Fräulein Morris und der Fremde



VI

Am nächsten Morgen wurden wir durch das ungewöhnliche Benehmen eines unserer Gäste beunruhigt. Herr Sax hatte Carsham Hall mit dem ersten Zuge verlassen und niemand wusste warum. Die Frauen sind — so sagen wenigstens die Philosophen — von Natur mit schweren Bürden belastet. Haben jene gelehrten Leute dabei auch die Bürde der Hysterie im Auge gehabt? Wenn das der Fall ist, dann stimme ich von ganzem Herzen ihnen bei. Es ist indessen in meinem Falle kaum der Mühe wert, davon zu sprechen, — ein ganz natürliches Leiden, das in der Einsamkeit des Zimmers zum Ausdruck kommt, mit Wasser und Eau de Cologne behandelt wird und dann, wenn ich in mein Erziehungsgeschäft vertieft bin, wieder völlig vergessen ist. Mein Lieblingszögling Fritz war früher als wir übrigen außer Bett gewesen und hatte im Obstgarten die frische Morgenluft genossen. Er hatte Herrn Sax gesehen und ihn gefragt, wann er wieder zurückkomme. Und Herr Sax hatte gesagt: »Ich werde nächsten Monat wieder zurück sein.« (O liebes Fritzchen!)

Mittlerweile hatten wir in unserem Schulzimmer die Aussicht auf eine langweilige Zeit im leeren Hause. Denn die übrigen Gäste mussten am Ende der Woche weggehen, da ihre Hauswirtin genötigt war, einigen alten Freundinnen in Schottland einen Besuch abzustatten.

Obwohl ich während der nächsten drei oder vier Tage mit Frau Fosdyke oft allein war, so sagte sie doch niemals ein Wort von Herrn Sax. Ein oder zwei Mal aber ertappte ich sie dabei, wie sie mit ihrem bedeutungsvollen Lächeln nach mir blickte, das mir unerträglich war. Fräulein Melbury wurde ebenfalls unangenehm, aber in anderer Weise. Wenn wir uns zufällig auf der Treppe begegneten, schossen rasche Blicke voll Hass und Vernichtung aus ihren schwarzen Augen.

Glaubten diese beiden Damen etwa —?

Doch nein; ich enthielt mich damals, diese Frage zu vollenden; und ich enthalte mich auch jetzt, dies hier zu tun.

Das Ende der Woche kam heran, und ich und die Kinder wurden zu Carsham Hall allein gelassen.

Ich benutzte die Mußestunden, die mir zur Verfügung standen, um an Herrn von Damian zu schreiben, und erkundigte mich ehrerbietigst nach seinem Befinden, indem ich ihn zugleich benachrichtigte, dass ich in der Erlangung einer neuen Stelle wieder sehr glücklich gewesen sei. Mit wendender Post erhielt ich die Antwort. Begierig öffnete ich sie, und schon die ersten Zeilen benachrichtigten mich von Herrn von Damians Tode.

Der Brief entfiel meiner Hand, und ich blickte unwillkürlich nach meinem kleinen Emailkreuz. Es ist mir nicht gegeben zu sagen, was ich fühlte. Man denke an alles, was ich ihm zu verdanken hatte, und erinnere sich, wie traurig mein Schicksal in der Welt war. Ich gab den Kindern frei; es war ja nur die Wahrheit, wenn ich ihnen sagte, dass mir nicht wohl sei.

Wie lange es dauerte, bis ich daran dachte, dass ich nur die ersten Zeilen des Briefes gelesen hatte, vermag ich nicht zu sagen. Als ich ihn wieder aufhob, war ich überrascht zu sehen, dass das Schreiben zwei Seiten umfasste. Kaum hatte ich einen Augenblick weiter gelesen, als mir schwindlig wurde. Als ich die drei ersten Sätze gelesen hatte, befiel mich eine schreckliche Furcht, dass ich nicht recht bei Sinnen sein möchte. Hier sind sie, um zu zeigen, dass ich nicht übertreibe:

»Das Testament unseres verstorbenen Klienten ist noch nicht eröffnet, aber mit Zustimmung der Testamentsvollstrecker setze ich Sie vertraulich davon in Kenntnis, dass Sie an diesem Testament ein ganz besonderes Interesse haben. Herr von Damian vermacht Ihnen bedingungslos sein ganzes bewegliches Vermögen, das sich auf die Summe von siebzigtausend Pfund beläuft.«

Wenn der Brief damit geendet hätte, so könnte ich mir wirklich nicht denken, welche Torheiten ich nicht begangen haben möchte. Aber der Schreiber des Briefes, einer der Anwälte des Herrn von Damian, hatte mir aus eigenem Antriebe noch etwas mehr zu sagen. Die Art und Weise, wie er es sagte, erregte mich augenblicklich. Ich kann und will die einzelnen Worte hier nicht wiederholen Es ist gerade genug, ihren empörenden Inhalt wiederzugeben. Die Absicht des Mannes war augenscheinlich die, mich merken zu lassen, dass er das Testament missbillige. Insofern will ich mich nicht über ihn beklagen — er hatte ohne Zweifel seinen Grund für die gute Meinung, die er hegte. Aber indem er »über diesen außerordentlichen Beweis von Interesse seitens des Testators einem der Familie gänzlich fremden Frauenzimmer gegenüber« seine Verwunderung ausdrückte, ließ er zugleich den Verdacht gegen einen von mir aus Herrn von Damian geübten Einfluss durchblicken, in so schändlicher Weise, dass ich mich dabei nicht aufzuhalten vermag. Die Ausdrucksweise war, wie ich hinzufügen will, schlau berechnet; denn ich selbst konnte sehen, dass sie mehr als eine Auslegung zuließ, und dass ich mich ins Unrecht setzte, wenn ich sie offen tadelte.

