Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 24

Die letzte Prüfung

Der Diener verschwand und ließ sie allein beisammen. Mercy sprach zuerst.

„Mister Gray!” rief sie aus, „weshalb haben Sie meinen Auftrag auszurichten verschoben? Wüssten Sie alles, was ich weiß, Sie würden erkennen, dass es nicht gütig von Ihnen gehandelt ist, mich hier zurückzuhalten.”

Er trat näher an sie heran - ihre Worte überraschten, ihr Blick beunruhigte ihn.

„Ist in meiner Abwesenheit jemand hier gewesen?” fragte er.

„Lady Janet war hier. Ich kann nicht sprechen - mein Herz ist zermalmt - ich kann nichts mehr ertragen. Lassen Sie mich gehen!”

So kurz die Antwort gewesen, sie hatte Julian genug gesagt. Wie er Lady Janets Charakter kannte, wusste er jetzt, was geschehen war. Sein Gesicht verriet unverhohlene Enttäuschung und Betrübnis.

„Ich hatte gehofft, bei Ihnen zu sein, wenn Sie mit Lady Janet zusammentreffen und wollten den Auftritt verhindern”, sprach er. „Glauben Sie mir, sie wird alles, was sie jetzt Hartes und Voreiliges getan, wieder gut machen, sobald sie nur erst Zeit gehabt hat, nachzudenken. Versuchen Sie, milde darüber zu urteilen, dass sie Ihnen Ihr schweres Opfer noch schwerer gemacht hat. Sie sind dadurch nur noch höher gestiegen - vor mir sind Sie nun noch edler, mir noch teurer geworden. Verzeihen Sie, wenn ich dies so in klaren Worten bekenne. Ich kann mich nicht zurückhalten - mein Gefühl ist zu mächtig.”

Sonst würde Mercy wohl das hervordrängende Geständnis in seiner Stimme gehört, in seinen Augen gelesen haben. Jetzt war ihre Einsicht betäubt, ihr Scharfblick abgestumpft. Sie hielt ihm die Hand hin, als fühlte sie unbestimmt, dass er gütiger als je gegen sie sei - aber mehr fühlte sie nicht.

„Zum letztenmale muss ich Ihnen danken”, sprach sie. „So lange ich lebe, wird auch die Dankbarkeit in mir fortleben. Lassen Sie mich gehen. So lange ich mich noch in der Gewalt habe, lassen Sie mich gehen!”

Sie wollte von ihm fort und an der Glocke ziehen. Er hielt sie fest bei der Hand und zog sie näher an sich.

„In das Besserungshaus?” fragte er.

„Ja!” sagte sie. „Wieder nach Hause!”

„Sprechen Sie nicht so!” rief er aus. „Ich kann es nicht hören. Nennen Sie das Besserungshaus nicht Ihr Heim!”

„Wo ist es sonst? Wohin kann ich sonst gehen?”

„Deswegen bin ich gekommen, um Ihnen das zu sagen. Erinnern Sie sich, ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen?”

Sie fühlte den glühenden Druck seiner Hand; sie sah, wie das aufsteigende Entzücken in seinen Augen flammte. Ihr müder Geist richtete sich ein wenig auf. Sie begann zu zittern unter dem magnetischen Einfluss seiner Berührung.

„Einen Vorschlag machen?” wiederholte sie. „Was kann man da vorschlagen?”

„Lassen Sie mich meinerseits eine Frage an Sie stellen. Was haben Sie heute getan?”

„Sie wissen, was ich getan - es ist Ihr Werk”, antwortete sie demütig. „Warum kommen Sie jetzt darauf zurück?”

„Ich komme zum letztenmale darauf zurück; und dies in einer Absicht, die Sie bald begreifen werden. Sie haben Ihre Heirat aufgegeben; Sie haben die Liebe Lady Janets verscherzt; alle Ihre Aussichten für ein Fortkommen in der Welt sind zerstört - Sie kehren jetzt voll Selbstverleugnung in ein Leben zurück, das Sie selbst als ein hoffnungsloses geschildert haben. Und das alles haben Sie freiwillig getan - in einem Augenblicke, wo Ihre Stellung hier im Hause eine vollständig gesicherte war - nur um der Wahrheit willen. Sagen Sie mir, kann ein Weib, das dieses Opfer zu bringen im Stande ist, sich als des Vertrauens unwürdig erweisen, das ein Mann mit der Übertragung seiner Ehre und seines Namens in sie setzt?”

