Der Mondstein



Zweite Erzählung.

Von Advokat Mathew Bruff.

Erstes Capitel.

Nachdem meine edle Freundin, Miß Clack, die Feder niedergelegt hat, bestimmen mich zwei Gründe, dieselbe nun meinerseits aufzunehmen.

Erstens befinde ich mich in der Lage, über gewisse Punkte von Interesse, welche bis jetzt dunkel geblieben sind, das nöthige Licht zu verbreiten. Fräulein Verinder hatte ihre besonderen Gründe, ihre Verlobung wieder aufzuheben, und diese Gründe waren mir bekannt. Herr Godfrey Ablewhite seinerseits hatte seine besondern Gründe, sich aller Ansprüche auf die Hand seiner reizenden Cousine zu begeben, und ich entdeckte diese Gründe.

Zweitens war ich, ich weiß nicht, ob ich sagen soll so glücklich oder so unglücklich, mich in der Periode, über die ich jetzt berichte, in das Geheimniß des indischen Diamanten verwickelt zu finden. Ich hatte auf meinem Bureau die Ehre einer Conferenz mit einem orientalischen Fremden von distinguirtem Benehmen, der unzweifelhaft kein Anderer war, als der Anführer der drei Indier.

Nehme man dazu, daß ich den Tag nach dieser Conferenz mit dem berühmten Reisenden Mr. Murthwaite zusammentraf und eine Unterhaltung mit ihm über die Mondstein-Angelegenheit hatte, welche sehr wichtig für das Verständniß späterer Ereignisse ist, so hat man eine vollständige Zusammenfassung meiner Ansprüche auf die Stellung, die ich in den folgenden Blättern einnehme.

Der wahre Hergang bei der Auflösung der Verlobung nimmt der Zeit nach den ersten Platz ein und hat daher auch Anspruch auf die erste Stelle in dieser Erzählung.

Indem ich die Kette der Ereignisse von einem Ende zum andern rückwärts verfolge, finde ich es, so sonderbar es dem Leser scheinen mag, nothwendig, die Scene an dem Bett meines vortrefflichen Freundes und Clienten, des verstorbenen Sir John Verinder, zu eröffnen.

Sir John hatte sein nicht geringes Theil von den harmloseren und liebenswürdigeren Schwächen des menschlichen Geschlechts. Unter diesen muß ich, als für die vorliegende Angelegenheit von Bedeutung, seinen unüberwindlichen Widerwillen, die Verantwortlichkeit einer Feststellung seines letzten Willens über sich zu nehmen, so lange er sich noch bei guter Gesundheit befand, hervorheben.

Lady Verinder bemühte sich, ihren Einfluß auf ihn zur Erweckung eines Pflichtgefühls in dieser Beziehung geltend zu machen, und ich bemühte mich in gleicher Weise. Er gestand die Richtigkeit unserer Auffassung zu —— aber er kam nicht weiter, bis ihn die Krankheit befiel, der er schließlich erlag. Da endlich wurde ich geholt, um die Instructionen meines Clienten in Betreff seines letzten Willens entgegenzunehmen. Es waren die einfachsten Instructionen, die mir im ganzen Verlauf meiner Praxis jemals vorgekommen sind.

Sir John schlummerte, als ich zu ihm in’s Zimmer trat. Bei meinem Anblick raffte er sich auf.

»Wie geht’s Ihnen, Herr Bruff?« fragte er. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten und werde bald wieder schlafen.«

Er schien sich lebhaft dafür zu interessiren, als ich Tinte, Feder und Papier zurechtlegte.

»Sind Sie fertig?« fragte er. Ich verneigte mich, tauchte die Feder ein und harrte meiner Instructionen.

»Alles meiner Frau,« sagte Sir John. »Mehr habe ich nicht zu sagen,« sank in die Kissen zurück, legte den Kopf auf die andere Seite und schien wieder schlafen zu wollen. Ich war genöthigt, ihn noch einmal zu stören.

»Habe ich Sie dahin zu verstehen,« fragte ich, »daß Sie das ganze Eigenthum, von jeder Art und Beschaffenheit, in dessen Besitz Sie sich bei Ihrem Tode befinden, ausschließlich Lady Verinder hinterlassen?«

»Ja,« sagte Sir John; »nur daß ich es kürzer ausdrücke. Warum können Sie es nicht eben so kurz machen und mich wieder schlafen lassen? Alles meiner Frau! Das ist mein letzter Wille."

