte. »Wenn Du mir eben jetzt weiter nichts sagen willst«, sprach er mit schwacher Stimme, »so —— so sage mir wenigstens, wie Du sie gefunden hast. Bitte, Jemmy, bitte!«

Bashwood der Jüngere blickte von seinem Teller auf. »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er. »Die Geschichte mit Miß Gwilt hat mehr Zeit und Geld gekostet, als ich erwartet hatte, und je eher wir diesen Theil des Geschäfts abmachen, desto eher können wir dann zu dem kommen, was Du zu wissen wünschest.«

Ohne ein Wort der Gegenrede legte der Vater sein schmutziges altes Taschenbuch und seine Börse vor seinem Sohne auf den Tisch. Bashwood der Jüngere sah in die Börse, bemerkte mit verachtungsvollem Stirnrunzeln, daß sie nicht mehr als einen Sovereign und etwas Silbergeld enthielt, und gab sie unberührt wieder zurück. In dem Taschenbuche, das er dann zunächst öffnete, befanden sich vier Fünfpfundnoten. Bashwood der Jüngere nahm drei derselben unter seine eigene persönliche Obhut und überreichte dann mit einer Verbeugung spöttischer Dankbarkeit und Achtung seinem Vater das Taschenbuch.

»Tausend Dank«, sagte er. »Ein Theil davon kommt den Leuten auf unserm Comptoir zu und der Ueberschuß ist für mich. Eine der wenigen Dummheiten, mein werther Herr Vater, die ich in meinem Leben begangen, war die, daß ich, als Du mich zu Rathe zogst, erwiderte, meine Dienste könntest Du gratis haben. Wie Du siehst, beeile ich mich, diesen Irrthum wieder gut zu machen. Eine Stunde hier und dort war ich gern bereit, Dir zu opfern. Aber diese Geschichte hat Tage in Anspruch genommen und andere Geschäfte in den Hintergrund gedrängt. Ich sagte Dir, ich könne durch Dich nicht verlieren, ich schrieb Dir? in meinem Briefe so deutlich, wie Worte es nur auszudrücken vermögen.«

»Ja, ja, Jemmy. Ich beklage mich nicht, mein Sohn, ich beklage mich nicht. Sprich nicht von dem Gelde, erzähle mir, wie Du sie fandest.«

»Außerdem«, fuhr Bashwood der Jüngere unerschütterlich in seiner Rechtfertigung fort, »habe ich Dir den Vortheil meiner Erfahrung zukommen lassen, ich habe es wohlfeil ausgerichtet. Hätte ein Anderer die Sache in die Hand genommen, so würde es Dich das Doppelte gekostet haben. Ein Anderer würde Mr. Armadale ebenso wohl als Miß Gwilt beobachtet haben. Diese Ausgabe habe ich Dir erspart. Du hast die Gewißheit, daß Mr. Armadale entschlossen ist, sie zu heirathen. Sehr gut. In diesem Falle wissen wir, solange wir sie im Auge behalten, in aller Wirklichkeit auch, wo er zu finden ist. Sobald man weiß, wo die Dame steckt, weiß man auch, daß der Herr nicht fern sein kann.«

»Sehr wahr, Jemmy. Aber wie kam es, daß Miß Gwilt Euch so viel Mühe machte?«

»Sie ist ein verwünscht schlaues Frauenzimmer«, sagte der jüngere Bashwood; »das war der Grund. Sie entschlüpfte uns in einem Modegeschäft. Wir kamen mit der Schneiderin überein und verließen uns darauf, daß sie wiederkommen werde, um das Kleid anzuprobieren, welches sie dort bestellt hatte. In neun Fällen von zehn verlieren selbst die pfiffigsten Weiber den Kopf, wenn sich’s um ein Kleid handelt, und selbst Miß Gwilt war unvorsichtig genug, wiederzukommen. Dies war Alles, was wir wollten. Eins der Frauenzimmer von unserm Comptoir half beim Anprobieren des neuen Kleides und brachte sie dabei in die richtige Stellung, daß sie von einem unserer Leute hinter der Glasthür gesehen werden konnte. Nach dein, was ihm über sie mitgetheilt worden war, schloß er augenblicklich, wer sie sei, denn sie ist in ihrer Art eine berühmte Person. Darauf verließen wir uns aber natürlich nicht. Wir folgten ihr nach ihrer neuen Wohnung und ließen einen Mann von Scotland-Yard [In Scotland-Yard befindet sich das Hauptquartier der Polizei von London. Anm. d. Uebers.] kommen, der sie erkennen mußte, wenn unser Mann hinsichtlich ihrer Identität Recht hatte. Der Mann von Scotland-Yard verwandelte sich für diese Gelegenheit in den Kleiderausträger der Schneiderin und brachte ihr das Kleid. Er sah sie im Gange und erkannte sie auf der Stelle. Du hast Glück, denn ich sage Dir, Miß Gwilt ist ein öffentlicher Charakter. Hätten wir es mit einem weniger bekannten Frauenzimmer zu thun gehabt, so dürfte es uns wochenlange Nachforschungen und Dich Hunderte von Pfunden gekostet haben. Bei Miß Gwilt war ein Tag ausreichend, und ein zweiter Tag lieferte mir ihre ganze Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß in die Hände. Da liegt sie jetzt in meiner schwarzen Handtasche, alter Herr.«

Bashwood’s Vater eilte mit gierigen Augen und ausgestreckten Händen auf die Tasche zu. Der Sohn nahm einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche, blinzte mit den Augen, schüttelte den Kopf und steckte den Schlüssel wieder ein.

»Ich bin noch nicht mit dem Frühstück fertig«, sagte er. »Immer sachte, mein werther Herr, immer sachte!«

»Ich kann nicht warten!« rief der alte Mann mit vergeblichem Ringen nach Selbstbeherrschung. »Schon neun Uhr vorbei! Heute sind es vierzehn Tage, seit sie mit Mr. Armadale nach London fuhr! Sie kann in vierzehn Tagen mit ihm verheirathet sein! Vielleicht verheirathet sie sich heute Morgen mit ihm! Ich kann, nicht warten!«

»Man weiß nie, was man kann, bis man’s versucht«, erwiderte Bashwood der Jüngere. »Versuch’s, und Du wirst finden, daß Du dennoch warten kannst. Was ist aus Deiner Neugierde geworden?« fuhr er das Feuer schürend fort. »Warum fragst Du mich nicht, was ich damit sagen will, wenn ich behaupte, daß Miß Gwilt ein öffentlicher Charakter ist? Warum drückst Du mir nicht Deine Verwunderung darüber aus, daß ich ihrer Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß habhaft geworden? Wenn Du Dich wieder niedersetzen willst, sollst Du’s erfahren. Wo nicht, so will ich mich ausschließlich meinem Frühstück widmen.«

Mr. Bashwood seufzte tief und kehrte an seinen Platz zurück.

»Ich wollte, Du scherztest nicht so gern, Jemmy«, sagte er; »ich wollte, mein lieber Sohn, Du wärest kein solcher Spaßvogel.«

»Scherzen?« wiederholte der Sohn. »Ich kann Dir sagen, daß manche Leute die Sache ernst genug finden würden. Miß Gwilt ist im Verhör gewesen, wo es sich um ihr Leben handelte, und die Papiere in der schwarzen Tasche da enthalten die Instructionen des Anwalts für die Vertheidigung. Nennst Du das etwa einen Scherz?«

Der Vater sprang auf und blickte dem Sohne mit einem frohlockenden Lächeln ins Gesicht, das schauerlich anzusehen war.

»Sie ist auf Leben und Tod in Untersuchung gewesen!« rief er mit einem tiefen Athemzuge der Zufriedenheit aus. »Auf Leben und Tod in Untersuchung!« Er brach in ein langes Gelächter aus und schlug frohlockend mit den Fingern ein Schnippchen. »Ha, ha, ha! Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen dürfte!«

Obgleich ein ausgefeimter Schurke, war doch der Sohn über diesen Ausbruch verhaltener Leidenschaft fast erschrocken.

»Rege Dich nicht aus«, sagte er nicht mehr spöttisch, sondern mürrisch.

Mr. Bashwood setzte sich wieder nieder und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirn. »Nein«, sagte er, seinem Sohne zunickend und zulächelnd, »nein, nein, keine Aufregung, wie Du sagst, ich kann jetzt warten, Jemmy, ich kann warten.«

Er wartete mit unerschütterlicher Geduld; Von Zeit zu Zeit nickte er und lächelte und flüsterte vor sich hin: »Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen kann!« Aber weder durch Worte noch Mienen oder Gebärden machte er einen weiteren Versuch, seinen Sohn zur Eile anzutreiben.

Bashwood der Jüngere beendete sein Frühstück aus reiner Großthuerei langsam, brannte eine Cigarre an und beobachtete seinen Vater. Endlich öffnete er, da er den alten Mann noch immer geduldig warten sah, die schwarze Ledertasche und legte die Papiere auf dem Tische auseinander.

»Wie willst Du’s hören?« fragte er. »Lang oder kurz? Ich habe ihre ganze Lebensgeschichte hier. Der Anwalt, der sie beim Verhör vertheidigte, war instruiert, das Mitleid der Geschworenen zu bearbeiten; er stürzte sich kopfüber in das Elend ihrer frühem Laufbahn und erfüllte durch seine Kunst alle Anwesenden mit Schauder. Soll ich es ebenso machen? Willst Du Alles von ihr hören, von der Zeit an, wo sie kurze Kleidchen und Höschen trug? Oder ziehst Du es vor, sie sogleich als Angeklagte vor den Schranken zu erblicken?«

»Alles will ich von ihr wissen«, sagte der Vater eifrig. »Das Schlimmste und das Beste, namentlich aber das Schlimmste. Schone mich nicht, Jemmy! Darf ich mir die Papiere nicht selbst ansehen?«

Nein, das kannst Du nicht. Sie würden für Dich lauter Griechisch und Hebräisch sein. Danke Du den Sternen, daß Du einen gescheidten Sohn hast, der diesen Papieren das Mark entnehmen und es dann richtig gewürzt zu servieren versteht. Keine zehn Personen gibt’s in England, welche Dir die Geschichte dieses Frauenzimmers so erzählen könnten, wie ich Dir dieselbe erzählen kann. Das ist ein Talent, alter Herr, wie es nur Wenigen zu Theil wird, und es wohnt hier.«

Er klopfte sich hierbei keck an die Stirn und wandte sich mit unverstelltem Triumph über die Aussicht, seine Klugheit produciren zu können, was beiläufig der erste Ausdruck von Gefühl war, den er bisher verrathen, zur ersten Seite des vor ihm liegenden Manuscripts.

