Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

I.

Im Frühsommer des Jahres 1850 verließen ich und die noch überlebenden meiner Gefährten die Wüsten und Wälder von Central-Amerika und traten unsere Heimkehr an. An der Küste angelangt, schifften wir uns nach Europa ein. Das Schiff scheiterte im Golf von Mexiko, und ich war einer der wenigen Geretteten. Es war dies meine dritte Rettung aus Todesgefahr. Tod durch Krankheit, Tod durch die Wilden, Tod durch Ertrinken – allen dreien war ich nah gewesen, und allen dreien entgangen.

Die aus dem Schiffbruche Geretteten wurden von einem amerikanischen Schiffe aufgenommen, das nach Liverpool bestimmt war. Dasselbe erreichte den Hafen am 3. October im Jahre 1850. Wir stiegen spät am Nachmittage ans Land, und ich kam noch selbigen Abends in London an.

Diese Blätter sind nicht dazu bestimmt, über meine Wanderungen und Gefahren in der Fremde zu berichten. Man kennt bereits die Beweggründe, aus denen ich meine Heimath und meine Angehörigen verließ und eine neue Welt der Abenteuer und Gefahren aufsuchte. Aus dieser selbstauferlegten Verbannung kehrte ich zurück, wie ich zurückzukehren gehofft, gebetet und geglaubt hatte – als ein veränderter Mann. In den Wässern eines neuen Lebens hatte ich meine Natur erneuert und gekräftigt. In der strengen Schule der Gefahren und der äußersten Noth hatte mein Wille gelernt, fest, mein Herz, entschlossen zu sein, und mein Geist, sich selbst zu vertrauen. Ich ging fort, um meiner Zukunft zu entweichen. Ich kehrte zurück, Um ihr wie ein Mann entgegenzutreten.

Ich war entschlossen, ihr mit einer unvermeidlichen Selbstunterdrückung entgegenzutreten, wie ich wußte, daß sie mir zukam. Ich hatte die schlimmste Bitterkeit der Vergangenheit überwunden, nicht aber die Herzenserinnerung an den Schmerz und die Liebe jener unvergeßlichen Zeit. Ich hatte nicht aufgehört, das unverbesserliche Mißgeschick meines Lebens zu fühlen – ich hatte nur gelernt, es zu ertragen. Laura Fairlie füllte mein ganzes Herz, war mein einziger Gedanke, als das Schiff mich davontrug, und meine letzten Blicke auf England fielen – und als ich heimkehrte und das Morgenlicht mir die befreundeten Gestade zeigte, war mein einziger Gedanke wiederum Laura Fairlie.

Meine Feder schreibt die alten Buchstaben, so wie mein Herz zu seiner alten Liebe zurückkehrt. Ich nenne sie noch immer Laura Fairlie. Es ist so bitter, unter ihres Mannes Namen an sie zu denken oder von ihr zu sprechen.

Ich habe, da ich jetzt zum zweiten Male in diesen Blättern auftrete, keine weiteren Erklärungen hinzuzufügen, und kann daher, falls ich Kraft und Muth genug dazu habe, die Erzählung wieder aufnehmen und zu Ende führen.

Meine ersten Gedanken und Hoffnungen, als der Morgen, kam, richteten sich auf meine Mutter und meine Schwester. Ich fühlte die Nothwendigkeit, sie nach einer Abwesenheit, während welcher es mir monatelang unmöglich gewesen, ihnen Nachrichten von mir zu geben, auf die Freude und Ueberraschung meiner Heimkehr vorzubereiten. Früh am Morgen schickte ich ein Billet nach dem Häuschen in Hampstead und folgte selbst eine Stunde später.

Als unsere ersten Begrüßungen vorüber waren und die Ruhe und Fassung früherer Zeit sich allmälig wieder zwischen uns herzustellen begann, sah ich in den Zügen meiner Mutter Etwas, das mir sagte, daß ein geheimer Druck auf ihrem Herzen laste. Es lag mehr als Liebe – es lag Kummer in den besorgten Blicken, die so zärtlich auf mir ruhten. Es lag Mitleid in dem langsamen, liebenden Drucke der Hand, welche die meinige hielt. Wir hatten einander nie etwas verhehlt. Sie wußte, woran die Hoffnungen meines Lebens gescheitert – wußte, weshalb ich sie verlassen hatte.

Ich hatte es auf der Zunge, so gelassen wie mir dies möglich, zu fragen, ob Briefe von Miß Halcombe für mich angekommen – ob man Nachrichten über ihre Schwester habe, welche ich hören dürfe. Als ich aber meiner Mutter ins Auge blickte, verlor ich den Muth, die Frage, selbst auf diese behutsame Weise, zu thun. Ich konnte bloß mit zweifelnder, gezwungener Stimme sagen:

»Du hast mir Etwas mitzutheilen.«

Meine Schwester, welche uns gegenüber gesessen hatte, stand plötzlich auf, ohne ein Wort zu sagen – und verließ das Zimmer.

Meine Mutter setzte sich auf dem Sopha näher zu mir heran und schlang ihre Arme um meinen Nacken. Die treuen Arme zitterten und Thränen stürzten über das liebevolle Antlitz.

»Walter!« flüsterte sie, »mein Herzensliebling! Mein Herz ist schwer für Dich. O, mein Sohn! mein Sohn! Versuche, Dich zu erinnern, daß wenigstens ich Dir noch bleibe!«

Mein Haupt sank auf ihre Brust. Sie hatte mir mit diesen Worten Alles gesagt.

 

II.

Es war der Morgen des dritten Tages seit meiner Rückkehr – der Morgen des sechzehnten Oktobers.

Ich war bei ihnen in Hampstead geblieben, hatte mein Möglichstes gethan, um ihnen das Glück meiner Heimkehr nicht zu verbittern, wie es mir verbittert war. Ich hatte Alles aufgeboten, was in der Macht eines Mannes liegt, um mich unter dem Schlage zu erheben und mein Leben in Ergebung anzunehmen – um diesen großen Schmerz in Liebe in meinem Herzen aufzunehmen und nicht in Verzweiflung Es war nutzlos und hoffnungslos. Keine Thränen kamen in meine brennenden Augen; die Theilnahme meiner Schwester und die Liebe meiner Mutter brachten mir keinen Trost.

An diesem dritten Morgen öffnete ich ihnen mein Herz. Endlich konnte ich die Worte aussprechen, die ich schon an dem Tage, an welchem meine Mutter mir von ihrem Tode erzählt, mich zu sagen gesehnt hatte.

»Laßt mich eine Weile allein fortgehen,« sagte ich, »ich werde es allein besser zu ertragen im Stande sein, wenn ich noch einmal die Stelle sehe, an der ich sie zuerst erblickt – wenn ich an dem Grabe gekniet und gebetet haben werde, in welchem man sie zur Ruhe gelegt hat.«

Ich trat meine Reise an – meine Reise zu Laura Fairlie’s Grabe.

Es war an einem stillen Herbstnachmittage, als ich auf der einsamen Station abstieg und allein, zu Fuße, den wohlbekannten Weg hinabging. Die erblassende Sonne leuchtete matt durch die dünnen weißen Wolken hindurch; die Luft war lau und stille; der Frieden der einsamen Landschaft erhielt einen traurigen Schatten durch den Einfluß des schwindenden Jahres.

Ich erreichte die Haide; ich stand wieder auf dem Gipfel des Hügels; ich schaute hinaus – den Pfad hinab, und da, in der Entfernung standen die bekannten Gartenbäume, der deutliche, gewundene Halbzirkel des Fahrweges, die hohen, weißen Mauern von Limmeridge House. Die Unfälle und Wechsel, die Wanderschaften und Gefahren vieler Monate schwanden plötzlich aus meinem Geiste, als ob sie nie stattgehabt. Mir war, als ob erst gestern meine Füße über diesen duftigen Haideboden gewandert! Mir war, als müsse ich sie mir entgegenkommen sehen, mit dem runden Strohhütchen, der ihr Gesicht beschattete, ihrem einfachen Kleide, das im Winde flatterte und ihrem wohlgefüllten Zeichenbuche in der Hand.

O Tod, du hast deinen Stachel. O Grab, du hast deinen Sieg!

Ich wandte mich um, und da unter mir lag die einsame graue Kirche; da war das Wohnhäuschen, in welchem ich die Frau in Weiß erwartet hatte; rings die Hügel, welche den stillen Begräbnißplatz umzogen; der Bach, welcher über sein kaltes Steinbette dahin rieselte. Da endlich stand das Marmorkreuz, hoch und weiß am Hauptende des Grabes – des Grabes, das jetzt sowohl Mutter als Tochter bedeckte.

Ich näherte mich dem Grabe. Ich überstieg nochmals die steinernen Stufen und entblößte das Haupt, als ich den geweihten Boden betrat: – der Lieblichkeit und Herzensgüte, der Ehrfurcht und dem Schmerz geweiht.

Ich stand vor dem Postamente stille, aus dem sich das Kreuz erhob. Auf der einen Seite desselben – auf der Seite, die mir am nächsten – begegnete die neu gravirte Inschrift meinen Blicken: die harten, deutlichen, grausamen Buchstaben, welche die Geschichte ihres Lebens und ihres Todes erzählten. Ich versuchte sie zu lesen, und las, bis ich an den Namen kam. »Zur Erinnerung an LAURA –.« Die lieben blauen Augen von Thränen trübe; das schöne Haupt, das matt herabgesunken; die unschuldigen Scheideworte, mit denen sie mich anflehte, sie zu verlassen – o Gott, was hätte ich nicht um eine glücklichere letzte Erinnerung an sie gegeben, als die, welche ich mit mir fortgenommen und wieder mit mir an ihr Grab zurückbrachte!

Ich versuchte zum zweiten Male, die Inschrift zu lesen. Ich sah am Schlusse das Datum ihres Todes; und darüber –

Darüber standen Zeilen auf dem Marmor – es war ein Name unter ihnen, der meine Gedanken an sie störte. Ich ging nach der andern Seite des Grabes herum, wo Nichts zu lesen war – wo Nichts von irdischer Schlechtigkeit sich zwischen ihren Geist und den meinigen drängte.

Ich kniete nieder am Grabe. Ich legte meine Hände und mein Haupt auf den großen weißen Stein und schloß meine müden Augen vor dem Licht des Himmels und der Erde Trauer. Ich rief sie zurück zu mir. O, mein Lieb! mein Lieb! jetzt darf mein Herz zu Dir sprechen! Es ist wieder gestern, da wir schieden – gestern, da Deine liebe Hand in der meinen ruhte – gestern, da meine Augen Dich zuletzt erblickten. O, mein Lieb! mein Lieb!

* * *

Die Zeit verging, und über sie hin hatten sich Stille und dichte Nacht gezogen.

Der erste Laut, welcher der himmlischen Ruhe folgte, war ein leichtes Rauschen, wie von einem vorüberziehenden Lüftchen, im Grase des Begräbnißplatzes. Ich hörte es mir langsam näher kommen, bis es meinem Ohre verändert schien – wie Fußtritte, welche näher kamen – dann stille standen.

Ich blickte auf.

Es war nahe Sonnenuntergang. Die Wolken hatten sich zertheilt; die schrägen Strahlen der scheidenden Sonne ergossen sich mit einem milden Lichte über die Hügel. Das Ende des Tages war kalt und klar und ruhevoll in diesem stillen Thale der Todten.

Weiter abwärts in dem Friedhofe sah ich zwei Frauengestalten in der kalten Klarheit des unteren Lichtes stehen. Ihre Blicke waren auf das Grab – auf mich gerichtet.

Zwei.

Sie kamen ein wenig näher – und standen wieder stille. Ihre Schleier verbargen mir ihre Züge. Als sie stille standen, erhob die Eine ihren Schleier. In dem stillen Abendlichte erkannte ich Marianne Halcombe.

Verändert, o, verändert, als ob viele Jahre indessen vergangen gewesen! Die Augen waren groß und wild und blickten mit einem seltsamen Entsetzen auf mich hin. Das Gesicht war bleich und abgefallen. Wehe, Angst und Kummer standen darin geschrieben, wie mit feurigen Buchstaben.

Ich that einen Schritt vom Grabe näher zu ihr hin. Sie rührte sich nicht – sie sprach nicht. Die verschleierte Frauengestalt neben ihr stieß einen matten Schrei aus. Ich stand stille. Mein Lebensquell schien zu erstarren; und ein Schaudern wie von unsäglicher Furcht durchrieselte mich vom Kopf bis zu den Füßen.

Die Verschleierte verließ ihre Gefährtin und kam langsam auf mich zu. Als Marianne Halcombe allein stand, begann sie zu sprechen. Es war die Stimme, deren ich mich erinnerte – nicht verändert, wie die geängstigten Augen und das abgemagerte Gesicht.

»Mein Traum! mein Traum!« In der tiefen Stille hörte ich sie leise diese Worte ausrufen. Sie sank auf ihre Knie und erhob die gefalteten Hände zum Himmel. »Vater! stärke ihn. Vater! stehe ihm bei! hilf ihm in seiner Stunde der Noth.«

Die verschleierte Gestalt kam näher – langsam und schweigend immer näher. Ich sah sie an – und von diesem Augenblicke an nur sie und Nichts weiter.

Die Stimme, welche für mich betete, erzitterte und erstarb – dann plötzlich erhob sie sich und rief mir voll Angst und Verzweiflung zu, hinwegzukommen.

Aber die Verschleierte hielt mich an Leib und Seele gefesselt. Sie war auf der einen Seite des Grabes angelangt. Wir standen einander gegenüber, und zwischen uns der Grabstein. Sie stand dicht an der Inschrift auf dem Postamente; ihr Kleid berührte die schwarzen Buchstaben.

Die Stimme kam näher und erhob sich immer leidenschaftlicher. »Bedecken Sie Ihr Gesicht! Sehen Sie sie nicht an! O, um Gotteswillen, schone ihn! –«

Die Gestalt lüftete ihren Schleier

Zur Erinnerung

an

LAURA

    Lady Glyde …

Laura, Lady Glyde stand neben der Inschrift und blickte über das Grab zu mir hinüber –!

Dritter Band.

 

Zweite Abtheilung.

Fortsetzung der Aussage Hartright’s.

 

I.

Ich fange ein neues Blatt an und nehme meine Erzählung um eine Woche später wieder auf.

Die Geschichte der Tage, welche ich auf diese Weise übergehe, wird unberichtet bleiben. Mein Herz beginnt zu stocken, und mein Geist versinkt in Finsterniß und Verwirrung, wenn ich daran denke. Dies darf nicht sein, wenn ich, der ich schreibe, Euch, die Ihr leset, ein deutlicher Berichterstatter sein, wenn der Faden, welcher sich durch die Schleichwege dieser Erzählung zieht, von Anfang bis zu Ende unverwirrt in meinen Händen bleiben soll. Ein Leben, das plötzlich verändert – dessen ganzes Ziel ein neuerschaffenes, dessen Hoffnungen und Befürchtungen, Kämpfe, Interessen und Opfer alle auf einmal und auf immer eine neue Richtung erhalten – dies ist die Aussicht, welche sich plötzlich vor mir öffnete, wie die Fernsicht von Bergeshöhe, wenn die Sonne rings die Wolkenschleier zerreißt.«

Ich brach meine Erzählung in den stillen Schatten der Kirche zu Limmeridge ab, eine Woche später nehme ich sie in dem Gewoge und Getümmel einer Straße von London wieder auf.

Es ist eine Straße in einem armen, bevölkerten Stadttheile. Das Erdgeschoß eines der Häuser desselben wird von einem Zeitungshändler bewohnt, und die erste und zweite Etage werden als meublirte Wohnungen der anspruchslosesten Art vermiethet.

Ich habe diese beiden Etagen unter einem angenommenen Namen gemiethet. In der obern wohne ich; sie besteht aus einem Schlafzimmer und einem Arbeitszimmer. In der unteren Etage wohnen – ebenfalls unter angenommenen Namen – zwei Frauen, welche für meine Schwestern gelten. Ich erwerbe mir meinen Lebensunterhalt, indem ich für eine der billigen Zeitschriften Zeichnungen und Holzschnitte anfertige. Meine Schwestern helfen mir, wie es heißt, durch Handarbeit. Unser ärmlicher Wohnort, unsere bescheidene Beschäftigung, unsere vorgebliche Verwandtschaft und angenommenen Namen dienen uns Allen als Mittel, uns in dem Häuserwalde zu verstecken. Wir gehören nicht mehr zu den Leuten, deren Leben offen und bekannt sind. Ich bin ein obscurer, unbemerkter Mann ohne Beschützer oder Freund, der mir Hülfe leistete. Marianne Halcombe ist jetzt nichts weiter als meine älteste Schwester, die durch ihrer Hände Arbeit unsern Haushaltbedürfnissen nachkommt. Beide sind wir die Opfer und zugleich die Ausüber eines verwegenen Betruges. Wir sind die Mitschuldigen der wahnsinnigen Anna Catherick, welche den Namen, die Stellung und das Eigenthum der verstorbenen Lady Glyde beansprucht.

Dies ist unsere Stellung. Dies ist der veränderte Charakter, in welchem wir Drei von jetzt an viele Blätter hindurch in dieser Erzählung erscheinen müssen.

Vor Vernunft und Gesetz, vor der Meinung der Verwandten und Angehörigen, sowie jeder herkömmlichen Auffassung der Gesellschaft nach, lag »Laura, Lady Glyde« bei ihrer Mutter im Grabe auf dem Friedhofe zu Limmeridge Bei Lebzeiten aus dem Leben gerissen, durfte die Tochter von Philipp Fairlie und die Gemahlin von Percival Glyde allenfalls für ihre Schwester und für mich noch existiren, aber für die ganze übrige Welt war sie todt. Todt für ihren Onkel, der sie verleugnet – todt für die Diener des Hauses, die sie nicht erkannt hatten – todt für die Obrigkeit, welche ihr Vermögen ihrem Manne und ihrer Tante übergeben – todt für meine Mutter und meine Schwester, welche mich für das Opfer einer Abenteuerin und eines Betruges hielten – gesetzlich, gesellschaftlich und moralisch todt.

Und doch am Leben. – In Armuth und im Versteck am Leben. Am Leben und unter dem Schutze eines armen Zeichenlehrers, der ihr ihren Platz unter den Lebenden wieder erkämpfen und erringen wollte!

Regte sich, da ich selbst von der Aehnlichkeit zwischen ihr und Anna Catherick Zeuge gewesen, kein Argwohn in mir, als sie mir zuerst ihr Gesicht enthüllte? Nein, auch nicht der Schatten eines Argwohns von dem Augenblicke an, wo sie, neben der Grabschrift stehend, die ihren Tod verkündete, den Schleier erhob.

Ehe noch an jenem Tage die Sonne untergegangen, ehe noch die Heimath, welche ihre Thore gegen sie verschlossen, unseren Blicken entschwunden, hatten wir Beide der Abschiedsworte gedacht, die ich bei unserm Scheiden in Limmeridge House gesprochen; ich hatte sie ausgesprochen, und sie erkannte sie: »Falls je eine Zeit kommen sollte, wo die Hingebung meines ganzen Herzens, meiner ganzen Seele und all meiner Kräfte Ihnen einen Augenblick des Glückes geben oder einen Augenblick des Kummers ersparen kann, wollen Sie sich des armen Zeichenlehrers erinnern, der Ihnen Unterricht gab?« Sie, die sich jetzt so wenig von den Schrecken und Sorgen der letztvergangenen Zeit zu erinnern im Stande war, erinnerte sich doch jener Worte und legte ihr armes Haupt unschuldig und vertrauensvoll auf die Brust des Mannes, der sie gesprochen.

In diesem Augenblicke, wo sie mich bei meinem Namen nannte, indem sie sagte: »Sie haben versucht, mich Alles vergessen zu machen, Walter; aber ich erinnere mich Mariannens und erinnere mich Deiner –« in diesem Augenblicke gab ich, der ich ihr längst meine ganze Liebe gegeben, ihr mein Leben und dankte Gott, daß er es mir dazu gelassen.

Ja! die Zeit war gekommen. Aus einer Entfernung von Tausenden von Meilen, durch Wälder und Wüsteneien, wo Gefährten, die kräftiger als ich, gefallen waren – durch dreimal erneute und dreimal entgangenen Todesgefahren hindurch hatte die Hand, welche die Menschen auf die dunklen Pfade der Zukunft leitet, mich dieser Zeit entgegengeführt. Da sie jetzt verlassen und verleugnet, bitter geprüft und traurig verändert, ihre Schönheit verblichen, ihr Geist umwölkt; da sie ihrer Stellung in der Welt, ihres Platzes unter den Lebenden beraubt war, durfte ich sonder Tadel die Hingebung meines ganzen Herzens, meiner ganzen Seele und all meiner Kräfte zu jenen lieben Füßen niederlegen. Durch ihre große Trübsal und Verlassenheit war sie endlich mein mit Recht! Mein, um sie zu beschützen, aufzurichten, zu verehren und wiederherzustellen. Mein, um sie als Vater und Bruder zugleich zu lieben und zu ehren. Mein, um sie durch alle Gefahren und Opfer – durch hoffnungsloses Kämpfen gegen Rang und Macht, durch den langen Streit mit bewaffnetem Truge und befestigtem Glücke, durch den Verlust meines Rufes und meiner Angehörigen, durch das Wagniß meines Lebens hindurch wieder in ihre Stelle einzusetzen.



Kapiteltrenner

II.

Ich habe jetzt meine Lage beschrieben und meine Beweggründe erklärt, und es müssen nun zunächst Mariannens und Laura’s Berichte folgen.

Beide werde ich erstatten, doch nicht mit den Worten der Erzählerinnen selbst (welche oft und unvermeidlicherweise unterbrochen und verworren waren), sondern in den Worten des kurzen, deutlichen und gewissenhaft einfachen Auszuges, den ich zu meiner eigenen und der Anleitung meines Rechtsanwaltes abgefaßt hatte. Auf diese Weise wird das verworrene Gewebe sich am Schnellsten und Verständlichsten vor dem Leser aufrollen.

Mariannens Bericht beginnt, wo die Haushälterin zu Blackwater Park denselben hat fallen lassen.

Als Lady Glyde das Haus ihres Mannes verlassen, unterrichtete die Haushälterin Miß Halcombe von dieser Thatsache sowohl wie nothwendigerweise von den Umständen, welche ihre Abreise begleitet hatten. Es war einige Tage später (Mrs. Michelson konnte, da sie sich hierüber kein schriftliches Memorandum gemacht, nicht genau sagen, wie viele Tage), daß ein Brief von der Gräfin Fosco eintraf, welcher Lady Glyde’s Tod, der plötzlich im Hause des Grafen Fosco erfolgt, ankündigte. Der Brief enthielt keine Data und überließ es Mrs. Michelson’s Ermessen, Miß Halcombe diese Nachricht sogleich mitzutheilen, oder sie zu verschieben, bis sich erst die Gesundheit der Dame werde befestigt haben.

Nachdem sie hierüber Dr. Dawson (welcher durch eignes Unwohlsein verhindert gewesen, seine Besuche in Blackwater Park schon früher wieder zu erneuern) zu Rathe gezogen, theilte Mrs. Michelson der Kranken die Nachricht in des Doctors Gegenwart und auf sein Anrathen entweder noch an demselben Tage oder am Tage darauf mit.

Es ist unnöthig, hier bei der Wirkung zu verweilen, welche die Nachricht von Lady Glyde’s plötzlichem Tode auf ihre Schwester hatte. Für unsern gegenwärtigen Zweck ist es nur nothwendig zu sagen, daß sie auf drei Wochen nicht im Stande war, zu reisen. Nach Verlauf derselben begab sie sich in Begleitung der Haushälterin nach London. Hier trennten sie sich, nachdem Mrs. Michelson zuvor Miß Halcombe ihre Adresse gegeben, für den Fall, daß Letztere in Zukunft Befehle oder Wünsche für sie haben möchte.

Sobald Miß Halcombe von der Haushälterin Abschied genommen, ging sie nach dem Geschäftsbureau der Herren Gilmore und Kyrle, um Letzteren in Mr. Gilmore’s Abwesenheit zu consultiren Sie sprach gegen Mr. Kyrle aus, was sie allen Anderen (Mrs. Michelson nicht ausgenommen) zu verbergen rathsam erachtet: ihren Argwohn in Bezug auf die Umstände, unter welchen Lady Glyde ihren Tod genommen haben sollte. Mr. Kyrle, welcher schon früher freundschaftliche Beweise von seiner Bereitwilligkeit, Miß Halcombe zu dienen, gegeben hatte, unterzog sich sofort der Aufgabe, solche Nachforschungen anzustellen, wie die zarte und gefährliche Natur der ihm vorgeschlagenen Untersuchung sie zuließ.

Um mit diesem Theile der Sache abzuschließen, ehe ich weiter gehe, kann ich gleich hier bemerken, daß Graf Fosco Mr. Kyrle allen gewünschten Beistand leistete, als Letzterer ihm sagte, er sei von Miß Halcombe abgesandt, um über Lady Glyde’s Ableben alle Einzelheiten für sie zu sammeln, über die sie bisher in Unwissenheit geblieben. Mr. Kyrle wurde an den Arzt, Mr. Goodricke, und an die beiden Dienerinnen, die Köchin und das Stubenmädchen verwiesen. In Ermangelung aller Mittel, genau das Datum von Lady Glyde’s Abreise aus Blackwater Park zu erfahren, erschien das Zeugniß des Arztes und der beiden Mägde, sowie Graf Fosco’s Auskünfte – und die seiner Frau – Mr. Kyrle als entscheidend. Er konnte nur annehmen, daß Miß Halcombe’s tiefer Schmerz über den Verlust ihrer Schwester auf beklagenswerthe Weise ihre Urtheile irre geleitet hatte, und er schrieb ihr in diesem Sinne und fügte noch hinzu, daß der schreckliche Verdacht, dessen sie gegen ihn erwähnt, seiner Ansicht·nach auch nicht im Entferntesten begründet sei. So begannen und endeten die Nachforschungen von Mr. Gilmore’s Compagnon.

Unterdessen war Miß Halcombe nach Limmeridge House zurückgekehrt und hatte dort alle ferneren Erkundigungen eingezogen, die sie noch erhalten konnte.

Mr. Fairlie hatte die ersten Nachrichten vom Tode seiner Nichte durch seine Schwester, die Gräfin Fosco, erhalten, deren Brief jedoch auch kein einziges Datum enthielt. Er hatte in den Vorschlag seiner Schwester, daß die Verstorbene in das Grab ihrer Mutter im Friedhofe zu Limmeridge gelegt werde, gewilligt. Graf Fosco hatte die Leiche nach Cumberland begleitet und der Beerdigung in Limmeridge, welche am 22. August stattgefunden, beigewohnt. Um ihre Verehrung darzuthun, folgten alle Dorfbewohner und viele Nachbarn. Am folgenden Tage wurde die Grabschrift (welche, wie es hieß, von der Tante der Verstorbenen abgefaßt und dann ihrem Bruder, Mr. Fairlie, zur Genehmigung vorgelegt worden) auf der einen Seite des Marmors über der Gruft angebracht.

Am Tage des Begräbnisses und den darauf folgenden war Graf Fosco in Limmeridge House als Gast aufgenommen worden, aber Mr. Fairlie’s Wunsche zufolge waren die beiden Herren nicht zusammengekommen. Sie hatten sich schriftlich unterhalten, und Graf Fosco hatte Mr. Fairlie auf diesem Wege mit den Einzelheiten des Todes seiner Nichte bekannt gemacht. Der Brief, welcher dieselben enthielt, fügte keine neuen Auskünfte zu denen, welche bereits bekannt waren; nur das Postscriptum enthielt eine bemerkenswerthe Stelle; dieselbe bezog sich auf Anna Catherick.

Der Inhalt dieser Stelle lief auf Folgendes hinaus:

Er begann damit, Mr. Fairlie zu benachrichtigen, daß Anna Catherick (über die er von Miß Halcombe Näheres erfahren, sobald sie in Limmeridge House eintreffen werde) in der Umgegend von Blackwater Park wieder aufgefunden und sofort wieder unter dieselbe ärztliche Obhut gestellt worden, der sie sich durch die Flucht entzogen.

Dies war der erste Theil des Postscriptums. Der zweite bereitete Mr. Fairlie darauf vor, daß sich Anna Catherick’s Geisteskrankheit durch die lange Aussetzung der Ueberwachung bedeutend verschlimmert habe, und daß ihr wahnsinniger Haß gegen Sir Percival Glyde, der früher ihre hervorragendste Sinnesverwirrung ausgemacht, auch noch jetzt, und zwar unter einer neuen Form, existire. Diese letzte Idee der unglücklichen Person in Bezug auf Sir Percival Glyde bestand darin, ihn zu ärgern und zu kränken und sich selbst, wie sie denke, in den Augen der Patienten und Wärterinnen zu erheben, indem sie sich für seine Gemahlin ausgebe: eine Idee, die sich ihr wahrscheinlich nach einer verstohlenen Zusammenkunft, die sie sich mit Lady Glyde zu verschaffen gewußt, in den Kopf gesetzt habe, bei welcher Gelegenheit sie die auffallende Aehnlichkeit zwischen der verstorbenen Dame und sich selbst wahrgenommen haben müsse. Es sei im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß es ihr je wieder gelingen würde, aus der Anstalt zu entfliehen, jedoch nicht unmöglich, daß es ihr gelingen möchte, die Angehörigen der verstorbenen Lady Glyde mit Briefen zu belästigen, und Mr. Fairlie sei deshalb hiermit gegen solche gewarnt.

Dieses Postscriptum wurde Miß Halcombe gezeigt, als sie nach Limmeridge kam, und es wurden ihr außerdem die Kleider und anderen Effecten übergeben, welche Lady Glyde mit in das Haus ihrer Tante gebracht hatte. Dieselben waren von der Gräfin Fosco sorgfältig zusammengepackt und nach Cumberland gesandt worden.

Dies war die Lage der Sache, als Miß Halcombe anfangs September in Limmeridge eintraf. Kurze Zeit darauf fesselte ein Rückfall sie wieder an das Zimmer, da ihre geschwächte physische Kraft dem Seelenschmerze erlag, den sie noch immer um ihre Schwester litt. Als sie sich nach ungefähr einem Monate wieder erholt, war, ihr Argwohn in Bezug auf die den Tod ihrer Schwester begleitenden Umstände noch immer unerschüttert derselbe.

Sie hatte inzwischen Nichts von Sir Percival Glyde gehört; Graf Fosco und seine Frau hatten – durch die Hand der Letzteren – wiederholte, herzliche Nachfragen über Miß Halcombe’s Befinden angestellt. Anstatt jedoch diese Briefe zu beantworten, hatte Miß Halcombe das Haus in St. John’s Wood, sowie das Verfahren der Bewohner desselben heimlich beobachten lassen. Doch war nichts Verdächtiges dabei entdeckt worden. Ihre nächsten Nachforschungen, welche sie im Geheimen über Mrs. Rubelle veranstaltete, hatte denselben Erfolg. Diese war etwa sechs Monate vorher mit ihrem Manne in London angekommen. Sie waren aus Lyon und hatten bei ihrer Ankunft in London in der Nachbarschaft vom Leicester-Platze ein Haus gemiethet und dasselbe zur Aufnahme von Fremden hergerichtet, die in großer Menge zur Industrieausstellung von 1851 in England erwartet wurden. Sie waren ruhige Leute und hatten bisher redlich Zahlung geleistet.

Ihre letzten Nachforschungen bezogen sich auf Sir Percival Glyde. Er lebte in Paris, und zwar sehr ruhig in einem Kreise englischer und französischer Bekanntschaften.

Doch ungeachtet der Erfolglosigkeit all’ ihrer Bemühungen konnte Miß Halcombe nicht ruhen und beschloß zunächst, die Anstalt zu besuchen, in welcher Anna Catherick zum zweiten Male gefangen war. Sie hatte früher eine große Neugier in Bezug auf dies arme Wesen gefühlt, und dieselbe hatte sich jetzt noch gesteigert; sie wünschte sich zu überzeugen, erstens: ob es wahr sei, daß Anna Catherick sich für Lady Glyde auszugeben versuche, und zweitens (falls dem wirklich so), welche Beweggründe das arme Geschöpf hatte, um diesen Betrug zu wagen.

Obgleich Graf Fosco’s Brief an Mr. Fairlie nicht die Adresse der Anstalt angab, so legte doch dieses Versehen Miß Halcombe keine Schwierigkeiten in den Weg. Als ich Anna Catherick im Friedhofe zu Limmeridge gesprochen, hatte sie mich von der Oertlichkeit des Hauses unterrichtet, und Miß Halcombe hatte die Adresse sofort genau in ihr Tagebuch eingetragen. Demzufolge sah sie in demselben nach und fand die Adresse; sie ließ sich darauf des Grafen Brief an Mr. Fairlie von Letzterem geben, damit derselbe ihr im Nothfalle als eine Art von Beglaubigungsschreiben diene, und brach dann ohne Begleitung am 11. October nach London auf.

Hier brachte sie die Nacht zu. Es war ihre Absicht gewesen, in dem Hause zu schlafen, welches Lady Glyde’s ehemalige Erzieherin bewohnte, doch war ihr Mrs. Vesey’s Aufregung beim Anblicke der nächsten und liebsten Verwandten ihrer verlorenen Schülerin so schmerzlich, daß sie es für rathsamer hielt, nicht länger bei ihr zu bleiben und deshalb in ein benachbartes Familienhôtel zu gehen, das Mrs. Vesey’s verheirathete Schwester ihr empfahl.