Aber die Absicht war klar, und sie zeigte sich, zum Teil wenigstens, schon in folgenden Sätzen:

»Der jetzige Herr von Damian ist, wie Sie ohne Zweifel wissen, durch das Testament seines Vaters nicht ernstlich berührt. Er ist bereits auf das reichlichste versorgt, da er den gesamten Grundbesitz als Erblehn übernimmt. Auch von alten Freunden, die vergessen worden sind, will ich nicht reden; aber es ist auch ein sehr naher Verwandter des verstorbenen Herrn von Damian übergangen worden. Falls dieser das Testament anfechten sollte, werden Sie natürlich wieder von uns hören, und Sie werden uns dann an Ihren Rechtsbeistand verweisen.«

Das Schreiben endigte mit einer Entschuldigung: die Mitteilung habe sich durch die Schwierigkeit verzögert, meine Adresse zu ermitteln.

Und was tat ich? An den Herrn Pfarrer schreiben oder an Frau Fosdyke? Nein, das nicht.

Anfangs war ich zu unwillig, um darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Die Post ging erst abends spät ab; und der Kopf schmerzte mich, als wenn er zerspringen wollte. Ich hatte reichlich Muße, auszuruhen und mich zu sammeln. Als ich meine Ruhe wiedererlangt hatte, fühlte ich mich imstande, meinen Entschluss zu fassen, ohne dass ich jemand um Hilfe ansprach.

Selbst wenn ich freundlich behandelt worden wäre, so würde ich doch sicherlich das Geld nicht angenommen haben, wenn noch ein Verwandter lebte, der einen Anspruch auf dieses hatte. Was brauchte ich ein großes Vermögen! Um mir vielleicht einen Gatten zu kaufen? Nein, nein! Nach allem was ich gehört, hatte der große Lordkanzler ganz recht, wenn er sagte, dass eine Frau, die Geld zu eigener Verfügung hätte, »sechs Wochen nach der Hochzeit entweder durch Küsse oder durch Fußtritte um dieses gebracht würde.«

Die einzige Schwierigkeit, die mir entgegenstand, war nicht die, mein Vermächtnis aufzugeben, sondern meine Antwort mit der genügenden Schärfe und zu gleicher Zeit mit der gebührenden Rücksicht auf meine Selbstachtung zu geben.

Hier folgt sie:

»Mein Herr!

Ich will Sie nicht damit belästigen, dass ich versuche, meine Betrübnis auszudrücken, da ich von dem Ableben des Herrn von Damian höre. Sie würden sich wahrscheinlich auch darüber Ihre eigene Meinung bilden, und ich habe kein Verlangen, von Ihrer nicht sehr beneidenswerten Menschenkenntnis zum zweiten Mal beurteilt zu werden. Was das Vermächtnis betrifft, so fühle ich zwar die aufrichtigste Dankbarkeit gegen meinen edlen Wohltäter, aber ich lehne es trotzdem ab, sein Geld anzunehmen. Ich bitte Sie, mir diejenige Urkunde zur Unterzeichnung zu übersenden, die ich nötig habe, um die Erbschaft dem in Ihrem Schreiben erwähnten Verwandten des Herrn von Damian abzutreten. Die einzige Bedingung, auf der ich bestehe, ist die, dass mir von der Person, zu deren Gunsten ich verzichte, keinerlei Dank bezeugt werde. Selbst angenommen, dass meinen Beweggründen in diesem Falle Gerechtigkeit widerfährt, so wünsche ich doch nicht, zum Gegenstande von Kundgebungen der Erkenntlichkeit nur um deswillen gemacht zu werden, weil ich meine Schuldigkeit getan habe.«

So endigte mein Schreiben. Ich mag unrecht haben, aber ich nenne das ein scharfes Schreiben. Pünktlich kam mit der Post eine förmliche Empfangsbescheinigung an. Ich wurde ersucht, so lange mit der Urkunde zu warten, bis das Testament eröffnet worden sei, und man benachrichtigte mich, dass mein Name inzwischen streng geheim gehalten werden solle. Bei dieser Gelegenheit zeigten sich die Testamentsvollstrecker beinahe ebenso unverschämt wie der Anwalt.

Sie erachteten es als ihre Pflicht, mir Zeit zu geben, um nochmals über eine Entscheidung nachzudenken, die augenscheinlich unter dem Impulse des Augenblicks getroffen worden wäre. Ach, wie hart sind doch die Männer — wenigstens einige von ihnen! Verdrießlich schloss ich den Empfangsschein ein und entschied mich dafür, nicht mehr an ihn zu denken, bis die Zeit käme, in der ich mein Vermächtnis los würde. Ich küsste das kleine Andenken des armen Herrn von Damian. Während ich es noch betrachtete, kamen die guten Kinder unaufgefordert herein, um zu fragen, wie es mir gehe. Ich war genötigt, den Fenstervorhang in meinem Zimmer herab zu lassen, damit sie die Tränen in meinen Augen nicht sähen. Zum ersten Mal seit dem Tode meiner Mutter fühlte ich Herzweh. Vielleicht ließen mich die Kinder an die glücklichere Zeit denken, da ich selbst noch ein Kind war.


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