»Mit? Gwilt’s Lebensgeschichte«, hob Bashwood der Jüngere an, »beginnt auf dem Marktplatze von Thorpei-Ambrose. Vor etwa einem Vierteljahrhundert kam eines Tages ein fahrender Quacksalber, der; sowohl mit wohlriechenden Wassern als mit Medicin handelte, mit seinem Karren in der Stadt an und stellte als ein lebendiges Beispiel der Vortrefflichkeit seines Haaröls und dergleichen ein hübsches kleines Mädchen mit wundervollem Haar und einer blendenden Hautfarbe vor. Sein Name war Oldershow. Er hatte eine Frau, die ihm im Parfümeriezweige des Geschäfts assistierte und dieses nach seinem Tode allein fortsetzte Sie hat sich seitdem in der Welt emporgeschwungen und ist dieselbe schlaue alte Dame, die sich vor kurzem meiner in meiner amtlichen Eigenschaft bediente. Was das hübsche kleine Mädchen anlangt, so weißt Du ebenso gut wie ich, wer dasselbe war. Während der Wunderdoctor dem Volke Reden hielt und ihm das Haar des Kindes zeigte, kam eine junge Dame über den Marktplatz gefahren; sie ließ halten, um zu erfahren, was es dort gebe, und faßte augenblicklich eine große Vorliebe für das kleine Mädchen Diese junge Dame war die Tochter von Mr. Blanchard auf Thorpe-Ambrose. Sie fuhr heim und erweckte das Interesse ihres Vaters für das unschuldige kleine Opfer des Quacksalbers. Am nämlichen Abende wurden die Oldershaws nach dem Herrnhause beschieden und über das Kind befragt. Sie erklärten sich für dessen Onkel und Tante, was natürlich eine Lüge war, und waren mit Vergnügen bereit, das Mädchen die Dorfschule besuchen zu lassen, solange sie sich in Thorpe-Ambrose aufhielten. Das wurde denn auch schon am folgenden Tagen ins Werk gesetzt, und tags darauf waren die Oldershaws verschwunden und hatten das Kind der Obhut des Squire überlassen! Offenbar hatte die Kleine in ihrer Eigenschaft als lebendige Reclame ihren Erwartungen nicht entsprochen, und sie entschlossen sich darum, sie auf diese Art zu versorgen. Da hast Du den ersten Act der Komödie! Bis hierher klar genug, nicht wahr?«

»Klar genug, Jemmy, für gescheidte Leute. Aber ich bin alt und langsam im Begreifen. Eins verstehe ich nicht. «Wessen Kind war sie?«

»Eine sehr verständige Frage. Bedaure aber, Dir sagen zu müssen, daß Niemand, Miß Gwilt selbst mit eingeschlossen, diese Frage beantworten kann. Die Instructionen, auf die ich mich hier beziehe, sind natürlich auf ihre eigenen Angaben begründet und von ihrem Anwalte gesichtet worden. Alles, dessen sie sich zu erinnern vermochte, war, daß sie irgendwo auf dem Lande bei einer Frau, welche Kinder zur Pflege aufnahm, gehungert hatte und geprügelt worden war. Diese Frau besaß eine Karte, auf welcher angegeben war, daß das Mädchen Lydia Gwilt heiße, und erhielt durch die Vermittelung eines Advocaten alljährlich eine Summe Geldes für die Erziehung des Kindes, bis dieses acht Jahre alt war. Dann hörte die Zahlung plötzlich auf; der Advocat konnte dafür keinerlei Erklärung geben; Niemand kam, sich nach dem Mädchen umzusehen, und kein Mensch bekümmerte sich auch schriftlich um sie. Die Oldershaws sahen sie und meinten, sie dürfe sich wohl zu einer Reclame für sie eignen; die Frau überließ sie ihnen um eine Kleinigkeit, und Oldershaws ihrerseits überließen sie ganz und gar dem Blanchard. Dies die Geschichte ihrer Geburt, Herkunft und Erziehung! Sie kann ebenso gut die Tochter eines Herzogs wie die Tochter eines Trödlers sein. Entweder sind die Verhältnisse dabei höchst romantisch oder höchst alltäglich. Denke Dir, was Du willst, und thue Deiner Phantasie keinen Zwang an. Bist Du aber mit Deinen Phantasien fertig, so sprich, damit ich dann umblättere und fortfahre.«

»Bitte, fahre fort, Jemmy!«

»Miß Gwilt’s nächstes Auftreten«, fuhr Bashwood der Jüngere fort, indem er in seinen Papieren blätterte, »gewährt einen Blick in ein Familiengeheimniß. Das verlassene Kind hatte endlich Glück gehabt. Es hatte die Gunst einer liebenswürdigen jungen Dame mit einem reichen Vater gewonnen und ward in der Eigenschaft von Miß Blanchard’s neuem Spielzeuge im Herrnhause gehätschelt. Nicht lange darauf reiste Mr. Blanchard mit seiner Tochter ins Ausland und letztere nahm das kleine Mädchen als ihre Kammerjungfer mit. Als sie wieder heimkehrten, war die Tochter inzwischen Gattin und Wittwe geworden, und das hübsche kleine Mädchen taucht, anstatt ihre Gebieterin nach Thorpe-Ambrose zu begleiten, plötzlich ganz allein als Zögling einer Pensionsanstalt in Frankreich auf. Dort war sie in einem Pensionat ersten Ranges, wo für ihren Unterhalt und ihre Erziehung gesorgt wurde, bis sie sich verheirathen oder anderweitig im Leben etablieren würde, indeß unter der Bedingung, daß sie niemals nach England zurückkehre. Dies waren alle Details, welche sie dem Advocaten geben wollte, welcher diese Mittheilungen aufsetzte. Sie wollte durchaus nicht sagen, was auf dem Continent geschehen war, wollte nach all den Jahren, die inzwischen verstrichen, nicht einmal den Namen des Gatten ihrer Herrin angeben. Natürlich ist vollkommen klar, daß sie im Besitz irgend eines Familiengeheimnisses war, und daß die Blanchards für ihre Erziehung im Auslande bezahlten, um sie fern zu halten. Ebenso ist klar, daß sie dieses Geheimniß nicht bewahrt haben würde, wie sie es that, hätte sie nicht eingesehen, daß sie künftig einmal damit schachern könne. Ein schlaues Weib, wie ich Dir bereits gesagt habe! Ein verwünscht schlaues Weib, das sich nicht umsonst in der Welt herumgeschlagen und daheim wie im Auslande mit den Licht- und Schattenseiten des Lebens vertraut geworden ist!«

»Ja, ja, Jemmy, sehr wahr. Wie lange ist sie in jener Schule in Frankreich geblieben?«

Bashwood der Jüngere wandte sich zu seinen Papieren.

»Sie blieb in der französischen Schule«, erwiderte er, »bis zu ihrem siebzehnten Jahre. Um jene Zeit begab sich etwas in der Schule, was hier gelind als etwas Unangenehmes bezeichnet wird. Die einfache Thatsache aber war die, daß der Musiklehrer der Pension sich heftig in Miß Gwilt verliebte. Er war ein repectabler Mann in mittleren Jahren mit Frau und Kindern, und da er sah, daß die Sache für ihn völlig hoffnungslos war, nahm er eine Pistole und versuchte, in der übermüthigen Voraussetzung daß er Gehirn im Kopfe trage, dies durch eine Kugel zu vernichten. Die Aerzte retteten ihm jedoch das Leben, nicht aber seine Vernunft, und er endete, wo er eigentlich hätte anfangen sollen, im Irrenhause. Da Miß Gwilt’s Schönheit zu diesem skandalösen Ereigniß den Anlaß gegeben hatte, war es, obgleich es sich herausstellte, daß sie bei der ganzen Geschichte durchaus kein Tadel traf, natürlich unmöglich, sie nach dem Vorfall noch länger in dem Pensionat zu lassen. Man schrieb an ihre Gönner, die Blanchards, und diese versetzten sie nach einem andern Pensionat, diesmal in Brüssel. Worüber seufzest Du? Wo fehlt Dir’s jetzt?«

»Ich kann nicht umhin, für den armen Musiklehrer zu fühlen, Jemmy. Fahre fort!«

»Nach ihrer eigenen Angabe scheint Miß Gwilt auch für ihn gefühlt zu haben, Väterchen. Sie wandte sich einer ernsten Richtung zu und ward von der Dame, unter deren Obhut man sie gestellt hatte, bis sie nach Brüssel gehen sollte, bekehrt, wie man’s nennt. Der Pfaffe in dem belgischen Pensionat scheint ein Mann von einigem Verstande gewesen zu sein und gesehen zu haben, daß die Gefühle des Mädchens sich in einem gefährlich aufgeregten Zustande befanden. Ehe es ihm jedoch gelang, sie zu beruhigen, ward er krank, und ein anderer Pfaffe, ein Fanatiker trat an seine Stelle. Das Interesse, das er an dem Mädchen nahm, und die Art und Weise, in der er auf dessen Gefühle einwirkte, wirft Du begreifen, wenn ich Dir sage, daß sie, nachdem sie fast zwei Jahre in dem Pensionat zugebracht hatte, ihren Entschluß ankündigte, ins Kloster zu gehen! Mache immer große Augen! Miß Gwilt in der Rolle einer Nonne ist eine Art weiblichen Phänomens, wie man es nicht oft sieht. Die Weiber sind wunderbare Geschöpfe.«