Am folgenden Tage begab sie sich nach der Anstalt, welche in nicht großer Entfernung nördlich von London gelegen war.

Sie wurde sofort eingelassen, um mit dem Besitzer zu sprechen. Dieser schien anfangs entschieden abgeneigt, sie seine Patientin sehen zu lassen. Als sie ihm jedoch Graf Fosco’s Postscriptum zeigte und ihn daran erinnerte, daß sie selbst die daran genannte »Miß Halcombe« und eine nahe Anverwandte der verstorbenen Lady Glyde sei, und deshalb – aus Familiengründen – ganz natürlich ein Interesse daran nehme, sich persönlich von Anna Catherick’s Sinnentäuschung in Bezug auf ihre verstorbene Schwester zu überzeugen – da änderten sich Ton und Wesen des Besitzers der Anstalt, und er nahm seine Einwendungen zurück. Er fühlte wahrscheinlich, daß, falls er fortführe, sich zu weigern, dies unter den obwaltenden Verhältnissen nicht nur eine persönliche Unhöflichkeit sein, sondern auch zu der Vermuthung Anlaß geben würde, daß das Verfahren in seiner Anstalt nicht der Art sei, um eine Untersuchung von achtbaren Privaten aushalten zu können.

Miß Halcombe’s eigene Ansicht war, daß Graf Fosco und Sir Percival den Besitzer der Anstalt nicht in ihr Vertrauen gezogen hatten. Ein Beweis hiervon schien darin zu liegen, daß er überhaupt einwilligte, sie mit seiner Patientin zusammenkommen zu lassen, und ging noch ferner aus Einräumungen hervor, welche sicherlich nicht von einem Mitschuldigen gemacht sein würden.

Zum Beispiel unterrichtete er Miß Halcombe im Laufe ihrer vorläufigen Unterredung, daß Anna Catherick ihm am 30. Juli mit den nöthigen Anweisungen und Zeugnissen durch Graf Fosco wieder zurückgebracht worden, welcher ihm dabei einen von Sir Percival Glyde unterzeichneten Brief mit Erklärungen und Instructionen übergeben. Er (der Besitzer der Anstalt) gestand, daß er, als er seine Pflegebefohlene wieder gesehen, einige auffallende persönliche Veränderungen an ihr wahrgenommen. Allerdings seien solche Veränderungen in Geisteskranken seiner Erfahrung nach durchaus nicht ohne Beispiel. Solche Leute seien sich oft innerlich sowohl wie äußerlich zu verschiedenen Zeiten im höchsten Grade ungleich, indem eine Besserung oder Verschlimmerung des geistigen Krankheitszustandes nothwendigerweise Veränderung im äußern Erscheinen des Patienten hervorbringe. Er rechtfertigte diese Veränderungen, sowie auch die gemäßigte Form von Anna Catherick’s Sinnverwirrung, welche sich ohne Zweifel in ihrem Aussehen und Wesen kundgab. Dennoch aber verwirrte es ihn zu Zeiten, daß seine Patientin, ehe sie ihm entwichen, verschieden war von der Patientin, die ihm zurückgebracht worden. Diese Verschiedenheiten waren zu geringfügiger Natur, um beschrieben werden zu können. Er könnte natürlich nicht sagen, daß sie sich in Größe, Gestalt, Gesichtsfarbe oder allgemeiner Gesichtsform entschieden verändert: es war eine Veränderung, welche er mehr fühlte als sah. Kurz, der ganze Fall war ihm von Anfang an ein Räthsel gewesen, dessen Dunkelheit jetzt noch vermehrt werden sollte.

Es darf nicht gesagt werden, daß diese Unterhaltung Miß Halcombe in Wirklichkeit auch nur theilweise auf das vorbereitete, was folgen sollte; aber es machte dennoch einen sehr ernstlichen Eindruck auf sie. Sie fühlte sich in dem Grade ergriffen dadurch, daß es eine Weile währte, bis sie im Stande war, dem Besitzer der Anstalt nach dem Theile des Hauses zu folgen, welchen die Kranken bewohnten.

Es erwies sich, daß Anna Catherick eben in den zu der Anstalt gehörigen Gartenanlagen spazieren ging. Eine der Wärterinnen erbot sich, Miß Halcombe zu ihr zu führen, während der Besitzer der Anstalt einige Minuten im Hause zurückzubleiben genöthigt war, da seine Dienste für einen dringenden Fall in Anspruch genommen wurden, jedoch versprach, Miß Halcombe in Kurzem zu folgen.

Die Wärterin begleitete Miß Halcombe bis zu einem entfernten, geschmackvoll angelegten Theile des Gartens und betrat, nachdem sie um sich geblickt, einen Rasenpfad, der zu beiden Seiten von Gebüsch beschattet wurde. Ungefähr auf der Hälfte dieses Pfades kamen langsam zwei Frauengestalten gegangen. Die Wärterin sagte, auf sie hindeutend:

»Das ist Anna Catherick, Madame, mit ihrer Wärterin, welche Ihnen die Fragen beantworten wird, die Sie ihr vorzulegen wünschen«

Mit diesen Worten verließ sie die Frau, um zu ihren Pflichten im Hause zurückzukehren.

Miß Halcombe ging vorwärts und die beiden Frauen ihrerseits ebenfalls. Als sie ungefähr noch ein Dutzend Schritte von einander entfernt waren, stand die eine der beiden Frauen plötzlich einen Augenblick still, blickte eifrig auf die fremde Dame, stieß schnell die Hand der Wärterin von sich und lag im nächsten Augenblicke in Miß Halcombe’s Armen. Miß Halcombe erkannte ihre Schwester – erkannte die Lebendig-Todte

Glücklicherweise für den Erfolg der später getroffenen Maßregeln war Niemand außer der Wärterin Zeuge dieses Erkennens Sie war ein junges Mädchen und so betreten darüber, daß es ihr unmöglich war, dazwischen zu treten. Sobald sie sich aber wieder gefaßt, wurde ihre ganze Aufmerksamkeit durch Miß Halcombe in Anspruch genommen, die für den Augenblick der Anstrengung erlegen war, unter der gewaltigen Bewegung dieser Entdeckung Herrin ihrer Sinne zu bleiben. Nach einigen Minuten gelang es der frischen Luft und dem kühlen Schatten, mit Hülfe ihrer natürlichen Energie und Willenskraft, sie soweit wiederherzustellen, daß sie sich an die Nothwendigkeit zu erinnern im Stande war, um ihrer unglücklichen Schwester willen all’ ihre Geistesgegenwart zusammenzuraffen.

Unter der Bedingung, daß sie sich nicht aus ihrem Gesichtskreise entfernten, gestattete ihnen die Wärterin, sich allein zu unterhalten.

Es war keine Zeit zu fragen – Miß Halcombe konnte die unglückliche Dame nur mit dringenden Bitten auf die Nothwendigkeit aufmerksam machen, sich zu fassen und zu beherrschen, in welchem Falle sie ihr schnelle Hülfe und Rettung zusichern könne.

Die Aussicht auf Befreiung aus der Anstalt, indem sie den Vorschriften ihrer Schwester gehorchte, genügte, um Lady Glyde zu beruhigen und sie begreifen zu lassen, was von ihr verlangt wurde. Miß Halcombe kehrte dann zu der Wärterin zurück, gab ihr alles Gold, das sie bei sich hatte (drei Sovereigns) und frug sie, wann sie werde allein mit ihr sprechen können.

Das Mädchen war anfangs erstaunt und mißtrauisch. Als aber Miß Halcombe erklärte, sie habe ihr nur einige Fragen vorzulegen, für die sie augenblicklich zu aufgeregt, habe durchaus nicht die Absicht, sie zu einer Verletzung ihrer Pflichten zu verleiten, nahm sie das Geld und schlug drei Uhr des folgenden Nachmittags als die Stunde zu einer Unterredung vor. Sie könne dann, nachdem die Kranken zu Mittag gespeist, auf eine halbe Stunde hinausschlüpfen und an einem versteckten Orte außerhalb der hohen Nordmauer, welche sie um die Gartenanlagen zog, mit der Dame sprechen.

Miß Halcombe hatte nur noch Zeit hierein zu willigen und ihrer Schwester zuzuflüstern, daß sie am folgenden Tage von ihr hören solle, als der Besitzer der Anstalt zu ihnen kam. Er bemerkte Miß Halcombe’s Bewegung, welche sie erklärte, indem sie sagte, daß ihre Unterredung mit Anna Catherick sie anfangs etwas ergriffen habe. Sie verabschiedete sich dann so schnell als möglich, das heißt, sobald sie Muth genug sammeln konnte, um sich von ihrer unglücklichen Schwester zu trennen.

Als sie wieder im Stande war, ruhig nachzudenken, überzeugte ganz kurze Ueberlegung sie, daß jeder Versuch die Identität von Lady Glyde auf dem Wege des Rechtes festzustellen und sie zu befreien – selbst wenn derselbe ein erfolgreicher wäre – einen Verzug herbeiführen würde, der den Geisteskräften ihrer Schwester, welche durch die Schrecken ihrer Lage bereits erschüttert waren, verderblich werden könnte. Bis Miß Halcombe wieder in London anlangte, hatte sie beschlossen, Lady Glyde’s Befreiung heimlich und mit Hülfe der Wärterin zu bewerkstelligen.

Sie ging sofort zu ihrem Geldmäkler und verkaufte die Actien des ganzen kleinen Vermögens, das sie besaß und das sich auf etwa siebenhundert Pfund belief. Entschlossen, die Freiheit ihrer Schwester, falls dies nothwendig, mit dem letzten Heller, den sie in der Welt besaß, zu erkaufen, begab sie sich, indem sie die ganze Summe in Banknoten in der Tasche bei sich trug, an den für die Zusammenkunft bestimmten Ort jenseits der Mauer der Anstalt.

Die Wärterin erwartete sie hier. Miß Halcombe kam durch viele vorläufige Fragen vorsichtig auf den Gegenstand ihrer Wünsche. Sie erfuhr unter andern, daß man die Wärterin, welche früher die wahre Anna Catherick beaufsichtigt, für die Flucht derselben verantwortlich gemacht (obgleich sie nicht dafür zu tadeln gewesen) und sie ihrer Stellung entsetzt hatte. Dieselbe Strafe, fügte das Mädchen hinzu, würde auf sie fallen, falls die angebliche Anna Catherick ebenfalls entwiche; außerdem habe sie ein besonderes Interesse, um ihre Stelle zu behalten. Sie war verlobt und wartete, bis sie und ihr Verlobter im Stande sein würden, zwischen zwei und dreihundert Pfund zusammen zu sparen, um ein Geschäft zu entriren, das es ihnen möglich machen würde, zu heirathen. Sie erhielt einen guten Lohn und hoffte es durch strenge Sparsamkeit zu ermöglichen, in zwei Jahren ihren Antheil an der erforderlichen Summe beitragen zu können.

Auf diesen Wink hin sprach Miß Halcombe.

Sie unterrichtete die Wärterin, daß die angebliche Anna Catherick eine nahe Anverwandte von ihr sei; daß sie durch ein unglückseliges Mißverständniß in die Anstalt gebracht worden, und daß es eine gute, christliche Handlung von ihr – der Wärterin – sein würde, falls sie ihr behilflich wäre, die arme Dame zu befreien. Ohne dem armen Mädchen Zeit zu irgend einer Einwendung zu lassen, nahm Miß Halcombe vier Banknoten, jede zu hundert Pfund, aus ihrem Taschenbuche und bot sie ihr als Entschädigung für die Gefahr, die sie laufen würde, und für den Verlust ihrer Stelle an.

Die Wärterin zögerte aus bloßer Ueberraschung und Ungläubigkeit. Aber Miß Halcombe fuhr entschlossen fort, in sie zu dringen.

»Sie werden eine gute Handlung thun,« sagte sie; »Sie werden einer auf’s Tiefste verletzten, unglücklichen Dame helfen. Hier ist Ihr Heirathsgut als Belohnung. Bringen Sie sie sicher zu mir hierher, und ich will Ihnen diese vier Banknoten geben, ehe ich sie von Ihnen entgegennehme.«

»Wollen Sie mir einen Brief mit diesen Worten geben, den ich meinem Bräutigam zeigen kann, wenn er mich fragt, woher ich das Geld habe?« frug das Mädchen.

»Ich will den Brief fertig geschrieben und unterzeichnet mit mir bringen,« sagte Miß Halcombe.

»Dann will ich es wagen,« sagte das Mädchen.

»Wann?«

»Morgen.«

Sie kamen dann eilig überein, daß Miß Halcombe am folgenden Morgen zeitig wiederkommen und zwischen den Bäumen versteckt warten – jedoch sich immer in der Nähe der Stelle hinter der Nordmauer aufhalten solle. Die Wärterin konnte nicht genau bestimmen, wann sie kommen werde, da es die Vorsicht erforderte, daß sie sich durch die Umstände leiten ließe. Auf diese Uebereinkunft hin trennten sie sich dann.

Miß Halcombe war nächsten Morgens schon vor zehn Uhr mit dem versprochenen Briefe und den Banknoten an der bestimmten Stelle. Sie wartete länger als anderthalb Stunden. Nach Verlaufe derselben sah sie die Wärterin schnell um die Ecke kommen, indem sie Lady Glyde am Arme hatte. Sowie sie einander gegenüberstanden, gab Miß Halcombe den Brief und die Banknoten in ihre Hände – und die Schwestern waren wieder vereinigt.

Die Wärterin hatte Lady Glyde mit vortrefflichem Vorbedacht in einen Hut, Schleier und Shawl gekleidet, die ihr – der Wärterin – gehörten. Miß Halcombe hielt sie nur zurück, um ihr die Mittel anzudeuten, durch welche die Verfolgung in die falsche Richtung geleitet werden könne, sobald man die Flucht in der Anstalt entdecken würde. Sie sollte zum Hause zurückkehren; dann, wie zufällig, in Gegenwart der andern Wärterinnen erwähnen, daß Anna Catherick sich neulich nach der Entfernung von London nach Hampshire erkundigt, – bis zu dem letzten Augenblicke warten, wo die Entdeckung der Flucht unvermeidlich sein würde, und dann Lärm über Anna Catherick’s Verschwinden zu machen. Die angeblichen Erkundigungen in Bezug auf Hampshire würden den Besitzer der Anstalt, sobald sie ihm mitgetheilt worden, auf die Vermuthung führen, daß seine Patientin unter dem Einflusse der Sinnestäuschung, in der sie sich noch immer für Lady Glyde ausgab, nach Blackwater Park zurückgekehrt sei, wonach die erste Verfolgung aller Wahrscheinlichkeit nach in dieser Richtung vorgenommen werden würde.

Die Wärterin versprach, diesem Plane zu folgen –  und zwar um so bereitwilliger, da er ihr die Mittel bot, sich gegen schlimmere Folgen, als die des Verlustes ihrer Stelle zu sichern, indem sie im Hause blieb und so wenigstens den Schein der Unschuld bewahrte.

Sie kehrte sofort in die Anstalt zurück und Miß Halcombe verlor keine Zeit, ihre Schwester nach London und in Sicherheit zu bringen. Sie kamen noch zur rechten Zeit an, um mit dem Nachmittagszuge nach Carlisle zu reisen, und langten noch an demselben Abende ohne Unfall oder Schwierigkeit in Limmeridge an.

Während der letzten Strecke ihrer Reise waren sie allein im Waggon, und es gelang Miß Halcombe, solche Erinnerungen der Vergangenheit zu sammeln, wie das verwirrte und geschwächte Gedächtniß ihrer Schwester sie sich zurückzurufen vermochte Die Einzelheiten des ausgeübten Complotts, welche sie sich auf diese Weise verschaffte, waren abgebrochen und im höchsten Grade unzusammenhängend. So unvollkommen jedoch diese Mittheilungen waren, müssen sie dennoch hier berichtet werden, ehe diese erläuternde Abtheilung unserer Erzählung mit den Ereignissen des folgenden Tages in Limmeridge schließt.

Folgende Einzelheiten sind Alles, was Miß Halcombe zu erfahren vermochte.

Lady Glyde’s Erinnerungen an die Ereignisse, welche ihrer Abreise von Blackwater Park folgten, begannen mit ihrer Ankunft auf der Station der Südwestbahn in London. Sie hatte nicht daran gedacht, sich vorher ein Memorandum über den Tag zu machen, an welchem sie die Reise machte. Alle Hoffnung mußte somit aufgegeben werden, dieses wichtige Datum durch ihr Zeugniß oder das der Haushälterin, Mrs. Michelson, genau zu erfahren.

Bei der Ankunft des Zuges am Perron fand Lady Glyde, daß Graf Fosco sie dort erwartete. Er war an der Wagenthür, sowie nur der Schaffner dieselbe öffnete. Der Zug brachte ungewöhnlich viele Passagiere, und es gab daher ein großes Gedränge und große Verwirrung bei dem Gepäcke. Das von Lady Glyde wurde von Jemandem verschafft, den der Graf mitgebracht hatte. Es war alles mit ihrem Namen versehen. Sie fuhr dann mit dem Grafen allein in einem Wagen ab, den sie zur Zeit nicht besonders beachtete.

Ihre erste Frage, indem sie die Station verließen, war nach Miß Halcombe. Der Graf unterrichtete sie, daß Miß Halcombe noch nicht nach Cumberland abgereist sei, da er nach reiflicherer Ueberlegung an der Rathsamkeit gezweifelt, sie, ohne daß sie vorher ein paar Tage ausgeruht, eine so lange Reise unternehmen zu lassen.

Lady Glyde frug dann, ob ihre Schwester sich augenblicklich im Hause des Grafen aufhalte.

Ihre Erinnerung der Antwort des Grafen war verwirrt und nur insoweit deutlich, daß der Graf ihr gesagt habe, er sei im Begriffe, sie zu Miß Halcombe zu führen. Lady Glyde war so wenig mit London bekannt, daß sie nicht sagen konnte, durch welche Straßen sie kamen. Aber sie war gewiß, daß sie die Straßen nicht verlassen, und daß sie an keinen Gärten oder Bäumen vorbeikamen. Als der Wagen stille hielt, war dies in einer engen Straße hinter einem großen Platze – einem Platze mit Kaufläden, öffentlichen Gebäuden und großer Menschenmenge. Diesen Erinnerungen zufolge (in denen Lady Glyde sich klar war), scheint es, daß Graf Fosco sie nicht nach seiner eigenen Wohnung in der Vorstadt St. John’s Wood brachte.

Sie gingen ins Haus und nach einer Hinterstube entweder in der ersten oder zweiten Etage hinauf. Das Gepäck wurde sorgfältig hereingetragen; eine Magd öffnete die Thür, und ein Mann mit einem Barte, dem Anscheine nach ein Ausländer, empfing sie im Flur und führte sie dann mit großer Höflichkeit die Treppe hinauf. Auf Lady Glyde’s Fragen entgegnete der Graf, daß Miß Halcombe sich im Hause befinde und sofort von der Ankunft ihrer Schwester benachrichtigt werden solle. Er ging dann mit dem fremden Manne fort und ließ sie allein im Zimmer. Dasselbe war ärmlich als Wohnzimmer meublirt und bot eine Aussicht auf die Hinterseite einer Straße.

Es war auffallend stille im Hause; auf der Treppe kamen und gingen keine Schritte, und sie hörte Nichts als ein dumpfes Murmeln von Männerstimmen in dem Zimmer unter dem, in welchem sie sich befand. Sie war nicht lange allein geblieben, als der Graf zurückkam, um ihr anzukündigen, daß Miß Halcombe augenblicklich schlafe und auf eine Weile nicht gestört werden könne. Es begleitete ihn ein Herr (ein Engländer), den er ihr als seinen Freund vorstellen zu dürfen bat. Nach dieser sonderbaren Vorstellung – bei welcher, soviel Lady Glyde sich entsinnen konnte, keine Namen genannt wurden – blieb sie mit dem Fremden allein. Er war vollkommen höflich, aber er erschreckte und verwirrte sie durch einige sonderbare Fragen in Bezug auf sie selbst und durch seine seltsamen Blicke, während er dieselben an sie richtete. Nach einer kleinen Weile ging er wieder hinaus; und ein paar Minuten später trat ein zweiter Fremder (ebenfalls ein Engländer) herein. Dieser Letztere stellte sich selbst als einen Freund des Grafen Fosco vor und begann dann seinerseits sie durch seltsame Blicke und Fragen zu verwirren, wobei er sie nicht ein einziges Mal, soviel sie sich zu erinnern vermochte, bei ihrem Namen anredete; worauf er dann bald, wie der Erste, das Zimmer wieder verließ.

Sie war jetzt bereits so ängstlich geworden und so besorgt um ihre Schwester, daß sie daran dachte, wieder hinunter zu gehen und den Beistand des einzigen weiblichen Wesens anzurufen, das sie im Hause gesehen: der Magd nämlich, welche ihnen die Hausthür geöffnet hatte.

Als sie sich eben von ihrem Sessel erhoben, kehrte der Graf ins Zimmer zurück. Sie frug ihn sogleich voll Besorgniß, wie lange ihr Zusammenkommen mit ihrer Schwester noch verschoben bleiben müsse? Zuerst gab er ihr eine ausweichende Antwort, dann aber, als sie immer ängstlicher in ihn drang, bekannte er, anscheinend mit großem Widerstreben, daß Miß Halcombe sich durchaus nicht so wohl befinde, wie er es sie bisher habe glauben lassen. Der Ton und die Art und Weise, in der er ihr diese Antwort gab, beunruhigten Lady Glyde in dem Grade, oder erhöhten vielmehr noch so peinlich die Besorgniß, welche sie in Gegenwart der beiden fremden Herren gefühlt, daß sie von einer plötzlichen Schwäche befallen wurde und um ein Glas Wasser zu bitten genöthigt war. Der Graf ging an die Thür und rief, daß man ihm ein Glas Wasser und ein Riechfläschchen brächte. Das Wasser hatte, als Lady Glyde es zu trinken versuchte, einen so sonderbaren Geschmack, daß es ihr Unwohlsein verschlimmerte und sie schnell dem Grafen das Riechfläschchen aus der Hand nahm, um daran zu riechen. Es wurde ihr, augenblicklich schwindelig; der Graf fing das Fläschchen auf, als es ihren Händen entfiel, und das Letzte, dessen sie sich bewußt, war, daß er es ihr zum zweiten Male zu riechen vorhielt.

Von diesem Punkte an waren ihre Erinnerungen unklar, abgebrochen und schwer mit jeder annehmbaren Wahrscheinlichkeit zu vereinigen.

Ihrem eigenen Eindrucke zufolge kehrte ihr erst spät am Abend das Bewußtsein zurück; ihre Erinnerung war, daß sie darauf das Haus verließ; daß sie (wie sie es vorher im Blackwater Park beschlossen) zu Mrs. Vesey ging, dort Thee trank und die Nacht zubrachte. Sie war durchaus nicht im Stande, anzugeben, wie, wann oder in welcher Gesellschaft sie das Haus verlassen, in das Graf Fosco sie geführt. Sie blieb bei der Behauptung, daß sie bei Mrs. Vesey gewesen, und, was noch merkwürdiger war, daß Mrs. Rubelle sie zu Bette gebracht! Sie konnte sich nicht entsinnen, wovon man bei Mrs. Vesey gesprochen, wen sie dort noch außer dieser Dame gesehen, oder warum Mrs. Rubelle im Hause gewesen und ihr geholfen habe.

Ihre Erinnerung an das, was sich am folgenden Morgen zugetragen, war noch unklarer und unzuverlässiger. Sie hatte eine undeutliche Idee, als ob sie mit dem Grafen und mit Mrs. Rubelle als weiblicher Begleitung ausgefahren, doch konnte sie nicht sagen, zu welcher Stunde, noch wie, wann und weshalb sie Mrs. Vesey verlassen. Ebensowenig konnte sie sich erinnern, welche Richtung der Wagen nahm, wo sie ausstieg, und ob der Graf und Mrs. Rubelle fortwährend bei ihr blieben oder nicht. An diesem Punkte ihrer traurigen Geschichte war eine vollkommene Leere. Sie hatte auch nicht den schwächsten Eindruck irgend einer Art zu berichten – keine Idee, ob ein Tag oder mehr als ein Tag verflossen war, bis sie plötzlich an einem fremden Orte, wo unbekannte Frauen sie umringten, wieder zur Besinnung kam.

Dies war die Irrenanstalt. Hier hörte sie sich zuerst bei Anna Catherick’s Namen nennen, und hier als letzten bemerkenswerthen Umstand in der Erzählung des an ihr begangenen Verrathes gewahrte sie mit ihren eigenen Augen, daß sie Anna Catherick’s Kleider trug.

Die Wärterin hatte ihr am ersten Abende, da sie sie auskleidete, die Zeichen in jedem einzelnen Gegenstande ihrer Unterkleider gezeigt und ihr dabei ohne alle Unfreundlichkeit oder Gereiztheit gesagt:

»Sehen Sie doch Ihren eignen Namen in Ihren eignen Kleidern an und langweilen Sie uns nicht mehr mit Ihrer Idee, daß Sie Lady Glyde wären. Die ist todt und begraben, und Sie sind lebendig und gesund. Sehen Sie doch Ihre Kleider einmal an! Da steht es ja, mit guter Zeichentinte, und an derselben Stelle werden Sie es in all Ihren Kleidern finden, die wir hier für Sie aufbewahrt haben: ›Anna Catherick,‹ so deutlich als ob es gedruckt wäre!«

Und allerdings war es da, als Miß Halcombe am Abende ihrer Ankunft in Limmeridge House die Leinwand ihrer Schwester besichtigte.

Dies war in deutlichen Ausdrücken die Erzählung, welche Miß Halcombe auf der Fahrt nach Cumberland durch sorgfältige Fragen aus ihrer Schwester herausbrachte. Miß Halcombe enthielt sich, mit Fragen über die Ereignisse in der Anstalt in sie zu dringen, da ihr Gemüthszustand offenbar nicht der Art war, diese Erinnerungen zu ertragen. Man erfuhr durch das freiwillige Bekenntniß des Eigenthümers der Anstalt, daß sie am 30. Juli in derselben aufgenommen worden war. Von diesem Tage an bis zu dem 15. October (dem Tage ihrer Befreiung) war sie in Haft gewesen, indem man systematisch ihre Identität als Anna Catherick behauptete und ihr entschieden von Anfang bis zu Ende ihren gesunden Verstand ableugnete. Seelen, die weniger fein geartet, und Naturen, die weniger zart organisirt gewesen wären, hätten unter einer solchen Feuerprobe erliegen müssen. Kein Mann hätte sie durchmachen und unverändert daraus hervorgehen können.

Da sie erst spät am Abende des 15. Octobers in Limmeridge House anlangten, beschloß Miß Halcombe wohlweislich, den Versuch, Lady Glyde’s Identität geltend zu machen, bis zum folgenden Tage zu verschieben.

Am nächsten Morgen war ihr Erstes, zu Mr. Fairlie zu gehen; sie erzählte ihm dann nach aller erdenklichen Vorsicht und Vorbereitung mit einfachen, klaren Worten, was sich zugetragen. Sobald er sich von seinem ersten Erstaunen und seiner Bestürzung einigermaßen erholt, erklärte er mit zornigen Worten, Miß Halcombe habe sich durch Anna Catherick zum Narren halten lassen. Er verwies sie auf Graf Fosco’s Brief und auf das, was sie selbst ihm über die Aehnlichkeit zwischen Anna und seiner verstorbenen Nichte mitgetheilt hatte, und weigerte sich entschieden, auch nur auf eine einzige Minute eine Wahnsinnige vor sich zu lassen, welche in sein Haus gebracht zu haben allein schon Beleidigung genug für ihn sei.

Miß Halcombe verließ das Zimmer und wartete, bis sich die erste Hitze ihrer Entrüstung gelegt; sie beschloß nach reiflicher Ueberlegung, daß Mr. Fairlie im bloßen Interesse der Menschlichkeit seine Nichte sehen solle, ehe er seine Thüren gegen sie schloß, wie gegen eine Fremde, und führte dann Lady Glyde, ohne ihn vorher auch nur durch ein Wort hierauf vorzubereiten, in sein Zimmer. Der Diener war an der Thür aufgestellt, um ihnen den Eintritt zu wehren; aber Miß Halcombe bestand auf ihren Vorsatz und drang, ihre Schwester an der Hand haltend, in Mr. Fairlie’s Zimmer ein.

Der Auftritt, welcher folgte, war, obgleich er nur wenige Minuten währte, zu schmerzlich, um beschrieben zu werden. – Miß Halcombe selbst konnte sich nicht überwinden, davon zu sprechen. Genüge es, zu sagen, daß Mr. Fairlie in den entschiedensten Ausdrücken erklärte, er erkenne die Person, die man ihm vorführe, nicht; er sehe Nichts in ihren Manieren oder ihrem Gesichte, das ihn einen Augenblick daran zweifeln ließe, daß seine Nichte im Kirchhofe von Limmeridge begraben liege, und daß er den Schutz des Gesetzes anrufen wolle, falls die Person nicht, ehe der Tag zu Ende, sein Haus verlassen haben werde.

Selbst wenn man Mr. Fairlie’s Egoismus, Trägheit und angeborenen Gefühlsmangel aus dem allerschlimmsten Gesichtspunkte betrachtete, war es doch offenbar unmöglich, anzunehmen, daß er einer solchen Schändlichkeit fähig gewesen wäre, das Kind seines Bruders geflissentlich zu verleugnen.

Miß Halcombe legte dem Einflusse des Vorurtheils und der Bestürzung auf höchst humane und verständige Weise sein volles Gewicht bei und erklärte sich dadurch, was sich zugetragen. Als sie aber darauf die Probe mit der Dienerschaft machte und fand, daß auch sie durchgängig wenigstens unsicher waren, ob die Dame, die man ihnen vorstellte, ihre junge Gebieterin oder Anna Catherick sei (von deren Aehnlichkeit mit der Ersteren sie Alle gehört hatten), konnte Miß Halcombe nicht länger zweifeln, daß die Veränderung, welche die lange Haft im Irrenhause in Lady Glyde’s Aussehen und Wesen hervorgebracht, eine weit bedeutendere sei, als sie zuerst angenommen hatte. Der schändliche Betrug, der ihren Tod behauptet, bot aller Entdeckung, selbst in dem Hause, in welchem sie geboren war, und bei den Leuten, unter denen sie gelebt, Trotz.

In weniger kritischen Verhältnissen hätte der Versuch auch jetzt noch nicht als hoffnungslos aufgegeben zu werden brauchen.

Die Kammerjungfer, Fanny, zum Beispiel, die zur Zeit zufällig nicht in Limmeridge anwesend war, wurde in ein paar Tagen zurückerwartet; und dies würde eine Aussicht geboten haben, mit ihrem Erkennen den Anfang zu machen, da sie in weit vertrauterem Umgange mit ihrer jungen Gebieterin gelebt und ihr weit herzlicher zugethan war, als die übrige Dienerschaft. Dann auch hätte Lady Glyde heimlich im Hause oder im Dorfe zu Limmeridge bleiben können, bis sich ihre Gesundheit wieder etwas befestigt und ihre Geisteskräfte wieder hergestellt hatten; denn sobald sie sich wieder auf ihr Gedächtniß verlassen konnte, würde sie natürlicherweise Personen und Ereignisse der Vergangenheit erwähnt haben, und zwar mit einer Sicherheit und Genauigkeit, die eine Betrügerin nicht hätte nachahmen können; und so hätte ihre Identität, welche festzustellen ihrem eignen Erscheinen nicht gelungen war, später mit Hülfe der Zeit durch ihre eignen Worte noch unzweifelhafter bewiesen werden können.

Aber die Verhältnisse, unter welchen sie ihre Freiheit wiedergewonnen, machten diese Zufluchtsmittel geradezu unanwendbar. Die Verfolgung von Seiten der Irrenanstalt, die nur für den Augenblick nach Hampshire hin abgelenkt worden, mußte unfehlbar zunächst sich nach Cumberland richten. Die mit der Verfolgung beauftragten Personen konnten in wenigen Stunden in Limmeridge eintreffen, und in Mr. Fairlie’s gegenwärtiger Stimmung durften sie mit Bestimmtheit auf seinen Beistand als örtliche Autorität rechnen. Die gewöhnlichste Rücksicht für Lady Glyde’s Sicherheit zwang Miß Halcombe, den Kampf aufzugeben, um recht gegen sie zu handeln, und sie sofort von dem Orte zu entfernen, der ihr jetzt gefährlicher war, als jeder andere – aus ihrer eignen Heimath.

Augenblickliche Rückkehr nach London war die erste und weiseste Sicherheitsmaßregel, an die sie dachte. In der großen Stadt konnte jede Spur von ihnen am Schnellsten und Sichersten getilgt werden. Es waren keine Reisevorbereitungen zu treffen – und Niemand da, mit dem sie herzliche Abschiedsworte zu wechseln gehabt hätten.

Am Nachmittage jenes denkwürdigen 16. Octobers ermunterte Miß Halcombe ihre Schwester zu einer letzten Muthanstrengung, und ohne von einer lebenden Seele Abschied zu nehmen, gingen die Beiden allein in die Welt hinaus und wandten Limmeridge House auf immer den Rücken.