Sein Eigenthum stand durchaus zu seiner Verfügung und war von zweierlei Art. Eigenthum in Land —— ich enthalte mich absichtlich technischer Ausdrücke —— und Eigenthum in Geld. In den meisten Fällen würde ich es, fürchte ich, für meine Pflicht gegen meinen Clienten gehalten haben, ihn zu einer nochmaligen Erwägung seines letzten Willens aufzufordern. In Sir John’s Fall wußte ich, daß Lady Verinder nicht nur des rückhaltlosen Vertrauens, das ihr Gatte in sie gesetzt hatte, würdig —— alle guten Frauen sind dessen würdig —— sondern daß sie auch im Stande sei, das ihr anvertraute Gut zweckmäßig zu verwalten —— wozu nach meiner Erfahrung von dem schönen Geschlecht nicht Eine unter Tausenden wirklich befähigt ist. In zehn Minuten war Sir John’s Testament aufgesetzt und vollzogen und der gute Sir John konnte wieder schlafen.

Lady Verinder rechtfertigte das Vertrauen, das ihr Gatte in sie gesetzt hatte, vollkommen. In den ersten Tagen ihrer Wittwenschaft schickte sie nach mir und machte ihr Testament. Die Art, wie sie ihre Lage betrachtete, war so durchaus verständig und gesund, daß ich mich der Nothwendigkeit, ihr Rath zu ertheilen, völlig überhoben fand. Meine Thätigkeit hatte sich lediglich darauf zu beschränken, ihre Instructionen in die gehörige gesetzliche Form zu bringen. Sir John war noch nicht vierzehn Tage zu Grabe getragen, als schon in höchst umsichtiger und ausreichender Weise für seine Tochter gesorgt worden war.

Das Testament blieb, ich weiß kaum mehr wie viele Jahre, in einem feuerfesten Kasten auf meinem Bureau aufbewahrt. Erst im Sommer 1848 fand ich unter sehr traurigen Umständen Veranlassung, das Testament wieder einzusehen, an jenem Tage nämlich, wo die Aerzte ihr Urtheil über Lady Verinder gesprochen hatten, welches in der That ein Todesurtheil war. Ich war der Erste, den sie von ihrem Zustand in Kenntniß setzte. Sie wünschte lebhaft, ihr Testament noch einmal mit mir durchzusehen.

Es war unmöglich an den Verfügungen in Betreff ihrer Tochter noch etwas zu verbessern, aber in Betreff verschiedener kleinerer Vermächtnisse an Verwandte hatten ihre Ansichten im Verlauf der Zeit einige Modifikationen erfahren und es erwies sich als nothwendig, dem Testamente drei bis vier Codicille hinzuzufügen. Nachdem ich aus Furcht vor möglicherweise eintretenden Umständen diese Codicille sofort hinzugefügt hatte, erwirkte ich mir die Erlaubniß von Lady Verinder, das Ganze zu einem neuen Testamente zusammenzufassen. Mein Zweck dabei war, gewisse unausbleibliche Confusionen und Wiederholungen, welche jetzt das Original-Document entstellten und, aufrichtig gestanden, meinem berufsmäßigen Sinn für das Exacte gänzlich widerstrebten, zu vermeiden.

Den Act der Vollziehung des zweiten Testaments hat Miß Clack, welche so gütig war als Zeugin dabei zu fungiren, geschildert So weit Rachel Verinder’s pecuniäres Interesse in Betracht kam, enthielt das zweite Testament nur die wörtliche Wiederholung der Verfügungen des ersten. Die einzigen Veränderungen bezogen sich aus die Ernennung eines Vormunds und gewisse, diese Ernennung betreffende, auf meinen Rath ausgesprochene Vorbehalte. Bei Lady Verinder’s Tode wurde das Testament nach bestehendem Rechtsgebrauch meinem Bevollmächtigten übergeben. Ungefähr drei Wochen später, so weit ich mich erinnern kann, erreichte mich zuerst die Kunde, daß etwas Ungewöhnliches vorgehe. Ich sprach zufällig auf dem Bureau meines Freundes und Bevollmächtigten vor und bemerkte, daß mein Erscheinen ein größeres Interesse bei ihm erwecke als gewöhnlich.