»Ist sie ins Kloster gegangen?« fragte Mr. Bashwood. »Ließ man sie, die so freundlos und so jung war und Niemand hatte, der ihr guten Rath geben konnte, ins Kloster gehen?«

»Der Form wegen wurden Blanchards zu Rathe gezogen«, fuhr Bashwood der Jüngere fort. »Sie hatten, wie Du leicht begreifen wirst, nichts dagegen einzuwenden, daß sie sich in ein Kloster einsperrte. Ich stehe dafür, der angenehmste Brief, den sie je von ihr erhielten, war der, in dem sie auf immer in dieser Welt feierlich von ihnen Abschied nahm. Die Klosterleute waren so vorsichtig wie immer, sie compromittirten sich nicht. Ihre Vorschriften gestatteten nicht, daß Miß Gwilt den Schleier nähme, bis sie das Leben bei ihnen zuvor auf ein Jahr und dann, wenn sie noch irgend welche Zweifel hätte, auf ein zweites Jahr versucht hätte. Demnach versuchte sie es auf ein Jahr und —— zweifelte. Sie versuchte es ein zweites Jahr und war dann gescheidt genug geworden, ohne ferneres Zögern davon abzustehen. Wieder in Freiheit, sah sie sich in ziemlich unangenehmer Lage. Die Schwestern im Kloster hatten ihr Interesse für sie verloren; die Oberlehrerin wollte sie nicht als Gehilfin annehmen, weil sie zu hübsch für die Stelle sei; der Pfaffe aber erklärte sie als vom Teufel besessen. So blieb nichts weiter übrig, als nochmals an Blanchards zu schreiben und sie zu bitten, sie noch einmal als Privatmusiklehrerin zu etablieren. Ihre frühere Herrin hatte an der Aufrichtigkeit ihres Entschlusses, Nonne zu werden, offenbar von vornherein gezweifelt, und die Gelegenheit, die sich durch jenen Abschiedsbrief von vor drei Jahren bot, benutzt, allen Verkehr mit ihrer ehemaligen Kammerjungfer abzubrechen. Miß Gwilt erhielt ihren Brief durch die Post zurückgesandt. Sie zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Mr. Blanchard todt sei und seine Tochter das Herrnhaus verlassen habe, um sich an einen unbekannten Ort zurückzuziehen. Ihr nächstes unternehmen war nun ein Schreiben an den Erben, welcher die Güter besaß. Dieser Brief ward von dessen Sachwalter beantwortet und enthielt die Meldung, daß er beauftragt sei, gerichtlich gegen sie einzuschreiten, sowie sie versuche, von irgend einem Mitgliede der Familie zu Thorpe-Ambrose Geld zu erpressen. Ihre letzte Hoffnung bestand darin, den Namen des Ortes zu erfahren, wo ihre ehemalige Herrin in Zurückgezogenheit lebte. Der Banquier der Familie, an den sie deshalb schrieb, erwiderte ihr, er habe die Weisung erhalten, Niemand die Adresse der Dame zu geben, wenn er nicht zuvor von der Dame selbst dazu ermächtigt worden sei. Dieser letzte Brief machte der Sache ein Ende, Miß Gwilt konnte nichts weiter thun. Hätte ihr Geld zu Gebote gestanden, so hätte sie nach England reisen und Blanchards zu verstehen geben können, wie wenig rathsam es für sie sei, die Sache zu weit zu treiben. Da sie’ aber über keinen Heller zu verfügen hatte, war sie hilflos Du wirst Dich vielleicht wundern, wie sie, ohne Geld und ohne Freunde, während dieser Correspondenzen existieren konnte. Sie fand ihren Unterhalt dadurch, daß sie in einem Concertsaale niederer Sorte in Brüssel Klavier spielte. Natürlich belagerten sie die Männer von allen Seiten, aber sie war unempfindlich wie Diamant. Einer dieser abgewiesenen Herren war ein Russe, und dieser machte sie mit einer seiner Landsmänninnen bekannt, deren Namen fremden Lippen unaussprechlich ist. Geben wir ihr ihren Titel und nennen sie die Baronin. Beide Frauen gefielen einander, als sie sich vorgestellt wurden, und ein neues Leben erschloß sich Miß Gwilt. Sie ward die Vorleserin und Gesellschafterin der Baronin. Aus der Oberfläche war Alles glatt und eben, darunter Alles faul und häßlich.«

»Wie so, Jemmy? Bitte, warte einen Augenblick und sage mir, wie so?«

»Folgendermaßen. Die Baronin liebte das Reisen und hatte einen ausgewählten Kreis von Freunden um sich, die diesen ihren Geschmack theilten. Man reiste von einer Stadt des Continents nach der andern und als charmante Leute fand man überall neue Bekanntschaften. Die Bekanntschaften wurden zu den Gesellschaften der Baronin eingeladen, unter deren Möbeln der Kartentisch niemals fehlte. Begreifst Du jetzt, oder muß ich Dir im strengsten Vertrauen erzählen, daß das Kartenspiel in diesen Gesellschaften nicht als sündlich galt und daß es sich am Schlusse jedes Abends herausstellte, wie das Glück auf der Seite der Baronin und ihrer Freunde gewesen war? Allesamt waren sie Schwindler, und was Du auch darüber denkst, ich zweifle nicht im mindesten, daß Miß Gwilt’s Aussehen und Wesen sie zu einem schätzbaren Lockvogel für die Gesellschaft machten. Ihrer eigenen Angabe nach befand sie sich in völliger Unwissenheit über das, was in Wirklichkeit vorging; sie hatte ganz und gar keine Kenntniß vom Kartenspielen, besaß in der ganzen Welt keine einzige achtbare Bekanntschaft und fühlte eine wirkliche Zuneigung zur Baronin, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Baronin von Anfang bis zu Ende ihr eine wirklich gute Freundin war. Du kannst dies glauben oder nicht, ganz wie Dir’s beliebt. Fünf Jahre reiste sie mit diesen Gaunern auf dem ganzen Continente umher und gehörte vielleicht noch jetzt ihrer Gesellschaft an, wäre in Neapel die Baronin nicht an den unrechten Mann gerathen, an einen reichen reisenden Engländer Namens Waldron. Aha! Der Name überrascht Dich, nicht wahr? Wie alle Welt hast Du den Proceß der berüchtigten Mrs. Waldron gelesen? Und nunmehr weißt Du, auch ohne daß ich es Dir sage, wer Miß Gwilt ist?«

Er schwieg und betrachtete seinen Vater mit plötzlichem Erstaunen. Weit entfernt, durch die ihm so eben gemachte Mittheilung niedergeschmettert zu scheinen, wandte Mr. Baswoood sich nach der ersten Ueberraschung mit einer Ruhe zu seinem Sohne, die unter den Umständen ans Wunderbare grenzte. Seine Augen glänzten mit neuer Klarheit, neue Farbe glühte auf seinen Wangen. Wäre so etwas bei einem Manne in seiner Lage denkbar gewesen, so hätte man fast annehmen können, daß das so eben Gehörte, anstatt ihn niederzudrücken, ihn vielmehr erhoben hätte. »Fahre fort, Jemmy«, sagte er ruhig, »ich bin einer von den Wenigen, die von jenem Proceß nichts lasen, sondern nur davon hörten.«

Bashwood der Jüngere bemeisterte seine innerliche Verwunderung und fuhr fort:

»Du bist immer hinter Deiner Zeit zurückgeblieben und wirst es ewig bleiben. Wenn wir zu dem Proceß kommen, kann ich Dir davon erzählen, was Du zu wissen brauchst. Inzwischen müssen wir zur Baronin und Mr. Waldron zurückkehren. Einige Abende ließ der Engländer den Schwindlern freies Spiel, mit andern Worten, er bezahlte für das Privilegium, sich bei Miß Gwilt angenehm zu machen. Als er den nothwendigen Eindruck auf sie gemacht zu haben glaubte, stellte er die ganze Schwindlerbande ohne Barmherzigkeit an den Pranger. Die Polizei legte sich ins Mittel, die Baronin sah sich im Gefängniß, und Miß Gwilt hatte zu wählen, ob sie Mr. Waldron? Schutz annehmen oder sich wieder in die Welt hinausgestoßen sehen wollte. Sie war erstaunlich tugendhaft oder erstaunlich schlau, wie Du es eben nehmen willst. Zu Mr. Waldron’s Erstaunen erklärte sie ihm, daß die Aussicht, wieder in die Welt hinausgestoßen zu werden, sie nicht erschrecke, und daß er sich ihr entweder mit ehrenvollen Absichten nahen oder sie auf immer verlassen müsse Das Ende davon war, was es immer sein wird, wenn ein Mann verliebt und ein Weib entschlossen ist. Zur großen Entrüstung seiner Familie und all seiner Angehörigen machte Mr. Waldron aus der Noth eine Tugend und heirathete sie.«

»Wie alt war er?« fragte Bashwood der Aeltere begierig.