Sie hatten den Hügel oberhalb des Friedhofes erreicht, als Lady Glyde darauf bestand, umzukehren und noch einmal das Grab ihrer Mutter zu sehen. Miß Halcombe versuchte sie davon abzubringen, doch gelang es ihr diesmal nicht. Sie war unerschütterlich. Ihre matten Augen leuchteten mit plötzlichem Feuer und blitzten durch den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte; die abgemagerten Finger schlossen sich fester und krampfhafter um den treuen Arm, auf den sie sich bisher so kraftlos gelehnt. Ich glaube im Innersten meines Herzens, daß Gottes Hand ihnen den Weg rückwärts wies und daß es dem schuldlosesten und geprüftesten all’ seiner Geschöpfe in jenem schweren Augenblicke vergönnt war, dies zu sehen.

Sie gingen zurück und auf den Begräbnißplatz und besiegelten hiedurch die Zukunft unserer drei Leben.



Kapiteltrenner

III.

Dies war die Geschichte der Vergangenheit – soweit sie uns bekannt war.

Zwei einleuchtende Schlüsse boten sich meinem Geiste, nachdem ich sie angehört hatte. Ich erkannte erstens dunkel die Natur des Complotts: wie man Zufälligkeiten beobachtet und Umstände benutzt hatte, um ein verwegenes und schwieriges Verbrechen gegen Strafe zu sichern. Während alle Einzelheiten mir noch ein Geheimniß blieben, war mir doch die schändliche Art und Weise, in der man sich die zufällige Aehnlichkeit der Frau in Weiß mit Lady Glyde zu Nutze gemacht, vollkommen klar. Es lag auf der Hand, daß Anna Catherick als Lady Glyde in Graf Fosco’s Hause eingeführt worden, und daß Lady Glyde die Stelle der Verstorbenen in der Anstalt eingenommen – wobei man die Substituirung so ausgeführt, daß unschuldige Leute (wenigstens der Arzt und die beiden Mägde, ganz gewiß und wahrscheinlich auch der Besitzer der Irrenanstalt) Mitschuldige an dem Verbrechen wurden.

Der zweite Schluß war die nothwendige Folge des ersten. Wir Drei durften vom Grafen und von Sir Percival Glyde keine Barmherzigkeit erwarten. Der Erfolg des Verbrechens hatte jenen beiden Männern einen klaren Gewinn von dreißigtausend Pfund gebracht – dem einen zwanzig- und dem andern durch seine Frau zehntausend. Sie hatten dieses Interesse sowohl, als noch andere, um sich nach Kräften gegen Blosstellung zu wahren, und würden daher kein Opfer scheuen, keinen Betrug unversucht lassen, um das Versteck ihres Opfers zu entdecken und dasselbe wieder von den einzigen Freunden zu reißen, das es in der Welt besaß: von Marianne Halcombe und von mir.

Das Bewußtsein dieser drohenden Gefahr – einer Gefahr, welche jeden Tag, jede Stunde uns näher brachte – bestimmte mich in der Wahl eines Zufluchtsortes für uns. Ich nahm deshalb eine Wohnung im entlegenen Ostviertel der Stadt, wo es am wenigsten müßige Leute gab, die sich in den Straßen umhertrieben. Ich wählte diesen ärmlichen und bevölkerten Stadttheil, weil, je schwerer die Männer und Frauen unserer Nachbarschaft um einen Lebensunterhalt zu kämpfen hatten, ihnen destoweniger Zeit und Gelegenheit blieb, um sich um die Fremden zu bekümmern, welche der Zufall unter sie führte. Dies waren die großen Vortheile, weiche ich hauptsächlich im Auge hatte; aber unsere obscure Wohnung war auch noch in einer anderen und vielleicht nicht minder wichtigen Beziehung ein Gewinn für uns. Wir konnten hier durch die tägliche Arbeit meiner Hände um ein Billiges leben und jeden Heller aufsparen, um unsern Zweck zu fördern – den rechtschaffenen Zweck, ein beispielloses Unrecht wieder gut zu machen, den ich jetzt fest und unausgesetzt im Auge behielt.

In einer Woche waren Marianne Halcombe und ich übereingekommen, wie wir unsere neue Lebensweise einrichten wollten.

Es wohnte außer uns Niemand im Hause, und wir konnten in demselben aus- und eingehen, ohne unsern Weg durch den Laden zu nehmen. Ich bestimmte, daß, wenigstens für’s Erste, weder Marianne noch Laura ohne mich das Haus verließen, und daß sie in meiner Abwesenheit Niemanden unter irgend welchem Vorwande in ihre Zimmer einließen. Sobald wir diese Regel festgesetzt, ging ich zu einem Bekannten früherer Zeiten – einem Holzschneider mit einer ausgebreiteten Kundschaft – um mir bei ihm Beschäftigung zu suchen, wobei ich ihm zugleich sagte, daß ich Gründe habe zu wünschen, unbekannt zu bleiben.

Er schloß hieraus sogleich, daß ich Schulden habe, drückte auf die übliche Weise sein Bedauern darüber aus und versprach, zu thun, was er könne, um mir zu helfen. Ich störte ihn nicht in seinem Wahne und nahm die Arbeit an, welche er mir zu geben hatte. Er wußte, daß er sich auf meine Erfahrung und meinen Fleiß verlassen konnte. Ich besaß, was er suchte: Ausdauer und Fertigkeit, und obgleich mein Verdienst nur klein, so reichte er doch aus für unsere Bedürfnisse. Sobald wir hierüber beruhigt waren, legten Marianne Halcombe und ich zusammen, was wir besaßen. Es blieben ihr noch zwei bis dreihundert Pfund von ihrem kleinen Vermögen und mir noch fast dasselbe von dem Ertrage des Verkaufs meiner Kundschaft, ehe ich England verlassen hatte; zusammen besaßen wir mehr als vierhundert Pfund. Ich legte dieses kleine Vermögen in einer Bank nieder, um mit ihm jene geheimen Nachforschungen und Erkundigungen zu bestreiten, welche ich anzustellen und allein durchzuführen entschlossen war, falls ich Niemanden fand, um mir zu helfen. Wir berechneten unsere wöchentlichen Ausgaben bis auf den Heller und griffen niemals unser kleines Capital an, ausgenommen für Laura und in Laura’s Angelegenheiten

Der Hausarbeit, welche, falls wir gewagt hätten, eine fremde Person zu uns zu nehmen, einer Magd anheim gefallen wäre, nahm sich Marianne Halcombe gleich vom ersten Tage an, als ob sie ihr von Rechtswegen zukomme. »Was Frauenhände können,« sagte sie, »das sollen die meinigen thun, vom Morgen bis zum Abend«; und sie zitterten, als sie sie hinhielt. Die abgemagerten Arme erzählten ihre traurige Geschichte der jüngst vergangenen Zeit, als sie die Aermel des bescheidenen Kleides aufstreifte, welches sie der Sicherheit wegen trug; aber ihr unverwüstlicher Geist loderte selbst jetzt noch hell in ihr. Ich sah große Thränen in ihre Augen kommen und langsam über ihre Wangen rollen, als sie mich anblickte. Sie wischte sie fort mit einem Anfluge ihrer alten Energie und lächelte mir mit einem matten Widerscheine ihrer alten frohen Laune zu. »Zweifle nicht an meinem Muthe, Walter,« sagte sie, »es ist meine Schwäche, welche weint, nicht ich. Die Hausarbeit soll sie überwinden, falls ich es nicht im Stande bin.«

Und sie hielt Wort: der Sieg war gewonnen, als wir Abends wieder zusammenkamen und uns setzten, um auszuruhen. Ihre großen, sicheren,– schwarzen Augen schauten mich mit dem Leuchten ihrer ehemaligen klaren Festigkeit an.

»Noch bin ich nicht ganz erschlafft,« sagte sie, »man darf mir noch meinen Theil der Arbeit anvertrauen.«

Ehe ich ihr noch antworten konnte, setzte sie flüsternd hinzu:

»Und meinen Theil an Wagniß und Gefahr ebenfalls. Denke daran, wenn die Zeit kommen sollte!«

Ich dachte daran, als die Zeit kam.

Schon vor Ablauf des Monats war unsere Lebensweise ruhig in ihren neuen Gang eingetreten, und wir Drei waren so vollkommen in unserem Verstecke isolirt, als ob das Haus, in dem wir wohnten, eine wüste Insel und das große Straßennetz um uns her mit seiner wogenden Menschenmasse die Wasser einer unermeßlichen See gewesen wären.

Ich durfte jetzt auf einige Muße rechnen, um meine Pläne in Bezug auf mein künftiges Verfahren in Ueberlegung zu ziehen und zu erwägen, wie ich mich gleich zu Anfang am Sichersten für den bevorstehenden Kampf mit Sir Percival und dem Grafen waffnen könnte.

Ich gab alle Hoffnung auf, mich auf mein Erkennen Laura’s oder auf Mariannen’s Erkennen ihrer zum Beweise ihrer Identität zu berufen. Hätten wir sie weniger innig geliebt, wäre der Instinkt, den diese Liebe uns eingepflanzt, nicht viel sicherer gewesen, denn alle Beweisgründe der Vernunft, viel schärfer, denn die schärfsten Beobachtungen, so wären selbst wir vielleicht unsicher gewesen, als wir sie zuerst wieder erblickten.

Die äußeren Veränderungen, welche die Leiden und Schrecken der jüngsten Vergangenheit auf furchtbare, ja fast hoffnungslose Weise in ihr hervorgebracht, hatten ihre unheilbringende Aehnlichkeit mit Anna Catherick noch vergrößert. In meinen Mittheilungen über die Ereignisse während meines Aufenthaltes in Limmeridge House habe ich nach meinen eigenen Beobachtungen der Beiden erwähnt, wie die Aehnlichkeit, so auffallend dieselbe auch im Allgemeinen, sobald man sie einem genaueren Vergleiche unterwarf, in manchen Punkten nicht stichhaltig war. Früher, falls man Beide nebeneinander gesehen, hätte Niemand sie verwechseln können, wie dies so oft bei Zwillingen der Fall ist. Doch Dies konnte ich jetzt nicht mehr behaupten. Jener Kummer und jenes Leiden, welche selbst nur durch einen flüchtigen Gedanken mit Laura Fairlie in Verbindung zu bringen ich mir Vorwürfe gemacht, hatten jetzt in der That ihre entweihenden Stempel auf die Jugend und Anmuth ihres Gesichtes gedrückt; und die unglückselige Aehnlichkeit, welche ich einst gesehen und über deren bloßen Gedanken ich einst geschaudert, war jetzt zu einer wirklichen, lebenden Aehnlichkeit geworden, die sich vor meinen eigenen Augen behauptete. Fremde, Bekannte und Angehörige, die sie nicht gerade mit unseren Augen ansehen konnten, hätten, falls man sie ihnen in den ersten Tagen nach ihrer Befreiung aus der Irrenanstalt gezeigt, zweifeln können, ob sie die Laura Fairlie ihrer früheren Bekanntschaft sei, und zwar ohne Tadel dafür zu verdienen.

Die eine noch übrige Aussicht, auf die ich anfangs noch gehofft – die Aussicht, ihre Erinnerungen an Personen und Ereignisse anzurufen, mit denen keine Betrügerin vertraut sein konnte, erwies sich nach unseren letzten Versuchen als hoffnungslos. Jede kleine Vorsicht, welche Marianne und ich gegen sie anwandten, jedes kleine Mittel, das wir versuchten, um langsam die geschwächten und erschütterten Fähigkeiten zu kräftigen und sicher zu machen, waren an sich schon wieder neue Hindernisse gegen das Wagniß, ihre Erinnerungen auf die unruhige und schreckenvolle Vergangenheit zurückzuführen.

Die einzigen Begebenheiten früherer Zeiten, an die wir sie zu erinnern wagten, waren unbedeutende kleine häusliche Ereignisse jener glücklichen ersten Tage in Limmeridge, wo ich sie zeichnen lehrte. Der Tag, an welchem ich jene Erinnerungen erweckte, indem ich ihr die Zeichnung von dem Schweizerhäuschen zeigte, die sie mir beim Abschiede geschenkt und die mich seitdem nie verlassen hatte, war der Tag, an dem sich unsere Hoffnung neu belebte. Schwach und allmälich war die Erinnerung an die alten Spaziergänge und Spazierfahrten, und die armen traurigen Augen blickten Marianne und mich mit neuem Interesse, mit einer zagenden Nachdenklichkeit an, die wir von dem Augenblicke an nährten und lebendig erhielten. Ich kaufte einen kleinen Farbenkasten für sie und ein Zeichenbuch, wie jenes, das ich an dem Morgen, wo ich sie zuerst erblickt, in ihren Händen gesehen. Wieder – o mein Gott, wieder einmal! saß ich in den Stunden, welche ich mir von meinen Arbeitsstunden erübrigte, aber in trübem Lichte und einem ärmlichen Stübchen Londons an ihrer Seite, um die schwache, unsichere Hand zu führen. Tag für Tag erhob ich das neue Interesse, bis es seinen Platz in der Leere ihres Lebens bestimmt wieder ausfüllte – bis sie wieder an ihre Zeichnung denken, davon sprechen und sich geduldig allein darin üben konnte, mit einem matten Abglanze unschuldiger Freude über meine Ermuthigungen, der wachsenden Freude über ihre eigenen Fortschritte, welche dem entschwundenen Leben und dem entschwundenen Glücke vergangener Tage angehörte.

Auf diese einfache Weise unterstützten wir langsam die Genesung ihres Geistes; an schönen Tagen führten wir sie hinaus, um in einem ruhigen alten Gartenplatze der City spazieren zu gehen, der uns ganz nahe gelegen und wo Nichts sie erschrecken oder verwirren konnte; wir erübrigten ein paar Pfund von unsrem Capitale, um ihr Wein und kräftigende Nahrungsmittel zu verschaffen, deren sie bedurfte, und unterhielten sie Abends durch Kinder-Kartenspiele und Bilderbücher, die ich von dem Stecher borgte, welcher mir Beschäftigung gab; – durch diese und ähnliche kleine Aufmerksamkeiten beruhigten und befestigten wir ihr Gemüth und hofften mit frohem Muthe Alles von der Zeit, der Sorgfalt und der Liebe, welche nie sie vernachlässigte und nie verzweifelte. Doch sie aus ihrer Zurückgezogenheit und Ruhe zu reißen, sie mit Fremden zusammenzubringen oder Bekannten, die nicht viel besser als Fremde für sie waren; die schmerzlichen Erinnerungen an das Vergangene wieder zu wecken, die wir mit solcher Mühe zur Ruhe gebracht hatten – dies wagten wir in ihrem eigenen Interesse nicht zu thun. Welche Opfer es auch erheischen, welche langen, ermüdenden, herzbrechenden Verzögerungen es auch bedingen mochte: das Unrecht, das ihr zugefügt worden, mußte, falls menschliche Kräfte es bekämpfen konnten, ohne ihr Mitwissen und ihre Hülfe wieder gut gemacht werden.

Sobald ich hierüber mit mir einig, war es zunächst nothwendig, daß ich mich entschied, welches Verfahren mein erstes sein müsse.

Nachdem ich mich mit Marianne berathen, beschloß ich, den Anfang damit zu machen, daß ich möglichst viele Facta sammelte und dann Mr. Kyrle (von dem wir überzeugt waren, daß wir uns auf ihn verlassen konnten) zu Rathe zog und mich von ihm unterrichten ließ, ob wir begründete Aussicht auf gerichtlichen Beistand hätten. Ich war es Laura schuldig, die Bestimmung ihrer ganzen Zukunft nicht meinen Bemühungen allein zu überlassen, solange uns noch die geringste Aussicht blieb, unsre Lage durch irgend welchen zuverlässigen Beistand zu verstärken.

Die erste Quelle der Nachforschungen, an die ich mich wandte, war das von Marianne Halcombe in Blackwater Park geführte Tagebuch. Doch befand sich in demselben Manches über mich selbst aufgezeichnet, wovon sie nicht gerathen hielt, daß ich es sähe. Demzufolge las sie mir aus den Aufzeichnungen vor, während ich mir die nothwendigen Anmerkungen machte. Wir konnten hierzu nur die Zeit erübrigen, indem wir Abends spät aufsaßen, doch genügten drei Nächte, mich von alle Dem zu unterrichten, was Marianne mir sagen konnte.

Mein nächstes Verfahren war, mir so viel fernere Auskunft von anderen Leuten zu verschaffen, wie mir dies möglich war, ohne Verdacht zu erregen. Ich ging selbst zu Mrs. Vesey, um mich zu überzeugen, ob Laura’s Angabe, daß sie dort geschlafen habe, richtig sei oder nicht. Ich bewahrte in diesem Falle aus Rücksicht für Mrs. Vesey’s Alter und Schwäche und in allen folgenden aus Vorsicht das Geheimniß unserer wirklichen Lage und trug stets Sorge, von Laura als der »verstorbenen Lady Glyde« zu sprechen.

Mrs. Vesey’s Auskünfte auf meine Fragen bestätigten leider nur meine Vermuthungen. Laura hatte allerdings geschrieben, sie werde die Nacht unter dem Dache ihrer alten Freundin zubringen, habe sich jedoch nicht sehen lassen. Es ließ ihr Geist ihr in diesem Falle und, wie ich fürchtete, in noch anderen Das, was sie zu thun beabsichtigt, in einem Lichte erscheinen, als ob sie es in Wirklichkeit ausgeführt hatte. Die unbewußten Widersprüche in ihr selbst waren auf diese Weise leicht zu erklären – aber sie konnten leicht zu ernstlichen Mißgriffen führen. Es war dies ein Anstoß bereits an der Schwelle unseres Ausganges – ein Mangel in unseren Beweisstücken, welcher entmuthigend auf uns wirkte.

Als ich dann bat, den Brief sehen zu dürfen, welchen Laura von Blackwater Park an Mrs. Vesey geschrieben, gab man ihn mir ohne das Couvert, das längst fortgeworfen und vernichtet war. Der Brief selbst enthielt gar kein Datum, selbst nicht einmal den Tag der Woche, sondern blos folgende Zeilen

»Liebste Mrs. Vesey!

Ich bin in großer Noth und großem Kummer und werde morgen Abend zu Ihnen kommen und Sie für die Nacht um ein Bett bitten. Ich kann Ihnen in diesem Briefe nichts Näheres sagen – ich schreibe in solcher Angst, dabei überrascht zu werden, daß ich nicht im Stande bin, meine Gedanken festzuhalten. Bitte, bleiben Sie zu Hause, um mich zu empfangen. Ich will Ihnen tausend Küsse geben und Ihnen Alles sagen.

Herzlichst

Ihre Laura.«

Welche Hülfe war in diesen Zeilen für uns? Nicht die geringste.

Als ich von Mrs. Vesey zurückkehrte, bat ich Marianne, an Mrs. Michelson zu schreiben, jedoch indem sie dieselbe Vorsicht dabei gebrauchte, welche ich selbst übte. Sie durfte, falls sie Dies für rathsam hielt, einen allgemeinen Verdacht gegen Graf Fosco’s Verhalten aussprechen und sollte die Haushälterin bitten, uns im Interesse der Wahrheit eine deutliche, unumwundene Angabe der Thatsachen zu machen. Während wir die Antwort auf diesen Brief erwarteten, welche in einer Woche anlangte, ging ich zu dem Arzte in St. John’s Wood, dem ich mich als von Miß Halcombe abgesandt vorstellte, um wo möglich noch fernere Einzelheiten in Bezug auf die letzte Krankheit ihrer Schwester für sie zu sammeln, als Mr. Kyrle Zeit gefunden hatte, sich zu verschaffen. Mit Mr. Goodricke’s Hülfe erlangte ich eine Abschrift des Todtenscheines und eine Unterredung mit der Frau (Jane Gould), welche den Leichnam für das Grab hergerichtet hatte. Durch Letztere erfuhr ich auch, auf welche Weise ich mir das Zeugniß der Hester Pinhorn würde verschaffen können. Dieselbe hatte kürzlich in Folge einer Veruneinigung mit ihrer Herrin ihre Stelle verlassen und wohnte bei Leuten in der Nachbarschaft der Mrs. Gould, mit welchen diese bekannt war. Auf diese Weise verschaffte ich mir die Aussagen des Arztes, der Haushälterin, der Jane Gould und Hester Pinhorn, genau wie dieselben in diesen Blättern angeführt sind.

Mit den in diesen Documenten enthaltenen Zeugnissen versehen, hielt ich mich für hinlänglich vorbereitet, um eine Besprechung mit Mr. Kyrle zu halten, und Marianne schrieb ihm demzufolge, um ihn mit meinem Namen bekannt zu machen und ihm Tag und Stunde anzugeben, wo ich ihn allein und in Privatangelegenheiten zu sprechen wünsche.

Am Morgen dieses Tages blieb mir noch Zeit genug, um Laura wie gewöhnlich spazieren zu führen und sie dann ruhig bei ihren Zeichnungen anzustellen. Als ich aufstand, um das Zimmer zu verlassen, blickte sie mich mit einer neuen Besorgniß im Gesichte an, und ihre Finger begannen auf ihre alte Weise zweifelhaft mit den Pinseln und Bleistiften auf dem Tische zu spielen.

»Du bist doch meiner noch nicht müde?« sagte sie. »Du gehst doch nicht fort, weil Du meiner überdrüssig bist? Ich will versuchen, es besser zu machen – ich will suchen wieder gesund zu werden. Hast Du mich noch so lieb, wie sonst, Walter, jetzt, da ich so blaß und abgefallen bin und so langsam im Lernen?«

Sie sprach, wie ein Kind hätte sprechen mögen und zeigte mir ihre Gedanken, wie ein Kind es gethan hätte. Ich blieb ein paar Minuten länger – blieb, um ihr zu sagen, daß sie mir theurer jetzt, denn je zuvor. »Suche wieder wohl zu werden,« sagte ich, sie in der neuen Hoffnung auf die Zukunft ermuthigend, welche ich in ihrem Geiste glimmen sah; »um Mariannen’s und um meinetwillen suche wieder gesund zu werden.«

»Ja,« sagte sie zu sich selbst, indem sie sich wieder zu ihrer Zeichnung wandte, »ich muß es versuchen, weil sie mich Beide so lieb haben.« Dann blickte sie plötzlich wieder auf. »Bleibe nicht lange fort, Walter, ich kann nicht mit meiner Zeichnung fertig werden, wenn Du nicht da bist, um mir zu helfen.«

»Ich werde bald wieder da sein, mein Herzensliebling, um zu sehen, was Du gezeichnet hast.«

Die Stimme versagte mir wider Willen, und ich zwang mich, das Zimmer zu verlassen. Es war nicht an der Zeit, die Fassung zu verlieren, deren ich vielleicht noch nothwendig bedurfte, ehe der Tag vorüber war.

Als ich die Thür öffnete, winkte ich Mariannen, mir zur Treppe zu folgen. Es war nothwendig, sie auf ein Resultat vorzubereiten, das, wie ich fühlte, früher oder später die Folge meines öffentlichen Umhergehens in den Straßen sein konnte.

»Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Stunden wieder zurück sein,« sagte ich, »und Du wirst natürlich in meiner Abwesenheit wie immer Sorge tragen, daß kein Mensch ins Haus kommt. Sollte sich aber Etwas ereignen –«

»Was kann sich ereignen?« unterbrach sie mich schnell. »Sage mir unumwunden, Walter, ob Gefahr vorhanden, und dann werde ich ihr zu begegnen wissen«

»Die einzige Gefahr, die wir zu befürchten haben, ist die,« sagte ich, »daß Sir Percival Glyde durch die Nachricht von Laura’s Flucht aus der Anstalt nach London zurückgerufen worden. Du erinnerst Dich, daß er mich beobachten ließ, bevor ich England verließ, und wahrscheinlich kennt er mich dem Ansehen nach, ohne daß ich ihn je gesehen habe.«

Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und schaute mich in ängstlichem Schweigen an. Ich sah, daß sie die ernstliche Gefahr begriff, welche uns bedrohte.

»Es ist nicht wahrscheinlich,« sagte ich, »daß ich sobald schon in London von Sir Percival oder seinen Leuten gesehen werde. Aber es ist eben möglich, daß sich ein Unfall der Art zuträgt. In diesem Falle mußt Du nicht ängstlich werden, falls ich heute Abend nicht heimkehren sollte, und Laura’s Fragen mit den besten Entschuldigungen beantworten, die Du für mich machen kannst. Sobald ich die geringste Ursache zu argwöhnen habe, daß ich wieder belauert werde, so will ich Sorge tragen, daß kein Spion mir nach diesem Hause folgt. Zweifle nicht an meiner Rückkehr, Marianne, wie sehr sich dieselbe auch verzögern mag – und fürchte Nichts«

»Nichts!« entgegnete sie fest. »Du sollst es nicht zu bereuen haben, Walter, daß Du nur ein Weib zur Hülfe hast.« Sie schwieg und hielt mich noch einen Augenblick länger zurück. »Nimm Dich in Acht!« sagte sie, indem sie mir besorgt die Hand drückte, – »nimm Dich in Acht!«

Ich verließ sie und ging, um den Weg zu Nachforschungen zu bahnen – den dunklen, unsicheren Weg, der an der Thüre des Advocaten seinen Anfang nahm.



Kapiteltrenner

IV.

Auf meinem Wege nach dem Geschäftsbüreau der Herren Gilmore und Kyrle in Chancery Lane ereignete sich Nichts von der geringsten Bedeutung

Während man Mr. Kyrle meine Karte brachte, fiel mir Etwas ein, das nicht früher bedacht zu haben ich ernstlich bereute. Die Mariannen’s Tagebuche entnommenen Mittheilungen setzten es außer Zweifel, daß Graf Fosco ihren ersten Brief, den sie von Blackwater Park aus an Mr. Kyrle geschrieben, geöffnet und den zweiten mit Hülfe seiner Frau unterschlagen hatte. Er kannte daher vollkommen die Adresse des Büreau’s, und man durfte daher annehmen, daß er natürlich schließen werde, daß Marianne, falls sie nach dem Entweichen ihrer Schwester des Rathes oder Beistandes bedurfte, abermals Mr. Kyrle’s Erfahrungen in Anspruch nehmen würde. In diesem Falle war das Büreau in Chancery Lane gerade der Ort, den er und Sir Percival zuerst bewachen lassen würden; und falls die dazu verwandten Personen dieselben waren, welche mich schon vor meiner Abreise aus England verfolgt hatten, so mußte ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach meine Rückkehr schon an diesem Tage bekannt werden. Ich hatte im Allgemeinen an den Fall gedacht, wo ich in der Straße erkannt würde, aber die besondere Gefahr, die sich an das Geschäftslokal knüpfte, war mir bis zu diesem Augenblicke nie eingefallen. Es war jetzt zu spät, um dieses unglückliche Versehen wieder gut zu machen – zu spät für den Wunsch, daß ich Vorbereitungen getroffen hätte, an irgend einem dritten Orte mit dem Advocaten zusammenzukommen. Ich konnte nur den Entschluß fassen, vorsichtig zu sein, wenn ich Chancery Lane wieder verließe und unter keiner Bedingung von dort aus direct nach Hause zurückzukehren.

Nachdem ich einige Minuten gewartet, wurde ich in Mr. Kyrle’s Privatzimmer geführt. Er war ein blasser, magerer, ruhiger, unbefangener Mann mit sehr aufmerksamem Auge, einer sehr leisen Stimme und einem leidenschaftslosen Wesen, nicht (wie es mir schien) sehr theilnehmend, wo es sich um Fremde handelte, und durchaus nicht leicht aus seiner Advocatenhaltung zu bringen. Ich hätte für meinen Zweck schwerlich einen besseren Mann finden können. Falls er sich zu einer Meinung herbeiließ und dieselbe uns günstig war, so war von dem Augenblicke an der Erfolg unserer Angelegenheit sicher.

»Ehe ich in die Angelegenheit eingehe, welche mich zu Ihnen führt,« sagte ich, »muß ich Sie darauf vorbereiten, Mr. Kyrle, daß die kürzeste Angabe, welche ich zu machen im Stande bin, einige Zeit erfordern wird.«

»Meine Zeit steht Miß Halcombe zu Diensten,« entgegnete er; »wo es auf ihre Interessen ankommt, vertrete ich meinen Compagnon sowohl persönlich als geschäftlich. Es war dies sein Wunsch, als er aufhörte, activen Antheil am Geschäfte zu nehmen.«

»Darf ich fragen, ob Mr. Gilmore in England ist?«

»Er ist nicht hier; er hält sich augenblicklich bei Verwandten in Deutschland auf. Seine Gesundheit ist ziemlich hergestellt, aber die Zeit seiner Rückkehr ist bis jetzt noch unbestimmt.«

Während wir diese vorläufigen Worte wechselten, hatte er unter den Papieren gesucht, welche vor ihm lagen, und nahm jetzt einen versiegelten Brief zwischen denselben heraus. Ich dachte, er sei im Begriffe, mir denselben einzuhändigen, doch schien er seine Absicht zu ändern, denn er legte ihn neben sich auf den Tisch, setzte sich in seinem Armstuhle zurück und erwartete schweigend, was ich ihm zu sagen hatte.

Ohne noch einen Augenblick mit fernerer Bevorwortung zu verlieren, begann ich meine Mittheilungen und setzte ihn sofort vollständig von den Ereignissen in Kenntniß, welche in diesen Blättern erzählt worden sind.

Ungeachtet daß er jeder Zoll ein Advocat war, brachte ich ihn doch aus dieser seiner angenommenen Ruhe. Ausdrücke der Ungläubigkeit und des Erstaunens, welche er nicht zu unterdrücken vermochte, unterbrachen mich zu wiederholten Malen, ehe ich mit meinen Mittheilungen zu Ende war. Ich ließ mich jedoch nicht dadurch stören und that dann zum Schlusse dreist die wichtige Frage:

»Was ist Ihre Ansicht, Mr. Kyrle?« Er war zu vorsichtig, um eine Antwort zu wagen, ehe er sich Zeit gelassen, seine ganze Fassung wieder zu gewinnen.

»Bevor ich eine Meinung abgebe,« sagte er, »muß ich um Erlaubniß bitten, mir durch ein paar Fragen den Weg etwas zu bahnen.«

Er legte mir seine Fragen vor – scharfe, argwöhnische, ungläubige Fragen, welche mir deutlich bewiesen, daß er mich für das Opfer einer Sinnestäuschung hielt, und daß er, hätte mich nicht Miß Halcombe an ihn empfohlen, wohl gar geglaubt hätte, ich suche ihn durch einen listigen Betrug zu hintergehen.

»Glauben Sie, daß ich die Wahrheit gesprochen habe, Mr. Kyrle?« frug ich ihn, als er mit seinem Examen zu Ende war.

»So weit es Ihre persönliche Ueberzeugung betrifft,« entgegnete er, »glaube ich, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben. Ich hege die höchste Achtung vor Miß Halcombe und habe daher Ursache, einen Herrn, dessen Vermittelung in einer solchen Sache sie ihr Vertrauen schenkt, ebenfalls zu achten. Ich will sogar, wenn es Ihnen gefällt, noch weiter gehen und um der Höflichkeit und des Argumentes willen zugeben, daß Lady Glyde’s Identität als lebende Person für Miß Halcombe und für Sie eine bewiesene Thatsache ist. Aber Sie sind zu mir gekommen, um sich gesetzlichen Rathes bei mir zu erholen, und als Rechtsgelehrter – und zwar nur als solcher – ist es meine Pflicht, Ihnen zu sagen, Mr. Hartright, daß Sie auch nicht den Schatten einer Hoffnung für Ihre Sache haben.«

»Das ist stark ausgedrückt, Mr. Kyrle.«

»Ich will versuchen, es auch klar auszudrücken. Der Beweis von Lady Glyde’s Ableben ist dem Anscheine nach klar und ausreichend. Da ist das Zeugniß ihrer Tante, welches beweist, daß sie nach Graf Fosco’s Hause kam, dort erkrankte und starb. Da ist das ärztliche Zeugniß, welches den Tod beweist, und daß derselbe unter natürlichen Umständen stattfand. Dann ist die Thatsache des Begräbnisses zu Limmeridge und die Angabe der Inschrift auf dem Grabsteine da. Und dies Alles wollen Sie umstürzen. Welches Zeugniß haben Sie Ihrerseits, um Ihre Erklärung, die Verstorbene und Begrabene sei nicht Lady Glyde, zu unterstützen? Lassen Sie uns die Hauptpunkte Ihrer Angabe durchgehen und sehen, was sie werth sind. Miß Halcombe geht in eine gewisse Irrenanstalt und sieht dort eine gewisse Patientin. Es ist bekannt, daß eine Person, Namens Anna Catherick, die eine auffallende Aehnlichkeit mit Lady Glyde hat, aus der Anstalt entflohen; es ist bekannt, daß die Person, welche dort im Juli aufgenommen wurde, die zurückgebrachte Anna Catherick war; es ist ferner bekannt, daß der Herr, welcher sie zurückbrachte, Mr. Fairlie mittheilte, ihr Wahnsinn zeige sich zum Theil darin, daß sie sich für seine Nichte ausgebe, und es ist endlich bekannt, daß sie sich in der Irrenanstalt (wo kein Mensch ihr Glauben schenkte) wiederholt für Lady Glyde ausgab. Dies sind Thatsachen. Was haben Sie denselben gegenüberzustellen? – Miß Halcombe’s Erkennen der Frau, welchem Erkennen spätere Ereignisse widersprechen und es rechtsungültig machen. Behauptet Miß Halcombe dem Besitzer der Anstalt gegenüber die angenommene Identität ihrer Schwester und greift dann zu gesetzlichen Mitteln, um sie zu befreien? – Nein: sie besticht heimlich eine der Dienerinnen, sie entfliehen zu lassen; wie die Kranke, nachdem sie auf diese zweifelhafte Weise ihre Freiheit erlangt, darauf vor Mr. Fairlie geführt wird – erkennt er sie? ist sein Glaube an den Tod seiner Nichte auch nur auf einen Augenblick erschüttert? Nein. Erkennen die Diener sie? Nein. Bleibt sie in der Umgegend, um ihre Identität zu behaupten und ferneren Proben entgegenzutreten? Nein: sie wird heimlich nach London gebracht. Unterdessen haben Sie sie ebenfalls erkannt; aber Sie sind kein Anverwandter, – nicht einmal ein alter Freund der Familie. Die Diener widersprechen Ihnen und Mr. Fairlie widerspricht Miß Halcombe; und die angebliche Lady Glyde widerspricht sich selbst. Sie behauptet, daß sie die Nacht in einem gewissen Hause in London zugebracht hat. Ihr eigenes Zeugniß dagegen beweist, daß sie dem Hause mit keinem Fuße nahegekommen, und Sie selbst geben zu, daß ihr Gemüthszustand Sie verhindert, sie irgend wohin zu bringen, um verhört zu werden oder für sich selbst zu sprechen. Ich übergehe, um Zeit zu sparen, geringere Punkte im Zeugnisse auf beiden Seiten, und ich frage Sie: falls die Sache in einen Gerichtshof, vor eine Jury gebracht würde, deren Pflicht es ist, Thatsachen so anzusehen, wie sie wirklich erscheinen – wo sind Ihre Beweise?«

Ich war genöthigt zu warten und mich zu sammeln, ehe ich ihm antworten konnte. Es war dies das erste Mal, daß mir die Geschichte Laura’s und Mariannen’s aus dem Gesichtspunkte eines Fremden vorgeführt wurde – das erste Mal, daß die furchtbaren Hindernisse, die auf unserem Pfade lagen, uns in ihrem wahren Charakter erschienen.