»Ich habe eine Neuigkeit für Sie,« sagte er. »Was meinen Sie was ich heute in Doktors Commons gehört habe? Man hat Lady Verinders Testament verlangt und bereits geprüft.«

Das war allerdings eine Neuigkeit. Das Testament enthielt absolut nichts was bestritten werden konnte, und meines Wissens gab es Niemanden, der auch nur das entfernteste Interesse daran haben konnte, es prüfen zu lassen. (Ich werde vielleicht gut thun zum Verständniß erläuternd zu bemerken, daß das Gesetz einem Jeden gestattet, gegen Erlegung eines Shillings in dem Gerichtshof von Doctors Commons von irgend welchem Testamente Einsicht zu nehmen.)

»Haben Sie gehört, wer nach dem Testament verlangt hat,« fragte ich.

»Ja wohl. Der Schreiber hatte kein Bedenken es mir mitzutheilen. Herr Smalley von der Firma Skipp u. Smalley hat danach verlangt. «Das Testament ist noch nicht in die großen Folio-Register eingetragen. So blieb nichts anderes übrig als ihn, abweichend von dem gewöhnlichen Gebrauch, von dem Original Einsicht nehmen zu lassen. Er hat es sorgfältig durchgelesen und eine Notiz in sein Taschenbuch eingetragen. Haben Sie irgend eine Vermuthung was er damit bezweckte?«

«Meine Antwort bestand in einem verneinenden Kopfschütteln und der Bemerkung: »Ich werde es aber heraus haben ehe ich einen Tag älter geworden bin« Damit ging ich ohne Weiteres nach meinem eigenen Bureau zurück.

Wenn irgend eine andere Advocatenfirma diese unerklärliche Prüfung des Testamentes meiner verstorbenen Clientin vorgenommen hätte, so würde ich vielleicht einige Schwierigkeiten bei meiner Entdeckung gefunden haben. Aber mit Skipp u. Smalley stand ich in einer Verbindung, welche mir die Erreichung meines Zwecks verhältnismäßig leicht machte. Einer meiner Schreiber, ein höchst sachkundiger und vortrefflicher Mensch, war der Bruder des Herrn Smalley; und, Dank dieser Art von indirecter Verbindung mit mir, hatten Skipp u. Smalley vor einigen Jahren die Brosamen von meinem Tische in Gestalt von Fällen aufgelesen, mit welchen ich es aus verschiedenen Gründen nicht der Mühe werth hielt, mich zu befassen. Auf diese Weise war meine professionelle Protection von einiger Wichtigkeit. Ich beschloß, sie bei dieser Gelegenheit, wenn es nothwendig werden sollte, an diese Protection zu erinnern.

Ich sprach sofort bei meiner Rückkehr mit meinem Schreiber und schickte ihn, nachdem ich ihm erzählt hatte was vorgefallen, nach dem Bureau seines Bruders mit meinen Empfehlungen und der Bitte, mich wissen zu lassen, aus welchem Grunde die Herren Skipp u. Smalley es für nothwendig gehalten hätten, Lady Verinder’s Testament zu prüfen.

In Folge dieser Botschaft erschien Herr Smalley in Begleitung seines Bruders auf meinem Bureau. Er theilte mir mit, daß er in Gemäßheit der Instructionen eines Clienten gehandelt habe und gab mir dann anheim, zu entscheiden, ob es nicht seinerseits ein Bruch des ihm in seinem Beruf geschenkten Vertrauens sein würde, mehr zu sagen.

Darüber entspann sich zwischen uns ein heftiger Disput Ohne Zweifel war er im Recht und ich im Unrecht. Um die Wahrheit zu gestehen, ich war zornig und argwöhnisch und bestand darauf, mehr zu wissen. Noch schlimmer, ich lehnte es ab irgend welche weitere mir zu machende Mittheilung als ein mir anvertrautes Geheimniß zu betrachten; ich verlangte, den Gebrauch, den ich von dieser Mittheilung zu machen gedachte, völlig meiner Discretion überlassen zu sehen. Und noch schlimmer, ich machte mir meine Stellung in unverantwortlicher Weise zu Nutze. »Wählen Sie«, sagte ich zu Herrn Smalley, »zwischen der Gefahr des Verlustes der Geschäfte Ihres Clienten und der Gefahr, meine Geschäfte zu verlieren.« Eine durchaus nicht zu rechtfertigende Handlungsweise, wie ich zugebe, —— ein reiner Act der Tyrannei. Wie andere Tyrannen erreichte ich meinen Zweck. Herr Smalley traf seine Wahl ohne einen Augenblick zu zaudern. Mit einem resignirten Lächeln theilte er mir den Namen seines Clienten mit: Herr Godfrey Ablewhite.