Bashwood der Jüngere lachte laut auf. »Er war ungefähr alt genug, Papachen, um Dein Sohn sein zu können, und reich genug, um Dein kostbares Taschenbuch von Tausendpfundnoten bersten zu lassen. Hänge nicht den Kopf! Trotz seiner Jugend und seines Reichthums war die Ehe indeß keineswegs glücklich. Sie lebten im Auslande und wurden anfangs ziemlich gut mit einander fertig. Natürlich machte er, sowie er sich verheirathete, unter dem Einflusse der Flitterwochenzärtlichkeit ein neues Testament. Aber gleich andern Dingen verlieren die Frauen mit der Zeit den Reiz, welchen die Neuheit ihnen verlieh, und Mr. Waldron erwachte eines schönen Morgens mit dem Gedanken, ob er nicht ein Narr gewesen sei. Er war ein Mann von häßlichem Temperamente, er war mit stch selbst unzufrieden und ließ feine Frau dies natürlich fühlen. Nachdem er damit begonnen, sich mit ihr zu zanken, kam er allmälig dahin, sie zu beargwöhnen, und ward wüthend eifersüchtig auf jedes männliche Wesen, das sich im Hause blicken ließ. Hindernisse in der Gestalt von Kindern standen ihnen nicht im Wege, sodaß sie von einem Orte zum andern ziehen konnten, wie seine Eifersucht es ihm eben eingab, bis sie endlich, nachdem sie nahezu vier Jahre verheirathet gewesen, nach England zurückkehrten. Er besaß auf den Haiden von Yorkshire ein einsames altes Landhaus und dort sperrte er sich mit seiner Frau ein, von allem Verkehr, außer dem mit seiner Dienerschaft und seinen Hunden, völlig abgeschnitten. Diese Behandlung einer lebhaften jungen Frau konnte nur ein Resultat haben. Sei es Verhängniß oder sei es Zufall, aber wenn je ein Weib verzweifelt, ist sicherlich ein Mann zur Hand, der es benutzt. Der Mann in unserm Falle war ein dunkles Roß, wie man auf der Rennbahn spricht. Es war ein gewisser Kapitän Manuel, aus Cuba zu Hause und seiner eigenen Angabe nach ehemals Offizier in der spanischen Marine. Er hatte die Bekanntschaft von Mr. Waldron’s schöner Gattin auf ihrer Heimreise nach England gemacht; es war ihm gelungen, trotz der Eifersucht ihres Gatten ihr zu nahen, und er war ihr nach dem Orte ihrer Gefangenschaft in Mr. Waldron’s altem Hause auf der Haide gefolgt. Der Kapitän wird als ein gescheidter, entschlossener Mann dargestellt, als einer vom verwegenen Piratenschlage mit einem Anfluge vom Geheimnißvollen, der den Weibern gefällt ——«

»Sie gleicht den andern Frauen nicht!« sagte Mr. Bashwood plötzlich seinen Sohn unterbrechend »Fand sie ———« Seine Stimme versagte ihm den Dienst und er brach ab, ohne seine Frage zu vollenden. »Fand sie Gefallen an dem Kapitän?« ergänzte Bashwood der Jüngere, abermals laut auflachend. »«Nach ihrer eigenen Angabe vergötterte sie ihn. Zugleich aber war ihr Verhalten, wie sie es selbst darstellt, vollkommen unschuldig. Wenn man bedenkt, wie sorgfältig ihr Gemahl sie bewachte, so muß man, wie unglaublich dies auch scheinen mag, fast annehmen, daß diese ihre Angabe wahr war. Etwa sechs Wochen lang begnügten sie sich mit einem heimlichen Briefwechsel, da es dem Kapitän gelungen war, eins der Dienstmädchen des Hauses zur Zwischenträgerin zu machen. Wir brauchen uns nicht mit Muthmaßungen darüber aufzuhalten, wie die Geschichte hätte enden können —— Mr. Waldron führte selbst die Katastrophe herbei. Ob ihm von dem heimlichen Briefwechsel etwas zu Ohren kam, läßt sich mit Gewißheit nicht entnehmen. So viel steht aber fest, daß er eines Tages wüthender als gewöhnlich von seinem Spazierritt nach Hause kam, daß seine Gattin ihm von dem Uebermuthe eine Probe gab, den er in ihr nicht erdrücken konnte, und daß er ihr schließlich mit der Reitpeitsche ins Gesicht schlug. Ein ungentlemännisches Benehmen, wie ich leider zugeben muß, indeß allem äußern Anscheine nach brachte die Reitpeitsche eine erstaunliche Wirkung hervor. Von jenem Augenblicke an war die Dame so unterwürfig, wie man sie früher nie gesehen hatte. Vierzehn Tage lang that Waldron, was ihm beliebte, und sie widersetzte sich ihm nie; er sagte, was ihm gefiel, und sie äußerte kein Wort der Gegenrede. Wohl Manche hätten geargwöhnt, daß sich unter dieser plötzlichen Besserung etwas Gefährliches verstecke. Ob Mr. Waldron dies that, kann ich nicht sagen. Alles, was man darüber weiß, ist, daß er, ehe noch die Schwielen im Gesichte seiner Frau verheilt waren, erkrankte und zwei Tage darauf starb. Was sagst Du dazu?«

»Ich sage, daß er es verdiente!« erwiderte Mr. Bashwood, in höchster Aufregung mit der Hand auf den Tisch schlagend, als sein Sohn in seiner Erzählung innehielt und ihn ansah.

»Der Arzt, der den Sterbenden behandelte, war nicht Deiner Ansicht«, bemerkte Bashwood der Jüngere trocken. »Er berief noch zwei andere Aerzte und alle drei weigerten sich einen Todtenschein zu geben. Die übliche gerichtliche Untersuchung erfolgte. Das Zeugnis der Aerzte und das der Dienstboten wies unwiderstehlich auf einen und denselben Punkt und Mrs. Waldron ward auf die Anklage, ihren Mann durch Gift getödtet zu haben, Verhaftet. Ein Rechtsanwalt ersten Ranges wurde aus London herbeibeschieden, um die Vertheidigung der Gefangenen zu leiten, und diese Instructionen gestalteten sich demgemäß. Was gibt’s? Was willst Du jetzt?«

Mr. Bashwood hatte sich plötzlich erhoben, die Arme über den Tisch hingestreckt und suchte seinem Sohne die Papiere wegzunehmen. »Ich möchte sie sehen«, rief er begierig. »Ich möchte sehen, was über den Kapitän aus Cuba darin steht. Verlaß Dich darauf, Jemmy, daß er die Geschichte angezettelt hatte. Ich wollte darauf schwören!«

»Das bezweifelte Niemand, der damals den Fall kannte«, erwiderte sein Sohn. »Aber Niemand konnte es beweisen. Setze Dich wieder, mein Alter, und fasse Dich. Ueber Kapitän Manuel steht hier nichts weiter als die Verdachtsgründe des Advocaten in Betreff seiner, nach denen der Anwalt nach Belieben verfahren konnte. Mrs. Waldron hat den Kapitän von Anfang bis zu Ende vertheidigt. Gleich anfangs machte sie freiwillig zwei Angaben, welche ihr Anwalt beide für unwahr hielt. Erstens erklärte sie sich für unschuldig an dem Verbrechen; darüber war er natürlich nicht erstaunt, denn in dieser Beziehung pflegten seine Clienten ihn meistens zu hintergehen. Zweitens behauptete sie, während sie ihren Briefwechsel mit dem Kapitän zugab, daß dieser sich einzig und allein auf eine von ihm beabsichtigte Entführung bezogen, in die sie infolge der barbarischen Behandlung ihres Gatten zu willigen geneigt gewesen sei. Natürlich verlangte der Advocat die Briefe zu sehen. »Er hat alle meine Briefe verbrannt, wie ich die seinigen«, war die einzige Antwort, die er erlangen konnte. Es war sehr wohl möglich, daß Kapitän Manuel, als er gehört, daß eine Leichenschau in ihrem Hause stattgefunden habe, ihre Briefe verbrannt hatte. Allein der Rechtsanwalt hatte die Erfahrung gemacht, die auch ich gemacht habe, daß ein Weib, das einen Mann liebt, in neunundneunzig Fällen unter hundert seine Briefe aufbewahrt, mag dies nun gefährlich für sie sein oder nicht. Nachdem einmal so sein Argwohn rege geworden war, zog er heimlich Erkundigungen über den fremden Kapitän ein und brachte heraus, daß dieser sich in der allergrößten Geldverlegenheit befand. Zu gleicher Zeit fragte er seine Clientin wegen ihrer Erbschaftserwartungen von ihrem verstorbenen Gemahl. In größter Entrüstung antwortete sie ihm, daß sich unter den Papieren ihres Gatten ein wenige Tage vor seinem Tode heimlich aufgesetztes Testament befunden habe, demzufolge ihr von seinem ganzen ungeheuren Vermögen nur fünftausend Pfund zufallen sollten! »War etwa ein älteres Testament vorhanden«, fragte der Advocat, »das durch das neue widerrufen worden ist?« Allerdings, ein Testament, das er ihrem eigenen Gewahrsam anvertraut habe und das kurz nach ihrer Verheirathung abgefaßt worden sei. »In dem er seine Wittwe wohl versorgte?« —— »In dem er ihr gerade zehnmal so viel vermachte als in dem zweiten« —— »Hatte sie jenes ersten, jetzt widerrufenen Testaments jemals gegen Kapitän Manuel Erwähnung gethan?« Sie sah die Schlinge, die man ihr mit dieser Frage legte, und antwortete, ohne einen Augenblick zu zögern: »Nein, niemals!« Diese Antwort bestärkte den Advocaten in seinem Verdachte. Er suchte sie durch die Versicherung zu erschrecken, daß sie möglicherweise mit dem Leben dafür zu büßen haben könne, wenn sie ihn hinterginge, allein mit weiblicher Hartnäckigkeit blieb sie bei ihrer Behauptung. Der Kapitän benahm sich seinerseits musterhaft. Er gestand das Entführungsproject, erklärte, aus Rücksicht für den Ruf der Dame alle ihre Briefe verbrannt zu haben, blieb in der Nachbarschaft und erbot sich, vor Gericht zu erscheinen. Nichts wurde entdeckt, wonach er gesetzlicherweise mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht oder am Tage des Verhörs in einer andern Eigenschaft als der eines Zeugen vor Gericht beschieden werden konnte. Ich selbst bin der Ansicht, kein moralischer Zweifel kann darüber obwalten, daß Manuel von dem Testamente wußte, welches seiner Geliebten fünfzigtausend Pfund vermachte, und daß er dieses Umstandes wegen vollkommen bereit war, sie nach Mr. Waldron’s Tode zu heirathen. Wenn irgend ein Mensch sie dazu verleitete, sich ihre Freiheit zu verschaffen indem sie sich selbst zur Wittwe machte, so kann dies nur der Kapitän gewesen sein. Und wenn es ihr bei der Bewachung und Beobachtung, die sie umgaben, nicht möglich war, sich das Gift selbst zu verschaffen, so muß dieses ihr in einem Briefe von dem Kapitän zugegangen sein.«

»Ich glaube nicht, daß sie Gebrauch von dem Gifte gemacht, selbst wenn es ihr zugeschickt worden wäre!« rief Mr. Bashwood. »Ich glaube, daß der Kapitän selbst ihren Gatten vergiftet hat!«

Ohne auf die Unterbrechung zu achten, legte Bashwood der Jüngere die Vertheidigungsacten zusammen, die jetzt ihrem Zwecke gedient hatten, that sie wieder in die Handtasche und nahm statt ihrer eine gedruckte Flugschrift heraus.