»Es kann keinem Zweifel unterliegen,« sagte ich, »daß die Thatsachen, wie Sie dieselben hingestellt haben, gegen uns sprechen; aber –«

»Aber Sie denken, daß sich diese Thatsachen hinweg erklären lassen,« unterbrach mich Mr. Kyrle. »Lassen Sie mich Ihnen das Resultat meiner Erfahrungen in Bezug auf diesen Punkt mittheilen. Wenn eine englische Jury die Wahl hat zwischen einer klaren Thatsache, die auf der Hand, und einer langen Erklärung, welche versteckt liegt, so zieht sie stets die Thatsache der Erklärung vor. Zum Beispiel: Lady Glyde (ich nenne die Dame, welche Sie vertreten, des Argumentes wegen bei diesem Namen) erklärt, daß sie in einem gewissen Hause geschlafen hat, und das Gegentheil hiervon ist uns bewiesen. Sie erklären diesen Umstand, indem Sie in ihren Geisteszustand eingehen und daraus einen physiologischen Schluß herleiten. Ich sage nicht, daß Ihr Schluß ein falscher ist – sondern nur, daß die Jury die Thatsache ihres Widerspruches jedem Grunde vorziehen wird, welchen Sie möglicherweise für denselben angeben können.«

»Aber,« fuhr ich dringend fort, »ist es nicht möglich, durch Geduld und unausgesetzte Bemühung ferneres Zeugniß zu entdecken? Miß Halcombe und ich besitzen ein paar hundert Pfund –«

Er sah mich mit einem halb unterdrückten Mitleid an und schüttelte den Kopf.

»Betrachten Sie die Sache von Ihrem eigenen Standpunkte aus, Mr. Hartright,« sagte er. »Falls Sie in Bezug auf Sir Percival Glyde und den Grafen Fosco Recht haben (bemerken Sie jedoch gefälligst, daß ich Dies hiermit nicht einräume), so würde Ihnen jede erdenkliche Schwierigkeit im Auffinden neuer Beweise in den Weg geworfen werden. Man würde jedes mögliche Proceßhinderniß aufrichten, jeden einzelnen Punkt der Sache systematisch bestreiten – und wenn wir dann endlich unsere Tausenden ausgegeben, anstatt unserer Hunderte, so würde zum Schlusse das Resultat aller Wahrscheinlichkeit nach gegen uns ausfallen. Ueber Fragen der Identität ist, wo persönliche Aehnlichkeit mit ins Spiel kommt, am Allerschwersten zu entscheiden – am Allerschwersten, selbst wenn sie von den besonderen Verwickelungen frei sind, welche den gegenwärtigen Fall erschweren. Ich sehe wirklich keine Hoffnung, irgendwie Licht auf diesen außerordentlichen Fall zu werfen. Selbst falls die im Friedhofe zu Limmeridge begrabene Person nicht Lady Glyde wäre, so war sie doch, wie Sie selbst bezeugen, zu ihren Lebzeiten ihr so ähnlich, daß Nichts dadurch gewonnen würde, wenn wir uns die nothwendige Erlaubniß verschafften, um die Leiche wieder ausgraben zu lassen. Kurz, die Sache ist hoffnungslos, Mr. Hartright – durchaus hoffnungslos.«

Ich war entschlossen, an das Gegentheil zu glauben, und griff in diesem Entschlusse die Sache von einer andern Seite an. »Giebt es keine anderen Beweise, die uns nützen könnten, außer den Beweisen der Identität?« frug ich.

»Keine in Ihrer Lage,« entgegnete er. »Der einfachste und sicherste Beweis von allen, der nämlich durch Vergleich der Data, ist, wie Sie sagen, nicht zu erlangen. Falls Sie einen Widerspruch in dem Datum des ärztlichen Certificats und dem von Lady Glyde’s Reise nach London beweisen könnten, so würde die Sache ein ganz anderes Aussehen erhalten, und ich der Erste sein, der Ihnen sagte: Lassen Sie uns fortfahren.«

Ich überlegte. Die Haushälterin konnte uns nicht helfen – noch Laura, noch Marianne. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die einzigen lebenden Personen, welche das Datum kannten, Sir Percival und der Graf.

»Ich sehe augenblicklich kein Mittel, um mich des Datums zu vergewissern,« sagte ich, »weil ich Niemanden weiß, außer Graf Fosco und Sir Percival, der dasselbe genau angeben könnte.«

Mr. Kyrle’s ruhiges, aufmerksames Gesicht verzog sich zum erstenmale zu einem Lächeln.

»Mit Ihrer Meinung von dem Betragen jener beiden Herren,« sagte er, »erwarten Sie doch aus dem Viertel vermuthlich keine Hülfe? Falls sie sich vereint haben, durch einen Complott große Summen Geldes zu erlangen, so ist es jedenfalls nicht wahrscheinlich, daß sie Dies eingestehen werden«

»So sollen sie dazu gezwungen werden, Mr. Kyrle.«

»Durch wen?«

»Durch mich.«

Wir erhoben uns Beide. Er blickte mir aufmerksamer und mit mehr Interesse, als er noch bisher gezeigt, ins Gesicht. Ich konnte sehen, daß ich ihn etwas zweifelhaft gemacht hatte.

»Sie sind sehr entschlossen,« sagte er. »Sie haben vermuthlich einen persönlichen Beweggrund, indem Sie die Sache verfolgen, in den mich zu mischen mir nicht zukommt. Falls Sie in Zukunft irgendwie bessere Aussichten haben, so kann ich Sie nur versichern, daß mein ganzer Beistand Ihnen von Herzen zu Diensten steht. Zu gleicher Zeit aber muß ich Sie warnen, daß, da die Geldfrage sich in alle Rechtsfragen mischt, ich wenig Hoffnung sehe, falls Lady Glyde wirklich schließlich ihre Identität beweisen sollte, daß sie ihr Vermögen zurückerhalten würde. Der Italiener würde wahrscheinlich, noch ehe die Sache eingeleitet wäre, England verlassen, und Sir Percival’s Verlegenheiten sind zahlreich und dringend genug, um fast jede Summe in seinem Besitze von ihm selbst zu seinen Gläubigern zu übertragen. Sie wissen natürlich –«

Ich unterbrach ihn.

»Ich bitte, daß wir Lady Glyde’s Vermögensangelegenheiten unberührt lassen,« sagte ich. »Ich habe früher Nichts über dieselben gewußt und weiß auch jetzt noch Nichts – außer daß ihr Vermögen verloren ist. Sie haben Recht, wenn Sie vermuthen, daß ich persönliche Beweggründe habe, die Sache zu verfolgen. Es ist mein Wunsch, daß dieselben stets so uneigennützig bleiben, wie sie es in diesem Augenblicke sind –«

Er versuchte mich zu unterbrechen und sich zu erklären. Ich war vielleicht durch das Gefühl, daß er an mir gezweifelt hatte, ein wenig erhitzt und fuhr, ohne auf ihn zu hören, etwas schroff fort:

»In die Dienste, welche ich Lady Glyde zu leisten beabsichtige,« sagte ich, »soll sich kein Gedanke an Geld oder persönlicher Vortheil mische. Sie ist wie eine Fremde aus dem Hause gestoßen worden, in dem sie geboren – eine Lüge, die ihren Tod angiebt, ist auf das Grab ihrer. Mutter geschrieben – und es gehen zwei Männer lebend und ungestraft umher, die verantwortlich dafür sind. Jenes Haus soll sich ihr in Gegenwart Aller, die dem falschen Begräbnisse folgten, wieder öffnen und sie aufnehmen; jene Lüge soll auf Befehl des Hauptes der Familie öffentlich wieder von dem Grabsteine verwischt werden; und jene beiden Männer sollen mir für ihr Verbrechen Rede stehen, wenn die Gerechtigkeit, welche zu Gerichte sitzt, machtlos ist, sie zu verfolgen. Ich habe diesem Zwecke mein Leben geweiht, und allein wie ich dastehe will ich, so Gott mich am Leben läßt, es vollbringen.«

Er trat an seinen Tisch zurück und sagte Nichts. Sein Gesicht drückte deutlich aus, daß er dachte, meine Sinnestäuschung habe meine Vernunft beeinträchtigt, und daß er es für völlig nutzlos hielt, mir noch ferneren Rath zu ertheilen.

»Wir bleiben Beide bei unserer Meinung, Mr. Kyrle,« sagte ich, »und müssen warten, bis die Ereignisse der Zukunft zwischen uns entscheiden. Inzwischen bin ich Ihnen sehr verbunden für die Aufmerksamkeit, welche Sie meinen Mittheilungen geschenkt haben. Sie haben mir gezeigt, daß gesetzliche Hülfe in jedem Sinne des Wortes außer unserem Bereiche liegt. Wir sind nicht im Stande, den gesetzlichen Beweis beizubringen, und nicht reich genug, um die Gerichtskosten zu bestreiten. Es ist schon ein Gewinn, Dies wenigstens zu wissen.«

Ich verbeugte mich und ging zur Thür. Er rief mich zurück und gab mir den Brief, den ich ihn zu Anfange unserer Unterredung hatte auf den Tisch legen sehen.

»Dies ist vor einigen Tagen mit der Post angekommen,« sagte er; »hätten Sie vielleicht die Güte, es abzugeben? Bitte, sagen Sie Miß Halcombe zugleich, daß ich aufrichtig bedauere, soweit nicht im Stande zu sein, ihr zu helfen – ausgenommen durch Rathschläge, die, wie ich fürchte, ihr ebenso unwillkommen sein würden wie Ihnen.«

Ich betrachtete den Brief während er sprach. Derselbe war an »Miß Halcombe, durch Güte der Herren Gilmore und Kyrle, Chancery Lane« adressirt. Die Handschrift war mir eine völlig unbekannte.

Indem ich das Zimmer verließ, that ich eine letzte Frage.

»Wissen Sie vielleicht durch Zufall, ob Sir Percival Glyde aus Paris zurückgekehrt ist?« frug ich.

»Er ist nach London zurückgekehrt,« entgegnete Mr. Kyrle »Wenigstens hörte ich Dies von seinem Rechtsanwalte, dem ich gestern begegnete.«

Nach dieser Antwort ging ich. hinaus.

Indem ich die Expedition verließ, war meine erste Vorsicht die, mich nicht durch Stillestehen und Zurückblicken auffallend zu machen. Ich ging nach der Richtung eines der ruhigsten der großen Plätze nördlich von Holborn zu – stand dann plötzlich stille und schaute mich an einer Stelle um, wo eine lange Strecke des Trottoirs hinter mir lag.

An der Ecke des Platzes sah ich zwei Männer, welche ebenfalls stille standen und zusammen sprachen Nach kurzer Ueberlegung ging ich zurück, um an ihnen vorbeizugehen. Als ich näher kam, ging der Eine fort, um die Ecke, welche von dem Platze in die Straße führte. Der Andere blieb stehen. Ich sah ihn an, als ich an ihm vorbeiging und erkannte in ihm augenblicklich einen der Männer, welche mich vor meiner Abreise von England verfolgt hatten.

Wäre ich frei gewesen, um meinem eigenen Instinkte zu folgen, so hätte ich wahrscheinlich damit angefangen, daß ich den Mann angeredet, und damit geendet, daß ich ihn zu Boden geschlagen. Aber ich war gezwungen, die Folgen zu berücksichtigen. Falls ich mich einmal öffentlich eines Fehlers schuldig machte, gab ich sofort die Waffen in Sir Percival’s Hände. Es blieb mir keine andere Wahl, als der List durch List zu begegnen. Ich bog in die Straße ein, in welcher der zweite Mann meinen Blicken entschwunden, und sah ihn hier im Vorbeigehen in einem Thorwege warten. Er war mir fremd, und ich war froh über diese Gelegenheit, mir für den Fall künftiger Belästigung sein Aussehen einzuprägen. Hierauf richtete ich meine Schritte wieder nordwärts, bis ich New Road erreichte.

Dort angelangt wandte ich mich westlich (während die Männer mir immer folgten) und wartete an einer Stelle, von der ich wußte, daß sie ziemlich weit von einer Droschkenstation sei, bis ein leeres schnelles zweirädriges Cabriolet vorbeikommen würde. Es kam eins in wenigen Minuten. Ich sprang hinein und befahl dem Mann, schnell nach Hyde Park zu fahren. Es war kein zweites schnelles Cabriolet für die Spione hinter mir da. Ich sah sie nach der anderen Seite der Straße hinüberschießen um mir laufend zu folgen bis zum nächsten Cabriolet oder bis wir an einer Droschkenstation vorbeikommen würden. Aber wir waren ihnen zu weit voraus, und als ich dem Kutscher zu halten befahl und ausstieg, waren sie nirgendwo zu sehen. Ich ging durch Hyde Park und versicherte mich an der offenen Ebene, daß ich frei sei. Als ich endlich meine Schritte heimwärts wandte, war es viele Stunden später – als es bereits dunkel geworden

Ich fand, daß Marianne mich allein in dem kleinen Wohnstübchen erwartete. Sie hatte Laura vermocht, sich zur Ruhe zu legen, indem sie ihr versprochen, mir, sobald ich nach Hause käme, ihre Zeichnung zu zeigen. Die arme, undeutliche kleine Skizze – an sich selbst so bedeutungslos und in ihren Associationen so rührend – war sorgfältig zwischen zwei Büchern auf dem Tische und so aufgestellt, daß das eine Licht, welches wir uns gestatteten, sie möglichst vortheilhaft beleuchtete. Ich setzte mich, um die Zeichnung zu besehen und Mariannen flüsternd zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Die Scheidewand, welche uns vom anstoßenden Zimmer trennte, war so dünne, daß wir Laura fast athmen hören konnten und sie vielleicht erweckt hätten, falls wir laut gesprochen.

Marianne behielt ihre Fassung, während ich ihr meine Unterredung mit Mr. Kyrle beschrieb. Aber ihr Gesicht nahm einen beunruhigten Ausdruck an, als ich ihr von den beiden Männern, die mir von der Expedition an gefolgt waren, und von Sir Percival’s Heimkehr erzählte.

»Schlimme Nachrichten, Walter,« sagte sie; »die Schlimmsten, die Du uns bringen konntest. Hast Du mir weiter Nichts zu erzählen?«

»Ich habe Dir Etwas zu geben,« entgegnete ich, indem ich ihr den Brief einhändigte, welchen Mr. Kyrle mir anvertraut hatte.

Sie blickte auf die Adresse und erkannte die Handschrift augenblicklich.

»Du erkennst die Hand?« sagte ich.

»Nur zu gut,« antwortete sie. »Es ist Graf Fosco’s Hand.«

Mit diesen Worten öffnete sie den Brief. Das Blut stieg ihr in die Wangen während sie las, und ihre Augen leuchteten vor Zorn, als sie mir den Brief zum Lesen hinreichte.

Derselbe enthielt Folgendes:

»Durch ehrenvolle Bewunderung getrieben – ehrenvoll für Sie und ehrenvoll für mich – schreibe ich, herrliche Marianne, im Interesse Ihrer Ruhe, um Ihnen zwei tröstende Worte zu sagen:

Fürchten Sie Nichts!

Folgen Sie Ihrem natürlichen, feinen Verstande und bleiben Sie in der Verborgenheit. Theures und bewunderungswürdiges Weib, verlangen Sie nicht nach gefährlicher Oeffentlichkeit. Ergebung ist erhaben – seien Sie ergeben. Die bescheidene Ruhe häuslicher Zurückgezogenheit ist ewig erquickend – genießen Sie dieselbe. Die Stürme des Lebens gehen harmlos über das Thal der Abgeschlossenheit dahin, – wohnen Sie, theuerste Dame, immer in diesem Thale.

Thun Sie dies, so versichere ich Sie, Sie haben Nichts zu fürchten Keine neuen Trübsale sollen Ihre Gefühle verletzen – Gefühle, die mir so kostbar sind, wie meine eigenen. Sie sollen nicht belästigt, die schöne Gefährtin Ihrer Einsamkeit nicht verfolgt werden. Sie hat eine neue Zufluchtsstätte gefunden – in Ihrem Herzen. Unschätzbare Zufluchtsstätte! – Ich beneide sie und lasse sie darin.

Ein letztes Wort zärtlicher, väterlicher Warnung – und dann reiße ich mich los von dem Zauber, der für mich darin liegt, an Sie zu schreiben – dann schließe ich diese inbrünstigen Zeilen.

Gehen Sie nicht weiter, als Sie bis jetzt gegangen sind; compromittiren Sie keine ernsten Interessen; drohen Sie Niemandem. Zwingen Sie mich nicht – ich flehe Sie an – zum Handeln, mich, den Mann der That – da es der innige Wunsch meines Ehrgeizes ist, ruhig zu bleiben und dem weit umfassenden Bereiche meiner Thatkraft und meiner Verbindungen um Ihretwillen Schranken zu setzen. Falls Sie tollkühne Freunde haben, so mäßigen Sie den beklagenswerthen Eifer derselben. Falls Mr. Hartright nach England zurückkehrt, so halten Sie keinen Verkehr mit ihm. Ich wandle meinen Weg, und Percival folgt mir auf der Ferse nach. An dem Tage, wo Mr. Hartright diesen Pfad kreuzt, ist er ein verlorener Mann.«

Die Unterschrift zu diesen Zeilen beschränkte sich auf den Anfangsbuchstaben F, von einem Kreise künstlicher kleiner Schnörkel umgeben. Ich warf den Brief mit der ganzen Verachtung, die er mir einflößte, auf den Tisch.

»Er versucht Dir Furcht zu machen,« sagte ich; »ein sicheres Zeichen, daß er selbst Furcht hat.«

Sie war ein zu echtes Weib, um den Brief so aufzunehmen, wie ich ihn aufnahm. Die impertinente Vertraulichkeit der Sprache war zu viel für ihre Fassung Als sie über den Tisch hin mich anblickte, ballten sich ihre Hände krampfhaft auf ihrem Schooße, und die alte, urwüchsige Leidenschaft glühte wieder hell auf ihren Wangen und in ihren Augen.

»Walter!« sagte sie, »falls jemals jene beiden Männer in Deiner Gewalt sind, und Du Einen von ihnen zu schonen genöthigt sein solltest – laß dies nicht Graf Fosco sein. –«

»Ich will seinen Brief behalten, Marianne, um mich daran zu erinnern, wenn die Zeit kommt.«

Sie blickte mich aufmerksam an, als ich den Brief in mein Taschenbuch legte.

»Wenn die Zeit kommt?« wiederholte sie. »Kannst Du von der Zukunft sprechen, als ob Du ihrer gewiß wärest? – gewiß, nach dem, was Du heute von Mr. Kyrle gehört, und nach dem, was Dir heute begegnet ist?«

»Ich rechne nicht von heute an, Marianne. Alles, was ich heute gethan habe, war, einen andern Mann zu ersuchen, für mich zu handeln. Ich rechne von morgen an –«

»Warum von morgen an?«

»Weil ich von morgen an für mich selbst zu handeln beabsichtige.«

»Wie das?«

»Ich werde mit dem ersten Zuge nach Blackwater Park reisen und, wie ich hoffe, abends wieder zurückkehren«

»Nach Blackwater!«

»Ja. Ich habe, seit ich Mr. Kyrle verlassen, Zeit zur Ueberlegung gehabt. Seine Ansicht bestätigt in einem Punkte meine eigne. Wir müssen bis zuletzt dabei beharren, das Datum von Laura’s Abreise auszuspüren. Der einzige schwache Punkt in dem Complotte und wahrscheinlich die einzige Aussicht für den Beweis, daß sie am Leben ist, begegnen sich in der Entdeckung dieses Datums.«

»Du meinst,« sagte Marianne, »in der Entdeckung, daß Laura Blackwater Park erst nach dem Datum verließ, welches auf dem ärztlichen Certificat als ihr Sterbetag angegeben ist?«

»Ganz gewiß.«

»Was bewegt Dich, zu glauben, daß es später war? Laura selbst kann uns ja Nichts über den Zeitpunkt sagen, wann sie in London ankam.«

»Aber der Besitzer der Irrenanstalt sagte Dir, daß sie dort am 27. Juli aufgenommen worden sei. Ich bezweifle, daß es dem Grafen möglich war, sie länger als eine Nacht in London zu behalten und über Alles, was um sie vorging, in Ungewißheit zu lassen. In diesem Falle muß sie am 26. Juli abgereist und einen Tag nach dem Datum, das in dem ärztlichen Certificate als ihr Sterbetag angegeben ist, in London eingetroffen sein. Falls wir dieses Datum sicher stellen können, haben wir unsern Fall gegen Sir Percival und den Grafen bewiesen.«

»Ja, ja – ich verstehe! Aber wie dieses Beweises habhaft werden?«

»Mrs. Michelson’s Aussage hat mir zweierlei Art und Weisen angedeutet, seiner habhaft zu werden. Die eine ist, den Arzt, Mr. Dawson, zu befragen, welcher wissen muß, wann er seine Besuche in Blackwater Park wieder aufnahm, nachdem Laura das Haus verlassen hatte. Die andere, Erkundigungen in dem Wirthshause anzustellen, wo Sir Percival in der Nacht allein einkehrte. Wir wissen, daß seine Abreise der Abreise Laura’s nach Verlauf von wenigen Stunden folgte, und können vielleicht auf diese Weise hinter das Datum kommen. Jedenfalls ist es den Versuch werth, und ich bin entschlossen, ihn morgen zu machen.«

»Und gesetzt, er mißlingt – ich sehe die Sache jetzt aus dem schlimmsten Gesichtspunkte an, Walter, aber ich will sie aus dem besten ansehen, wenn Täuschungen kommen, um uns zu prüfen – gesetzt, es kann Dir Niemand helfen in Blackwater?«

»Dann sind in London zwei Männer, die mir helfen können und mir helfen sollen: Sir Percival und der Graf. Unschuldige Leute mögen leicht das Datum vergessen – aber sie sind schuldig und werden es wissen. Falls es mir überall sonst mißlingt, so will ich aus Einem von ihnen oder aus Beiden das Bekenntniß herausbringen und zwar nach meinen eignen Bedingungen.«

Das ganze Weib glühte in Mariannen’s Gesicht, als ich sprach.

»Mache den Anfang mit dem Grafen!« flüsterte sie eifrig. »O, Walter, mache den Anfang mit dem Grafen – um meinetwillen!«

»Wir müssen um Laura’s willen den Anfang da machen, wo wir die meiste Aussicht auf Erfolg haben,« entgegnete ich.

Die Farbe verließ ihr Gesicht wieder, und sie schüttelte kummervoll das Haupt.

»Ja,« sagte sie, »Du hast Recht. Es war egoistisch und kleinlich von mir, Das zu sagen. Ich suche geduldig zu werden, Walter, und es gelingt mir jetzt besser, als ehedem in glücklicheren Zeiten. Aber es bleibt mir noch immer Etwas von meiner alten Heftigkeit – und sie überwältigt mich wider Willen, wenn ich an den Grafen denke.«

»Er wird ebenfalls an die Reihe kommen,« sagte ich. »Aber bedenke, daß wir bis jetzt noch von keinem schwachen Punkte in seinem Leben wissen.« Ich schwieg einen Augenblick, um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu fassen, und sprach dann die entscheidenden Worte:

»Marianne! wir Beide wissen, daß in Sir Percival’s Leben es einen schwachen Punkt giebt –«

»Du meinst das Geheimniß!«

»Ja, das Geheimniß. Es ist die einzige Seite, bei der wir ihn sicher fassen können. Ich kann ihn durch keine anderen Mittel aus seiner Sicherheit herausreißen und ihn und seine Schurkerei an das Tageslicht ziehen. Was auch der Graf gethan haben mag, Sir Percival hat noch aus einem anderen Beweggrunde außer dem des Gewinnes in das Complott gewilligt. Hörtest Du ihn nicht selbst zum Grafen sagen, er glaube, seine Frau wisse genug, um ihn zu ruiniren? und daß er ein verlorener Mann sei, falls Anna Cathericks Geheimniß bekannt würde?«

»Ja! ja! das hörte ich.«

»Nun, Marianne, wenn unsere anderen Hülfsmittel uns mißglückt sind, beabsichtige ich, dies Geheimniß zu erfahren Mein alter Aberglaube klebt noch immer an mir. Ich wiederhole, daß die Frau in Weiß noch wie lebend Einfluß auf uns Drei hat. Das Ende ist bestimmt; es zieht uns vorwärts, und Anna Catherick, die todt in ihrem Grabe liegt, zeigt uns noch immer den Weg!«



Kapiteltrenner

V.

Die Geschichte meiner ersten Nachforschungen in Hampshire ist bald erzählt.

Meine frühe Abreise aus London setzte mich in den Stand, schon Nachmittags in Dr. Dawson’s Hause anzulangen. Unsere Unterredung führte, was den Zweck meines Besuches betraf, zu keinem befriedigenden Resultate.

Mr. Dawson’s Bücher zeigten uns allerdings, wann er seine Besuche bei Miß Halcombe in Blackwater Park wieder aufgenommen hatte; doch war es unmöglich, irgendwie genau von diesem Datum ohne solche Hülfe von Mrs. Michelson zurückzurechnen, wie diese, wie ich wußte, sie uns nicht zu geben im Stande war. Sie konnte uns aus der Erinnerung nicht sagen (und wer kann dies wohl je in solchen Fällen?), wie viele Tage zwischen des Doctors Rückkehr zu seiner Patientin und der vorher stattgehabten Abreise Lady Glyde’s verflossen waren. Sie war fest überzeugt, daß sie des Umstandes der Abreise gegen Miß Halcombe erwähnt – aber es war ihr ebenso unmöglich, das Datum anzugeben, an welchem sie die Mittheilung machte, wie das Datum des Tages vorher genau zu bestimmen, an welchem Lady Glyde nach London abgereist war. Ebenso wenig konnte sie genau die Zeit berechnen, welche zwischen Lady Glyde’s Abreise und ihrem Empfange des undatirten Briefes von der Gräfin Fosco verflossen war. Und endlich, um die Reihe der Schwierigkeiten vollständig zu machen, hatte der Doctor, da er zur Zeit selber krank war, es unterlassen, wie gewöhnlich den Tag der Woche und des Monats in seine Bücher einzutragen, an welchem der Gärtner aus Blackwater Park ihm Mrs. Michelson’s Botschaft überbracht hatte.

Indem ich die Hoffnung, von Mr. Dawson Beistand zu erhalten, schwinden ließ, beschloß ich zunächst zu versuchen, ob ich nicht das Datum von Sir Percival’s Ankunft in Knowlesbury mit Bestimmtheit erfahren könne.

Es schien ein Verhängniß zu sein! Als ich in Knowlesbury anlangte, war das Wirthshaus geschlossen und ein Zettel an die Mauern geklebt. Die Spekulation war, wie man mich unterrichtete, seit die Eisenbahn dorthin verlegt worden, eine schlechte gewesen, indem das neue Gasthaus an der Station allmälich die Kundschaft an sich gezogen; und das alte Wirthshaus (von dem wir wußten, daß es dasjenige sei, wo Sir Percival eingekehrt war) war vor etwa zwei Monaten geschlossen worden. Der Besitzer desselben hatte die Stadt mit seinem ganzen Hab und Gut verlassen, und ich konnte von Niemandem mit Bestimmtheit erfahren, wohin er gegangen. Die vier Personen, bei welchen ich mich erkundigte, lieferten mir vier verschiedene Angaben über seine Pläne und Absichten, nachdem er Knowlesbury würde verlassen haben.

Es blieben mir noch einige Stunden übrig, ehe der letzte Zug nach London durchkam, und so fuhr ich denn mit einer Droschke von der Station zu Knowlesbury nach Blackwater Park zurück in der Absicht, den Gärtner und die Person, welche das Haus hütete, zu befragen. Falls auch sie sich als unfähig auswiesen, mir zu helfen, so waren meine Hülfsquellen für jetzt zu Ende, und ich konnte nach London zurückkehren.

Ungefähr eine (engl.) Meile vom Parke entließ ich meine Droschke und setzte dann, nachdem ich mir von dem Kutscher hatte die Richtung bezeichnen lassen, meinen Weg nach dem Hause allein und zu Fuße fort.

Als ich von der Landstraße in den Privatweg einbog, sah ich einen Mann mit einem Nachtsacke in der Hand schnell vor mir der Wohnung des Parkhüters zugehen. Er war ein kleiner Mann in abgeschabten schwarzen Kleidern und mit einem auffallend großen Hute. Ich hielt ihn (soviel mir dies zu beurtheilen möglich war) für einen Advocatenschreiber und stand augenblicklich stille, um die Entfernung zwischen uns zu vergrößern. Er hatte mich nicht kommen hören und ging ohne sich umzuschauen weiter, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Als ich eine kleine Weile später ebenfalls durch das Thor ging, war er nicht zu sehen – er war offenbar nach dem Herrenhause gegangen.

Es waren zwei Frauen in der Wohnung des Parkhüters. Die Eine von ihnen war alt; in der Andern aber erkannte ich sogleich nach Mariannen’s Beschreibung von ihr Margaret Porcher.

Ich frug zuerst, ob Sir Percival zu Hause sei, und nachdem man mir hierauf verneinend geantwortet, erkundigte ich mich, wann er abgereist sei. Keine von den beiden Frauen wußte mir darüber Bestimmteres zu sagen, als daß er im vergangenen Sommer fortgegangen sei. Ich konnte aus Margaret Porcher Nichts weiter als wiederholtes nichtssagendes Lächeln und Kopfschütteln herausbringen. Die alte Frau war ein wenig verständiger, und es gelang mir, sie dazu zu bringen, von der Art und Weise, wie Sir Percival abgereist, zu sprechen und von dem Schrecken, welche dieselbe ihr verursacht hatte. Sie erinnerte sich, daß ihr Herr sie aus dem Bette gerufen und daß er sie durch furchtbare Flüche erschreckt – aber das Datum, an welchem sich dies zutrug, ging, wie sie ganz ehrlich gestand, »über ihren Horizont.«

Da ich die Wohnung des Parkhüters verließ, erblickte ich den Gärtner in geringer Entfernung bei der Arbeit. Als ich ihn anredete, sah er mich zuerst etwas argwöhnisch an; da ich jedoch von Mrs. Michelson’s Namen Gebrauch machte und eine höfliche Bemerkung in Bezug auf ihn selbst hinzufügte, ging er ziemlich bereitwillig in die Unterhaltung ein. Es ist unnöthig, zu beschreiben, was zwischen uns vorging: die Unterredung endete, wie alle meine bisherigen Bemühungen, das Datum zu entdecken, geendet hatten Der Gärtner wußte, daß sein Herr »im Juli, entweder in den letzten vierzehn oder ersten zehn Tagen, in der Nacht davongefahren« – und weiter Nichts.

Während wir zusammen sprachen, sah ich den Mann in Schwarz mit dem großen Hute von dem Hause herkommen, dann in einiger Entfernung stille stehn und uns beobachten.

Es war mir schon ein gewisser Verdacht in Bezug auf Das, was ihn nach Blackwater Park führte, durch den Kopf geflogen. Derselbe vermehrte sich jetzt, als der Gärtner mir nicht sagen konnte (oder wollte), wer der Mann sei, und ich beschloß, mir hierüber Auskunft zu verschaffen, indem ich ihn selbst anredete. Die einfachste Frage, die ich als Fremder thun konnte, war die: ob es Fremden gestattet sei, das Haus zu besehen. Ich ging sofort auf den Mann zu und richtete diese Frage an ihn.