Das war mir genug, ich verlangte nicht mehr zu wissen.

An diesem Punkte meiner Erzählung angelangt, erscheint es nothwendig für mich, den Leser dieser Zeilen —— soweit Lady Verinders Testament in Betracht kommt —— über meine Wissenschaft in Betreff desselben vollständig aufzuklären.

Ich will daher in gedrängtester Kürze mittheilen, daß Rachel Verinder nur eine lebenslängliche Nutznießung an dem hinterlassenen Vermögen hatte. Das vortreffliche Urtheil ihrer Mutter und meine lange Erfahrung hatten dahin geführt, sie jeder Verantwortlichkeit zu entheben und sie vor jeder Gefahr zu schützen, künftig einmal das Opfer eines bedürftigen und gewissenlosen Mannes zu werden. Weder sie noch ihr Gatte, falls sie sich verheirathete, würde über einen Schilling, weder von dem Eigenthum in Land noch von dem in Gelde disponiren können. Sie würden die Häuser in London und Yorkshire und ein schönes Einkommen, aber weiter nichts zu ihrer Verfügung haben.

Als ich über meine Entdeckung nachdachte, befand ich mich in großer Verlegenheit in Betreff dessen, was ich zunächst thun sollte.

Kaum eine Woche war verflossen, seit ich zu meiner Ueberraschung und Betrübniß von Fräulein Verinder’s beabsichtigter Verheirathung gehört hatte. Ich empfand die aufrichtigste Bewunderung und Neigung für sie und hatte mit unaussprechlichem Bedauern gehört, daß sie im Begriff stehe sich an Herrn Godfrey wegzuwerfen. Und jetzt enthüllte sich dieser Mensch, den ich allezeit für einen glattzüngigen Betrüger gehalten hatte, vor mir in einer Gestalt, die meine schlechte Meinung von ihm vollkommmen rechtfertigte indem sich deutlich zeigte, daß er bei seinem Heirathsproject lediglich gewinnsüchtige Zwecke im Auge gehabt habe! »Und was weiter?« höre ich manche meiner Leser sagen, »die Sache geschieht tagtäglich.« Zugegeben, mein Verehrter, aber würden Sie die Sache eben so leicht beurtheilen, wenn Sie dieselbe z. B. an Ihrer Schwester erlebten?

Die erste Erwägung, die sich mir jetzt naturgemäß aufdrängte, war diese: Würde Herr Godfrey Ablewhite nach der von seinem Advokaten für ihn gemachten Entdeckung noch an seinem Verlöbniß festhalten?

Das hing lediglich von seinen pecuniären Verhältnissen ab, über welche mir nichts bekannt war. Wenn diese Verhältnisse nicht ganz verzweifelte waren, so würde es sich schon allein um ihres Einkommens willen der Mühe gelohnt haben, Fräulein Verinder zu heirathen. Wenn er andererseits einer bedeutenden Summe in gegebener Zeit dringend bedurfte, so lag hier gerade der in Lady Verinders Testament vorgesehene Fall vor, indem die Verfügung desselben ihre Tochter davor schützen würde, einem Schuft in die Hände zu fallen.

In dem letzteren Fall würde ich nicht genöthigt sein, Fräulein Rachel in den ersten Tagen ihrer Trauer um ihre Mutter durch eine sofortige Enthüllung der Wahrheit zu betrüben. In dem ersteren Fall würde ich mich, wenn ich schwiege, der Connivenz gegen eine Heirath schuldig machen, die Fräulein Verinder für ihr ganzes Leben unglücklich machen müßte.

Meine Bedenken endeten mit meinem Besuch in dem Londoner Hotel, in welchem sich, wie ich wußte, Mrs. Ablewhite und Fräulein Verinder aufhielten Sie theilten mir mit, daß sie am nächsten Tage nach Brighton gehen würden und daß eine unerwartete Abhaltung Herrn Godfrey Ablewhite verhindere, sie zu begleiten. Ich erbot mich, sofort seine Stelle zu übernehmen. So lange ich nur an Rachel Verinder gedacht hatte, waren Zweifel für mich möglich gewesen, sobald ich sie von Angesicht zu Angesicht sah, war ich auf der Stelle entschlossen, ihr, möchte daraus entstehen was wollte, die Wahrheit zu sagen.

