Fräulein Morris und der Fremde



V

Ich hatte meine beste Kleidung angelegt und mir im ganzen früheren Leben nie so viele Mühe wie diesmal mit meiner Frisur gegeben. Hoffentlich wird niemand so töricht sein zu glauben, dass ich dies wegen Herrn Sax getan hätte. Wie konnte ich mich denn um einen Mann kümmern, der mir kaum etwas anderes als ein Fremder war. Nein! Die Person, derentwegen ich mich herausputzte, war Fräulein Melbury.

Sie warf mir, als ich mich bescheiden in die Ecke setzte, einen Blick zu, der mich reichlich für die Zeit entschädigte, die ich auf meine Toilette verwendet hatte. Die Herren traten ein. Ich blickte aus reiner Neugier unter meinem Fächer hervor nach Herrn Sax. Er war durch den Gesellschaftsanzug sehr zu seinem Vorteil verändert. Als er meiner in der Ecke gewahr wurde, schien er zweifelhaft zu sein, ob er sich mir nähern solle oder nicht. Ich erinnerte mich unserer ersten seltsamen Begegnung und konnte nicht umhin, darüber in Gedanken zu lächeln. Glaubte er vielleicht, dass ich ihn zum Nähertreten ermuntern wolle? Ehe ich mir diese Frage beantworten konnte, nahm er den leeren Platz neben mir auf dem Sofa ein. Bei jedem anderen Manne würde dies nach dem am Morgen zwischen uns Vorgefallenen ein recht keckes Benehmen gewesen sein. Er aber sah so peinlich verlegen aus, dass es eine Art Christenpflicht für mich wurde, Mitleid mit ihm zu haben. »Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?« sagte er, gerade so, wie er es in Sandwich getan hatte. Ich blickte unter meinem Fächer hervor nach Fräulein Melbury und nahm wahr, dass sie nach uns herübersah. Ich reichte Herrn Sax die Hand.

»Was für eine Empfindung haben Sie « fragte er, »wenn Sie einem Manne die Hand reichen, den Sie hassen?«

»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen« erwiderte ich in treuherziger Weise, »denn ich habe so so etwas nie getan.«

»Sie wollten in Sandwich nicht mit mir frühstücken« erklärte er, »und wollen mir nun auch nach der demütigsten Entschuldigung meinerseits das nicht verzeihen, was ich diesen Morgen tat. Soll ich unter diesen Umständen glauben, dass ich nicht ein besonderer Gegenstand Ihres Widerwillens bin? Ich wünsche, ich wäre Ihnen nie begegnet! In meinem Alter kränkt es einen Mann, wenn er unfreundlich behandelt wird und dies nicht verdient hat. Ich darf wohl sagen, Sie verstehen das nicht.«

»O ja, ich verstehe dies. Ich hörte auch, was Sie von mir zu Frau Fosdyke sagten und ich hörte Sie die Tür zuschlagen, als Sie mir aus dem Wege gingen.« Er nahm diese Antwort anscheinend mit großer Befriedigung entgegen.

»Sie lauschten also? wirklich? Ich bin froh, dies zu hören.«

»Warum?«

»Es zeigt mir, dass Sie am Ende doch einiges Interesse an mir nehmen.«

Während dieses ziemlich wertlosen Gespräches, das ich nur erwähne, weil es zeigt, dass ich keinen Groll hegte, blickte Fräulein Melbury nach uns wie der Basilisk der Alten. Sie gestand zu, über die Dreißig hinaus zu sein, und sie hatte etwas Geld — aber dies war doch sicherlich kein Grund, weshalb sie eine arme Erzieherin anstarren sollte. Bestand vielleicht schon ein zärtliches Einverständnis zwischen ihr und Herrn Sax? Sie reizte mich zu dem Versuche, dies herauszubringen, besonders da die letzten Worte, die er gesprochen hatte, mir die Gelegenheit dazu boten.

»Ich kann beweisen, dass ich ein aufrichtiges Interesse für Sie hege« begann ich wieder. »Ich kann Ihnen zugunsten einer Dame entsagen, welche einen weit besseren Anspruch auf Ihre Aufmerksamkeit hat als ich. Sie vernachlässigen diese Dame wirklich in unverantwortlicher Weise.«

Er war augenscheinlich in Verlegenheit und starrte mich in einer Weise an, die deutlich verriet, dass bis jetzt seine Zuneigung der Dame wirklich zugewendet war. Es war natürlich unmöglich, Namen zu nennen, und ich gab daher meinen Augen nur die rechte Richtung. Er blickte in der gleichen Richtung — und seine Verlegenheit verriet sich selbst trotz seines Bestrebens, sie zu verbergen. Er errötete und schien gekränkt und überrascht zu sein. Fräulein Melbury konnte dies nicht länger ertragen. Sie erhob sich, nahm ein Lied vom Musikpulte und näherte sich uns.

»Ich will etwas singen,« sagte sie, indem sie ihm das Musikstück überreichte »Bitte, Herr Sax, wenden Sie mir das Blatt um.« Ich glaube, er zögerte — aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn richtig beobachtete. Es ist wenig daran gelegen. Ob zögernd oder nicht, er folgte ihr nach dem Klavier.

Fräulein Melbury sang und beherrschte dabei mit vollkommener Sicherheit ihre umfangreiche Stimme. Ein Herr, der in meiner Nähe saß, sagte, sie gehöre auf die Bühne. Ich dachte auch so. Denn so groß auch unser Empfangszimmer war, für sie war es nicht ausreichend. Gleich darauf sang der Herr. Er hatte gar keine Stimme, aber sein Gesang war so lieblich und von einem so echten Gefühle durchdrungen! Ich wandte ihm das Blatt um. Eine liebe, alte Dame, die in der Nähe des Klaviers saß, fing eine Unterhaltung mit mir an und sprach von den berühmten Sängern aus dem Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts.

Herr Sax, auf den fortwährend Fräulein Melburys Auge gerichtet war, wanderte umher. Ich war von den Anekdoten meiner ehrwürdigen Freundin so entzückt, dass ich ihm keine Beachtung schenken konnte.

Später, als die Tischgesellschaft sich auflöste und wir uns zur Nachtruhe begeben wollten, wanderte er noch immer umher und bot mir schließlich eine Schlafzimmerkerze an. Ich händigte sie sogleich an Fräulein Melbury aus.

Es war wirklich ein sehr genussreicher Abend.


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