Sein Aussehen und Wesen verrieth deutlich, daß er wußte, wer ich sei, und daß er mich zum Streite zu reizen wünschte. Seine Antwort war impertinent genug, um ihn seinen Zweck erreichen zu lassen, wäre ich weniger fest entschlossen gewesen, meinen Gleichmuth zu bewahren. So aber begegnete ich derselben mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, entschuldigte mich wegen meiner Störung (welche er eine »unberufene Aufdringlichkeit« nannte) und verließ den Garten. Die Sache verhielt sich, wie ich geargwöhnt hatte. Sir Percival war davon unterrichtet, daß ich, als ich Mr. Kyrle’s Expedition verlassen, gesehen und erkannt worden, und der Mann in Schwarz war, in Erwartung, daß ich mich dorthin wenden werde, um im Hause und in der Umgegend Erkundigungen einzuziehen, mir bereits vorausgeschickt worden. Hätte ich ihm die allermindeste Ursache gegeben, irgend eine Art gesetzlicher Anklage gegen mich zu erheben, so hätte man ohne Zweifel von der Einmischung des Ortsrichters als Hemmschuh gegen mein Fortschreiten und als Mittel, um mich wenigstens auf einige Tage von Marianne und Laura zu trennen, Gebrauch gemacht.

Ich erwartete, daß man mich auf meinem Wege von Blackwater Park bis zur Station beobachten werde, wie man es am vorhergehenden Tage in London gethan hatte. Aber ich konnte zur Zeit nicht entdecken, ob man mir bei dieser Gelegenheit wirklich folgte, oder nicht. Dem Manne in Schwarz mochten Mittel zur Verfügung stehen, mir nachzuspüren, die mir unbekannt waren – jedenfalls sah ich ihn aber persönlich weder auf meinem Wege nach der Station, noch später abends bei meiner Ankunft in London auf dem Perron. Ich erreichte unsere Wohnung zu Fuße, nachdem ich jedoch, ehe ich mich unserer Hausthür nahte, die Vorsicht gebraucht, durch die einsamsten Straßen der Nachbarschaft zu gehn und dort stille zu stehn und mich mehr als einmal umzusehn. Ich hatte diese Kriegslist in den verdächtigen Wildnissen von Centralamerika gelernt und brachte sie jetzt zu demselben Zwecke und mit sogar noch größerer Vorsicht mitten im Herzen vom civilisirten London in Anwendung!

Es hatte sich in meiner Abwesenheit Nichts ereignet, um Marianne zu beunruhigen. Sie frug mich begierig, welchen Erfolg ich gehabt. Als ich ihr Alles erzählt, konnte sie mir ihre Verwunderung über die Gleichgültigkeit nicht verhehlen, mit der ich von dem bisherigen Mißlingen meiner Nachforschungen sprach.

Die Wahrheit aber war, daß mich meine Erfolglosigkeit noch nicht im Geringsten entmuthigt hatte. Ich hatte meine Nachforschungen als eine Sache der Pflicht begonnen, jedoch Nichts von ihnen erwartet. In meinem derzeitigen Gemüthszustande war es mir fast eine Erleichterung, zu wissen, daß der Kampf sich jetzt auf einen Wettkampf in List zwischen Sir Percival Glyde und mir beschränkte. Der Beweggrund der Rache hatte sich von Anfang an mit meinen anderen und besseren Beweggründen vermischt, und ich bekenne, daß es mir eine Genugthuung war, zu fühlen, daß die sicherste Art und Weise – ja, die einzige mir noch übrige – Laura’s Interesse zu dienen, die war, mich fest an den Schurken zu hängen, der sie geheirathet hatte.

Während ich gestehe, daß ich nicht stark genug war, um meine Beweggründe außer dem Bereiche dieses Wunsches nach Rache zu halten, kann ich auf der andern Seite mit Wahrheit Etwas zu meinen Gunsten beibringen. Mein Herz dachte keinen Augenblick an eine erbärmliche Speculation auf eine etwaige künftige Beziehung zwischen Laura und mir oder auf die persönlichen Concessionen, zu denen es mir, falls ich ihn einmal in meine Gewalt bekäme, gelingen dürfte, Sir Percival zu zwingen. Ich sagte mir nicht ein einziges Mal: »Falls es mir gelingt, so soll ein Resultat meines Erfolges das sein, daß ich ihren Mann machtlos mache, sie wieder von mir zu nehmen.« Ich konnte, wenn ich sie ansah, nicht solche Gedanken an die Zukunft hegen. Der traurige Anblick der Veränderung, welche sie erlitten, machte das Interesse meiner Liebe zu einem Interesse der Zärtlichkeit und des Mitleids, die ein Vater oder Bruder für sie hätte fühlen mögen, und die ich – Gott weiß es – im innersten Herzen fühlte. Alle meine Hoffnungen blickten jetzt nicht weiter hinaus, als bis zu dem Tage ihrer Genesung. Hier endete – bis sie wieder gesund und glücklich war, bis sie mich wieder anschauen und zu mir sprechen konnte wie ehedem – die Zukunft meiner seligsten Gedanken und meiner theuersten Wünsche.

Ich schreibe diese Worte nicht in mäßiger Selbstbetrachtung. Es werden bald Punkte in meiner Erzählung folgen, wo die Gedanken Anderer mein Verhalten richten werden. Es ist nur billig, daß man das Schlimmste und das Beste in mir zuvor gegeneinander abwägt.

An dem Morgen nach meiner Rückkehr aus Hampshire nahm ich Marianne mit mir auf mein Arbeitsstübchen und machte sie hier mit dem Plane vertraut, den ich mir reiflich ausgedacht hatte, um mich der einen angreifbaren Stelle in Sir Percival Glyde’s Leben zu bemeistern.

Der Weg zu dem Geheimnisse ging durch das uns Allen undurchdringliche zweite Geheimniß, welches die Frau in Weiß umhüllte. Der Zugang zu demselben durfte seinerseits mit Hülfe der Mutter Anna Catherick’s gewonnen werden, und das einzige erreichbare Mittel, Mrs. Catherick zur Sprache oder zur That zu bewegen, hing von der Aussicht ab, ob ich örtliche und Familieneinzelheiten von Mrs. Clements erfahren würde. Nachdem ich die Sache sorgfältig überlegt, kam ich zu der Ueberzeugung, daß ich meine neuen Nachforschungen beginnen mußte, indem ich mit Anna Cathericks treuester Freundin und Beschützerin in Verkehr trat.

Die erste Schwierigkeit also war, Mrs. Clements zu finden.

Ich verdankte es Mariannen’s Scharfblicke, dieser Nothwendigkeit auf die beste und einfachste Weise zu begegnen. Sie erbot sich, an die Leute auf dem Gehöfte bei Limmeridge (Todd’s Ecke) zu schreiben und sich zu erkundigen, ob sie in den letzten paar Monaten von Mrs. Clements gehört hatten. Es war uns unmöglich, zu errathen, auf welche Weise Anna von Mrs. Clements getrennt worden war; doch nachdem diese Trennung einmal bewerkstelligt, mußte es Mrs. Clements gewiß einfallen, sich vor Allem in der Gegend nach ihr zu erkundigen, für die, wie sie wußte, die Verschwundene die größte Vorliebe hatte: in der Gegend von Limmeridge. Ich sah augenblicklich, daß Mariannen’s Vorschlag uns eine Aussicht auf Erfolg bot, und sie schrieb demzufolge mit der nächsten Post an Mrs. Todd.

Während wir die Antwort erwarteten, ließ ich mich durch Marianne, soweit ihr Dies möglich, über Sir Percival’s Familienverhältnisse und über sein früheres Leben unterrichten. Sie konnte hierüber nur nach Hörensagen berichten; aber über das Wenige, was sie zu erzählen hatte, konnte sie mit ziemlicher Gewißheit sprechen.

Sir Percival war ein einziger Sohn. Sein Vater, Sir Felix Glyde, hatte seit seiner Geburt an ein einem schmerzhaften und unheilbaren Gebrechen gelitten und seit frühester Kindheit alle Gesellschaft gescheut. Sein einziges Glück lag im Genusse der Musik, und er hatte eine Dame geheirathet, welche seine Geschmacksrichtungen theilte und die, wie man sagte, eine ausgezeichnete Virtuosin war. Er erbte die Güter von Blackwater Park, als er noch ein junger Mann war; doch weder er noch seine Frau näherten sich, nachdem sie von dem Landsitze Besitz genommen, auf irgend eine Weise der Gesellschaft der Umgegend, und Niemand verleitete sie, ihre Zurückhaltung abzulegen, mit der einen unheilvollen Ausnahme des Geistlichen des Kirchspiels.

Dieser war der schlimmste aller unschuldigen Unheilstifter – ein übertrieben amtseifriger Mann. Er hatte gehört, daß Sir Felix die Universität in dem Rufe, wenig besser als ein Revolutionär in der Politik und in der Religion ein Ungläubiger zu sein, verlassen hatte, und er kam daher gewissenhaft zu dem Schlusse, daß es seine Pflicht sei, den Herrn des Gutes aufzufordern, orthodoxe Ansichten in der Kirche seines Sprengels predigen zu hören. Sir Felix wurde wüthend über des Pfarrers wohlgemeinte, aber schlechtangebrachte Einmischung und beleidigte ihn so gröblich und öffentlich, daß die Familien der Umgegend ihm Briefe voll entrüsteter Gegenvorstellungen schickten, und selbst die Pächter auf seinen Gütern ihre Ansicht darüber so deutlich aussprachen, wie sie es eben wagten. Der Baronet, der in keiner Beziehung Geschmack am Landleben fand und keine Art Vorliebe für den Ort selbst oder für irgend Jemanden, der dort lebte, hatte, erklärte, daß die Gesellschaft um Blackwater Park keine zweite Gelegenheit haben solle, ihn zu behelligen, und verließ von Stund’ an den Ort.

Nach kurzem Aufenthalte in London reiste er mit seiner Frau nach dem Festlande und kehrte nie wieder nach England zurück. Sie lebten zum Theil in Frankreich und zum Theil in Deutschland – jedoch stets in der Zurückgezogenheit, welche Sir Felix durch das krankhafte Gefühl seines Gebrechens zum Bedürfnisse geworden war. Ihr Sohn, Percival, war im Auslande geboren und dort von Privatlehrern erzogen worden. Von seinen Eltern war es seine Mutter, die er zuerst verlor. Sein Vater starb ein paar Jahre nach ihr, entweder im Jahre 1825 oder 1826. Sir Percival war ein paarmal vorher als junger Mann in England gewesen, aber seine Bekanntschaft mit dem verstorbenen Mr. Fairlie begann erst nach dem Tode seines Vaters. Sie wurden bald sehr vertraute Freunde, obgleich Sir Percival zu jener Zeit selten oder nie nach Limmeridge House kam. Mr. Frederick Fairlie war ihm vielleicht ein paarmal in Mr. Philipp Fairlie’s Gesellschaft begegnet, aber er konnte weder damals noch je später viel von ihm erfahren haben. Sir Percival’s einziger intimer Freund in der Familie Fairlie war Laura’s Vater gewesen.

Hierauf beschränkten sich die Einzelheiten, welche Marianne mir mitzutheilen im Stande war. Ich sah in ihnen Nichts, was meinem gegenwärtigen Zwecke hätte dienen können, doch schrieb ich sie mir sorgfältig auf, für den Fall, daß sie in Zukunft von Wichtigkeit werden könnten.

Mrs. Todd’s Antwort (welche sie auf unser Ersuchen an ein Postbureau in einiger Entfernung von uns adressirt hatte) war bereits dort angelangt, als ich hinging, um danach zu fragen. Das Glück, welches bisher so beharrlich gegen uns gewesen, wandte sich von diesem Augenblicke an zu unsern Gunsten. Mrs. Todd’s Brief enthielt den ersten Fingerzeig auf das hin, wonach wir forschten.

Mrs. Clements hatte (wie wir gemuthmaßt) an Mrs. Todd geschrieben, und nachdem sie sich wegen der plötzlichen Art und Weise entschuldigt, in der sie und Anna ihre Bekannten (an dem Morgen nach dem Tage, an welchem ich mit der Frau in Weiß im Gottesacker zu Limmeridge zusammengetroffen) verlassen, hatte sie Mrs. Todd von Anna’s Verschwinden unterrichtet und sie inständig gebeten, Nachfragen in der Umgegend anzustellen, in der Erwartung, daß die Verlorene ihren Weg nach Limmeridge gefunden habe. Zu dieser Bitte hatte Mrs. Clements die Adresse hinzugefügt, unter der man ihr immer mit Sicherheit schreiben könne, und diese Adresse übersandte Mrs. Todd jetzt an Marianne. Es war in London und innerhalb einer halben Stunde Weges von unserer Wohnung.

Des Sprichwortes eingedenk beschloß ich, »kein Gras unter meinen Füßen wachsen zu lassen.« Schon am folgenden Morgen machte ich mich auf den Weg, um mir eine Unterredung mit Mrs. Clements zu verschaffen. Dies war mein erster Schritt in den mir bevorstehenden Nachforschungen und hier beginnt die Erzählung des verzweifelten Versuches, den ich mir jetzt zur Pflicht gemacht hatte.



Kapiteltrenner

VI.

Die von Mrs. Todd angegebene Adresse führte mich nach einem in einer anständigen Straße nahe bei Gray’s Road gelegenen Logirhause.

Als ich klopfte, wurde die Thür von Mrs. Clements selbst geöffnet Sie schien mich nicht zu erkennen und frug, was mein Anliegen sei. Ich erinnerte sie an unser Begegnen im Friedhofe zu Limmeridge am Schlusse meiner Unterredung mit der Frau in Weiß, wobei ich zu gleicher Zeit Sorge trug, sie auch daran zu erinnern, daß ich es war, der (wie Anna es ihr selbst gesagt) Anna Catherick’s Flucht aus der Irrenanstalt unterstützte. Dies war mein einziges Recht an Mrs. Clements Vertrauen. Sie erinnerte sich des Umstandes, sowie ich seiner erwähnte, und bat mich in der größten Spannung, ob ich ihr etwa Nachrichten über Anna bringe, in ihr Wohnzimmer zu treten.

Es war mir unmöglich, ihr die ganze Wahrheit zu sagen, ohne zugleich in Einzelheiten in Bezug auf den ausgeübten Verrath einzugehen, welche einer Fremden anzuvertrauen gefährlich gewesen wäre. Ich konnte mich nur auf das Vorsichtigste enthalten, falsche Hoffnungen zu erregen, und dann ihr erklären, daß der Zweck meines Besuches der sei, die Personen zu entdecken, die an Anna’s Verschwinden schuld wären. Ich fügte sogar, um mich gegen spätere Vorwürfe meines eigenen Gewissens zu schützen, hinzu, daß ich nicht die geringste Hoffnung habe, ihre Spur zu entdecken: daß ich glaube, wir würden sie selbst nie lebend wiedersehen und daß mein Hauptinteresse in der Sache dahin gehe, zwei Männer zur Strafe zu bringen, die ich im Verdachte habe, sie entführt zu haben, und von denen ich und mir sehr theure Angehörige bitteres Unrecht erfahren. Nach diesen Erklärungen überließ ich es Mrs. Clements zu sagen, ob unser Interesse an der Sache (welcher Unterschied auch immer in unseren Beweggründen sein möchte) nicht ein und dasselbe sei, und ob sie irgend Etwas dagegen habe, meinen Zweck durch solche Auskunft zu fördern, wie sie mir zu geben im Stande sei.

Die arme Frau war anfangs zu sehr verwirrt und bewegt, um mich genau zu verstehen. Sie konnte mir blos sagen, daß sie mir zum Danke für meine Güte gegen Anna Alles sagen wolle, was sie wisse. Doch da sie nie besonders schnell von Begriffen sei, wenn sie mit Fremden spreche, so bäte sie mich, ihr etwas zu helfen, indem ich ihr sagte, wo sie anzufangen habe.

Da ich aus Erfahrung weiß, daß die deutlichste Erzählung, die man von Leuten erhält, welche nicht daran gewöhnt sind, ihre Ideen zu ordnen, diejenige ist, welche gleich zu Anfang weit genug zurückgeht, um in ihrem Verlaufe alle Hindernisse der Rückblicke zu vermeiden, so bat ich Mrs. Clements, mir erst zu sagen, was sich zugetragen, nachdem sie Limmeridge verlassen, und auf diese Weise führte ich sie durch vorsichtige Fragen von einem Punkte zum andern, bis wir zu dem ihres Verschwindens kamen.

Die Auskunft, welche ich auf diese Weise erhielt, lief auf Folgendes hinaus:

Nachdem sie das Gehöft, Todd’s Ecke, verlassen, waren Mrs. Clements und Anna an dem Tage bis Derby gereist, wo sie Anna’s wegen sich eine Woche lang aufgehalten. Sie waren dann nach London zurückgekehrt und etwa einen Monat in dem Logis geblieben, das Mrs. Clements zur Zeit innegehabt, worauf Verhältnisse, welche sich auf das Haus und den Hauswirth bezogen, sie genöthigt hatten, ihre Wohnung zu verändern. Anna’s jedesmalige Angst, entdeckt zu werden, wenn sie in London oder der Umgegend spazieren zu gehen wagten, hatte allmälig auch auf Mrs. Clements gewirkt, und sie hatte deshalb beschlossen, sich nach einem der entlegensten Orte in England zurückzuziehen: nach der Stadt Grimsby in Lincolnshire, wo ihr verstorbener Mann seine ganze Jugend verlebt hatte. Seine Verwandten waren angesehene in der Stadt ansässige Leute, welche Mrs. Clements stets mit großer Freundlichkeit entgegengekommen waren, und es schien ihr, daß sie nichts Besseres thun könne, als dorthin zu gehen und sich von der Familie ihres Mannes Rath ertheilen zu lassen. Anna wollte nicht davon hören, daß sie zu ihrer Mutter nach Welmingham zurückkehrte, weil sie von dort aus nach der Irrenanstalt gebracht worden und weil Sir Percival sicher dorthin zurückkehren und sie dann finden würde. Es war dieser Einwand ein wohlbegründeter, und Mrs. Clements fühlte, daß derselbe nicht leicht zu beseitigen sei.

In Grimsby hatten sich die ersten ernstlichen Symptome von Anna’s Krankheit gezeigt. Dies war bald, nachdem die Nachricht von Lady Glyde’s Vermählung in den öffentlichen Blättern erschienen und auf diese Weise bis zu ihr gedrungen war.

Der Arzt, welcher zu der Kranken gerufen wurde, erkannte sofort, daß sie an einer gefährlichen Herzkrankheit litt. Die Krankheit währte lange, schwächte sie sehr und kehrte in Zwischenräumen, jedoch in gelinderem Grade, immer wieder. Sie blieben in Folge dessen während der ersten Hälfte des neuen Jahres in Grimsby und wären wahrscheinlich noch viel länger dort geblieben, hätte nicht Anna plötzlich den Entschluß gefaßt, nach Hampshire zurückzukehren, um sich eine heimliche Unterredung mit Lady Glyde zu verschaffen.

Mrs. Clements that Alles, was in ihrer Macht lag, um die Ausführung dieses gewagten und unbegreiflichen Vorsatzes zu hintertreiben. Anna gab keine Erklärung ihrer Beweggründe, außer daß sie glaube, der Tag ihres Todes sei nicht mehr ferne, und daß ihr Etwas auf dem Herzen laste, das sie auf alle Gefahr hin Lady Glyde im Geheimen mittheilen müsse. Ihr Entschluß hierin war so unerschütterlich, daß sie erklärte, sie werde allein nach Hampshire gehen, falls Mrs. Clements abgeneigt sei, sie zu begleiten. Der Arzt war, da man ihn zu Rathe zog, der Ansicht, daß, falls man ihrem Wunsche entschieden entgegenträte, Dies aller Wahrscheinlichkeit nach einen zweiten und vielleicht gar tödtlichen Anfall ihrer Krankheit zur Folge haben würde, weshalb Mrs. Clements auf seinen Rath der Nothwendigkeit nachgab und nachmals mit traurigen Vorahnungen von kommender Noth und Gefahr Anna Catherick ihren Willen haben ließ.

Auf der Reise von London nach Hampshire fand Mrs. Clements, daß einer ihrer Reisegefährten genau mit der Umgegend von Blackwater Park bekannt war und ihr jede Auskunft in Bezug auf die Lokalitäten geben konnte, welcher sie bedurfte. Auf diese Weise erfuhr sie, daß der einzige Ort, an dem sie sich aufhalten konnten, der nicht in gefahrvoller Nähe von Sir Percival’s Wohnung gelegen, ein großes Dorf Namens Sandon sei. Die Entfernung desselben von Blackwater Park war zwischen drei und vier (engl.) Meilen – und diese Strecke war Anna Catherick jedesmal, wo sie in den Parkanlagen am See erschien, zu Fuße hin und zurück gegangen.

Während der wenigen Tage, welche sie, ohne entdeckt zu werden, in London zugebracht, hatten sie ein wenig außerhalb des Dorfes in der Hütte einer achtbaren Witwe gewohnt, welche ein Schlafzimmer zu vermiethen gehabt, und deren Schweigen Mrs. Clements wenigstens während der ersten Woche sich zu sichern vermocht. Auch hatte sie ihr Möglichstes versucht, um Anna zu bewegen, sich erst damit zu begnügen, daß sie an Lady Glyde schreibe. Doch das Mißlingen der Warnung in dem anonymen Briefe, welchen sie nach Limmeridge geschickt, hatte Anna entschlossen gemacht, diesmal zu sprechen, und sie blieb hartnäckig bei ihrem Beschlusse, allein ihrem Vorhaben nachzugehen.

Mrs. Clements folgte ihr dessenungeachtet jedesmal heimlich nach dem See, ohne sich jedoch dem Boothause nahe genug zu wagen, um zu sehen und zu hören, was dort vorging. Als Anna das letztemal aus der gefahrvollen Nachbarschaft zurückkehrte, hatte die Anstrengung, Tag für Tag zu Fuße eine Strecke zu gehen, die weit über ihre Kräfte ging, und die entkräftigende Wirkung der Aufregung, welche sie erduldete, die Folge, welche Mrs. Clements längst befürchtet. Der alte Schmerz über dem Herzen und die anderen Symptome der Krankheit, welche sie in Grimsby gehabt, zeigten sich abermals und fesselten Anna an ihr Bett in dem Häuschen.

Unter diesem Drangsale war es, wie Mrs. Clements aus Erfahrung wußte, vor Allem nothwendig, Anna’s Besorgnisse zu beruhigen, zu welchem Zwecke die gute Frau folgenden Tages nach dem See ging, um zu sehen, ob sie nicht mit Lady Glyde werde sprechen (die, wie Anna ihr sagte, ihren täglichen Spaziergang dorthin machen würde) und sie überreden können, heimlich mit ihr nach der Hütte in Sandon zurückzukehren. Als sie am Saume der Pflanzung anlangte, begegnete Mrs. Clements nicht Lady Glyde, sondern einem großen, starken ältlichen Herrn, der ein Buch in der Hand hielt – mit einem Worte, dem Grafen Fosco.

Der Graf frug sie, nachdem er sie erst einen Augenblick sehr aufmerksam betrachtet, ob sie dort Jemanden zu treffen erwarte, und fügte dann, ehe sie noch Etwas erwidern konnte, hinzu, daß er selbst dort mit einer Botschaft von Lady Glyde warte, jedoch nicht sicher sei, ob die Person vor ihm der Beschreibung derjenigen entspreche, an die er abgeschickt sei.

Hierauf vertraute Mrs. Clements ihm sofort ihr Anliegen und bat ihn inständig, ihr behülflich zu sein, Anna’s Besorgnisse zu beschwichtigen, indem er ihr Lady Glyde’s Botschaft anvertraue. Der Graf erfüllte ihre Bitte auf das Freundlichste und Bereitwilligste. Was Lady Glyde ihm zu sagen aufgetragen, sei, wie er sagte, von größter Wichtigkeit. Lady Glyde bitte Anna und ihre gute Freundin dringend, unverzüglich nach London zurückzukehren, da sie überzeugt sei, daß, falls sie noch länger in der Umgegend von Blackwater Park blieben, Sir Percival sie entdecken würde. Sie selbst werde in Kurzem nach London reisen, und falls Mrs. Clements und Anna ihr vorausreisen und sie dann von ihrer Adresse in Kenntniß setzen wollten, so sollten sie in weniger als vierzehn Tagen entweder sie sehen oder von ihr hören. Der Graf fügte hinzu, daß er bereits versucht habe, Anna selbst eine freundschaftliche Warnung zu geben, daß sie jedoch beim Anblicke eines Fremden zu sehr erschrocken gewesen, um ihn näher zu kommen und mit ihr sprechen zu lassen.

Mrs. Clements erwiderte hierauf in der größten Unruhe und Bestürzung, daß sie es wohl zufrieden sei, Anna nach London und in Sicherheit zu bringen, daß aber für jetzt keine Hoffnung vorhanden, sie aus der gefahrvollen Nachbarschaft zu entfernen, da sie augenblicklich krank im Bette liege. Der Graf erkundigte sich, ob Mrs. Clements ärztlichen Beistand geholt, und da er hörte, daß sie bisher aus Furcht, dadurch die Aufmerksamkeit des Dorfes auf sich zu ziehen, angestanden, dies zu thun, erklärte er ihr, daß er selbst Arzt sei und mit ihr zurückgehen wolle, um zu sehen, was für Anna gethan werden könne. Mrs. Clements (da sie ein erklärliches Zutrauen zu einem Manne fühlte, dem Lady Glyde einen heimlichen Auftrag anvertraut hatte) nahm das Anerbieten dankbar an, und Beide kehrten dann zusammen nach der Hütte zurück. Anna schlief, als sie dort anlangten. Der Graf fuhr bei ihrem Anblicke überrascht zusammen (offenbar in Erstaunen über ihre Aehnlichkeit mit Lady Glyde); die arme Mrs. Clements glaubte blos, weil es ihn erschreckte, zu sehen, wie krank sie war. Er wollte nicht zugeben, daß sie geweckt würde, sondern begnügte sich damit, Mrs. Clements über die Symptome auszufragen, sie zu betrachten und leise ihren Puls zu fühlen. Der Ort Sandon war groß genug, um einen Apothekerladen zu besitzen, und dorthin begab sich der Graf, um das Recept zu schreiben und die Medicin machen zu lassen. Er brachte dieselbe selbst zurück und unterrichtete Mrs. Clements, daß es ein starkes Reizmittel sei und Anna Kraft geben werde, aufzustehen und die Reise von nur wenigen Stunden nach London auszuhalten. Die Medicin sollte zu bestimmten Zeiten an diesem und dem nächstfolgenden Tage eingegeben werden; am dritten werde sie dann wohl genug sein, um zu reisen, und er kam mit Mrs. Clements überein, sie an der Station von Blackwater zu treffen und mit dem Mittagszuge abreisen zu sehen. Falls sie nicht kämen, würde er annehmen, daß Anna’s Zustand sich verschlimmert habe und dann augenblicklich nach der Hütte kommen.

Diese letztere Nothwendigkeit trat jedoch nicht ein.

Die Medicin hatte eine erstaunliche Wirkung auf Anna, und der Erfolg derselben wurde noch durch die Versicherung unterstützt, welche Mrs. Clements ihr jetzt geben durfte: daß sie nämlich binnen Kurzem Lady Glyde in London sehen werde. An dem bestimmten Tage und Zeitpunkte (nachdem sie sich im Ganzen kaum eine Woche in Hampshire aufgehalten) trafen sie auf der Station ein. Der Graf erwartete sie hier und war mit einer ältlichen Dame, welche ebenfalls mit diesem Zuge nach London zu fahren schien, in Unterhaltung begriffen. Er leistete ihnen den freundlichsten Beistand beim Einsteigen, indem er Mrs. Clements bat, nicht zu vergessen, Lady Glyde ihre Adresse zu schicken. Die ältliche Dame reiste nicht mit ihnen in demselben Coupé und sie sahen nicht, was aus ihr wurde, als sie in London anlangten. Mrs. Clements nahm eine anständige Wohnung in einer stillen Nachbarschaft und schrieb dann, wie sie versprochen, um Lady Glyde von ihrer Adresse in Kenntniß zu setzen.

Es vergingen über vierzehn Tage, ohne daß eine Antwort kam.

Nach Verlauf dieses Zeitraumes kam eine Dame (dieselbe ältliche Dame, welche sie auf der Station gesehen hatten) in einer Droschke zu ihnen gefahren und sagte, Lady Glyde, welche augenblicklich in einem Hôtel in London anwesend sei, habe sie geschickt, um ihnen zu sagen, daß sie Mrs. Clements zu sehen wünsche, um mit ihr die Zeit einer Unterredung zwischen ihr – Lady Glyde– und Anna zu bestimmen. Mrs. Clements erklärte sich (auf Anna’s dringendes Zureden) bereit, diesen Zweck zu fördern, um so mehr, da sie nicht länger als höchstens eine halbe Stunde vom Hause abwesend zu sein brauchte. Sie und die ältliche Dame (offenbar die Gräfin Fosco) fuhren dann in der Droschke ab. Die Dame ließ die Droschke, nachdem sie eine ziemliche Strecke gefahren waren, vor einem Kaufladen halten, ehe sie in dem Gasthofe anlangten, und bat Mrs. Clements, ein paar Minuten zu warten, bis sie einen Einkauf besorge, den sie vergessen hatte. Sie ließ sich nie wiedersehen.

Nachdem sie eine Weile gewartet, wurde Mrs. Clements unruhig und befahl dem Kutscher, nach ihrer Wohnung zurückzufahren Als sie dort nach einer Abwesenheit von etwas mehr als einer halben Stunde anlangte, war Anna fort.

Die einzige Auskunft, die sie über die Sache erlangen konnte, erhielt sie durch die Magd, welche den im Hause wohnenden Miethern aufwartete. Sie hatte einem Knaben aus der Straße die Thür geöffnet, der ihr »für das junge Frauenzimmer in der zweiten Etage« (dem Theile des Hauses, welchen Mrs. Clements bewohnte) einen Brief gegeben. Die Magd hatte den Brief abgegeben, war dann in die Küche zurückgekehrt und hatte fünf Minuten später Anna in Hut und Shawl aus der Hausthüre gehen sehen. Sie hatte den Brief wahrscheinlich mitgenommen; denn derselbe war nirgends zu finden, und es war daher unmöglich zu sagen, wodurch man sie bewogen, das Haus zu verlassen. Der Anlaß mußte ein starker gewesen sein – denn sie verließ in London nie aus eigenem Antriebe allein das Haus. Hätte Mrs. Clements dies nicht aus Erfahrung gewußt, so würde sie Nichts bewogen haben, sie auch nur auf eine halbe Stunde allein zu lassen.

Sobald sie ihre Gedanken zu sammeln im Stande gewesen, hatte Mrs. Clements natürlich zuerst die Idee gefaßt, nach der Anstalt zu gehen, da sie befürchtete, daß Anna Catherick dahin zurückgebracht worden.

Sie hatte Dies am folgenden Tage ausgeführt, da Anna selbst ihr die Gegend angegeben hatte, wo die Anstalt gelegen war. Die Antwort, welche sie erhielt (da sie ihre Nachfrage wahrscheinlich einen oder zwei Tage vorher machte, ehe die falsche Anna Catherick der Haft der Anstalt übergeben wurde), war, daß keine solche Person zurückgebracht worden. Sie schrieb dann zunächst an Mrs. Catherick in Welmingham, um sie zu fragen, ob sie irgend Etwas von ihrer Tochter gehört oder gesehen habe, und erhielt auch von dieser Seite eine verneinende Antwort. Hiernach war sie am Ende ihrer Hülfsquellen und wußte durchaus nicht, wo sie sonst noch nachfragen, oder was sie sonst noch thun konnte. Von jenem Augenblicke bis zu dem gegenwärtigen war sie in völliger Unkenntniß über die Ursache von Anna’s Verschwinden und über das Ende ihrer Geschichte geblieben.



Kapiteltrenner

VII.

Bis hierher war die Auskunft, welche ich von Mrs. Clements erhielt– obgleich sie Facta feststellte, die mir bisher unbekannt geblieben –– von blos einleitender Art.

Es war klar, daß die Reihe von Betrügereien, welche Anna Catherick nach London geführt und dort von Mrs. Clements getrennt hatten, einzig und allein vom Grafen und der Gräfin Fosco ausgeübt worden, und die Frage, ob das Betragen dieser Beiden in irgend einem Punkte der Art gewesen, um sie innerhalb des Bereiches der Gesetze zu bringen, verdient wohl unsere künftige Beachtung. Das Ziel jedoch, das ich zuvörderst im Auge hatte, führte mich in eine andere Richtung. Der unmittelbare Zweck meines Besuches bei Mrs. Clements war, wenigstens den Versuch zu machen, Sir Percival’s Geheimnisse auf die Spur zu kommen, und sie hatte bisher noch Nichts gesagt, das mich auf meinem Pfade diesem Ende zu nur um einen Schritt weiter gebracht hätte. Ich fühlte die Nothwendigkeit, zu versuchen, ob ich nicht ihre Erinnerungen an andere Zeiten, Personen und Ereignisse, als die, bei denen ihre Gedanken bisher verweilt, erwecken könne, und meine nächsten Worte zielten indirect hierauf hin.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen in dieser Trübsal irgendwie von Nutzen sein,« sagte ich; »doch kann ich Nichts weiter für Sie thun, als herzlichen Antheil an Ihrem Kummer nehmen. Wäre Anna Ihr eignes Kind gewesen, Mrs. Clements, so hätten Sie ihr kaum bereitwilligere Opfer bringen können.«

»Darin ist kein großes Verdienst für mich, Sir,« sagte Mrs. Clements einfach. »Das arme Mädchen war so gut wie mein eigen Kind für mich. Ich nährte es fast von ihrer Geburt an, Sir, und es war schwer genug, es aufzubringen. Ihr Verlust würde mir vielleicht nicht so zu Herzen gehen, hätte ich nicht ihre ersten kurzen Kleidchen für sie gemacht und sie laufen gelehrt. Ich pflegte immer zu sagen, daß der liebe Herrgott sie mir geschickt, weil ich selbst nie ein Kleines hatte. Und jetzt, da ich sie verloren habe, kehren die alten Zeiten meinem Gedächtnisse zurück, und selbst in meinem Alter kann ich mich nicht enthalten, um sie zu weinen, Sir – gewiß, ich kann nicht anders!«

Ich wartete ein wenig, um Mrs. Clements Zeit zu gönnen, sich wieder zu beruhigen. Schimmerte vielleicht das Licht, nach dem ich so lange gesucht, aus dämmernder Ferne her jetzt in der guten alten Frau Erinnerungen von Anna’s Kindheit?