Ich fand die Gelegenheit dazu, als ich am Tage nach meiner Ankunft in Brighton mit ihr spazieren ging.

»Darf ich mir,« fragte ich sie, »ein Wort in Betreff Ihrer Verlobung erlauben?«

»Ja,« sagte sie gleichgültig, »wenn Sie über nichts Interessanteres zu reden haben.«

»Wollen Sie einem alten Freund und Diener Ihrer Familie vergeben, Fräulein Rachel, wenn ich die Frage wage, ob Ihr Herz an dieser Heirath hängt?«

»Ich heirathe aus Verzweiflung, Herr Bruff, auf die Möglichkeit hin, in eine Art glücklichen Vegetirens zu verfallen, das mich vielleicht mit meinem Leben wieder aussöhnen wird.«

Eine starke Ausdrucksweise, die auf einen Liebesroman, der unter der Oberfläche schlummern mochte, schließen ließ. Aber ich ging gerade auf mein Ziel los und versagte es mir, wie wir Advokaten sagen, die Seitenwege der Frage zu verfolgen.

»Herr Godfrey Ablewhite wird schwerlich Ihre Anschauungsweise theilen,« sagte ich. »Sein Herz muß sehr entschieden an dieser Heirath hängen.«

»So sagt er, und ich muß ihm wohl glauben. Er würde mich nach dem, was ich ihm gestanden habe, wohl kaum heirathen, wenn er mich nicht gern hätte.«

Das arme Kind! Die Idee, daß ein Mann sie lediglich um seiner eigennützigen und, gewinnsüchtigen Zwecke willen heirathen könne, war ihr nie in den Sinn gekommen. Die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, fing an, mir schwerer zu erscheinen, als ich mir gedacht hatte.

»Es klingt,« fuhr ich fort, »sonderbar für meine altmodischen Ohren ——«

»Was klingt sonderbar?« fragte sie.

»Sie von Ihrem künftigen Gatten reden zu hören, als ob Sie der Aufrichtigkeit seiner Neigung nicht völlig gewiß wären. Sind Sie sich irgend eines Grundes bewußt, daran zu zweifeln?«

Ihre wunderbare rasche Auffassungsgabe entdeckte sofort eine Veränderung in meiner Stimme oder in meinem Wesen, als ich diese Frage that, welche sie ahnen ließ, daß ich die ganze Zeit mit einem Hintergedanken zu ihr gesprochen hatte. Sie stand still, nahm ihren Arm aus dem meinigen und blickte mir forschend in’s Auge.

»Herr Bruff,« sagte sie, »Sie haben mir etwas über Godfrey Ablewhite mitzutheilen. Sagen Sie es mir!«

Ich kannte sie gut genug, um sie beim Worte nehmen zu dürfen. Ich sagte es ihr.

Sie legte ihren Arm wieder in den meinigen und ging langsam mit mir weiter. Ich fühlte, wie sich ihre Hand auf meinem Arm krampfhaft zusammenballte, und ich sah sie auf unserem Wege blasser und blasser werden, aber nicht ein Wort kam über ihre Lippen, so lange ich sprach. Als ich geendet hatte, schwieg sie noch immer.

Sie ließ ihren Kopf etwas sinken, sie ging neben mir her, als ob sie meine Gegenwart, als ob sie Alles um sich her vergessen habe; in ihre eigenen Gedanken versenkt —— ich möchte fast sagen —— begraben.

Ich machte keinen Versuch, sie ihrer Betäubung zu entreißen. Meine Kenntniß ihres Wesens lehrte mich, ihr bei dieser wie bei früheren Gelegenheiten Zeit zu lassen.