»Hier ist einer der über den Proceß veröffentlichten Berichte«, sagte er, »den Du lesen kannst, wenn Du Zeit dazu hast. Es ist unnöthig, uns jetzt bei den Einzelheiten aufzuhalten. Ich habe Dir bereits gesagt, wie geschickt ihr Anwalt diese Anklage des Mordes als eine Complication der mannichfachen Leiden behandelte, die ein unschuldiges Weib betroffen. Die beiden Punkte, auf die (nach diesem vorläufigen Trompetenstoß) die Vertheidigung sich stützte, waren: erstens, daß kein Beweis existierte, daß sie im Besitze von Gift gewesen sei; zweitens, daß die ärztlichen Zeugen, während sie entschieden erklärten, ihr Gatte sei durch Gift getödtet worden, in ihrer Ansicht über das specielle Gift, an dem er gestorben, von einander abwichen. Beides gute Punkte, die zugleich beide aufs beste benutzt wurden; allein das Zeugniß der andern Seite warf Alles um. Es ward bewiesen, daß die Gefangene nicht weniger als drei vortreffliche Beweggründe gehabt habe, ihren Gatten zu tödten. Er hatte sie mit fast beispielloser Grausamkeit behandelt, er hatte sie in einem, soviel ihr bekannt, nicht widerrufenen Testamente zur Erbin eines beträchtlichen Vermögens eingesetzt und sie, ihrer eigenen Angabe nach, von einem andern Manne sich entführen lassen wollen. Nachdem der Kronanwalt diese Beweggründe geltend gemacht hatte, führte er zunächst den Beweis, der in keiner Weise auch nur einen Augenblick angegriffen wurde, daß die einzige Person im Hause, welche dem Verstorbenen möglicherweise das Gift beigebracht haben könne, die Gefangene vor den Schranken sei. Was konnten Richter und Geschworene bei solchem Zeugnisse thun? Das Verdict lautete: »Schuldig«, wie sich dies von selbst verstand, und der Richter erklärte, daß er mit demselben übereinstimme Der weibliche Theil der im Saale Versammelten verfiel fast in Krämpfe, und mit dem männlichen war es wenig besser. Der Richter schluchzte und die Herren Juristen schauderten. Inmitten einer Scene, wie man sie noch nie in einem englischen Gerichtshofe erlebt hatte, ward sie zum Tode verurtheilt. Und sie ist in diesem Augenblicke munter und gesund am Leben, frei, um jedes ihr beliebige Unheil anzustiften und nach Bequemlichkeit jeden Mann, jedes Weib oder Kind zu vergiften, die ihr etwa im Wege sind. Ein höchst interessantes Frauenzimmer! Sieh zu, daß Du in freundschaftlichen Beziehungen mit ihr bleibst, mein werther Alter, denn das Gesetz hat mit den deutlichsten Worten zu ihr gesagt: »Meine bezaubernde Freundin, ich habe keine Schrecken für Dich!«

»Wie kam es, daß sie begnadigt wurde?« fragte Mr. Bashwood athemlos. »Ich habe es damals gehört, aber es ist mir entfallen. Ist sie durch den Minister des Innern begnadigt worden? Dann achte ich den Minister des Innern, dann erkläre ich den Minister des Innern für einen Mann, der seiner Stellung würdig ist.«

»Ganz recht, alter Herr!« erwiderte Bashwood der Jüngere. »Der Minister des Innern war der gehorsame, ergebene Diener einer aufgeklärten, freien Presse und in der That seiner Stelle würdig. Ist es möglich, daß Du nicht weißt, wie sie den Galgen um sein Recht betrog? Dann muß ich es Dir erzählen. Am Abende nach dem Verhör gingen zwei oder drei von den literarischen jungen Buccaniern nach zwei oder drei Zeitungsbureaur und schrieben ein paar herzzerreißende Leitartikel über das Verfahren des Gerichtshofs. Am nächsten Morgen fing das Publikum Feuer wie Zunder, und die Gefangene ward in den Zeitungsspalten von einem Dilettantengerichte zum zweiten Male vernommen. Alle Leute, die in der Sache keine persönliche Erfahrung hatten, ergriffen die Feder und warfen sich mit gütiger Erlaubniß der Redacteure auf die Presse. Aerzte, die den Kranken nicht behandelt hatten und bei der Untersuchung des Leichnams nicht zugegen gewesen waren, erklärten zu Dutzenden, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Advoeaten ohne Clienten, die das Zeugniß nicht gehört hatten, griffen die Geschworenen an, welche es deutlich vernommen, und richteten den Richter, der schon zu Gericht gesessen hatte, ehe viele von ihnen noch geboren waren. Das große Publikum folgte dem Beispiele der Advocaten und der Aerzte und der jungen Buccanier, welche die Sache in Gang gebracht. Das Gesetz, das sie alle bezahlten, damit es sie beschütze, war wirklich in schrecklichem Ernste auf dem Punkte, seine Schuldigkeit zu thun! Gräßlich! Gräßlich! Das britische Publikum erhob sich in Masse gegen die Thätigkeit seiner eigenen Maschine, und der Minister des Innern begab sich in einem Zustande der Verzweiflung zum Richter. Der Richter blieb fest. Er habe damals gesagt, das Verdict sei gerecht, und er sage dies noch jetzt. »Aber gesetzt«, sprach der Minister des Innern, »die Anklage hätte andere Mittel und Wege gewählt, um sie schuldig zu finden, was würden Sie und die Geschworenen dann gethan haben?« Dies konnte natürlich der Richter nicht sagen. Sofort war dies ein Trost für den Minister des Innern. Und als er danach die Zustimmung des Richters erlangte, das streitige ärztliche Zeugniß einem einzigen großen Arzte zur Prüfung vorzulegen, und als dieser eine große Arzt die Sache vom Standpunkte des Mitleids auffaßte, nachdem er zuvor ausdrücklich zu verstehen gegeben hatte, daß er factisch gar nichts von der Sachlage wisse, da war der Minister des Innern vollkommen zufrieden gestellt. Das Todesurtheil spazierte in den Papierkorb, das Urtheil des Gesetzes ward allgemeiner Bestimmung zufolge umgestoßen, und das der Zeitungen behielt den Sieg. Aber das Beste kommt noch. Du erinnerst Dich, was geschah, als das Volk den Lieblingsgegenstand seiner Theilnahme plötzlich freigelassen sah? Allgemein herrschte die Ansicht, daß sie doch eigentlich nicht unschuldig genug sei, um sofort aus dem Gefängnisse entlassen werden zu können. »Strafen Sie sie etwas«, meinte das Volk, »Herr Minister, strafen Sie sie etwas, der Sittlichkeit wegen. Eine milde gerichtlich-medicinische Behandlung, wenn Sie uns den Gefallen thun wollen, und dann werden wir uns für immer über die Sache beruhigt fühlen«

»Scherze nicht darüber!« rief sein Vater. »Ich bitte Dich, Jemmy, scherze nicht darüber! Ward sie einem zweiten Verhöre unterworfen? Das konnten sie nicht, das durften sie nicht wagen! Niemand kann zweimal wegen ein und desselben Vergebens vernommen werden!«

»Bah, bah! Sie konnte sehr wohl zum zweiten Male für ein und dasselbe Vergehen vernommen werden«, entgegnete Bashwood der Jüngere, »und sie ward es. Zum Glück hatte sie zur Beruhigung des Publikums nach Frauenweise eilig das ihr angethane Unrecht selbst wieder gut zu machen gesucht, als sie fand, daß ihr Gatte sie durch einen Federstrich von einer Erbschaft von fünfzigtausend Pfund auf fünftausend reducirt hatte. Am Tage vor der Leichenschau ward die Entdeckung gemacht, daß eine verschlossene Schublade in Mr. Waldrons Schreibtische, in der sich kostbare Juwelen befunden, erbrochen und geleert worden war, und als die Wittwe Verhaftet wurde, fand man die kostbaren Steine, aus ihrer Fassung gebrochen, in ihr Corset eingenäht. Die Dame betrachtete dies als eine rechtmäßige Selbstentschädigung. Das Gesetz erklärte es für einen Raub an den Administratoren des Verstorbenen. Das geringere Vergehen, welches bei einer Anklage wie der des Mordes gegen sie außer Betracht gezogen worden, war gerade das, was in den Augen des Publikums den Schein retten konnte. Bei dem einen Proceß hatte man den Gang der Gerechtigkeit gehemmt, jetzt lag nun Alles daran, bei diesem zweiten Processe der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen. Vom Morde freigesprochen, wurde die Dame wegen Raubes angeklagt. Und noch mehr, wenn ihre Schönheit und ihr Unglück nicht einen tiefen Eindruck auf ihren Advocaten gemacht hätten, würde sie nicht nur noch eine zweite Untersuchung zu bestehen gehabt haben, sondern auch durch die Krone der fünftausend Pfund beraubt worden sein, zu denen sie nach dem zweiten Testamente berechtigt war.«

Ich achte ihren Advocaten, ich bewundere ihren Advocaten!« rief Mr. Bashwood »Ich möchte ihn die Hand drücken und ihm dies sagen.«

»Er würde Dir dafür nicht danken« , bemerkte Bashwood der Jüngere. »Er lebt in dem gemüthlichen Wahne, daß außer ihm selbst kein Mensch weiß, wie er Mrs. Waldron das Legat rettete.«

»Ich bitte um Vergebung, Jemmy«, unterbrach ihn sein Vater, aber nenne sie nicht Mrs. Waldron. Sprich von ihr wie von dem unschuldigen jungen Mädchen, das sie war, als sie die Schule besuchte. Würde es Dir etwas verschlagen, sie mir zu Liebe Miß Gwilt zu nennen?«