»Kannten Sie Mrs. Catherick, ehe Anna geboren war?« frug ich.

»Nicht sehr lange, Sir – nicht über vier Monate. Wir kamen zu der Zeit sehr viel zusammen, aber wir waren nie sehr vertraut mit einander.«

Ihre Stimme wurde wieder fester, als sie diese Antwort machte. So schmerzlich auch manche ihrer Erinnerungen sein mochten, so bemerkte ich doch, daß es ihr eine Erleichterung war, von dem lebendigen Kummer der Gegenwart zu den halbvergessenen Trübsalen der Vergangenheit überzugehen

»Waren Sie und Mrs. Catherick Nachbarinnen?« frug ich, indem ich ihr Gedächtniß zu ermuntern suchte.

»Ja, Sir, wir waren Nachbarinnen in Alt-Welmingham.«

»Alt-Welmingham? Dann giebt es also in Hampshire zwei Orte dieses Namens?«

»Nun ja, Sir, damals – vor mehr als dreiundzwanzig Jahren. Sie bauten ungefähr zwei Meilen davon eine neue Stadt dicht am Flusse – und Alt-Welmingham, das nie viel mehr als ein Dorf war, wurde allmälich verlassen. Die neue Stadt ist der Ort, den sie jetzt Welmingham nennen, aber die alte Pfarrkirche ist noch jetzt die Pfarrkirche. Sie steht allein, indem die Häuser um sie her alle entweder niedergerissen oder von selbst verfallen sind. Ich habe in meinem Leben traurige Veränderungen gesehen. Es war zu meiner Zeit ein freundlicher, hübscher Ort.«

»Wohnten Sie dort vor Ihrer Heirath, Mrs. Clements?«

»Nein, Sir, ich bin aus Norfolk, und mein Mann gehörte auch nicht zu dem Orte. Er war aus Grimsby, wie ich Ihnen schon sagte, und brachte dort seine Lehrjahre zu. Da er aber im Süden Bekannte hatte und durch sie von einer Vacanz hörte, etablirte er sich in Southampton. Es war nur ein kleines Geschäft; aber er machte doch genug dabei, um sich mit bescheidenen Ansprüchen zurückzuziehen, und ließ sich dann in Alt Welmingham nieder. Ich ging mit ihm dorthin, als er mich heirathete. Wir waren Beide nicht mehr jung; aber wir lebten sehr glücklich miteinander – glücklicher, als unser Nachbar, Mr. Catherick, mit seiner Frau lebte, als sie ungefähr anderthalb Jahre später nach Welmingham kamen.«

»War Ihr Mann schon vorher mit Diesen bekannt gewesen?«

»Mit Catherick, ja, Sir – aber nicht mit seiner Frau. Sie war uns Beiden fremd. Ein Herr hatte sich für Catherick verwendet, so daß er die Stelle als Küster an der Pfarrkirche zu Welmingham erhielt, und das war der Grund, weshalb er sich in unserer Nachbarschaft eine Wohnung nahm. Er brachte seine junge Frau mit, und wir hörten später, sie sei Kammerjungfer gewesen in einer Familie, die zu Varneck Hall bei Southampton wohnte. Es hatte Catherick Künste genug gekostet, ehe er sie überreden konnte, ihn zu heirathen – weil sie sich so außerordentlich vornehm hielt. Er hatte zu wiederholten Malen immer wieder und wieder um sie angehalten und endlich, da er sah, daß sie so widerspenstig war, die Sache aufgegeben. Da aber drehte sie sich mit einem Male nach der andern Seite und kam, anscheinend ohne Grund oder Ursache, ganz von selbst. Mein lieber Mann pflegte zu sagen, daß es jetzt an der Zeit gewesen wäre, ihr eine Lehre zu geben. Aber Catherick war zu sehr vernarrt in sie, um so Etwas zu thun; er trat ihr nie in irgend Etwas entgegen, weder vor der Heirath noch nachher. Er war ein leidenschaftlicher Mann und ließ sich oft von seinen Gefühlen fortreißen – bald auf die eine und bald auf die andere Art; er hätte eine bessere Frau verdorben, als Mrs. Catherick, falls eine bessere ihn geheirathet hätte. Ich spreche nicht gern Böses von anderen Leuten, Sir; aber sie war ein herzloses Weib mit einem furchtbaren Eigenwillen; sie liebte flatterhafte Bewunderung und Putz und bemühte sich nicht, ihrem Manne, der sie immer so gütig behandelte, auch nur äußerlichen Respekt zu bezeigen. Mein Mann sagte gleich, als sie zuerst in unsere Nachbarschaft kamen, daß die Sache ein schlechtes Ende nehmen werde, und seine Worte wurden wahr. Ehe sie sich noch vier Monate am Orte aufgehalten, gab es einen schrecklichen Skandal und ein unglückliches Auseinandergehen. Es hatten Beide Schuld – ich fürchte, es hatten Beide Schuld.«

»Sie meinen, der Mann sowohl wie die Frau hatte Schuld?«

»O nein, Sir! Catherick meine ich. nicht – ihn konnte man nur bemitleiden – ich meine seine Frau und den –«

»Und Den, welcher den Skandal verursachte?«

»Ja, Sir. Er war von Geburt und Erziehung ein Gentleman und hätte ein besseres Beispiel geben sollen. Sie kennen ihn, Sir – und meine arme, liebe Anna kannte ihn nur zu wohl.«

»Sir Percival Glyde?««

»Ja, Sir Percival Glyde.«

Mein Herz pochte heftig – ich glaubte, meine Hand halte den Schlüssel. Wie wenig ahnte ich damals von den labyrinthischen Krümmungen, welche mich noch irre leiten sollten!

»Wohnte Sir Percival damals in Ihrer Nachbarschaft?« frug ich sie.

»Nein, Sir. Er kam als Fremder zu uns. Sein Vater war nicht lange vorher im Auslande gestorben. Ich erinnere mich, daß er in Trauer war. Er quartirte sich in dem kleinen Wirthshause am Flusse ein (es ist seit der Zeit niedergerissen worden), wo die Herren zum Angeln zu kommen pflegten. Es wurde nicht besonders bemerkt, als er zuerst hinkam: es war etwas ganz Gewöhnliches, daß die Herren aus allen Theilen von England hinkamen, um in unserem Flusse zu angeln.«

»Kam er vor Anna’s Geburt in’s Dorf?«

»Ja, Sir. Anna wurde im Monat Juni Achtzehnhundertsiebenundzwanzig geboren, und er kam, glaube ich, zu Ende April oder Anfangs Mai.«

»Als Fremder für Alle? Für Mrs. Catherick sowohl, als für die übrigen Nachbarn?«

»Das glaubte man zu Anfang, Sir. Als aber der Skandal ausbrach, glaubte kein Mensch mehr, daß sie einander fremd gewesen. Ich erinnere mich wohl, wie es Alles kam, als ob es erst gestern gewesen wäre. Catherick kam einmal spät in der Nacht in unsern Garten und weckte uns, indem er eine Handvoll Kies an unsere Fenster warf. Ich hörte ihn meinen Mann ›um Gotteswillen‹ bitten, herunter zu kommen, er habe mit ihm zu sprechen. Sie unterhielten sich dann eine lange Weile unten im Vorhäuschen. Als mein Mann wieder heraufkam, zitterte er am ganzen Leibe. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sagte: ›Lizzie, ich habe Dir’s immer gesagt, daß das Weib ein schlimmes Weib ist, und daß sie einmal ein schlechtes Ende nehmen würde – und ich fürchte, das Ende ist bereits gekommen. Catherick hat ’ne Menge Spitzentaschentücher, zwei kostbare Ringe und eine neue goldene Uhr mit Kette in der Schublade seiner Frau versteckt gefunden – Sachen, die nur eine ganz vornehme Dame tragen kann – und seine Frau will ihm nicht sagen, wie sie dazu gekommen ist.‹ ›Glaubt er, daß sie sie gestohlen hat?‹ fragte ich. ›Nein,‹ sagte er, ›das wäre schon schlimm genug. Aber die Sache ist noch schlimmer – sie hat keine Gelegenheit gehabt, um solche Sachen zu stehlen, und wenn sie sie gehabt hätte, so ist sie doch nicht die Frau danach. Es sind Geschenke, Lizzie – ihre eigenen Anfangsbuchstaben sind inwendig in die Uhr eingravirt – und Catherick hat sie mit jenem Herrn in Trauer, Sir Percival Glyde, sprechen und umgehen sehen, wie sich’s für keine verheirathete Frau paßt. Sage Du Nichts davon; ich habe Catherick für heute Abend beruhigt. Ich habe ihm gerathen, die Sache für sich und seine Augen und Ohren auf ein paar Tage offen zu halten, bis er sich fest überzeugt hat.‹ ›Ich glaube, Ihr seid alle Beide im Irrthume,‹ sagte ich; ›es ist nicht anzunehmen, daß Mrs. Catherick, die hier eine angenehme und geachtete Stellung einnimmt, sich mit einem hergelaufenen Fremden wie Sir Percival Glyde einlassen sollte.‹ ›Ja wohl, aber ist er auch ein Fremder für sie?‹ sagte mein Mann. ›Du vergißt, wie Mrs. Catherick sich endlich dazu herabließ, ihn zu heirathen. Sie kam von selbst zu ihm, nachdem sie ihm ein Mal über das andere Nein gesagt hatte, da er sich um sie beworben. Es hat schon vor ihr schlechte Weiber gegeben, Lizzie, die redliche Männer, welche sie liebten, dazu gebraucht haben, ihren Ruf zu retten … und ich fürchte sehr, diese Mrs. Catherick ist so schlimm, wie die schlechteste unter ihnen. Wir werden sehen,‹ sagte mein Mann, ›wir werden es bald sehen.‹ Und kaum zwei Tage später sahen wir es allerdings.«

Mrs. Clements wartete einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. Selbst in diesem Augenblicke begann ich zu zweifeln, ob der Schlüssel, den ich schon gefunden zu haben geglaubt, mich auch wirklich dem Geheimnisse näher brachte, das im Mittelpunkte des ganzen Labyrinthes lag. War diese gewöhnliche, zu gewöhnliche Geschichte von der Treulosigkeit eines Mannes und der Schwäche eines Weibes der Schlüssel zu einem Geheimnisse, welches der lebenslange Schrecken von Sir Percival Glyde gewesen?

»Nun, Sir, Catherick befolgte meines Mannes Rath und wartete,« fuhr Mrs. Clements fort. »Und wie gesagt er hatte nicht lange zu warten. Am zweiten Tage fand er seine Frau und Sir Percival dicht unter der Sacristei der Kirche, wo sie ganz vertraulich zusammen flüsterten. Vermuthlich dachten sie, daß die Nachbarschaft von der Kirche die allerletzte Stelle in der Welt sei, wo man sie suchen würde – wie dem aber auch sei, jedenfalls waren sie dort. Sir Percival vertheidigte sich in seiner Ueberraschung und Verwirrung auf eine so schuldbewußte Weise, daß der arme Catherick (von dessen heftigem Temperament ich Ihnen bereits gesagt habe) über seine Schande in eine wahre Raserei gerieth und Sir Percival schlug. Doch war er dem Manne, der sich so schwer an ihm vergangen, leider nicht gewachsen, und er wurde auf das Grausamste von ihm zerschlagen, ehe die Nachbarn, welche der Lärm herbeigerufen, sie trennen konnten. Alles Dies trug sich gegen Abend zu, und noch vor Einbruche der Nacht, als mein Mann nach seinem Hause ging, war er auf und davon gegangen, und kein Mensch wußte wohin. Keine lebende Seele im ganzen Dorfe hat ihn jemals wieder gesehen. Catherick wußte jetzt nur zu gut, aus welcher abscheulichen Ursache seine Frau ihn geheirathet, und fühlte, namentlich nach Dem, was sich zwischen ihm und Sir Percival zugetragen, seine Schande und sein Elend zu tief. Der Pfarrer des Ortes ließ eine Anzeige in die Zeitung setzen, worin er ihn bat zurückzukehren und ihm versprach, daß er weder seine Stelle, noch seine Beschützer verlieren solle. Aber Catherick hatte zu viel Stolz, wie einige Leute sagten – mir aber scheint, er hatte zu viel Gefühl, Sir – um sich wieder vor seinen Nachbarn sehen zu lassen und zu versuchen, durch seine eigene Lebensweise seine Schande vergessen zu machen. Er schrieb an meinen Mann, ehe er England verließ, und dann noch einmal, als er sich in Amerika niedergelassen hatte, wo es ihm recht gut ging. Und dort lebt er noch jetzt, so viel ich weiß; und es ist nicht wahrscheinlich, daß irgend Jemand von uns hier im alten Lande – am allerwenigsten aber sein böses Weib – ihn jemals mit Augen wiedersehen wird.«

»Was wurde aus Sir Percival?« frug ich. »Blieb er in der Umgegend?«

»O nein, Sir. Der Ort war ihm zu heiß geworden. Man hörte ihn an demselben Abende, wo der Skandal ausbrach, im lauten Wortstreite mit Mrs. Catherick, und am nächsten Morgen verließ er den Ort.«

»Und Mrs. Catherick? Sie blieb doch nimmer in dem Dorfe und unter den Leuten, denen ihre Schande bekannt war?«

»Doch, Sir, sie blieb. Sie war hart und fühllos genug, um der Meinung all ihrer Nachbarn zu trotzen. Sie hatte Jedem vom Pfarrer an erklärt, sie sei das Opfer eines furchtbaren Irrthums, und daß alle Klatschschwestern des Dorfes nicht im Stande sein sollten, sie aus demselben zu vertreiben, wie wenn sie ein schuldiges Weib wäre, Während der ganzen Zeit, daß ich in Alt Welmingham wohnte, blieb sie dort, und, als man anfing, die neue Stadt zu bauen und die meisten Leute dorthin zogen, zog sie ebenfalls dorthin, als ob sie entschlossen sei, bis zum Ende unter ihnen und ihnen ein Aergerniß zu bleiben. Dort lebt sie noch jetzt, und dort wird sie den Besten zum Trotze bis zu ihrem Sterbetage bleiben.«

»Aber wovon hat sie sich während all dieser Jahre erhalten?« frug ich. »War ihr Mann im Stande und bereit, sie zu ernähren?«

»Beides, sowohl im Stande als bereit, Sir,« sagte Mrs. Clements. »In seinem zweiten Briefe an meinen lieben Mann sagte er, sie habe seinen Namen getragen und unter seinem Dache gelebt, und so schlecht sie auch sei, solle sie doch nicht wie eine Bettlerin auf der Straße verhungern. Er sei in der Lage, ihr eine kleine Pension auszusetzen, und sie möge dieselbe vierteljährlich von einem Banquierhause in London beziehen.«

»Nahm sie die Pension an?«

»Keinen Heller, Sir. Sie sagte, sie wolle Catherick nie für einen Bissen oder Tropfen verpflichtet sein, und wenn sie hundert Jahre alt werden sollte. Und sie hat bisher Wort gehalten Als mein armer, guter Mann starb und mir Alles hinterließ, kam Catherick’s Brief mit dem Uebrigen in meine Hände, und ich sagte ihr, sie solle mich’s wissen lassen, falls sie jemals Mangel litte. ›Wenn ich Mangel leide, so soll ganz England es eher erfahren, ehe ich Catherick oder seinen Freunden ein Wort davon sage. Nehmen Sie Das zur Antwort, und geben Sie’s ihm zur Antwort, falls er Ihnen jemals wieder schreibt.‹«

»Glauben Sie, daß sie eignes Vermögen hatte?«

»Sehr wenig, Sir, wenn überhaupt. Man sagte, und ich fürchte mit Recht, daß sie die Mittel zu ihrem Lebensunterhalte heimlich von Sir Percival Glyde erhielt.«

Nach dieser letzten Antwort dachte ich eine kleine Weile über Das nach, was ich gehört hatte. Falls ich die Geschichte so weit ohne Rückhalt als wahr annahm, so war es jetzt klar, daß ich weder direct noch indirect im Geringsten dem Geheimnisse näher auf die Spur gekommen, und daß meine Versuche in dieser Richtung hin abermals auf das Fühlbarste und Entmuthigendste fehlgeschlagen waren.

Aber es war ein Punkt in der Erzählung, der mich an der Angemessenheit, dieselbe ohne Rückhalt anzunehmen, zweifeln ließ, und die Idee in mir erweckte, daß unter der Oberfläche noch Etwas verborgen liege.

Ich konnte mir den Umstand nicht erklären, daß des Küsters schuldiges Weib freiwillig an dem Orte ihrer Schande weiter lebte. Was man mir über die eigene Angabe der Frau: sie habe dies Verfahren als praktische Darthuung ihrer Unschuld angenommen – mittheilte, befriedigte mich nicht. Es schien mir natürlicher und wahrscheinlicher, anzunehmen, daß sie in dieser Sache nicht so ganz freie Wahl gehabt, wie sie behauptet hatte. Wer aber war in diesem Falle die Person, von der man mit der größten Wahrscheinlichkeit annehmen durfte, daß sie die Macht besaß, sie zum fortgesetzten Aufenthalte in Welmingham zu zwingen? – Ohne Frage diejenige, von der sie die Mittel zum Lebensunterhalte erhielt. Sie hatte die Unterstützung von ihrem Manne zurückgewiesen, hatte kein eignes, unabhängiges Vermögen und war ein freundloses, entehrtes Weib – aus welcher Quelle konnte sie also noch Hülfe beziehen, außer aus derjenigen, welche das Gerücht bezeichnete: Sir Percival Glyde?

Indem ich nach diesen Voraussetzungen schlußfolgerte und fortwährend das eine gewisse Factum im Auge behielt, daß Mrs. Catherick im Besitze des Geheimnisses war, begriff ich leicht, daß es Sir Percival’s Interesse erforderte, daß sie in Welmingham bliebe, weil dort ihr Ruf sie von allem Verkehr mit ihren Nachbarinnen ausschloß und so sie der Gelegenheit beraubte, in Augenblicken ungenirter Unterhaltungen mit Busenfreundinnen unvorsichtige Reden zu führen. Worin aber bestand dieses Geheimniß? Nicht der schmachvolle Antheil, den Sir Percival an Mrs. Catherick’s Schande hatte – denn dies war der ganzen Nachbarschaft bekannt. Nicht der Verdacht, daß er Anna’s Vater sei – denn Welmingham war der Ort, an dem dieser Verdacht unvermeidlicherweise bestehen mußte. Falls ich den schuldigen Anschein, der mir beschrieben worden, so rückhaltlos annahm, wie Andere; falls ich daraus denselben oberflächlichen Schluß zog, den Mr. Catherick und seine Nachbarn daraus gezogen – wo blieb da nach Allem, was ich gehört, die Vermuthung, daß zwischen Mrs. Catherick und Sir Percival ein gefährliches Geheimniß bestand, das von dieser Zeit an bis jetzt verborgen geblieben?

Und doch lag in jenen geheimen Zusammenkünften und in jenem vertraulichen Flüstern zwischen des Küsters Frau und »dem Herrn in Trauer« ohne allen Zweifel die Lösung dieses Geheimnisses.

War es möglich in diesem Falle, daß der Schein nach einer Richtung hingedeutet, während die Wahrheit unvermuthet in einer ganz anderen lag? Konnte Mrs. Catherick’s Behauptung: sie sei das Opfer eines furchtbaren Irrthumes, möglicherweise wahr sein? Oder, gesetzt dieselbe war falsch, konnte die Schlußfolgerung, nach welcher Sir Percival mit ihrer Schuld in Beziehung stand, auf irgend einen unbegreiflichen Irrthum gegründet sein? Hatte etwa Sir Percival den falschen Verdacht begünstigt, um den richtigen Verdacht von sich abzulenken? Hier lag – falls es mir gelang, ihn zu finden – der Schlüssel zu dem Geheimnisse, tief unter der Oberfläche der anscheinend hoffnungslosen Erzählung verborgen, welche ich soeben angehört hatte.

Meine nächsten Fragen waren jetzt auf diesen einen Punkt gerichtet: ob nämlich Mr. Catherick sich vollkommen von der Schuld seiner Frau überzeugt hatte oder nicht. Mrs. Clements Antworten hierauf ließen mir nicht die geringsten Zweifel übrig. Mrs. Catherick hatte den klarsten Beweisen nach als unverheirathetes Mädchen – mit wem, war unbekannt geblieben – ihren Ruf compromittirt und, um denselben wo möglich noch zu retten, sich eiligst verheirathet. Man war durch Ort- und Zeitbestimmungen, in die ich hier nicht näher einzugehen brauche, entschieden zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Tochter, welche ihres Mannes Namen trug, nicht ihres Mannes Kind war.

Der nächste fragliche Punkt, ob es nämlich ebenso gewiß, daß Sir Percival Anna’s Vater sei, war mit weit größerer Schwierigkeit zu entscheiden. Ich konnte die Wahrscheinlichkeiten dafür und dawider durch keinen andern Beweis bestimmen, als den der persönlichen Aehnlichkeit.

»Vermuthlich haben Sie Sir Percival oft gesehen, während er sich in Ihrem Dorfe aushielt?« sagte ich.

»Ja, sehr oft,« sagte Mrs. Clements.

»Haben Sie je die Bemerkung gemacht, daß Anna ihm ähnlich war?«

»Sie sah ihm nicht im Geringsten ähnlich, Sir.«

»Sah sie ihrer Mutter ähnlich?«

»Nein, auch nicht ihrer Mutter, Sir. Mrs. Catherick hatte ein dunkles, volles Gesicht.«

Weder ihrer Mutter noch ihrem (muthmaßlichen) Vater ähnlich! Ich wußte wohl, daß dem Beweise persönlicher Aehnlichkeit nicht entschieden zu trauen sei, – auf der andern Seite aber war er auch nicht entschieden zu verwerfen. War es vielleicht möglich, meine Beweise vollgültiger zu machen, indem ich mir entscheidende Thatsachen über Mrs. Cathericks und Sir Percival’s Leben, ehe sie Beide in Welmingham erschienen, verschaffte? Meine nächsten Fragen waren auf diesen Punkt gerichtet.

»Hörten Sie, als Sir Percival zuerst in Welmingham gesehen wurde, woher er eben kam?« frug ich.

»Nein, Sir. Einige sagten, er komme von Blackwater Park, und Andere wieder, er komme aus Schottland, aber Keiner wußte etwas Bestimmtes darüber.«

»War Mrs. Catherick unmittelbar vor ihrer Verheirathung zu Varneck Hall im Dienste?«

»Ja wohl, Sir.«

»Und hatte sie die Stelle lange gehabt?«

»Drei oder vier Jahre, Sir; ich weiß es nicht ganz genau.«

»Haben Sie je den Namen des Herrn gehört, dem Varneck Hall damals zugehörte?«

»Ja wohl, Sir. Er hieß Major Donthorne.«

»Wußte Catherick oder sonst irgend Jemand Ihrer Bekanntschaft, ob Sir Percival mit Major Donthorne befreundet war, oder ob er je in der Umgegend von Varneck Hall gesehen worden?«

»Davon wußte Catherick Nichts, Sir, soviel ich mich entsinnen kann – noch sonst irgend Jemand meiner Bekanntschaft.«

Ich schrieb mir Major Donthorne’s Namen und Adresse auf, für den Fall, daß er noch am Leben und es mir für die Zukunft von Nutzen sein könne, mich um Auskunft an ihn zu wenden. Inzwischen war ich entschieden von der Ansicht, daß Sir Percival Anna’s Vater sei, zurück und zu dem Schlusse gekommen, daß das Geheimniß seiner verstohlenen Zusammenkünfte mit Mrs. Catherick auf keine Weise mit der Schande zu thun habe, welche die Frau dem Namen ihres Mannes angethan hatte. Es fielen mir keine Fragen ein, die ich hätte thun können, um diesen Eindruck zu bestärken – ich konnte Mrs. Clements nur ermuntern, von Anna’s Kindheit zu sprechen und dabei mit Aufmerksamkeit auf jede zufällige Bemerkung achten.

»Ich habe noch nicht erfahren, Mrs. Clements,« sagte ich, »wie es kam, daß dies arme Kind, das unter so viel Elend und Schande geboren wurde, Ihrer Sorgfalt anvertraut ward?«

»Es war Niemand Anderes da, Sir, um sich des armen kleinen Wesens anzunehmen,« entgegnete Mrs. Clements. »Die abscheuliche Mutter schien es von dem Tage seiner Geburt an zu hassen – als ob das arme kleine Kind zu tadeln gewesen wäre! Mein Herz blutete für das Kindchen, und ich erbot mich, es so zärtlich, als ob es mein eigen wäre«, aufzuziehen.«

»Blieb Anna von der Zeit an gänzlich unter Ihrer Obhut?«

»Nicht ganz und gar, Sir. Mrs. Catherick hatte darüber zuweilen ihre Launen und Grillen, und pflegte von Zeit zu Zeit das Kind zurückzufordern, wie wenn sie mich dafür ärgern möchte, daß ich es aufzog. Aber diese Anfälle waren niemals von langer Dauer. Die arme kleine Anna wurde mir immer wieder zurückgebracht und war stets froh, wieder bei mir zu sein, obgleich sie kein sehr frohes Leben bei mir führte, denn es waren keine lustigen kleinen Spielgefährten für sie im Hause. Unsere längste Trennung fand statt, als ihre Mutter sie mit nach Limmeridge nahm. Zu der Zeit gerade verlor ich meinen guten Mann und fühlte, daß es ebenso gut sei, daß Anna in einer so traurigen Zeit nicht im Hause war. Sie war damals in ihrem elften Jahre; sie war nur langsam im Lernen, das arme kleine Wesen, und nicht so munter wie andere Kinder – aber ein so hübsches kleines Mädchen, wie man sich nur zu sehen wünschen konnte. Ich wartete in Welmingham, bis ihre Mutter sie zurückbrachte, und erbot mich dann, sie mit mir nach London zu nehmen – um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, mir war der Ort nach meines Mannes Tode zu sehr verändert und zu traurig, um dort wohnen zu bleiben.«

»Und willigte Mrs. Catherick in Ihren Vorschlag?«

»Nein, Sir. Sie war erbitterter und härter denn je, als sie aus dem Norden zurückkam. Die Leute sagten, daß sie sich erstens Sir Percival’s Erlaubniß zu der Reise hatte erbitten müssen und dann hinreiste, um ihre sterbende Schwester in Limmeridge zu pflegen, von der es hieß, daß sie etwas Geld zusammengespart habe – wogegen sie in Wahrheit kaum genug hinterließ, um die Kosten für ihre Beerdigung zu bestreiten. Es ist leicht anzunehmen, daß diese Dinge Mrs. Catherick noch mehr erbitterten, jedenfalls aber wollte sie Nichts davon hören, daß ich das Kind mit mir nähme. Es schien ihr Freude zu machen, uns Beiden durch die Trennung Schmerz zu verursachen. Das Einzige, was ich thun konnte, war, Anna meine Adresse zu geben und ihr heimlich zu sagen, falls sie je in Noth sei, zu mir zu kommen. Aber es vergingen Jahre, ehe sie frei war, um zu mir zu kommen. Ich sah sie nicht eher wieder, die arme Seele, als in jener Nacht, in der sie aus der Anstalt entwichen war.«

»Wissen Sie, Mrs. Clements, weshalb Sir Percival sie dort in Gewahrsam nehmen.ließ?«

»Ich weiß blos, Sir, was Anna selbst mir darüber erzählt hat. Das arme Mädchen pflegte darüber schrecklich verwirrt hin und her zu reden. Sie sagte, ihre Mutter sei im Besitze eines Geheimnisses, das Sir Percival betreffe, und habe es ihr, lange nachdem ich Hampshire verlassen, eines Tages verrathen, und als Sir Percival dies gewahr geworden, habe er sie in die Irrenanstalt bringen lassen. Aber sie war nie im Stande, mir das Geheimniß zu sagen, wenn ich sie darum befragte. Alles, was sie mir sagen konnte, war, daß ihre Mutter Sir Percival’s Unglück und Verderben sein könne, falls es ihr beliebte. Es ist möglich, daß Mrs. Catherick sich gerade soviel und weiter Nichts hat entschlüpfen lassen. Ich bin beinah überzeugt, daß ich die ganze Wahrheit von Anna zu hören bekommen, falls sie dieselbe wirklich gewußt hätte, wie sie Dies behauptete – und wie die arme Seele es sich wahrscheinlich selbst einbildete.«

Dieser Gedanke hatte sich auch mir zu wiederholten Malen aufgedrungen. Ich hatte bereits zu Mariannen gesagt, ich zweifle daran, ob Laura wirklich im Begriffe gewesen, eine wichtige Entdeckung zu machen, als sie und Anna so plötzlich durch Graf Fosco im Boothause gestört worden waren. Es stimmte vollkommen mit Anna’s gestörten Geisteskräften überein, daß sie sich auf einen bloßen unbestimmten Verdacht hin, den undeutliche Winke ihrer Mutter, welche diese unvorsichtigerweise in ihrer Gegenwart hatte fallen lassen, in ihr erweckt hatte, im Besitze der Kenntniß des Geheimnisses wähnte. Sir Percival’s schuldbewußtes Mißtrauen mußte ihm in diesem Falle unfehlbar die falsche Idee eingeben, daß Anna Alles von ihrer Mutter erfahren, gerade wie dasselbe ihn später mit dem ebenso falschen Gedanken verfolgt hatte, daß seine Frau Alles von Anna erfahren habe.

Die Zeit verging; der Morgen war beinahe zu Ende. Es war zweifelhaft, ob ich, falls ich noch länger bliebe, noch irgend Etwas von Mrs. Clements erfahren würde, das meinem Zwecke förderlich sein konnte. Ich hatte jene Einzelheiten in Bezug auf Mrs. Catherick’s Familien- und Ortsangelegenheiten, nach welchen ich forschte, bereits erfahren, und daraus gewisse Schlüsse gezogen, die mir völlig neu waren und mir in der Richtung meiner künftigen Schritte von bedeutendem Nutzen sein konnten. Ich stand auf, um mich zu verabschieden und Mrs. Clements für die freundliche Bereitwilligkeit zu danken, mit der sie meinen Nachfragen entgegengekommen war.

»Ich fürchte, Sie müssen mich für sehr neugierig halten,« sagte ich; »ich habe Sie mit mehr Fragen belästigt, als mir andere Leute gern beantwortet haben würden.«

»Ich gebe Ihnen mit Freuden alle Auskunft, Sir, die ich zu geben vermag,« entgegnete Mrs. Clements. Sie schwieg und sah mich bedeutungsvoll an. »Aber ich wollte,« fuhr die arme Frau fort, »Sie hätten mir Etwas mehr über Anna mittheilen können, Sir. Mir schien, ich sah Etwas in Ihrem Gesichte, als Sie hereinkamen, als ob Sie es könnten. Sie können sich nicht denken, wie hart es ist, nicht einmal zu wissen, ob sie todt ist oder am Leben. Ich würde es besser ertragen, wenn ich nur eine Gewißheit hätte. Sie sagten, Sie erwarteten nicht, daß wir sie je lebendig wiedersehen würden. Wissen Sie, Sir – wissen Sie es gewiß, daß es Gott gefallen hat·, sie zu sich zu nehmen?«

Ich war nicht im Stande, dieser flehenden Frage zu widerstehen, und es wäre unaussprechlich undankbar und grausam von mir gewesen, falls ich es gekonnt hätte.

»Ich fürchte,« sagte ich mit Theilnahme, »daß die Sache keinem Zweifel mehr unterliegt; »ich bin persönlich überzeugt, daß ihre Leiden in dieser Welt zu Ende sind.«

Die arme Frau sank auf ihren Stuhl zurück und barg ihr Gesicht in ihren Händen. »O, Sir,« sagte sie, »woher wissen Sie Dies? Wer kann es Ihnen gesagt haben?«

»Niemand hat es mir gesagt, Mrs. Clements. Aber ich habe Gründe, davon überzeugt zu sein – Gründe, die ich Ihnen mitzutheilen verspreche, sobald ich sie Ihnen ohne Gefahr werde auseinandersetzen können. Ich bin gewiß, daß sie in ihren letzten Stunden nicht vernachlässigt war, und fest überzeugt, daß die Herzkrankheit, von der sie so sehr zu leiden hatte, die wahre Ursache ihres Todes war. Sie sollen hiervon bald ebenso fest überzeugt sein, wie ich es bin, und sollen in Kurzem erfahren, daß sie auf einem stillen Dorfkirchhofe begraben liegt, an einer so hübschen, friedlichen Stelle, wie Sie selbst sie nur hätten für sie aussuchen können.«

»Todt!« sagte Mrs. Clements; »todt – so jung noch – und ich am Leben, um es zu hören! Ich machte ihre ersten kurzen Kleidchen, – ich lehrte sie gehen. Das erste Mal, daß sie das Wort Mutter aussprach, sagte sie es zu mir – und jetzt bin ich hier und Anna ist gestorben! Sagten Sie, Sir,« fuhr die arme Frau fort, indem sie das Tuch von ihrem Gesichte nahm und zu mir aufblickte – »sagten Sie, daß sie anständig begraben worden? War die Beerdigung der Art, wie sie wohl gewesen, falls Anna wirklich mein eigen Kind gewesen wäre?«

Ich betheuerte ihr, daß dies der Fall sei. Meine Antwort schien ihr eine unaussprechliche Genugthuung zu gewähren – und sie schien einen Trost darin zu finden, den keine höhere Rücksicht ihr hätte bieten können.