Die meisten jungen Mädchen pflegen, sobald ihnen etwas sie Interessirendes mitgetheilt wird, eine Masse von Fragen zu thun und dann davon zu laufen und Alles mit einer vertrauten Freundin durchzusprechen. Rachel Verinder dagegen verschloß sich bei ähnlichen Gelegenheiten in sich selbst und ging mit sich allein über die Sache zu Rath. Diese absolute Selbstständigkeit ist eine große Tugend bei Männern. Bei Frauen hat dieselbe die sehr ernste Schattenseite, sie von der überwiegenden Mehrzahl ihres Geschlechts moralisch zu trennen und sie auf diese Weise Mißdeutungen des allgemeinen Urtheils auszusetzen. Ich habe mich selbst sehr stark in Verdacht, über diesen Punkt, außer in dem Falle von Rachel Verinder, ganz wie die übrige Welt zu denken. Die Selbstständigkeit ihres Charakters war nach meinem Urtheil einer ihrer Vorzüge, zum Theil ohne Zweifel, weil ich sie aufrichtig bewunderte und liebte, zum Theil weil die Ansicht, die ich mir von ihrem Antheil an dem Verlust des Mondsteins gebildet hatte, aus meine besondere Kenntniß ihres Wesens gegründet war. Wie sehr auch in der Angelegenheit des Mondsteins der Schein gegen sie sein mochte, so anstößig es ohne Zweifel erscheinen mußte, sie in irgend einem Zusammenhang mit dem Geheimniß eines unentdeckten Diebstahls zu wissen, war ich doch nichtsdestoweniger überzeugt, daß sie nichts ihrer Unwürdiges gethan haben könne, weil ich eben so fest überzeugt war, daß sie keinen Schritt in dieser Angelegenheit gethan haben werde, ohne sich vorher in sich selbst zu verschließen und die Sache auf’s Reiflichste zu erwägen.

Wir mochten wohl eine Viertelstunde weit gegangen sein, bevor Rachel sich wieder aufraffte Sie blickte mich plötzlich mit einem schwachen Wiederschein ihres Lächelns glücklicherer Tage an —— des unwiderstehlichsten Lächelns, das ich jemals auf einem weiblichen Antlitz gesehen habe.

»Ich verdanke Ihrer Güte schon Vieles,« sagte sie, »und ich bin Ihnen dafür in diesem Augenblick tiefer verpf1ichtet, denn jemals. Wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nach London irgend welche Gerüchte über meine Heirath hören, widersprechen Sie denselben auf der Stelle und berufen Sie sich getrost auf mein eigenes Zeugniß.«

»Sind Sie entschlossen, Ihre Verlobung aufzuheben?« fragte ich.

»Können Sie zweifeln?« erwiderte sie stolz, »nach dem, was Sie mir gesagt haben!«

»Mein liebes Fräulein Rachel, Sie sind sehr jung —— und Sie werden es vielleicht schwieriger finden, Ihr jetziges Verhältniß aufzulösen als Sie denken. Haben Sie Niemanden —— ich meine natürlich eine Dame —— mit der Sie über die Sache zu Rathe gehen könnten?«

»Niemanden!« antwortete sie.

Es betrübte mich aufrichtig, sie so reden zu hören. Sie war so jung und stand so allein in der Welt und trug ihr Schicksal so würdig! Der Drang, ihr zu helfen, überwand bei mir alle Bedenken, die mir unter den obwaltenden Umständen sonst wohl meine Person als ungeeignet würden haben erscheinen lassen; und ich sprach meine Gedanken über den Gegenstand aus, wie sie mir der Augenblick eben eingab. Ich habe in meinem Leben einer ungeheuren Anzahl von Clienten Rath ertheilt und habe mit einigen äußerst verwickelten Angelegenheiten zu thun gehabt, aber dies war das erste Mal, daß ich einer jungen Dame Rath darüber zu ertheilen hatte, wie sie es anzufangen habe, sich von einem gegebenen Heirathsversprechen loszumachen.

Mein Vorschlag war kurz folgender: Ich empfahl ihr, Herrn Godfrey Ablewhite, natürlich in einer vertraulichen Besprechung, zu erklären, daß er, wie sie sicher wisse, seine gewinnsüchtigen Absichten errathen habe. Sie sollte dann hinzufügen, daß ihre Heirath mit ihm nach dieser Entdeckung zur Unmöglichkeit geworden sei und solle es ihm anheimstellen, ob er es für gerathener halte, sich ihrer Verschwiegenheit durch Zustimmung zu ihrem Entschluß zu versichern oder sie durch seine Weigerung zu zwingen, das Motiv ihrer Handlungsweise bekannt zu machen. Wenn er den Versuch machen sollte, sich zu vertheidigen oder die Thatsachen zu leugnen, so sollte sie ihn an mich beweisen.