»Durchaus nicht! Es verschlägt mir gar nichts, welchen Namen ich ihr gebe. Zum Henker mit Deinen Gefühlen! Laß uns mit den Thatsachen weitergehen. Ehe die zweite Untersuchung stattfand, that der Advocat Folgendes Er sagte ihr, ganz sicherlich werde sie zum zweiten Male schuldig befunden werden. »Und diesmal«, meinte er, »wird das Publikum das Gesetz seinen Lauf nehmen lassen. Haben Sie irgend einen alten Freund, in den Sie volles Vertrauen setzen können?« In der ganzen Welt hatte sie keinen solchen alten Freund. »Sehr gut«, sagte der Advocat, »dann müssen Sie mir vertrauen. unterschreiben Sie dieses Papier; es ist ein fingierter Verkauf all Ihres Eigenthums an mich. Wenn der rechte Augenblick kommt, werde ich zuerst aufs vorsichtigste mit den Executoren Ihres Gatten abschließen und dann das Geld wieder auf Sie übertragen und es, für den Fall, daß Sie sich jemals wieder verheiratheten, ausschließlich Ihnen sichern. Die Krone gibt in derartigen Angelegenheiten häufig ihr Recht auf, die Gültigkeit des Verkaufs zu bestreiten, und verfährt sie nicht härter gegen Sie als gegen andere Leute, so werden Sie, wenn Sie das Gefängniß verlass en, Ihre fünftausend Pfund haben, um das Leben von neuem beginnen zu können!« Sehr niedlich von dem Advocaten, ihr, da sie eben wegen Raubes an den Executoren in Untersuchung genommen werden sollte, den Weg zu zeigen, um die Krone zu betrügen, nicht wahr? Ha, ha, hat Welch eine Welt!«

Dieser letzte Spott blieb von dem Vater unbeachtet. »Im Gefängnisse!« sprach er vor sich hin. »O mein Gott, nach all dem Elend nochmals im Gefängnisse!«

»Ja«, sagte Bashwood der Jüngere, indem er aufstand und sich dehnte und streckte, »so endete die Sache. Der Richtspruch lautete: »Schuldig« und das Urtheil war zweijährige Gefangenschaft. Sie diente ihre Zeit ab und kam, so gut ich es zu berechnen vermag, vor etwa drei Jahren aus der Gefangenschaft. Willst Du wissen, was sie that, als sie ihre Freiheit wiedererlangte und wie sie darauf lebte, so kann ich Dir ein andermal, vielleicht wenn Du wieder ein paar Banknoten in der Tasche hast, wohl etwas davon erzählen. Für jetzt weißt Du alles, was Du zu wissen brauchst. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß diese bezaubernde Dame den doppelten Schimpf an sich trägt, des Mordes schuldig befunden und wegen Diebstahls eingesperrt gewesen zu sein. Da hast Du Dein Aequivalent für Dein Geld und meine wunderbare Geschicklichkeit, eine Sache klar darzulegen, noch mit in den Kauf. Hast Du nur eine Spur von Dankbarkeit in Dir, so solltest Du eines Tages etwas Ansehnliches für Deinen Sohn thun. Ich will Dir sagen, was Du gethan hättest, wenn Du mich nicht gehabt, alter Herr. Du würdest, hättest Du gekonnt, wie Du wolltest, Miß Gwilt geheirathet haben.«

Mr. Bashwood stand auf und sah seinem Sohne fest ins Gesicht.

»Wenn ich könnte, wie ich wollte«, sagte er, »so würde ich sie jetzt heirathen.«

Bashwood der Jüngere trat einen Schritt zurück. »Nach alledem, was ich Dir erzählt habe?« fragte er in äußerstem Erstaunen.

»Noch alledem, was Du mir erzählt hast.«

»Mit der Aussicht, das erste Mal, daß Du sie beleidigt hättest, vergiftet zu werden?«

»Mit der Aussicht«, erwiderte Mr. Bashwood, »nach vierundzwanzig Stunden vergiftet zu werden.«

Der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs sank, von den Worten und den Blicken seines Vaters überwältigt, in seinen Sessel zurück.

»Verrückt!« sprach er für sich. »Toll und verrückt, beim Teufel!«

Mr. Bashwood sah nach seiner Uhr und nahm eiligst seinen Hut von einem Nebentische.

»Ich möchte auch noch das Weitere hören«, sagte er; »ich möchte jedes Wort von dem hören, was Du mir noch von ihr erzählen kannst. Aber die Zeit, die schrecklich galoppiren Zeit verstreicht. Soviel ich weiß, können sie schon in diesem Augenblicke auf dem Wege sein, ihre Heirath zu vollziehen!«

»Was hast Du vor?« fragte Bashwood der Jüngere, sich zwischen seinem Vater und der Thür aufstellend.

»Ich will mich nach dem Gasthofe begeben«, sagte der Vater, indem er an ihm vorbeizukommen versuchte. »Ich will Mr. Armadale aussuchen.«

»Wozu?«

»Um ihm Alles mitzutheilen, was Du mir erzählt hast.« Das fürchterliche Lächeln des Triumphes, das sich schon einmal in seinem Gesichte gezeigt, umspielte abermals seine Lippen. »Mr. Armadale ist jung; er hat noch sein ganzes Leben vor sich«, flüsterte er pfiffig, indem seine zitternden Finger den Arm seines Sohnes umkrallten. »Das, was für mich keine Schrecken hat, wird ihn erschrecken!«

»Warte einen »Augenblick«, sagte Bashwood der Jüngere. »Bist Du noch immer ganz sicher, daß Armadale der Mann ist?«

»Welcher Mann?«

»Der Mann, der sie zu heirathen im Begriff steht.« »Ja, ja, ja! Laß mich gehen, Jemmy, laß mich gehen!«

Der Spion lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür und überlegte einen Augenblick. Mr. Armadale war reich. Mr. Armadale, wenn er nicht auch toll und verrückt war, mochte dazu zu bewegen sein, daß er einer Auskunft, die ihn vor der Schande bewahrte, Miß Gwilt zu heirathen den rechten Geldwerth beilegte. »Wenn ich selbst handle, kann mir die Sache hundert Pfund eintragen«, dachte Bashwood der Jüngere. »Und keinen Heller, wenn ich es meinem Vater überlasse.« Er nahm seinen Hut und seine Ledertasche. »Kannst Du das Alles in Deinem eigenen verdrehten alten Kopfe allein tragen, Väterchen?« fragte er mit seiner unbefangensten Frechheit. »Ganz gewiß nicht! Ich will mit Dir gehen und Dir helfen. Was meinst Du dazu?«

Voll Entzücken umschlang der Vater seinen Sohn. »Ich kann mir nicht helfen, Jemmy«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Du bist so gut gegen mich. Nimm die andere Banknote, mein Sohn, ich will schon ohne sie fertig werden! Nimm die andere Banknote!«

Der Sohn stieß die Thür mit einem Schwunge auf und wandte der dargebotenen Banknote großmuthsvoll den Rücken. »Zum Henker, alter Herr! So habsüchtig bin ich doch nicht«, sagte er mit einer Miene des tiefsten Gefühls. »Stecke Dein Taschenbuch ein und laß uns machen, daß wir fortkommen. Wie kann ich wissen«, dachte er bei sich, während sie die Treppe hinuntergingen, »ob er nicht, nähme ich ihm jetzt seine letzte Fünfpfundnote, die Hälfte verlangt, wenn er Mr. Armadale’s Geld sieht? Komm, Alter!« fuhr er laut fort. »Wir wollen einen Fiaker nehmen und den glücklichen Bräutigam abfangen, ehe er nach der Kirche fährt!«

Sie riefen auf der Straße einen Fiaker an und fuhren nach dem Gasthofe, in dem Midwinter und Allan während ihres Aufenthalts in London logiert hatten. Sowie sich die Wagenthür hinter ihnen geschlossen hatte, nahm Mr. Bashwood die Unterhaltung über Miß Gwilt wieder auf.

»Erzähle mir das Weitere«, sagte er, die Hand seines Sohnes fassend und sie zärtlich streichelnd »Laß uns während der ganzen Fahrt nach dem Hotel von ihr sprechen. Hilf mir über die Zeit hinweg, Jemmy, hilf mir über die Zeit hinweg.«

Bashwood der Jüngere war durch die Aussicht, mit Mr. Armadales Gelde Bekanntschaft zu machen, in der vortrefflichsten Laune. Bis zuletzt spielte er mit seines Vaters sorgenvoller Aufregung.

»Laß sehen, ob Du Dich des Dir schon Erzählten noch erinnerst«, begann er. »In der Geschichte ist eine Persönlichkeit, die aus derselben ganz und unerklärt verschwunden ist. Nun, kannst Du mir sagen, wer das ist?«

Er hatte darauf gerechnet, daß sein Vater dies nicht beantworten könne. Aber Mr. Bashwood’s Gedächtniß war über Alles, was mit Miß Gwilt in Verbindung stand, ebenso scharf und klar wie das seines Sohnes. »Der ausländische Schurke«, sagte er, ohne einen Augenblick zu zaudern, »der sie in die Versuchung führte und sich dann mit Gefahr ihres Lebens von ihr schützen ließ. Sprich nicht von ihm, Jemmy, sprich nicht wieder von ihm!«

»Ich muß von ihm sprechen«, erwiderte der Andere. »Du möchtest wissen, was aus Miß Gwilt ward, nachdem sie das Gefängniß verlassen, nicht wahr? Sehr gut, ich bin in der Lage, Dir dies zu erzählen. Sie ward Mrs. Manuel. Es nützt gar nichts, daß Du mich so anstierst, alter Herr. Ich weiß dies officiell. Zu Ende des vorigen Jahres kam eine ausländische Dame mit Zeugnissen auf unser Comptoir, um zu beweisen, daß sie sich früher, als er zum ersten Male in London gewesen, gesetzlich mit Kapitän Manuel verheirathet hätte. Sie hatte erst kürzlich die Entdeckung gemacht, daß er sich abermals in diesem Lande aufgehalten, und hatte Grund zu glauben, daß er sich in Schottland mit einer andern Frau verheirathet habe. Unsere Leute mußten die erforderlichen Erkundigungen einziehen. Ein Vergleich der Daten ergab, daß die schottische Verbindung, wenn es überhaupt eine Heirath und nicht ein Betrug war, genau um die Zeit stattgefunden hatte, wo Miß Gwilt ihre Freiheit wiedererlangt, und einige weitere Nachforschung lehrte uns, daß die zweite Mrs. Manuel Niemand anders war als die Heldin des berüchtigten Criminalfalls, von der wir damals nicht wußten, wohl aber jetzt, daß sie mit Deiner bezaubernden Freundin Miß Gwilt eine und dieselbe Person ist.«

Mr. Bashwood ließ das Haupt auf die Brust sinken. Er preßte seine zitternden Hände fest zusammen und wartete schweigend auf das Ende der Erzählung.