»Es hätte mir das Herz gebrochen,« sagte sie einfach, »falls Anna kein anständiges Begräbniß gehabt hätte – aber woher wissen Sie es, Sir? Wer hat es Ihnen gesagt?«

Ich bat sie nochmals, zu warten, bis ich ohne Rückhalt zu ihr würde sprechen können.

»Sie sollen mich ganz gewiß wiedersehen,« sagte ich; »denn sobald Sie sich wieder etwas gefaßt haben werden – vielleicht in ein paar Tagen – habe ich Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

»Warten Sie meinetwegen nicht damit, Sir,« sagte Mrs. Clements. »Kümmern Sie sich nicht um meine Thränen, falls ich Ihnen dienen kann. Wenn Sie irgend Etwas auf dem Herzen haben, das Sie mir zu sagen wünschen, Sir, bitte, so sagen Sie es jetzt.«

»Ich wünschte Ihnen nur noch eine letzte Frage vorzulegen,« sagte ich; »ich möchte gern Mrs. Catherick’s Adresse in Welmingham wissen?«

Meine Frage erschütterte Mrs. Clements in dem Maße, daß sie darüber sogar die Nachricht von Anna’s Tode vergaß. Sie hörte plötzlich zu weinen auf und blickte mich mit dem unbeschreiblichsten Erstaunen an.

»Ich bitte Sie um’s Himmels willen, Sir!« sagte sie, »was haben Sie mit Mrs. Catherick zu thun?«

»Folgendes, Mrs. Clements,« entgegnete ich: »ich muß das Geheimniß ihrer Zusammenkünfte mit Sir Percival Glyde erfahren. Es liegt in Dem, was Sie mir von dem früheren Betragen jener Frau und von jenes Mannes früherem Verhältnisse zu ihr erzählt haben, mehr, als Sie oder Ihre Nachbarn je geargwöhnt haben. Es besteht zwischen jenen Beiden ein Geheimniß, das Niemand von uns erräth – und ich gehe zu Mrs. Catherick mit dem festen Entschlusse, dasselbe zu erfahren.«

»Ueberlegen Sie sich das zuvor wohl, Sir!« sagte Mrs. Clements, indem sie in ihrer Bewegung aufstand und ihre Hand auf meinen Arm legte. »Sie ist ein furchtbares Weib – Sie kennen sie nicht, wie ich sie kenne. Ueberlegen Sie sich es wohl.«

»Ich bin überzeugt, daß Ihre Warnung eine wohlgemeinte ist, Mrs. Clements Aber ich bin entschlossen, die Frau zu sehen – komme, was da wolle.«

Mrs. Clements blickte mir besorgt ins Gesicht.

»Ich sehe, Sie sind entschlossen, Sir,« sagte sie. »Ich will Ihnen die Adresse gehen.«

Ich schrieb dieselbe in mein Taschenbuch ein und nahm ihre Hand, um ihr Lebewohl zu sagen.

»Sie sollen bald von mir hören,« sagte ich; »Sie sollen Alles erfahren, was ich Ihnen mitzutheilen versprochen habe.«

Mrs. Clements seufzte und schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.

»Der Rath einer alten Frau verdient zuweilen gehört zu werden, Sir,« sagte sie. »Bedenken Sie sich es wohl, ehe Sie nach Welmingham gehen –.«



Kapiteltrenner

VIII.

Als ich nach meiner Unterredung mit Mrs. Clements wieder zu Hause anlangte, fiel mir eine Veränderung in Laura’s Aussehen auf.

Die unveränderte Sanftmuth und Geduld, welche langes Leiden so grausam auf die Probe gestellt und nie überwunden hatte, schien sie jetzt plötzlich im Stiche gelassen zu haben. Gegen alle Bemühungen, welche Marianne machte, um sie zu besänftigen und zu unterhalten, unzugänglich, saß sie vor dem Tische, auf dem ihre vernachlässigte Zeichnung ungeduldig fortgestoßen war, mit niedergeschlagenen Augen da und bewegte ihre Finger unruhig auf ihrem Schooße hin und her. Marianne stand, als ich hereintrat, mit stillem Schmerze im Gesichte auf, wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Laura bei meiner Annäherung aufblicken werde, flüsterte mir zu: »Sieh’ zu, ob Du sie nicht besänftigen kannst,« und verließ das Zimmer.

Ich nahm den von Mariannen verlassenen Platz, zog sanft die armen, abgemagerten, unruhigen Finger auseinander und faßte ihre beiden Hände mit den meinigen.

»Woran denkst Du, Laura? Sage mir, mein Herzensliebling – versuche mir zu sagen, woran Du denkst?«

Sie kämpfte mit sich selbst und erhob ihre Augen zu den meinigen. »Ich kann nicht glücklich sein,« sagte sie; »ich kann nicht darum hin, zu denken –« sie schwieg, beugte sich ein wenig vorwärts und lehnte ihr Haupt mit einer fürchterlichen stummen Hülflosigkeit an meine Schulter, die mir einen Stich ins Herz gab.

»Versuche mir’s zu sagen,« wiederholte ich sanft, »versuche, mir zu sagen, warum Du nicht glücklich bist.«

»Ich bin so nutzlos – ich bin eine solche Last für Euch Beide,« antwortete sie mit einem müden, hoffnungslosen Seufzer. »Du arbeitest und verdienst Geld, Walter, und Marianne hilft Dir. Warum kann ich Nichts thun? Es wird damit enden, daß Du Marianne lieber hast als mich – gewiß, weil ich so hülflos bin! O, bitte, bitte, behandelt mich doch nicht wie ein Kind!«

Ich richtete ihr Haupt auf und glättete ihr Haar, das verworren über ihr Gesicht fiel, und küßte sie – meine arme, verblichene Blume! meine verlorene, schwer heimgesuchte Schwester! »Du sollst uns helfen, Laura,« sagte ich; »Du sollst schon heute anfangen, mein einziger Liebling«.

Sie blickte mich mit einem fieberhaften Eifer und athemlosem Interesse an, das mich für das neue Hoffnungsleben, welches ich durch jene wenigen Worte erweckt hatte, erbeben ließ.

Ich stand auf, sammelte ihre Zeichenwerkzeuge und legte sie wieder neben ihr zurecht.

»Du weißt, daß ich mit Zeichnen Geld verdiene,« sagte ich, »und jetzt, da Du Dir solche Mühe gegeben und solche Fortschritte gemacht hast, sollst auch Du anfangen zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Versuche diese kleine Skizze so sauber und hübsch, wie Du nur kannst, fertig zu machen. Dann will ich sie mitnehmen, und der Mann, der alle meine Zeichnungen kauft, soll auch diese kaufen. Du sollst dann Deinen Verdienst in Deiner eigenen Börse aufbewahren, und Marianne soll sich ebenso oft von Dir Geld fordern, wie sie deshalb zu mir kommt. Bedenke, wie nützlich Du Dich uns Beiden machen wirst, Laura, und dann wirst Du bald so glücklich sein, wie der Tag lang ist.«

Ihr Gesicht belebte sich und erhellte sich zu einem Lächeln. In diesem Augenblicke, während sie den Bleistift wieder aufnahm, den sie von sich gelegt hatte, sah sie beinah wieder wie die Laura vergangener Tage aus.

Ich hatte die Anzeichen eines neuen Erwachens in ihrem Geiste, welches sich unbewußterweise in ihrer Beobachtung der Beschäftigungen ausdrückte, welche Mariannen’s und mein Leben ausfüllten, richtig gedeutet. Marianne sah (als ich ihr erzählte, was sich zugetragen), wie ich, daß sie sich sehnte, ihren eigenen kleinen Platz der Bedeutung wieder einzunehmen und sich in ihrer eigenen Meinung, wie in der unsrigen wieder zu erheben – und von diesem Tage an unterstützten wir liebevoll den neuen Ehrgeiz, welcher uns das Versprechen einer hoffnungsvollen, glücklicheren Zukunft gab, die jetzt vielleicht nicht mehr ferne war. Ihre Zeichnungen, wie sie dieselben beendete oder zu beenden versuchte, wurden meinen Händen übergeben; Marianne empfing sie dann von mir und verbarg sie auf’s Sorgfältigste, und ich erübrigte von meinem Verdienste einen kleinen wöchentlichen Tribut, der ihr als der von Fremden gezahlte Preis für die armseligen, undeutlichen, werthlosen Zeichnungen übergeben wurde, die Niemand kaufte außer mir. Es war zuweilen schwer, unseren harmlosen Betrug fortzusetzen, wenn sie stolz ihre Börse hervorzog, um ihren Antheil zu den Haushaltausgaben beizutragen, und mit ernstem Interesse ihre Muthmaßungen darüber aussprach, wer von uns Beiden im Verlaufe der Woche am meisten verdient habe. Ich habe noch jetzt alle jene heimlich versteckten Zeichnungen in meinem Besitze: ich sehe in ihnen meinen größten Schatz – die theuren Erinnerungen, die ich lebendig zu erhalten liebe – die Freunde vergangenen Mißgeschickes, von denen mein Herz sich niemals trennen, und die meine Liebe nie vergessen wird.

Spiele ich etwa hier mit den Forderungen meiner Aufgabe? blicke ich etwa schon der glücklicheren Zeit entgegen, welche meine Erzählung noch nicht erreicht hat? Ja. Darum zurück – zurück zu den Tagen des Zweifels und der Sorge, wo der Geist in mir in der eisigen Stille unausgesetzter Spannung schwer kämpfte, um sich am Leben zu erhalten. Ich habe einen Augenblick angehalten auf meiner Bahn und ausgeruht. Vielleicht ist es keine verlorene Zeit, wenn auch die Freunde, welche diese Blätter lesen, angehalten und ausgeruht haben.

Ich ergriff die erste Gelegenheit, die sich mir bot, um mit Mariannen allein zu sprechen und ihr den Erfolg der Nachfragen mitzutheilen, welche ich diesen Morgen gemacht hatte. Sie schien in Bezug auf meine beabsichtigte Reise nach Welmingham die Ansicht zu theilen, welche Mrs. Clements bereits gegen mich ausgesprochen hatte.

»Mir scheint, Walter,« sagte sie, »Du weißt kaum genug, um hoffen zu dürfen, daß Mrs. Catherick Dir ihr Vertrauen schenken würde? Ist es wohl gerathen, zu diesen äußersten Mitteln zu schreiten, ehe Du wirklich alle sicherern und einfacheren Mittel zu Deinem Endzwecke erschöpft hast? Als Du mir sagtest, Sir Percival und der Graf seien die einzigen beiden Lebenden, die genau mit dem Datum von Laura’s Abreise bekannt sind, vergaßest Du sowohl wie ich, daß es noch eine dritte Person giebt, die sicher ebenso genau davon unterrichtet ist – ich meine Mrs. Rubelle. Wäre es nicht viel leichter und weit weniger gefährlich, ihr gegenüber auf ein Bekenntniß zu bestehen, als Sir Percival ein solches abzwingen zu wollen?«

»Es mag möglicherweise leichter sein,« erwiderte ich; »aber wir wissen durchaus gar nicht, in welcher Ausdehnung Mrs. Rubelle sich an dem ganzen Complotte betheiligt hat, und können daher nicht bestimmt sagen, ob das Datum ihrem Geiste so genau eingeprägt, wie Dies jedenfalls bei Sir Percival und dem Grafen der Fall ist. Es ist jetzt zu spät, Zeit mit Mrs. Rubelle zu verlieren, wenn uns jeder Augenblick zur Entdeckung jenes einen angreifbaren Punktes in Sir Percival’s Leben unschätzbar sein mag. Denkst Du nicht vielleicht etwas zu sehr an die Gefahr, der ich mich aussetzen mag, indem ich nach Hampshire zurückkehre, Marianne? Fängst Du nicht an zu fürchten, daß ich am Ende doch Sir Percival nicht gewachsen bin?«

»Das befürchte ich nicht,« sagte sie mit Entschiedenheit, »weil er in seinem Widerstande gegen Dich nicht mehr die Hülfe der undurchdringlichen Schlechtigkeit des Grafen hat.«

»Woraus schließest Du das?« fragte ich ziemlich erstaunt.

»Meine eignen Erfahrungen in Bezug auf seine Hartnäckigkeit und eine Ungeduld über den Zwang, in welchem der Graf ihn hielt,« antwortete sie. »Ich bin der Ansicht, daß er darauf bestehen wird, Dir allein gegenüber zu treten – gerade wie er anfangs in Blackwater Park darauf bestand, für sich zu handeln, Die Zeit, wo man des Grafen Einmischung argwöhnen darf, wird die sein, wo Du Sir Percival in Deiner Gewalt haben wirst. Es wird dann sein eignes Interesse in Gefahr sein, und zu seiner eignen Vertheidigung wird er mit einer furchtbaren Wirksamkeit handeln, Walter«!

»Wir können ihn vielleicht vorher seiner Waffen berauben,« sagte ich. »Einige der Einzelheiten, welche ich von Mrs. Clements erfahren, mögen gegen ihn in Anwendung gebracht werden, und vielleicht besitzen wir noch andere Mittel, um uns gegen ihn zu befestigen. Es sind in Mrs. Michelson’s Aussage Sätze, welche zeigen, daß der Graf es für nöthig erachtete, sich mit Mr. Fairlie in Verbindung zu setzen, und vielleicht giebt es Umstände, die ihn in diesem Verfahren compromittiren. Schreibe Du an Mr. Fairlie, während ich fort bin, Marianne, und ersuche ihn, Dir genau mitzutheilen, was zwischen ihm und dem Grafen vorging, und was er bei derselben Gelegenheit etwa in Bezug auf seine Nichte erfahren hat. Sage ihm, daß man früher oder später auf seine Angabe, um die Du bittest, bestehen wird, falls er irgendwie sich weigert, sie Dir gutwillig zu machen.«

»Der Brief soll geschrieben werden, Walter. Aber bist Du wirklich entschlossen, nach Welmingham zu gehn?«

»Fest entschlossen. Ich will die beiden nächsten Tage dazu verwenden, zu verdienen, was wir für die folgende Woche gebrauchen werden; und am Tage darauf reise ich nach Hampshire ab.«

Und am dritten Tage war ich bereit, meine Reise anzutreten.

Da es möglich war, daß sich meine Abwesenheit hinzöge, so kamen Marianne und ich überein, einander täglich zu schreiben. Solange ich regelmäßig von ihr hörte, sollte ich annehmen, daß Alles in Ordnung sei. Falls aber die Morgenpost mir keinen Brief brachte, so sollte ich mit dem nächsten Zuge nach London zurückkehren. Es gelang mir, Laura mit meiner Abreise auszusöhnen, indem ich ihr sagte, ich reise auf’s Land, um neue Käufer für ihre Zeichnungen und die meinigen zu suchen, und verließ sie dann beschäftigt und glücklich daheim. Marianne folgte mir die Treppe hinunter bis an die Hausthür.

»Bedenke, welche sorgenvolle Herzen Du hier zurückläßt,« flüsterte sie, als wir zusammen im Corridor standen; »denke an alle die Hoffnungen, die sich an Deine sichere Heimkehr knüpfen. Falls sich auf dieser Reise seltsame Dinge ereignen, falls Du und Sir Percival einander begegnen –«

»Was bewegt Dich, zu denken, daß wir einander begegnen werden?« frug ich.

»Ich weiß es nicht. Ich habe Befürchtungen und Ideen, die ich nicht zu erklären vermag. Lache darüber, wenn Du willst, Walter – aber ich bitte Dich um Gotteswillen, bleibe ruhig, wenn Du mit jenem Manne in Berührung kommst!«

»Fürchte Nichts, Marianne; ich stehe fürs meine Selbstbeherrschung.«

Mit diesen Worten schieden wir.

Ich ging schnellen Schrittes nach der Station; in meinem Geiste regte sich eine zunehmende Ueberzeugung, daß meine Reise diesmal keine vergebene sein würde. Es war ein schöner, klarer, kalter Morgen; meine Nerven waren fest angespannt, und ich fühlte die Kraft meines Entschlusses mich vom Kopf bis zu den Füßen durchdringen

Als ich über den Perron hinging und unter der dort versammelten Menschenmenge umherblickte, um zu sehn, ob sich bekannte Gesichter unter ihr fänden, regte sich der Zweifel in mir, ob es nicht besser gewesen wäre, falls ich, ehe ich diese Reise nach Hampshire antrat, eine Verkleidung angenommen hätte. Doch lag etwas so Widerstrebendes für mich in der Idee – etwas so Niedriges und der gewöhnlichen Heerde von Spionen und Kundschaftern Aehnliches in der blosen Thatsache des Verkleidens – daß ich die Frage fast ebenso schnell, wie sie sich mir aufgeworfen, wieder aus meinen Gedanken verwies. Selbst als eine blose Sache der Angemessenheit war dieselbe im höchsten Grade zweifelhaft. Falls ich es zu Hause versuchte, so würde früher oder später der Hauswirth es gewahr werden und sofort Verdacht schöpfen; falls aber außer dem Hause, so konnten mich durch den kleinsten Zufall dieselben Personen in der Verkleidung sehn, die mich vorher ohne dieselbe gesehen hatten, und ich würde auf diese Weise eine Beobachtung und einen Argwohn auf mich ziehen, die zu vermeiden für mich die dringendste Nothwendigkeit da war. Ich hatte bisher in meiner eignen Persönlichkeit gehandelt und war entschlossen, die Sache auch so zu Ende zu führen.

Ich langte Nachmittags zeitig mit dem Zuge in Welmingham an.

Giebt es in den Sandwüsten von Arabien oder unter den Ruinen von Palästina einen Anblick der Verödung, welcher der abstoßenden Wirkung auf das Auge und dem niederdrückenden Eindrucke auf das Gemüth gleichkäme, die eine englische Provinzialstadt im ersten Stadium ihres Daseins und während ihrer Uebergangsperiode zum Wohlstande auf den Beschauer macht? Diese Frage richtete ich an mich, als ich durch die saubere Einöde, die wohl geordnete Häßlichkeit, die gezierte Erstarrung der Straßen von Welmingham dahinging. Und die Kaufleute, welche mir aus ihren einsamen Kaufläden nachstierten; die Bäume, welche in ihrer unfruchtbaren Verbannung von unbeendeten Gartenplätzen hülflos die Köpfe hängen ließen; die todten Häuserskelette, welche vergebens auf das menschliche Element warteten, das ihnen den Lebensathem einflößen sollte; jedes Wesen, das ich sah, jeder Gegenstand, an dem ich vorüberging – schienen einstimmig zu antworten: In den Wüsten Arabien’s ist Nichts von unserer civilisirten Verödung zu finden und in den Ruinen von Palästina Nichts, das sich mit unserer neumodischen Düsterheit vergleichen könnte!

Ich erkundigte mich nach dem Wege, der nach dem Stadtviertel führte, wo Mrs. Catherick wohnte, und dort angelangt, fand ich, daß es ein Viereck von kleinen einstöckigen Häusern war. In der Mitte desselben war ein kahler kleiner Rasenplatz, den ein schlichtes Drahtgitter umzog. Eine ältliche Kinderwärterin und zwei Kinder standen in einem Winkel der Umzäunung und betrachteten eine magere Ziege, welche auf dem Grase angebunden war. Zwei Personen standen im Gespräche auf der gegenüberliegenden Seite der Häuserreihe, und auf der dritten führte ein müßiger kleiner Bube einen müßigen kleinen Hund am Seile. Ich hörte in der Entfernung das matte Klimpern eines Claviers, begleitet von dem unausgesetzten Klopfen eines Hammers nahe bei. Dies war Alles, was ich sah und hörte, als ich in das Viereck einbog.

Ich schritt sofort auf die Thür von Nummer 13 zu – die Nummer von Mrs. Catherick’s Hause – und klopfte, ohne vorher zu überlegen, wie ich mich, nachdem ich Einlaß gefunden, ihr am besten werde vorstellen können. Die erste Nothwendigkeit war die, Mrs. Catherick zu sehen. Ich konnte dann nach meiner eignen Beobachtung beurtheilen, wie ich am Sichersten und Leichtesten den Zweck meines Besuches würde zur Sprache bringen können.

Die Thür wurde von einer melancholischen Magd von mittleren Jahren geöffnet. Ich gab ihr meine Karte und frug, ob ich mit Mrs. Catherick sprechen könne. Die Karte wurde in das vordere Wohnzimmer gebracht und die Magd kam zurück, um mich zu ersuchen, ihr mein Anliegen zu nennen.

»Sagen Sie gefälligst, daß sich mein Anliegen auf Mrs. Catherick’s Tochter bezieht,« sagte ich. Dies war der beste Vorwand, den ich im Drange des Augenblickes ersinnen konnte, um meinen Besuch zu erklären.

Die Magd ging in das Wohnzimmer zurück, kam wieder heraus und ersuchte mich diesmal mit einem Blicke finsteren Erstaunens, einzutreten.

Ich trat in ein kleines Zimmer mit einer grellen, großgemusterten Tapete. Stühle, Tische, Sopha und Kommode – Alles leuchtete von dem polirten Glanze billigen Hausrathes. Auf dem größten Tische mitten in der Stube lag eine schöngebundene Bibel genau im Centrum des Tisches auf einem gelb- und roth-wollenen Bricken; und neben einem Tische am Fenster saß mit einem Strickkorbe auf dem Schooße und einem keuchenden, trübäugigen alten Wachtelhunde zu ihren Füßen eine ältliche Frau, welche eine schwarze Tüllhaube, ein schwarzseidenes Kleid und schieferfarbene Halbhandschuhe trug. Ihr eisengraues Haar hing im schweren Scheitel zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab, und ihre dunklen Augen blickten mit einem harten, trotzigen, unerschütterlichen Stieren gerade vor sich hin. Sie hatte volle, hohe Backenknochen, ein langes, festes Kinn und dicke, sinnliche, farblose Lippen. Ihre Gestalt war corpulent und derb und ihre Manier hatte etwas Kampfgerüstetes. Dies war Mrs. Catherick.

»Sie kommen, um von meiner Tochter mit mir zu sprechen,« sagte sie, ehe ich noch ein Wort sagen konnte, »seien Sie so gut, zu sagen, was Sie zu sagen haben.«

Der Klang ihrer Stimme war so hart, trotzig und unerschütterlich, wie der Ausdruck ihrer Augen. Sie wies auf einen Stuhl und betrachtete mich aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen, als ich Platz darauf nahm. Ich sah, daß meine einzige Hoffnung dieser Frau gegenüber darin lag, daß ich in ihrem eignen Tone mit ihr sprach und ihr gleich zu Anfang auf ihre eigne Weise entgegen kam.

»Sie wissen,« sagte ich, »daß Ihre Tochter verschwunden ist?«

»Ich weiß es vollkommen.«

»Haben Sie je die Befürchtung gehegt, daß dem Unglücke ihres Verschwindens das ihres Todes folgen könne?«

»Ja. Kommen Sie, um mir zu sagen, daß sie todt ist?«

»Ja.«

»Warum?«

Sie that diese merkwürdige Frage, ohne weder im Gesichte, noch in der Stimme, noch in ihrer Manier die geringste Veränderung zu zeigen. Sie hätte nicht unbekümmerter aussehen können, wenn ich ihr gesagt hätte, die Ziege draußen in der Umzäunung sei gestorben.

»Warum?« wiederholte ich. »Fragen Sie, warum ich gekommen bin, Ihnen den Tod Ihrer Tochter anzuzeigen?«

»Ja. Welches Interesse nehmen Sie an mir oder an ihr? Wie kommen Sie dazu, überhaupt Etwas von meiner Tochter zu wissen?«

»Auf folgende Weise: ich begegnete ihr in der Nacht, als sie aus der Anstalt entflohen war und war ihr behülflich, einen sicheren Zufluchtsort zu erreichen.«

»Da thaten Sie sehr unrecht.«

»Ich bedaure, ihre Mutter Dies sagen zu hören.«

»Dennoch sagt es ihre Mutter. Woher wissen Sie, daß sie todt ist?«

»Ich bin nicht willens, Ihnen zu sagen, woher ich es weiß – jedenfalls aber weiß ich es.«

»Sind Sie willens, zu sagen, auf welche Weise Sie meine Adresse erfahren haben?«

»Gewiß. Ich erfuhr Ihre Adresse von Mrs. Clements.«

»Mrs. Clements ist ein thörichtes Weib. Hat sie Ihnen gerathen, zu mir zu gehen?«

»Nein.«

»Dann frage ich Sie abermals: Warum sind Sie gekommen?«

Da sie so fest darauf bestand, eine Antwort zu haben, gab ich ihr dieselbe in den möglichst deutlichen Worten.

»Ich kam,« sagte ich, »weil ich vermuthete, daß Anna Catherick’s Mutter ein natürliches Interesse daran nehmen möge, ob ihre Tochter todt oder am Leben sei.«

»Richtig,« sagte Mrs. Catherick mit vergrößerter Ruhe. »Hatten Sie sonst noch einen Beweggrund?«

Ich zögerte, Es war nicht leicht, in einem Augenblicke hierauf die rechte Antwort zu finden.

»Falls Sie keinen ferneren Beweggrund haben,« sagte sie, indem sie sehr gelassen die schieferfarbenen Halbhandschuhe auszog und zusammenlegte, »so kann ich nur sagen, daß ich Ihnen für Ihren Besuch danke und Sie hier nicht länger aufhalten will. Ihre Nachricht würde befriedigender sein, wenn Sie sagen wollten, wie Sie zu derselben kamen. Indessen berechtigt sie mich vermuthlich dazu, Trauer anzulegen. Es ist nicht viel Veränderung in meiner Kleidung nöthig, wie Sie sehen. Sobald ich meine Handschuhe gewechselt, werde ich ganz in Schwarz sein.«

Sie suchte in der Tasche ihres Kleides nach, nahm ein Paar schwarzseidene Halbhandschuhe heraus, zog sie mit der größten Gelassenheit an und faltete dann ruhig ihre Hände auf ihrem Schooße.«

»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen,« sagte sie.

Die trockene Verachtung ihres Benehmens brachte mich dermaßen auf, daß ich ihr geradezu bekannte, der Zweck meines Hierseins sei noch nicht erfüllt.

»Es führt mich allerdings noch ein anderer Beweggrund her,« sagte ich.

»Ach, das dachte ich mir,« bemerkte Mrs. Catherick.

»Der Tod Ihrer Tochter –«

»Woran starb sie?«

»An einem Herzleiden.«

»Gut. Fahren Sie fort.«

»Der Tod Ihrer Tochter ist benutzt worden, um einer mir sehr theuren Person ein bitteres Unrecht zuzufügen. Zwei Männer sind, wie ich ganz gewiß weiß, in diesem Unrechte betheiligt. Der Eine von ihnen ist Sir Percival Glyde.«

»Wirklich?«

Ich schaute sie aufmerksam an, um zu sehen, ob sie bei der plötzlichen Erwähnung dieses Namens zucken werde. Sie bewegte keine Muskel – das harte, trotzige Stieren ihrer Augen veränderte sich keine Secunde.

»Es nimmt Sie vielleicht Wunder, auf welche Weise das Ereigniß von dem Tode ihrer Tochter benutzt werden konnte, um einer anderen Person Unrecht zuzufügen?«

»Nein,« sagte Mrs. Catherick, »durchaus nicht. Dies scheint Ihre Angelegenheit zu sein. Sie interessiren sich für meine Angelegenheiten, aber ich interessire mich nicht im Geringsten für die Ihrigen.«

»Dann fragen Sie vielleicht, warum ich der Sache in Ihrer Gegenwart Erwähnung thue,« fuhr ich fort.

»Ja, Das frage ich allerdings·«

»Weil ich entschlossen bin, Sir Percival Glyde für die Schändlichkeit, die er begangen, zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Was habe ich mit Ihrem Entschlusse zu thun?«

»Das sollen Sie hören. Es giebt in Sir Percival’s Vergangenheit Ereignisse, mit denen genau bekannt zu werden zu meinem Zwecke nothwendig ist. Sie kennen dieselben, und deshalb komme ich zu Ihnen

»Was für Ereignisse meinen Sie?«

Endlich hatte ich durch die Verschanzung undurchdringlicher Zurückhaltung hindurch, welche sie zwischen uns aufrecht zu halten bemüht gewesen, das Innerste dieser Frau getroffen. Ich sah ihre Leidenschaft in ihren Augen glimmen – so deutlich, wie ich ihre Hände unruhig werden, sich auseinander falten und mechanisch ihr Kleid auf ihren Knieen glätten sah.

»Was wissen Sie von jenen Ereignissen?« frug sie.

»Alles, was Mrs. Clements mir darüber erzählen konnte,« antwortete ich.

Ueber ihr festes, massives Gesicht flog eine schnelle Röthe, und ihre Hände blieben plötzlich still liegen, was einen kommenden Zornausbruch anzudeuten schien, in welchem sie sich vergessen mochte. Doch nein – sie bemeisterte ihre aufsteigende Wuth, lehnte sich in ihrem Sessel zurück, verschränkte ihre Arme über ihrer breiten Brust und sah mir so mit einem Lächeln grimmigen Spottes auf den dicken Lippen fester wie zuvor ins Gesicht.

»Ah! jetzt fange ich an, Alles zu verstehen,« sagte sie, indem sich ihr gezähmter und gut verhaltener Zorn blos in dem gekünstelten Spotte ihres Tones und Benehmens verrieth. »Sie hegen einen persönlichen Groll gegen Sir Percival Glyde – und ich soll Ihnen helfen, denselben an ihm auszulassen. Ich soll Ihnen Dies und Das und Jenes über Sir Percival erzählen, wie? Ja, versteht sich. Sie haben sich in meine Angelegenheiten gemischt. Sie denken, Sie haben es mit einer verrufenen Frau zu thun, die hier nur geduldet und mit Bereitwilligkeit auf Alles eingehen wird, was Sie nur von ihr fordern mögen, damit Sie ihr nur nicht in der Meinung der Nachbarn schaden. Ich durchschaue Sie und Ihre kostbaren Pläne – das thu’ ich! und es amüsirt mich Ha! ha!«

Sie schwieg einen Augenblick mit fest über der Brust verschränkten Armen und lachte vor sich hin – ein hartes, rauhes, zorniges Lachen.

»Sie wissen nicht, wie ich in diesem Orte gelebt und was ich hier gethan habe, mein Herr Soundso,« fuhr sie fort. »Ich will’s Ihnen sagen, ehe ich schelle und Sie hinausbringen lasse. Ich kam her als ein mit Unrecht beschuldigtes Weib – man hatte mir meinen guten Namen gestohlen, und ich kam her, entschlossen, ihn mir wieder zu gewinnen. Ich habe viele Jahre daran gewandt, und jetzt habe ich ihn wiedergewonnen. Ich bin den respectablen Leuten auf gleichem Boden frei und offen entgegengetreten. Falls sie jetzt Etwas gegen mich sagen, so müssen sie es heimlich thun: sie können, sie dürfen es nicht öffentlich sagen. Ich stehe in der Meinung dieser Stadt hoch genug, um über Ihre Angriffe erhaben zu sein. Der Pfarrer grüßt mich. Aha! das hatten Sie sich nicht träumen lassen, als Sie herkamen. Gehen Sie nach der Kirche und erkundigen Sie sich nach mir– Sie werden finden, daß Mrs. Catherick ihren Platz dort hat, wie die Uebrigen, und dafür bezahlt, wenn die Miethe fällig ist. Gehen Sie nach dem Rathhause. Sie werden finden, daß dort eine Bittschrift liegt: eine Bittschrift der respectablen Einwohner des Ortes, daß man einer Kunstreitergesellschaft nicht gestatte, herzukommen und unsere Sitten zu verderben: ja! unsere Sitten. Ich habe diese Bittschrift heute Morgen unterschrieben. Gehen Sie nach dem Buchhändlerladen. Es werden dort auf Subscription des Pfarrers Mittwochabend-Vorlesungen über ›Der Glaube macht selig‹ herausgegeben, und mein Name steht auf der Liste. Des Doctors Frau legte nach der letzten Missionspredigt blos einen Schilling auf den Teller, und ich legte eine halbe Krone darauf. Der Herr Kirchenvorsteher Soward trug den Teller herum und machte mir eine Verbeugung. Vor zehn Jahren sagte er zu Pigrum, dem Apotheker, ich sollte aus der Stadt gepeitscht werden. Lebt Ihre Mutter? Hat sie eine schönere Bibel auf ihrem Tische, als ich auf dem meinigen liegen habe? Steht sie sich besser mit ihren Kaufleuten, als ich mit den meinigen? Hat sie nie mehr ausgegeben, wie sie hatte? Ich bin nie über meine Mittel gegangen – Ah! da kommt der Pfarrer den Platz herauf. Sehen Sie, Herr Soundso – sehen Sie gefälligst!«

Sie sprang auf mit der Gewandtheit einer jungen Frau, ging ans Fenster, wartete, bis der Geistliche vorbeikam und grüßte ihn feierlich. Der Geistliche nahm ceremoniös den Hut ab und ging weiter. Mrs. Catherick kehrte zu ihrem Platze zurück und blickte mich mit noch grimmigerem Hohne an.