Fräulein Verinder hörte mir aufmerksam zu, bis ich ausgeredet hatte. Dann dankte sie mir sehr freundlich für meinen Rath, erklärte mir aber zugleich, daß es ihr unmöglich sei, denselben zu befolgen.

»Darf ich fragen,« sagte ich, »was Sie gegen die Befolgung meines Raths einzuwenden haben?«

Sie zögerte — und erwiderte dann meine Frage mit einer andern.

»Angenommen,« fing sie an, »Sie würden aufgefordert, Ihre Ansicht über Herrn Ablewhites Benehmen auszusprechen.«

»Ja —— und?«

»Wie würden Sie dasselbe bezeichnen?«

»Ich würde es als das Benehmen eines niedrig gesinnten und falschen Menschen bezeichnen.«

»Herr Bruff! Ich habe an diesen Mann geglaubt. Ich habe diesem Manne das Versprechen gegeben, ihn zu heirathen. Wie kann ich ihm darnach sagen, daß er niedrig gesinnt ist, daß er mich getäuscht hat, wie kann ich ihn darnach in den Augen der Welt herabsetzen. Ich habe mich selbst herabgewürdigt, indem ich dem Gedanken Raum gab, ihn zu meinem Gatten zu machen. Wenn ich ihm das sage, was Sie mir vorschlagen, so muß ich ihm in’s Gesicht bekennen, daß ich mich herabgewürdigt habe. Das kann ich nicht, nach dem, was zwischen uns vorgegangen ist, das kann ich nicht! Die Schande würde ihm nichts ausmachen, mir aber völlig unerträglich sein.«

Hier enthüllte sich mir eine andere hervorragende Eigenthümlichkeit ihres Charakters. Es war ihr feinfühliger Schauder vor der bloßen Berührung mit Allem, was gemein war, der sie gegen jede Rücksicht auf das, was sie sich selbst schuldig war, blind machte, und sie in eine schiefe Position drängte, die sie in der Schätzung aller ihrer Freunde compromittiren konnte. Bis zu diesem Augenblicke war ich selbst gegen die Angemessenheit meines Raths etwas mißtrauisch gewesen. Aber nach dem, was sie mir eben gesagt hatte, konnte ich nicht mehr den geringsten Zweifel haben, daß es der beste Rath war, den man ihr hätte geben können, und ich stand keinen Augenblick an, ihr die Befolgung desselben nochmals dringend an’s Herz zu legen.

Sie schüttelte mit dem Kopfe und wiederholte nur in andern Worten ihre Einwände.

»Er stand auf so vertrautem Fuße mit mir, daß er mich um meine Hand bitten konnte. Er stand hoch genug in meiner Achtung, um mein Jawort zu erhalten, und nach allem diesen kann ich ihm nicht in’s Gesicht sagen, daß er das verächtlichste Geschöpf auf Erden ist.«

»Aber mein liebes Fräulein Rachel,« wandte ich ein, »es ist doch ebenso unmöglich für Sie, ihm ohne jede Angabe von Gründen zu erklären, daß Sie ihr einmal gegebenes Wort zurücknehmen.«

»Ich werde ihm sagen, daß ich mir die Sache überlegt habe und zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß es für uns Beide das Beste sei, unsere Verbindung wieder aufzugeben.«

»Weiter nichts?«

»Weiter nichts!«

»Haben Sie auch bedacht, was er Ihnen vielleicht erwidern wird?«

»Er kann sagen, was er will.«

Es war unmöglich, der Delicatesse ihres Entschlusses die Anerkennung zu versagen, und es war ebenso unmöglich, nicht zu sehen, daß sie sich selbst damit zu nahe trat. Ich bat inständigst, ihre eigene Stellung nicht außer Augen zu lassen, ich machte sie darauf aufmerksam, daß sie sich den gehässigsten Mißdeutungen ihrer Motive aussetzen würde.

»Sie können mit den Gefühlen Ihres Herzens nicht dem allgemeinen Urtheil Trotz bieten.«

»Das kann ich doch,« antwortete sie, »und ich habe es bereits gethan.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie haben den Mondstein vergessen, Herr Bruff, Habe ich nicht in dieser Angelegenheit, auf meine Niemandem außer mir bekannten Gründe gestützt, dem allgemeinen Urtheil Trotz geboten?«

Ihre Antwort brachte mich für den Augenblick zum Schweigen. Es reizte mich, eine Erklärung ihres Benehmens zur Zeit des Verlustes des Mondsteins auf der Spur des sonderbaren Bekenntnisses zu suchen, welches ihr soeben entschlüpft war. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich dieser Versuchung vielleicht nachgegeben, jetzt aber war es mir unmöglich.