Endlich verstand sie ihn. Mit einem Aufschrei riss sie sich von ihm los. Die Hände zusammengeschlagen stand sie zitternd, den Blick auf ihn gerichtet, da.

Er ließ ihr keine Zeit zu denken. Ohne dass er sich selbst eines Wollens oder auch nur einer besonderen Tat bewusst wurde, flossen ihm die Worte von den Lippen.

„Mercy, vom ersten Augenblicke an, als ich Sie sah, habe ich Sie geliebt! Sie sind frei; ich darf es gestehen; ich darf Sie fragen: Wollen Sie meine Frau sein?”

Weiter und weiter zog sie sich vor ihm zurück, die Hand mit einer milden, flehenden Gebärde gegen ihn erhebend.

„Nein! Nein!” rief sie. „Bedenken Sie, was Sie sagen! Bedenken Sie das Opfer, das Sie brächten! Es kann, es darf nicht sein.”

Auf sein Gesicht lagerte sich der Schatten einer plötzlich aufgestiegenen Befürchtung. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken; und seine Stimme klang so leise, dass Mercy sie kaum hören konnte.

„Ich hatte etwas vergessen”, sprach er. „Sie haben mich daran erinnert.”

Sie wagte sich wieder mehr in seine Nähe. „Habe ich Ihnen wehe getan?”

Er lächelte traurig. „Sie haben mich aufgeklärt. Ich hatte vergessen, dass Liebe für Sie noch kein Grund sei, um Ihrerseits ein gleiches Gefühl für mich zur Folge zu haben. Sagen Sie, dass dem so ist, Mercy, und ich gehe.”

Ein schwacher Schimmer von Rot bedeckte ihr Gesicht - verschwand dann wieder und machte einer tiefen Blässe Platz. Ihre Augen hefteten sich unter seinem erregten Blick schüchtern auf den Boden.

„Wie kann ich das?” antwortete sie einfach. „Welches Weibes Herz könnte in meiner Lage Ihnen widerstehen?”

Er trat erregt vor; in atemlosem, sprachlosem Jubel streckte er ihr die Arme entgegen. Sie zog sich abermals vor ihm zurück, mit einem Blicke, der ihn mit Entsetzen erfüllte - einem Blicke reiner Verzweiflung.

„Kann ich Ihre Frau werden?” fragte sie. „Muss ich Sie daran erinnern, was Sie Ihrer hohen Stellung, Ihrer makellosen Reinheit, Ihrem geachteten Namen schuldig sind? Bedenken Sie, was alles Sie für mich getan haben und welch schmählicher Undank es wäre, wollte ich durch meine Einwilligung zu einer Verbindung mit Ihnen Ihre Existenz für ewige Zeit zerstören - wollte ich in grausamer, leichtfertiger Selbstsucht Sie mit auf die Stufe hinabziehen, auf der ich stehe.”

„Ich hebe Sie auf meine Stufe empor, wenn ich Sie zu meiner Frau mache”, antwortete er. „Um des Himmelswillen, seien Sie gerecht! Reden Sie mir nicht von der Welt und ihrer Meinung. Bei Ihnen, einzig und allein, bei Ihnen steht es, mich elend oder glücklich zu machen. Die Welt! Guter Gott! Welchen Ersatz kann mir die Welt für Sie gewähren?”

Flehend schlug sie die Hände zusammen; die Tränen rollten ihr über die Wangen herab.

„O, haben Sie Mitleid mit meiner Schwäche!” rief sie. „Gütigster, bester aller Menschen, helfen Sie mir, dass ich meine schwere Pflicht gegen Sie erfülle! Sie ist so schwer, nach allem, was ich gelitten - mein Herz schmachtet nach Frieden, Glück und Liebe!” Sie bezwang sich, von Schauder ergriffen über die Worte, die ihr entschlüpft waren. „Erinnern Sie sich, wie Mister Holmcroft mich behandelt hat, wie Lady Janet von mir gegangen ist! Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen von meinem Leben erzählt habe! Von jedem, der Sie kennt, würde um meinetwillen Hohn und Schmach Sie treffen. Nein! Nein! Nein! Kein Wort mehr. Schonen - bemitleiden - verlassen Sie mich!”