»Muth gefaßt!« fuhr sein Sohn fort. »Sie war ebenso wenig mit dem Kapitän verheirathet wie Du, und was noch mehr, der Kapitän selbst ist Dir jetzt aus dem Wege geräumt. Seit sie das Gefängniß verlassen ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren —— hatte er Mrs. Manuel’s ganzes Vermögen von fünftausend Pfund vergeudet, und das einzige Erstaunliche blieb nur, woher er das Geld zu den Reisekosten genommen. Es erwies sich, daß er es von der zweiten Mrs. Manuel selbst erhalten hatte. Sie hatte seine Taschen gefüllt und wartete dann geduldig in einer erbärmlichen Londoner möblierten Wohnung, bis sie von ihm hören werde, daß er sich sicher im Auslande niedergelassen habe und sie zu ihm kommen solle. Du wirst die ziemlich natürliche Frage thun, wo sie das Geld herbekommen? Dies konnte damals Niemand sagen. Meine Ansicht ist jetzt die, daß sich ihre ehemalige Herrin noch am Leben befand und sie endlich im Stande war, aus ihrer Kenntniß des Blanchard’schen Familiengeheimnisses Geld zu machen. Dies ist natürlich eine bloße Vermuthung, aber ein Umstand steht damit in Verbindung, der dieselbe meiner Ansicht nach zu einer ziemlich begründeten macht. Sie hatte damals eine ältliche Freundin, die gerade die Person dazu war, die Adresse ihrer ehemaligen Herrin auszukundschaften. Kannst Du den Namen dieser ältlichen Freundin errathen? Ganz gewiß nicht! Nun, sie heißt Mrs. Oldershaw!«

Mr. Bashwood blickte plötzlich auf. »Warum wäre sie wohl zu dem Weibe zurückgekehrt, das sie in der Kindheit verlassen hatte?« fragte er.

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte der Sohn, »es sei denn, daß sie im Interesse ihres prachtvollen Haares zu ihr gegangen. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß die Gefängnißscheere mit Miß Gwilt’s Locken sehr energisch verfahren war, und Mrs. Oldershaw, erlaube ich mir zu bemerken, ist die ausgezeichnetste Wiederherstellerin von alternden weiblichen Köpfen und Gesichtern in ganz England. Rechne zweimal zwei zusammen und dann wirst Du mir in diesem Falle vielleicht beistimmen, daß dies vier macht.«

»Ja, ja, zweimal zwei macht vier«, wiederholte sein Vater ungeduldig. »Aber ich möchte noch eins wissen. Hat sie wieder von ihm gehört? Ließ er sie zu sich kommen, nachdem er ins Ausland gegangen war?«

»Der Kapitän? Ei, woran denkst Du! Hatte er nicht jeden Heller ihres Geldes durchgebracht, und befand er sich auf dem Festlande nicht außer ihrem Bereiche? Ich glaube wohl, daß sie von ihm zu hören hoffte, denn sie glaubte an ihn. Aber ich will jede beliebige Wette mit Dir eingehen, daß sie seine Handschrift niemals wiedersah. Wir thaten im Comptoir unser Möglichstes, ihr die Augen zu öffnen, wir sagten ihr geradezu, daß seine erste Frau am Leben sei und sie keine Spur von einem Anrechte an ihn besitze Sie wollte uns nicht glauben, wiewohl wir ihr die Beweise vorlegten. Halsstarrig, verdammt halsstarrig! Ich möchte behaupten, daß sie Monate lang wartete, ehe sie die Hoffnung aufgab, ihn wiederzusehen.«

Mr. Bashwood sah schnell seitwärts aus dem Wagenfenster hinaus. »Wo konnte sie nur zunächst eine Zuflucht suchen?« sagte er, nicht zu seinem Sohne, sondern für sich. »Was in aller Welt konnte sie anfangen?«

»Nach meiner Erfahrung in der Frauenwelt«, sagte der Sohn, der ihn gehört, »möchte ich zu behaupten wagen, daß sie versuchte, sich zu ertränken. Allein das ist eine bloße Vermuthung, ja in diesem Theile ihrer Geschichte ist Alles nur Vermuthung. Kommst Du zu Miß Gwilt’s Thun und Treiben während des Frühlings und Sommers des laufenden Jahres, Väterchen, so siehst Du mich am Ende meiner Kenntniß. Vielleicht ist sie verzweifelt genug gewesen, um einen Selbstmordversuch zu machen, oder auch nicht, und vielleicht war sie bei jenen Nachforschungen betheiligt, die ich für Mrs. Oldershaw anstellte. Du wirst sie heute Morgen wahrscheinlich sehen und, wenn Du Deinen Einfluß zu benutzen verstehst, vielleicht bewegen können, daß sie ihre Geschichte selbst vollends erzählt«

Noch immer aus dem Fenster sehend, legte Mr. Bashwood plötzlich die Hand auf den Arm seines Sohnes.

»Still! Still!« rief er in heftiger Aufregung. »Wir sind endlich angelangt. O,Jemmy, fühle nur, wie mir das Herz schlägt! Hier ist der Gasthof.«

»Der Henker hol’ Dein. Herz«, sagte Bashwood der Jüngere. »Warte hier, während ich Erkundigungen einziehe.«

»Ich will mit Dir gehen!« rief sein Vater. »Ich kann nicht warten! Ich sage Dir, ich kann nicht warten!«

Sie traten zusammen in den Gasthof und fragten nach Mr. Armadale.

Die Antwort lautete nach einigem Zögern und Verziehen, daß Mr. Armadale vor sechs Tagen abgereist sei. Ein zweiter Kellner fügte hinzu, daß Mr. Armadale’s Freund, Mr. Midwinter, erst diesen Morgen fortgegangen sei. Wo Mr. Armadale hingereist sei? Irgendwohin aufs Land. Wo Mr. Midwinter hingereist sei? Das wisse Niemand.

Mit sprachlosem Schrecken sah Bashwood seinen Sohn an.

»Unsinn!« sagte der jüngere Bashwood, seinen Vater wieder in den Fiaker schiebend. »Er ist uns sicher genug. Wir werden ihn bei Miß Gwilt finden.«

Der alte Mann faßte die Hand seines Sohnes und küßte sie. »Ich danke Dir, mein Sohn«, sagte er, »ich danke Dir für den Trost, den Du mir gibst.«

Der Fiaker fuhr darauf nach der Wohnung, die Miß Gwilt in der Nähe von Tottenham-Court-Road innegehabt.

»Bleibe hier«, sagte der Spion, seinen Vater im Wagen einsperrend. »Ich denke diesen Theil unseres Geschäfts allein abzumachen.«

Er klopfte an die Hausthür. »Ich habe einen Brief für Miß Gwilt«, sagte er, sowie die Thür sich öffnete, in den Gang eintretend.

»Die ist fort «, sagte das Dienstmädchen. »Sie ist gestern Abend abgereist.«

Bashwood der Jüngere vergeudete kein Wort weiter an das Dienstmädchen. Er verlangte ihre Herrin zu sehen. Die Herrin bestätigte die Angabe hinsichtlich Miß Gwilt’s gestern Abend geschehener Abreise. Wo sie hingereist? Das könne sie nicht sagen. Wie sie fortgegangen? Zu Fuße. Um welche Zeit? Zwischen neun und zehn Uhr. Was sie mit ihrem Gepäck angefangen? Sie habe kein Gepäck gehabt. Ob sie gestern ein Herr besucht? Von keiner Seele habe Miß Gwilt Besuch erhalten.

Das Gesicht des Vaters sah bleich und verstört zum Wagenfenster heraus, als der Sohn wieder die Stufen herabkam.

»Ist sie nicht da, Jemmy?« fragte er mit matter Stimme.

»Halte Dein Maul«, rief der Spion, dessen angeborene Rohheit endlich hervorbrach. »Noch bin ich mit meinen Nachforschungen nicht zu Ende.«

Er ging über die Straße und trat in ein Kaffeehaus, das dem so eben verlassenen Hause gerade gegenüber lag.

In dem Verschlag am Fenster befanden sich zwei Männer, die eifrig mit einander sprachen.

»Wer von Euch hatte gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr den Dienst?« fragte Bashwood der Jüngere, plötzlich zu ihnen tretend, mit einem schnellen, gebieterischen Flüstern.

»Ich, Sir«, sagte einer der Männer zögernd.

»Habt Ihr das Haus aus den Augen gelassen? Ja! Ich sehe es Euch an.«

»Nur auf einen Augenblick, Sir. Ein Verdammter Halunke von einem Soldaten kam hier herein ——«

»Genug«, sagte Bashwood der Jüngere. »Ich weiß, was der Soldat that und wer ihn dies thun hieß. Sie ist uns abermals entschlüpft. Ihr seid der größte Esel, den es gibt. Ihr könnt Euch als entlassen betrachten.« Mit diesen Worten und einem Fluche, um denselben Nachdruck zu verleihen, verließ er das Kaffeehaus und kehrte zum Fiaker zurück.

»Sie ist fort!« rief der Vater. »O Jemmy, Jemmy, ich sehe es Deinem Gesichte an!« Er sank mit einem jammervollen Schrei in eine Ecke des Wagens zurück. »Sie sind verheirathet,« stöhnte er vor sich hin, indem seine Hände machtlos auf seine Kniee sanken und der Hut ihm vom Kopfe fiel. »Thut ihnen Einhalt!« rief er, sich plötzlich aufraffend und seinen Sohn wüthend am Rockkragen packend.