Ich versuchte es mit einem letzten Einwand, bevor wir nach Hause zurückgekehrt. Sie ließ sich aber auch dadurch von ihrem Entschluß nicht abbringen. Mein Gemüth befand sich in einem sonderbaren Conflict von Gefühlen, als ich sie an jenem Tage verließ. Sie war eigensinnig, sie war im Unrecht, sie war interessant, sie war bewunderungswürdig, sie verdiente das tiefste Mitleid. Ich ließ mir von ihr das Versprechen geben, mir zu schreiben, sobald sie mir etwas Neues mitzutheilen haben werde, und ich kehrte zu meinen Geschäften nach London in einer sehr unbehaglichen Stimmung zurück.

An dem Abend nach meiner Rückkehr, noch bevor ich den versprochenen Brief möglicher Weise hätte erhalten können, wurde ich durch einen Besuch des älteren Herrn Ablewhite überrascht, der mir mittheilte, daß Herr Godfrey an eben diesem Tage seine Entlassung erhalten und angenommen habe.

Bei der Ansicht, die ich mir bereits von dem Fall gebildet hatte, offenbarte die bloße Thatsache der Annahme die Motive, welche Herrn Godfrey Ablewhite bei seiner Ergebung leiteten, so klar, als ob er sie ausgesprochen hätte. Er bedurfte einer großen Summe Geldes und zwar in einer gegebenen Zeit. Rachel’s Einkommen, das ihm in jeder andern Beziehung genügt haben würde, war dazu nicht ausreichend und Rachel hatte deshalb ihr Wort zurücknehmen können, ohne auf den mindesten ernsthaften Widerstand von seiner Seite zu stoßen. Wenn man mir darauf entgegnet, daß dies eine reine Hypothese sei, so frage ich dagegen, auf welche andere Weise man das Aufgeben einer Heirath von seiner Seite erklären will, welche ihm für den Rest seiner Tage eine glänzende Lebensstellung gegeben haben würde.

Jede freudige Aufwallung, welche diese glückliche Wendung der Dinge vielleicht in mir erregt haben würde, wurde durch den Fortgang meiner Unterhaltung mit dem alten Herrn Ablewhite sofort wieder zurückgedrängt.

Er war, wie er mir sagte, gekommen, um von mir zu erfahren, ob ich im Stande sei, ihm eine Erklärung über das auffallende Benehmen Fräulein Verinders zu geben. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich völlig außer Stande erklärte, ihm den gewünschten Aufschluß zu geben. Die unangenehmen Empfindungen, die ich dadurch bei Herrn Ablewhite erregte und die ihn in einer durch die Unterhaltung mit seinem Sohne schon sehr gereizten Stimmung fanden, brachten ihn völlig außer Fassung. Seine Blicke und sein Benehmen ließen gleich deutlich erkennen, daß Fräulein Verinder am nächsten Tage, wo er zu den Damen nach Brighton gehen wollte, einen erbarmungslosen Mann an ihm finden würde.

Ich verbrachte eine schlaflose Nacht damit, mir zu überlegen, was ich demnächst zu thun haben werde. Zu welchem Resultat mein Nachdenken führte und wie wohlbegründet mein Mißtrauen gegen den alten Herrn Ablewhite sich erwies, das sind Momente, die, wie ich erfahre, bereits genau und an der richtigen Stelle von der vortrefflichen Miß Clack mitgetheilt worden sind. Zur Vervollständigung ihres Berichts habe ich nur noch hinzuzufügen, daß Fräulein Verinder die Ruhe und Erholung, deren das arme Kind so sehr bedürftig war, in meinem Hause in Hampstead fand. Sie erfreute uns durch einen langen Besuch. Meine Frau und meine Töchter befreundeten sich sehr mit ihr, und als die Executoren ihren Entschluß in Betreff der Ernennung eines neuen Vormunds gefaßt hatten, trennten sich, wie ich mit Stolz und Freude berichten kann, mein Gast und meine Familie wie alte Freunde.


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