Die Stimme versagte ihr; sie konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen. Er sprang auf und nahm sie in seine Arme. Sie war unfähig, ihm Widerstand zu leisten; allein nicht freiwillige Hingabe war es, die es geschehen ließ. Ihr Kopf lag an seiner Brust, leblos - furchtbar leblos, wie der Kopf einer Leiche.

„Mercy! Mein Liebling! Wir wollen fort - aus England fort - unter fremden Menschen, in einer neuen Welt Zuflucht suchen - ich will den Namen wechseln - mit Verwandten, Freunden, mit jedermann brechen. Alles, alles, nur Sie nicht verlieren!”

Sie hob langsam den Kopf empor und blickte ihn an.

Plötzlich ließ er sie los; wie von einem Schlage getroffen, taumelte er zurück und fiel in einen Stuhl. Ehe sie noch ein Wort gesprochen, las er den furchtbaren Entschluss in ihren Zügen - lieber den Tod, als ihrer Schwäche nachgeben und Schmach über ihn bringen.

So stand sie, die Hände leicht vor sich geschlossen. Ihr schöner Kopf war emporgerichtet; ihre sanften, grauen Augen blickten wieder unverhüllt. Die Tränen waren getrocknet; der Sturm hatte sie gerüttelt und war nun vorbei. Eine traurige Gelassenheit lag auf ihrem Gesichte; sanfte Ergebung in ihrer Stimme. Es war die Ruhe einer Märtyrerin, die aus ihren letzten Worten zu ihm sprach:

„Ein Weib, das mein Leben gelebt, das gelitten, was ich gelitten habe, darf Sie lieben - wie ich Sie liebe - aber sie kann nicht Ihre Frau sein. Dieser Platz ist zu hoch über ihr. Jeder andere ist zu tief unter ihr und zu tief unter Ihnen.”

Sie hielt inne; sich der Glocke nähernd, gab sie das Zeichen, dass der Augenblick der Trennung gekommen sei. Dann lenkte sie ihre Schritte langsam zurück, bis sie neben Julian stand.

Zärtlich bog sie seinen Kopf zurück und lehnte ihn für einen Augenblick an ihre Brust. Schweigend neigte sie sich darauf herab und berührte seine Stirne mit ihren Lippen. Die ganze Dankbarkeit, welche ihr Herz erfüllte, die ganze Größe des Opfers, das ihr Herz zerriss, lag in diesen beiden so bescheidenen und so zärtlichen Bewegungen! Als ihre Hand mit einem letzten, schwachen Druck die seine losließ, brach Julian in Tränen aus.

Der Diener erschien auf den Ruf der Glocke. In dem Augenblicke, als er die Tür öffnete, hörte man draußen in der Vorhalle eine weibliche Stimme, welche zu ihm sprach:

„Lassen Sie die Kleine hineingehen”, sagte die Stimme. „Ich will hier warten.”

Das Kind trat ein - es war dasselbe verlassene, kleine Geschöpf, welches damals, als Mercy mit Horace Holmcroft den Spaziergang machte, die Erinnerung an ihre eigene frühe Kindheit in ihr wachgerufen hatte.

Dieses Kind besaß nicht Schönheit; das alltäglich Grauenvolle seines Lebens erhielt nicht durch einen Schein von Romantik Glanz und Bedeutung. Beinahe kriechend vor Ehrfurcht trat sie in das Zimmer und starrte ausdruckslos all die Pracht an, inmitten deren sie sich jetzt befand - sie, die Straßentochter Londons. Eine Kreatur der Volkswirtschaftsgesetze! Das verwilderte und schreckliche Produkt eines abgenützten Regierungssystems, einer bis in ihr Mark faulen Zivilisation! Zum erstenmale in ihrem Leben gereinigt; zum erstenmale in ihrem Leben ausreichend gespeist; zum erstenmale in Kleider statt in Lumpen gehüllt, schlich die Unglücksschwester Mercys furchtsam über den schönen Teppich hin und blieb, starr vor Bewunderung, vor dem Marmor eines eingelegten Tisches stehen - sie war ein Schmutzfleck auf der Pracht des Zimmers.