»Fahrt zum Gasthofe zurück«, schrie Bashwood der Jüngere dem Kutscher zu. »Laß Dein Geschrei!« fügte er barsch zu seinem Vater gewendet hinzu. »Ich muß nachsinnen.«

Der glatte Firniß war jetzt ganz von ihm gewichen. Seine Leidenschaft war erregt. Sein Stolz —— selbst ein solcher Mensch besitzt seinen Stolz! —— war aufs tiefste verletzt Zweimal hatte er seine Schlauheit mit der eines Weibes gemessen, und zweimal war er von dem Weibe überlistet worden!

Als sie zum zweiten Male vor dem Gasthofe hielten, stieg er aus und suchte heimlich die Dienstboten zu bestechen. Der Erfolg dieses Experiments überzeugte ihn, daß sie diesmal in aller Wirklichkeit keinerlei Auskunft zu verkaufen hatten. Nach kurzem Nachsinnen blieb er stehen, ehe er den Gasthof verließ, und erkundigte sich nach dem Wege zur Kirche des Sprengels. »Es verlohnt sich vielleicht der Mühe, dies zu versuchen«, dachte er bei sich, während er dem Kutscher die Adresse angab. »Schneller!« rief er, nach seiner Uhr und dann seinen Vater ansehend. »Die Minuten sind heute Morgen kostbar und der Alte beginnt schwach zu werden.«

Dies war der Fall. Obgleich noch zu hören und zu verstehen fähig, war der ältere Bashwood doch jetzt außer Stande zu sprechen. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Widerstrebenden Arm seines Sohnes und ließ den Kopf auf dessen Schulter sinken.

Die Kirche des Sprengels stand von der Straße etwas zurück auf einem freien Platze, der von einem Eisengitter umgeben war und dessen Eingang ein eisernes Thor bildete. Der jüngere Bashwood machte sich von seinem Vater frei und ging geradeswegs in die Sakristei. Als er eintrat und bat, das Trauungsregister des Tages sehen zu dürfen, war Niemand zugegen als der Küster, der eben die Kirchenbücher verschließen wollte, und sein Gehilfe, der den Priesterrock aufhing.

Der Küster öffnete ernst das Buch und trat von dem Pulte zurück, auf dem dasselbe lag.

In dem Tagesregister standen drei Heirathen verzeichnet und die beiden ersten Namen auf der Seite waren: Allan Armadale —— Lydia Gwilt.

Selbst der Spion, obwohl er nichts von der Wahrheit ahnte, oder von den fürchterlichen Folgen, zu denen das an diesem Morgen Stattgefundene führen konnte, selbst der Spion fuhr erschrocken zurück, als sein Auge auf das Geschriebene fiel. Es war geschehen! Was auch danach kommen mochte —— es war geschehen. Da stand Schwarz auf Weiß die Heirath verzeichnet, die an sich eine Wahrheit, in den Schlußfolgerungen aber, zu denen sie Anlaß gab, eine Lüge war. Da stand durch die unglückselige Namensgleichheit in Midwinter’s eigener Handschrift der Beweis, der Jeden überzeugen mußte, daß nicht etwa Midwinter, sondern Allan Armadale Miß Gwilt’s Gatte sei.

Bashwood der Jüngere machte das Buch zu und gab es dem Küster zurück. Die Hände ärgerlich in die Taschen steckend und in seiner Selbstachtung ernstlich erschüttert, stieg er die Stufen der Sakristei hinab.

An der Kirchenmauer traf er den Kirchendiener. Einen Augenblick überlegte er, ob es einen Schilling werth wäre, den Mann auszufragen, dann entschied er sich dafür. Konnte man ihre Spur finden und sie einholen, so war noch immer eine Möglichkeit vorhanden, mit Mr. Armadale’s Geld Bekanntschaft zu machen.

»Wie lange ist es her«, fragte er, »seit ds erste Paar, das hier heute Morgen getraut worden ist, die Kirche verlassen hat?«

»Ungefähr eine Stunde«, sagte der Kirchendiener.

»Wie verließen sie die Kirche?«

Der Kirchendiener verschob die Antwort auf diese Frage, bis er sein Honorar in die Tasche gesteckt hatte. »Sie werden ihre Spur von hier nicht verfolgen können, Sir«, sagte er, sowie er seinen Schilling erhalten. »Sie gingen zu Fuße fort.«

»Und mehr wissen Sie nicht?«

»Das ist Alles, Sir, was ich darüber weiß.«

Als er allein war, zauderte selbst der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs einen Augenblick, bevor er zu seinem vor dem Thore wartenden Vater zurückkehrte. Diesem Zögern ward er durch das plötzliche Erscheinen des Fiakerkutschers innerhalb des Kirchengitters entrissen.

»Ich fürchte, der alte Herr wird krank, Sir«, sagte der Mann.

Bashwood der Jüngere runzelte zornig die Stirn und ging nach dem Wagen. Als er die Wagenthür öffnete, sah er seinen Vater vorwärts gebeugt und mit sprachlos sich bewegenden Lippen dasitzen, während auf seinem Gesichte eine bleiche Ruhe lag.

»Sie hat uns überlistet «, sagte der Spion.

»Sie haben sich heute Morgen hier trauen lassen.«

Der Körper des alten Mannes schwankte einen Augenblick von einer Seite zur andern, im nächsten schlossen sich seine Augen und sein Kopf sank auf den Vordersitz des Wagens. »Fahrt nach dem Hospital!« rief der Sohn. »Er hat eine Ohnmacht. Das habe ich dafür, daß ich meinem Vater zu Gefallen aus meinem Wege gehe«, murmelte er, indem er verdrießlich Mr. Bashwood’s Kopf aufrichtete und seine Cravatte löste. »Ein hübscher Morgen, fürwahr, ein hübscher Morgen!«

Das Hospital war in der Nähe und der Hausarzt auf seinem Posten.

»Wird er sich erholen?« fragte Bashwood der Jüngere barsch.

»Wer sind Sie?« fragte seinerseits der Arzt.

»Ich bin sein Sohn.«

»Das hätte man kaum glauben sollen«, erwiderte der Arzt, indem er die Belebungsmittel von der Wärterin entgegennahm und sich mit einer Miene der Erleichterung, die er sich nicht zu verbergen bemühte, vom Sohne ab und dem Vater zuwandte. »Ja«, sagte er nach ein paar Minuten, »diesmal wird sich Ihr Vater noch erholen.«

»Wann kann er von hier fortgeschafft werden?«

»In etwa zwei Stunden kann er das Hospital verlassen.«

Der Spion legte eine Karte auf den Tisch. »Ich will wiederkommen, um ihn abzuholen oder ihn abholen lassen«, sagte er. »Ich kann wohl jetzt gehen, wenn ich meinen Namen und meine Adresse hier lasse?« Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging hinaus.

»Ein Ungeheuer!« sagte die Wärterin. »Nein«, sagte der Arzt gelassen, »ein Mensch.«

Zwischen neun und zehn Uhr abends erwachte Mr. Bashwood in seinem Bette im Gasthofe des Borough. Seit er vom Hospital zurückgebracht worden war, hatte er einige Stunden geschlafen und Geist und Körper begannen sich allmälig gleichzeitig zu erholen.

Auf dem Tischchen am Bette stand eine brennende Kerze und neben derselben lag für ihn ein Brief bereit, sobald er erwachte. Derselbe war in der Handschrift seines Sohnes und enthielt folgende Worte:

»Mein lieber Alter! Da ich Dich sicher aus dem Hospital nach Deinem Gasthofe zurückgeschafft habe, denke ich billigerweise behaupten zu dürfen, daß ich meine Pflicht an Dir gethan habe und jetzt meinen eigenen Angelegenheiten nachgehen kann. Geschäfte verhindern mich, Dich heute Abend zu besuchen, und es scheint mir durchaus nicht wahrscheinlich, daß ich mich morgen Vormittag in Deiner Gegend befinde. Mein Rath an Dich geht dahin, daß Du nach Thorpe-Ambrose zurückkehrst und Dich Deinen dortigen Geschäften widmest. Wo Mr. Armadale sich auch aufhält, früher oder später muß er in Geschäftssachen an Dich schreiben. Ich wasche —— das laß Dir gesagt sein —— von diesem Augenblicke an bezüglich der ganzen Geschichte meine Hände in Unschuld. Doch willst Du darin weitergehen, so ist meine amtliche Meinung die, daß Du, obwohl Du die Heirath nicht zu verhindern vermocht hast, ihn doch von seiner Frau trennen kannst.

Bitte, nimm Deine Gesundheit in Acht.
Dein Dich liebender Sohn

James Bashwood.«

Der Brief fiel dem schwachen alten Manne aus der Hand. »Ich wollte, Jemmy hätte heute Abend zu mir kommen können«, dachte er. »Aber es ist immer sehr freundlich von ihm, mir seinen Rath zu geben.«

Müde drehte er sich auf seinem Kissen um und las den Brief zum zweiten Male. »Ja«, sagte er, »nichts weiter bleibt mir übrig, als zurückzukehren. Ich bin zu arm und zu alt, um ihnen ganz allein nachzujagen« Er schloß die Augen und Thränen rannen über seine gefurchten alten Wangen. »Ich bin Jemmy zur Last gefallen«, murmelte er matt; »ich fürchte, ich bin dem armen Jemmy sehr zur Last gefallen.« Eine Minute später übermannte ihn seine Schwäche und er schlief wieder ein.

Vom nahen Kirchthurme schlug es zehn Uhr. Als die Schläge ertönten, näherte sich der Zug, auf dem sich Midwinter und seine Gattin als Passagiere befanden, rasch Paris. Um dieselbe Zeit hatte die Wache auf Allan’s absegelnder Yacht den Leuchtthurm auf der Höhe von Landsend erspäht und den Curs des Schiffes nach Ushant und Finisterre gerichtet.


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