Mercy wandte sich von Julian ab, der Kleinen zu. In der entsetzlichen Vereinsamung ihres Herzens schmachtete sie nach eine Gegenstand, den sie harmlos lieben konnte, und begrüßte deshalb das gerettete, herrenlose Geschöpf der Straßen als eine ihr von Gott gesandte Tröstung. Sie hob das verdutzte kleine Ding in ihren Armen empor und flüsterte in der alles vergessenden Seelenangst dieses Augenblickes: „Küsse mich, nenne mich Schwester!” Das Kind starrte sie gedankenlos an. Für sie war Schwester nur der Begriff eines älteren Mädchens, das Kraft genug besaß, um sie zu schlagen.

Sie stellte das Kind wieder zur Erde und wandte sich, mit einem letzten Blicke nach ihm zu sehen, dessen Glück sie vernichtet hatte - aus Mitleid für ihn.

Er saß noch immer unbeweglich. Sein Kopf hing tief herab; sein Gesicht war verhüllt. Sie trat einige Schritte näher zu ihm.

„Die Anderen sind ohne ein freundliches Wort von mir gegangen. Können Sie mir vergeben?”

Ohne aufzublicken, hielt er ihr die Hand hin. Sie hatte ihn tief verwundet, allein sein edler Sinn verstand sie. Er war von Anfang an wahr gegen sie gewesen; er war es auch jetzt.”

„Gott segne und stärke Sie”, sagte er mit gebrochener Stimme. „Die Erde trägt kein edleres Weib als Sie.”

Sie kniete nieder und presste die gütige Hand, die zum letztenmale die ihre drückte, an ihre Lippen.

„Es ist nicht das Ende, das wir auf dieser Erde erleben”, flüsterte sie, „eine bessere Welt steht uns bevor!” Dann erhob sie sich und kehrte zu der Kleinen zurück. Hand in Hand schritten die beiden Bürgerinnen im Reiche Gottes - Verworfene im Reiche der Menschen - langsam die Länge des Zimmers hinab - hinaus in die Halle - und hinaus in die Nacht. Der laute Schall der zufallenden Haustür verkündete ihren Austritt. Sie waren fort.

Allein die regelmäßige Hausordnung - unerbittlich wie der Tod - nahm ihren Fortgang. Als die Uhr die Stunde schlug, wurde die Speiseglocke geläutet. Eine minutenlange Pause verstrich; das war die Grenze für eine Verspätung. Der Tafeldecker erschien an der Tür des Speisezimmers.

„Es ist aufgetragen, Sir.”

Julian blickte empor. Das leere Zimmer begegnete seinem Auge. Da lag etwas Weißes neben ihm auf dem Teppich. Es war ihr Taschentuch - von ihren Tränen feucht. Er nahm es auf und presste es an seine Lippen. Sollte dies die letzte Reliquie von ihr sein? War sie für ewig von ihm gegangen?

Im Vorgefühle der Macht der Liebe loderte die angeborene Energie seines Wesens von neuem in ihm empor. Nein! So lange sich noch Leben in ihm regte, so lange noch Zeit vor ihm lag, war die Hoffnung, sie zu gewinnen, nicht verloren!

Er wandte sich an den Diener, unbekümmert, ob der Ausdruck seines Gesichtes ihn verraten konnte.

„Wo ist Lady Janet?”

„Im Speisezimmer, Sir.”

Er überlegte einen Augenblick. Sein eigener Entschluss besaß keine Macht. Durch wen sonst durfte er hoffen, sie zu erreichen? Als die Frage in ihm aufstieg, ward es ihm plötzlich klar. Er sah den Weg zu ihr vor sich - durch den Einfluss Lady Janets.

„Die Lady erwartet Sie.”

Julian trat ins Speisezimmer.


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