»Da!« sagte sie. »Wie gefällt Ihnen das bei einer Frau mit einem schlechten Rufe? Wie mögen sich jetzt Ihre Pläne anlassen?«

Die sonderbare Art und Weise, in der sie ihre Stellung zu behaupten suchte, und ihre merkwürdige Rechtfertigung derselben den Ortseinwohnern gegenüber hatten mich dermaßen überrascht, daß ich ihr in schweigendem Erstaunen zuhörte. Ich war aber nichtsdestoweniger entschlossen, noch einen Versuch zu machen, sie außer Fassung zu bringen. Wenn die Frau sich einmal durch ihre rasende Leidenschaftlichkeit hinreißen und dieselbe gegen mich losließ, so sagte sie doch vielleicht noch Worte, welche mir den Schlüssel in die Hände liefern würden.

»Wie mögen sich jetzt Ihre Pläne anlassen?« wiederholte sie.

»Genau ebenso, als da ich zuerst ins Zimmer kam,« entgegnete ich. »Ich bezweifle durchaus nicht, daß es Ihnen gelungen ist, sich eine Stellung in der Stadt zu verschaffen, und wünsche ebensowenig, dieselbe anzugreifen, falls dies wirklich in meiner Macht läge. Ich kam her, weil, wie ich bestimmt weiß, Sir Percival Ihr Feind ebensowohl ist als der meinige. Falls ich Groll gegen ihn hege, so thun Sie ganz dasselbe. Sie mögen Dies läugnen, wenn Sie wollen; Sie mögen mir mißtrauen, soviel Sie wollen, und Sie mögen so zornig werden, wie Sie wollen – aber von allen Frauen in England sollten Sie, falls Sie sich im Geringsten das Ihnen zugefügte Unrecht vergegenwärtigen, die Frau sein, die mir beistände, jenen Mann zu Grunde zu richten.«

»Richten Sie ihn selbst zu Grunde,« sagte sie, »und dann kommen Sie wieder her und hören, was ich Ihnen sagen werde.«

Sie sprach diese Worte, wie sie bisher noch nicht gesprochen hatte –« schnell, zornig, rachesüchtig. Ich hatte einen jahrelangen Schlangenhaß in seiner Höhle aufgestöbert – doch nur auf einen Augenblick. Wie ein lauerndes Gewürm schoß derselbe auf mich los, als sie sich eifrig zu mir hinüberbeugte, und wie ein lauerndes Reptil zog er sich ebenso schnell wieder zurück, als sie augenblicklich ihre frühere Stellung wieder annahm.

»Sie wollen mir nicht trauen?« sagte ich.

»Nein.«

»Sie fürchten sich?«

»Sehe ich aus, als ob ich mich fürchtete?«

»Sie fürchten sich vor Sir Percival Glyde.«

»Meinen Sie?«

Die Röthe stieg ihr ins Gesicht, und ihre Hände fingen wieder an ihr Kleid zu glätten. Ich drang immer mehr in sie – ich fuhr ohne einen Augenblick des Verzuges fort.

»Sir Percival nimmt in der Welt eine hohe Stellung ein,« sagte ich; »es wäre daher nicht zu verwundern, wenn Sie ihn fürchteten. Sir Percival ist ein mächtiger Mann – ein Baronet – Besitzer eines schönen Landsitzes – Abkömmling einer hohen Familie –«

Sie setzte mich über alle Beschreibung in Erstaunen, indem sie plötzlich laut auslachte.

»Ja,« wiederholte sie im Tone der bittersten, unerschütterlichsten Verachtung; »ein Baronet – Besitzer eines schönen Landsitzes – Abkömmling einer hohen Familie. Ja, versteht sich! Eine hohe Familie – namentlich von mütterlicher Seite.«

Es war keine Zeit, die Worte zu überlegen, welche sie sich hatte entschlüpfen lassen, sondern nur zu fühlen, daß sie wohl überlegt zu werden verdienten, sobald ich das Haus verlassen.

»Ich bin nicht hier, um über Familienfragen mit Ihnen zu streiten,« sagte ich. »Ich weiß Nichts von Sir Percival’s Mutter –«

»Und ebenso wenig über Sir Percival selbst,« unterbrach sie mich spitz.

»Ich rathe Ihnen, dessen nicht zu sicher zu sein,« entgegnete ich. »Ich weiß einige Dinge über ihn – und habe ihn wegen vieler anderer im Verdachte.«

»Worüber haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich will Ihnen sagen, worüber ich ihn nicht im Verdacht habe. Ich habe ihn nicht im Verdacht, Anna’s Vater zu sein«

Sie sprang auf und trat mit einem Blicke der Wuth auf mich zu.

»Wie können Sie sich unterstehen, über Anna’s Vater zu mir zu sprechen! Wie können Sie es wagen, zu sagen, wer Anna’s Vater war, und wer nicht!« rief sie mit vor Wuth bebenden Lippen und bebender Stimme aus.

»Das Geheimniß zwischen Ihnen und Sir Percival ist nicht jenes Geheimniß,« fuhr ich beharrlich fort. »Das Geheimniß, welches Sir Percival’s Leben verdunkelt, wurde nicht mit Ihrer Tochter geboren, noch ist es mit ihr gestorben.«

Sie that einen Schritt rückwärts. »Fort!« sagte sie und deutete auf die Thür.

»Es war kein Gedanke an das Kind weder in Ihrem Herzen noch in dem seinigen,« fuhr ich fort, entschlossen, sie zu ihrer letzten Zuflucht zu treiben; »keine Bande sündhafter Liebe waren zwischen Ihnen und ihm, als Sie jene verstohlenen Zusammenkünfte hielten, wo Ihr Mann Sie vor der Sacristei flüsternd zusammen stehen fand.«

Ihre Hand fiel plötzlich an ihrer Seite herab, und die tiefe Röthe des Zornes wich aus ihrem Gesicht, während ich sprach. Ich sah die Veränderung, die in ihr vorging. Ich sah das harte, feste, furchtlose, gefaßte Weib vor einem Schrecken erzittern, dem zu widerstehen ihre äußerste Entschlossenheit nicht im Stande war, als ich jene vier letzten Worte – der Sacristei der Kirche – sagte.

Eine Minute lang etwa standen wir Beide und blickten einander schweigend an.

Ich sprach zuerst.

»Weigern Sie sich noch immer, mir zu trauen?« sagte ich.

Sie konnte die Farbe, die aus ihrem Gesichte geflohen, nicht in dasselbe zurückbringen – aber sie hatte ihre Stimme wieder in der Gewalt und hatte ihre trotzige Fassung wiedergefunden, als sie mir antwortete.

»Ja, ich weigere mich,« sagte sie.

»Wünschen Sie noch immer, daß ich gehe?«

»Ja. Gehen Sie – und kommen Sie niemals wieder.«

Ich ging zur Thür, zögerte einen Augenblick, ehe ich sie öffnete, und wandte mich dann nochmals zu ihr um.

»Ich mag Ihnen Nachrichten über Sir Percival zu bringen haben, auf welche Sie nicht vorbereitet sind,« sagte ich, »und in diesem Falle werde ich wiederkommen.«

»Es giebt keine Nachrichten über Sir Percival, auf die ich nicht vorbereitet wäre, ausgenommen – –«

Sie hielt inne; ihr bleiches Gesicht wurde finster, und sie schlich mit leisen, heimlichen, katzenartigen Schritten an ihren Platz zurück.

»Ausgenommen die Nachricht seines Todes,« sagte sie, indem sie sich wieder setzte, während ein höhnisches Lächeln, um ihre grausamen Lippen zuckte, und das heimliche Licht des Hasses tief in ihren bösen Augen lauerte.

Als ich die Thür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, schaute sie sich schnell nach mir um. Das grausame Lächeln dehnte allmälig ihre Lippen – sie betrachtete mich mit einem seltsamen, heimlichen Interesse vom Kopfe bis zu den Füßen – und eine unnennbare Erwartung lagerte sich boshaft über ihr ganzes Gesicht. Spekulirte sie in der Tiefe ihres heimtückischen Herzens auf meine Jugend und Kraft, auf die Macht meiner beleidigten Gefühle und die Grenzen meiner Selbstbeherrschung? und berechnete sie etwa, wie weit ich mich fortreißen lassen würde, falls Sir Percival und ich jemals zusammentreffen sollten? Der bloße Gedanke, daß dies in diesem Augenblicke in ihrem Herzen vorgehe, trieb mich aus ihrer Gegenwart und ließ sogar die gewöhnlichen Abschiedsworte aus meinen Lippen verstummen. Ohne ein Wort weiter von ihrer Seite oder der meinigen verließ ich das Zimmer.

Als ich die Hausthür öffnete, sah ich denselben Geistlichen, der schon einmal am Hause vorbeigegangen war; im Begriffe, auf seinem Rückwege nochmals an demselben vorüberzugehen. Ich wartete auf der Thürschwelle, um ihn vorbei zu lassen, und schaute mich dabei nach dem Wohnstubenfenster um.

Mrs. Catherick hatte in der Stille dieses einsamen Ortes seine Schritte herannahen gehört, und sie stand bereits wieder am Fenster und wartete auf ihn. Alle Gewalt der furchtbaren Leidenschaften, welche ich soeben im Herzen jener Frau aufgestört hatte, vermochte nicht, sie das eine Fragment gesellschaftlichen Ansehens fahren zu lassen, das sie durch jahrelange entschlossene Anstrengungen an sich gerafft hatte. Da stand sie wieder, kaum eine Minute nachdem ich sie verlassen, in einer Stellung, die es für den Geistlichen eine Sache gewöhnlicher Höflichkeit machte, sie zum zweiten Male zu grüßen Er nahm abermals den Hut ab. Ich sah das harte, fahle Gesicht hinter dem Fenster durch befriedigten Stolz erhellt milder werden, und sah den Kopf mit der grimmigen schwarzen Haube sich feierlich zum Gruße neigen. Der Pfarrer hatte sie – in meiner Gegenwart – zweimal an einem Tage gegrüßt!



Kapiteltrenner

IX.

Ich verließ das Haus, indem ich fühlte, daß Mrs. Catherick mir widerwillen einen Schritt weiter geholfen. Ehe ich noch bis an die Ecke des Platzes kam, wurde meine Aufmerksamkeit durch eine sich hinter mir schließende Thür erweckt. Ich blickte zurück und sah auf der Thürschwelle des Hauses, das, soviel ich zu urtheilen im Stande war, diesseits von Mrs. Cathericks Wohnung derselben zunächst stand, einen kleinen Mann in schwarzer Kleidung stehen. Derselbe ging schnellen Schrittes der Ecke zu, an der ich stille stand. Ich erkannte ihn als den Advokatenschreiber, der mir nach Blackwater Park vorausgereist war und dort einen Streit mit mir anzufangen gesucht hatte, als ich ihn fragte, ob ich das Haus sehen dürfe.

Ich wartete, wo ich stand, um zu sehen, ob er diesmal mit mir anfangen werde. Zu meinem Erstaunen ging er schnell vorbei, ohne eine Wort zu sagen, ja ohne mir selbst ins Gesicht zu sehen. Dies war so vollkommen das entgegengesetzte Verfahren, welches ich von ihm zu erwarten Ursache hatte, daß dadurch meine Neugierde, oder vielmehr mein Verdacht erweckt ward, und ich meinerseits beschloß, ihn im Auge zu behalten und zu ermitteln, welcher Art die Geschäfte seien, mit denen er augenblicklich beauftragt war. Ohne mich darum zu kümmern, ob er mich sähe oder nicht, ging ich ihm nach. Er schaute sich nicht ein einziges Mal um und führte mich geradeswegs durch die Straßen nach der Eisenbahnstation.

Der Zug war im Begriffe abzufahren, und zwei oder drei Passagiere, welche spät kamen, drängten sich um die kleine Oeffnung, durch welche die Billete ausgegeben wurden. Ich trat zu ihnen heran und hörte den kleinen Advocatenschreiber ganz deutlich ein Billet nach der Station Blackwater fordern. Ich ging nicht eher fort, als bis ich mich überzeugt hatte, daß er wirklich mit dem Zuge abgefahren sei.

Ich konnte Das, was ich soeben gesehen und gehört hatte, mir nur auf eine Weise deuten. Ich hatte den Mann ohne alle Frage ein Haus verlassen sehen, das dicht an Mrs. Catherick’s Wohnung stand. Ohne Zweifel hatte er sich auf Sir Percival’s Befehl in der Erwartung dort eingemiethet, daß meine Nachforschungen mich früher oder später zu Mrs. Catherick führen würden. Er hatte mich wahrscheinlich hineingehen und wieder herauskommen sehen und eilte nun mit dem ersten Zuge fort, um in Blackwater Park seinen Bericht abzustatten – wohin Sir Percival sich natürlich verfügen mußte (nach dem was er offenbar von meinen Schritten wußte), um auf der Stelle bereit zu sein, wenn ich nach Hampshire zurückkehrte. Es schien jetzt im höchsten Grade wahrscheinlich, daß er und ich, noch ehe viele Tage vergingen, einander begegnen würden.

Welcher Erfolg jedoch immer den Ereignissen bestimmt sein mochte, ich beschloß, meinem eigenen Pfade zu folgen, gerade auf das Ziel losgehend und ohne weder für Sir Percival noch irgend Jemanden stille zu stehen oder auf die Seite zu treten. Die große Verantwortlichkeit, die in London so schwer auf mir lastete – die Verantwortlichkeit nämlich, die geringste meiner Handlungen so einzurichten, daß sie nicht durch einen Zufall Laura’s Zufluchtsort verrieth – war mir in Hampshire abgenommen. In Welmingham konnte ich nach Gefallen kommen und gehen. Und falls ich zufälligerweise eine nothwendige Vorsichtsmaßregel versäumte, so trafen die unmittelbaren Folgen des Versehens doch Niemanden als mich.

Der Abend brach ein, als ich die Station verließ. Es war wenig Hoffnung vorhanden, daß meine Nachforschungen nach Dunkelwerden in einer mir fremden Gegend von Nutzen gewesen wären. Demzufolge begab ich mich nach dem nächsten Gasthofe und bestellte mein Mittagsmahl und mein Bett. Darauf schrieb ich an Marianne, um ihr zu sagen, daß ich wohl und in Sicherheit sei und Aussichten auf Erfolg habe. Ich hatte sie beim Abschiede gebeten, ihren ersten Brief (welchen ich am nächsten Morgen erwartete) nach »Welmingham, poste restante« zu adressiren, und ersuchte sie jetzt, es mit dem nächsten ebenso zu machen. Ich konnte mir, falls ich zufälligerweise zur Zeit der Ankunft der Post abwesend sein sollte, leicht den Brief durch den Postmeister zuschicken lassen.

Das Gastzimmer des Hotels wurde später Abends eine wahre Eremitage, und ich konnte über Das, was ich am Nachmittage ausgerichtet, ohne jegliche Unterbrechung und wie wenn das Haus mein eigenes gewesen wäre, nachdenken. Ehe ich mich zur Ruhe begab, hatte ich meine merkwürdige Unterredung mit Mrs. Catherick von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchdacht und mir mit Muße die Schlüsse vergegenwärtigt, die ich vorhin nur in Eile hatte ziehen können.

Die Sacristei der Kirche von Alt Welmingham war der Ausgangspunkt, von dem aus mein Geist langsam den Weg durch Alles, was ich Mrs. Catherick hatte sagen hören und thun sehen, wieder zurücklegte.

Als Mrs. Clements mir zum ersten Male die Sacristei der Kirche als den Ort nannte, welchen Sir Percival sich zu seinen heimlichen Zusammenkünften mit der Frau des Küsters gewählt, war es mir bereits aufgefallen, welch ein sonderbarer und unbegreiflicher Ort dieselbe zu diesem Zwecke sei. Durch diesen Eindruck getrieben – und durch nichts Anderes – hatte ich der »Sacristei der Kirche« auf’s Gerathewohl hin vor Mrs. Catherick Erwähnung gethan; es war dies einer der unbedeutenderen Punkte der Geschichte, welche mir während des Sprechens einfiel. Ich war darauf vorbereitet, daß sie mir zornig oder verwirrt antworten werde; aber der entsetzensvolle Schrecken, welcher sie erfaßte, als ich die Worte aussprach, überraschte mich im höchsten Grade. Ich hatte Sir Percival’s Geheimniß längst mit der Verheimlichung eines ernsten Verbrechens in Verbindung gebracht, um welches Mrs. Catherick wußte – aber ich war in meinen Vermuthungen nicht weiter gegangen. Des Weibes Paroxismus von Schreck aber brachte dies Verbrechen jetzt – entweder direct oder indirect – mit der Sacristei in Verbindung und überzeugte mich, daß sie nicht allein Zeuge desselben, sondern sogar ohne allen Zweifel eine Mitschuldige gewesen war.

Welcher Art war das Verbrechen gewesen? Es mußte sicher eine verächtliche Seite sowohl als eine gefährliche haben, sonst hätte Mrs. Catherick meine Worte in Bezug auf Sir Percival’s Rang und Macht nicht mit so ausfallender Verachtung wiederholt. Es war also ein verächtliches sowohl als ein gefährliches Verbrechen, und sie hatte Theil daran genommen, und es hatte mit der Sacristei der Kirche zu thun.

Der nächste Punkt, den ich zu überlegen hatte, führte mich noch einen Schritt weiter.

Mrs. Catherick’s unverhohlene Verachtung für Sir Percival erstreckte sich offenbar auch auf seine Mutter. Sie hatte mit dem bittersten Spotte auf die hohe Familie, von der er abstamme, angespielt – »namentlich von mütterlicher Seite.« Was sollte dies bedeuten? Es schienen mir nur zwei Erklärungen möglich. Entweder war seine Mutter von niederer Herkunft? oder ihr Ruf war nicht rein gewesen, und Sir Percival und Mrs. Catherick theilten das Geheimniß hierüber? Ich konnte mir über Ersteres nur Auskunft verschaffen, indem ich im Kirchenbuche ihr Heirathscertificat aufsuchte und mich so über ihren Mädchennamen und ihre Verwandtschaft unterrichtete; als Einleitung zu ferneren Nachfragen.

Dagegen, falls der zweite angenommene Fall der wahre gewesen, welcher Art war da der Flecken auf ihrem Rufe? Indem ich mich an Das erinnerte, was Marianne mir über Sir Percival’s Vater und Mutter und über deren ungesellige, verdächtig abgeschlossene Lebensweise erzählt hatte, frug ich mich jetzt, ob es nicht möglich sei, daß seine Mutter am Ende gar nicht verheirathet gewesen? Hier wieder konnte das Kirchenbuch durch ein geschriebenes Certificat der Heirath mir wenigstens beweisen, daß dieser Verdacht ein unbegründeter war. Wo aber dieses Kirchenbuch finden? Bei diesem Punkte nahm ich die Schlüsse wieder auf, zu denen ich bereits vorher gekommen, und derselbe Gedankengang, welcher die Lokalität des verborgenen Verbrechens entdeckt hatte, brachte jetzt das Kirchenbuch in die Sacristei der Kirche zu Alt-Welmingham

Dies waren die Erfolge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick – und dies waren die verschiedenen Betrachtungen, die alle gerade an einem Punkte zusammenlaufend mir mein für den nächsten Tag zu beobachtendes Verfahren vorzeichneten.

Der Morgen war trübe und wolkig, doch ohne Regen. Ich ließ meinen Nachtsack im Gasthofe zurück, bis ich ihn mir abholen würde, und nachdem ich mich nach dem Wege erkundigt, ging ich zu Fuße nach der Kirche zu Alt-Welmingham.

Es war dies ein Spaziergang von etwas mehr als zwei Meilen auf fortwährend allmälich berganwärts gehendem Boden.

Auf dem höchsten Punkte stand die Kirche – ein altes verwittertes Gebäude mit schwerfälligen Formen und einem großen viereckigen Thurme. Die Sacristei an der Hinterseite war aus der Kirche herausgebaut und schien dasselbe Alter zu haben. Rund um die Kirche her sah man die Ueberbleibsel des Dorfes, in dem, wie Mrs. Clements mir erzählt, ihr Mann früher gewohnt und das die bedeutendsten Einwohner desselben längst verlassen hatten, um nach der neuen Stadt zu ziehen. Einige von den leeren Häusern waren bis auf die äußeren Mauern abgerissen; andere waren den verheerenden Angriffen der Zeit überlassen, und andere wieder wurden noch bewohnt, aber offenbar von Leuten der allerärmsten Klasse. Es war ein trauriger, öder Anblick, und doch in all seinem Verfalle noch nicht so öde wie die neue Stadt, die ich soeben verlassen hatte. Hier ruhte das Auge doch wenigstens auf der braunen, lustigen Fläche der umliegenden Felder aus; hier brachten doch die Bäume, so entlaubt sie auch waren, eine Abwechselung in die Einförmigkeit des Ortes und halfen dem Auge des Geistes, dem Sommer und dem Schatten entgegensehen.

Als ich mich von der Hinterseite der Kirche abwandte und an einigen der abgerissenen Häuschen vorbeiging, um mir Jemanden zu suchen, der mir sagen konnte, wo ich den Küster finden würde, erblickte ich zwei Männer, welche hinter einer Mauer herum kamen und mir nachgingen. Der größte von Beiden – ein stämmiger, muskulöser Mensch in der Kleidung eines Wildwärters – war mir fremd. Der Andere aber war einer von den beiden Männern, die mir an dem Tage, wo ich Mr. Kyrle’s Expedition verließ, gefolgt waren. Ich hatte ihn mir damals besonders gemerkt, und war ich deshalb jetzt über seine Identität vollkommen sicher.

Weder er noch sein Begleiter versuchten, mit mir zu sprechen, und Beide hielten sich in achtungsvoller Entfernung; doch war der Zweck ihrer Anwesenheit in der Nähe der Kirche klar in die Augen fallend. Die Sache verhielt sich gerade so, wie ich vermuthet hatte: Sir Percival war bereits auf mich vorbereitet. Mein Besuch bei Mrs. Catherick war ihm am Abend vorher berichtet worden, und jene beiden Männer waren in Erwartung meines Erscheinens in Alt-Welmingham in der Nähe der Kirche als Wache aufgestellt worden. Hätte ich noch eines ferneren Beweises bedurft, daß meine Nachforschungen endlich die rechte Richtung genommen hatten, so hätte der jetzt von ihnen angenommene Beobachtungsplan mir denselben geliefert.

Ich ging weiter, von der Kirche fort, bis ich bei einem der bewohnten Häuser anlangte, an das sich ein Stückchen Küchengarten schloß, in welchem ein Mann bei der Arbeit war. Er gab mir den Weg nach der Küsterwohnung an, einem Häuschen, das in einiger Entfernung ganz allein am äußersten Ende des verlassenen Dorfes stand. Der Küster war zu Hause und gerade beschäftigt, seinen großen Ueberrock anzuziehen. Er war ein munterer, zutraulicher, lautgesprächiger alter Mann und hegte – wie ich bald gewahr wurde – eine sehr geringe Meinung von dem Orte, in dem er wohnte, zugleich aber ein glückliches Bewußtsein persönlicher Ueberlegenheit über seine Nachbarn, vermöge der großen Auszeichnung, einstmals in London gewesen zu sein.

»Es trifft sich glücklich, daß Sie so früh kamen, Sir,« sagte der alte Mann, nachdem ich ihn mit dem Zwecke meines Besuches bekannt gemacht. »In zehn Minuten wäre ich nicht mehr dagewesen. Kirchspielangelegenheiten, Sir – und ein ziemlich langer Trab, ehe Alles abgethan ist, für einen Mann in meinen Jahren. Aber ich bin, Gott sei Dank, noch immer ganz gut auf den Beinen! So lange ein Mann noch über seine Beine zu gebieten hat, ist auch noch Arbeit in ihm. Sind Sie nicht auch der Ansicht, Sir?«

Während er sprach, nahm er seine Schlüssel von einem Haken hinter dem Kamine herunter und verschloß, nach dem wir hinausgegangen waren, seine Hausthür hinter uns.

»Kein Mensch d’rin, um meinen Haushalt zu führen,« sagte der Küster mit einem frohen Gefühle der Freiheit von allen Familienbürden. »Meine Frau liegt da drüben auf dem Kirchhofe, und meine Kinder sind alle verheirathet. Ein erbärmlicher Ort dies, nicht wahr, Sir? Aber es ist ein großes Kirchspiel – es würde nicht Jeder so gut damit fertig werden wie ich. Das macht aber die Bildung – und davon habe ich mein Theil gehabt und vielleicht noch ein Bischen mehr. Ich kann der Königin Englisch sprechen (Gott erhalte die Königin!) – und Das ist mehr, als die meisten Leute hier herum im Stande sind. Sie kommen aus London, wie ich vermuthe, Sir? Ich war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren in London. Was giebts Neues dort, wenn ich fragen darf?«

Unter solchem Geplauder führte er mich nach der Sacristei zurück. Ich schaute umher, um zu sehen, ob sich die beiden Spione noch blicken ließen; doch waren sie nirgendwo zu sehen. Nachdem sie sich von meinem Besuche beim Küster überzeugt, hatten sie sich wahrscheinlich an irgend einer Stelle verborgen, von der aus sie, ohne bemerkt zu werden, meine nächsten Schritte überwachen konnten.

Die Thür der Sacristei war von starkem alten Eichenholze und mit großen Nägeln beschlagen, und der Küster steckte den großen schweren Schlüssel mit der Miene eines Mannes ins Schloß, welcher wußte, daß er eine schwere Aufgabe vor sich hatte, und sich nicht ganz sicher fühlte, daß er dieselbe auf rühmliche Weise lösen werde.

»Ich bin genöthigt, Sir, Sie von dieser Seite hereinzuführen,« sagte er, »weil die Thür, welche von der Kirche aus hineinführt, auf der Seite der Sacristei verriegelt ist. Wir hätten sonst durch die Kirche hineingehen können. Dies ist ein so halsstarriges, altes Schloß, wie es je eins gab. Es ist groß genug für ein Gefängnißthor und schon wer weiß wie viele Male verdreht worden; es hätte längst abgenommen und ein neues an seine Stelle gelegt werden sollen. Ich habe das dem Herrn Kirchenvorsteher wenigstens schon fünfzig Mal gesagt; er spricht jedesmal: ich werde dafür sorgen und thut es doch nicht. Ach ja, ’s ist ein erbärmliches Nest dies. ’S ist kein London – nicht wahr? Gott bewahre! wir sind hier Alle im Schlaf. Es fällt uns gar nicht ein, mit der Zeit fortzuschreiten.«

Nach einigem Drehen und Wenden des Schlüssels gab das Schloß endlich nach, und er öffnete die Thür.

Die Sacristei war größer, als ich nach der Außenseite zu urtheilen vermuthet hätte. Es war ein düsteres, moderiges, melancholisches altes Zimmer mit einer niedrigen Balkendecke. An zwei Seiten – denjenigen, welche dem Innern der Kirche zunächst lagen – zogen sich schwere, durch Alter wurmstichig gewordene Holzschränke hin. In einem derselben hingen an einem Haken mehrere Priesterhemden, welche alle an ihren unteren Enden in einem unehrerbietig aussehenden Kleiderbündel aufbauschten und nur der Beine bedurft hätten, um auf Jeden den Eindruck zu machen, als ob sie ein Rattenkönig verwahrloster Pfarrgehülfen gewesen wären, die Selbstmord begangen, indem sie sich auf gesellschaftliche Weise Alle zusammen erhängten. Unter den Priesterhemden am Boden standen drei Packkisten, deren Deckel nur halb befestigt waren und aus denen durch jeden Riß und jede Spalte hindurch sich ungeduldiges Stroh drängte. Hinter diesen in einem Winkel lag eine unordentliche Masse staubiger Papiere, von denen einige groß und zusammengerollt waren, wie Baupläne, andere dagegen lose wie Briefe oder Rechnungen auf Bindfaden gezogen waren. Das Zimmer hatte ehedem durch ein kleines Seitenfenster Licht erhalten; aber dasselbe war zugemauert und durch ein Gewölbefenster ersetzt worden. Die Atmosphäre drinnen war schwer und moderig und wurde durch den Umstand, daß die Thür nach der Kirche zu verschlossen war, noch drückender. Diese Thür war ebenfalls von festem Eichenholze und von der Seite der Sacristei oben und unten verriegelt.

»Wir könnten etwas ordentlicher sein, wie, Sir?« sagte der muntere Küster. »Aber was kann man von Leuten erwarten, die in einem solchen erbärmlichen Neste wohnen? Sehen sie nur – sehen Sie sich blos diese Packkisten an. Da haben sie seit länger als einem Jahre gestanden, um nach London geschickt zu werden – da stehen sie und machen die Stube unordentlich – und da werden sie stehen bleiben, so lange ihre Nägel sie zusammenhalten. Ich will Ihnen ’was sagen, Sir, wie ich schon vorhin bemerkte, dies ist kein London. Wir sind hier Alle im Schlafe. Wir schreiten nicht mit der Zeit fort, Gott bewahre!«

»Was enthalten diese Packkisten?« frug ich.

»Kleine Stückchen von dem Holzgeschnitzel an der Kanzel, Paneele vom Altar und geschnitzte Bilder von der Orgel,« sagte der Küster. »Portraits in Holz von den zwölf Aposteln – wovon nicht einer ’ne heile Nase mehr hat. Alles zerbrochen und wurmstichig und in Staub zerbröckelnd – so zerbrechlich wie Töpferwaare, Sir, und so alt wie die Kirche – wo nicht noch älter.«

»Und wozu sollen sie nach London gebracht werden? Zum Ausbessern?«

»Richtig, Sir. Zum Ausbessern; und wo sie nicht mehr ausgebessert werden können, sollen sie in starkem Holze wieder nachgeahmt werden. Aber, der Herr segne Sie! – sie kamen mit dem Gelde zu kurz – und jetzt steht das Zeug da und wartet auf neue Subscriptionen, und kein Mensch will Etwas dazu hergeben. Die Geschichte wurde vor einem Jahre angefangen, Sir. Sechs Herren speisten darüber in dem Gasthofe in der neuen Stadt. Sie hielten Reden, faßten Beschlüsse, schrieben ihre Namen auf und druckten Tausende von Plänen. Wunderschöne Pläne, Sir, über und über mit gothischen Sinnbildern in rother Tinte bemalt, und welche ankündigten, daß es eine Schande sei, die Kirche nicht wieder herzustellen und das berühmte Schnitzwerk nicht ausbessern zu lassen und dergleichen mehr. Da hinter den Packkisten im Winkel liegen die Prospectusse und Baupläne und Rechnungen und Anschläge und die ganze Correspondenz, die in Nichts als allgemeiner Balgerei endete. Es kam anfangs ein Bischen Geld eingetröpfelt – aber ich bitte Sie, was kann man außerhalb London erwarten? Es war gerade genug, um das zerbrochene Schnitzwerk zu packen, die Anschläge und die Druckerrechnungen zu bezahlen – und dann war kein Heller mehr übrig. Da stehen die Sachen, wie ich schon sagte. Wir können sie sonst nirgendwo lassen – den Leuten in der neuen Stadt liegt nichts daran, uns gefällig zu sein – wir leben hier in einem Loche, und dies ist eine sehr unordentliche Sacristei, und wer soll’s ändern? – das frage ich blos.«

Mein eifriger Wunsch, das Kirchenbuch durchzusehn, bewog mich, nicht in des alten Mannes Gesprächigkeit einzugehen. Ich gab ihm Recht, daß kein Mensch im Stande sei, eine Abänderung in dem unordentlichen Zustande der Sacristei zu treffen, und schlug dann vor, daß wir ohne Verzug zur Sache kämen.

»Ja, ja, das Kirchenbuch, ja wohl,« sagte der Küster, indem er ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche nahm. »Wie weit wollen Sie zurücksuchen, Sir?«

Marianne hatte mich zur Zeit, als wir von Laura’s Verlobung mit Sir Percival Glyde gesprochen, von des Letzteren Alter unterrichtet. Sie hatte ihn damals als fünfundvierzig Jahre alt beschrieben. Indem ich von da an zurück und das Jahr mit einrechnete, welches seit der Zeit verflossen war, fand ich, daß er im Jahre 1804 geboren sein mußte und daß ich mit Sicherheit bei diesem Datum im Kirchenbuche anfangen konnte.

»Ich wünsche mit dem Jahre 1804 anzufangen,« sagte ich.

»Nach welcher Richtung hin von da an, Sir?« frug der Küster. »Vorwärts oder rückwärts?«

»Von 1804 an rückwärts.«

Er öffnete die Thür eines der Schränke – desjenigen, an welchem die Priesterhemden aufgehangen waren – und nahm ein großes Buch, das in schmierigem braunem Leder gebunden war, heraus. Es fiel mir auf, wie sehr unsicher dasselbe verwahrt war. Die Thür des Schrankes war durch das Alter gebogen und geborsten, und das Schloß war von der kleinsten und gewöhnlichsten Art. Ich hätte es bequem mit meinem Spazierstocke sprengen können.

»Wird das als ein hinreichend sicherer Platz für das Kirchenbuch angesehen?« frug ich. »Mich dünkt, ein Buch von solcher Wichtigkeit sollte doch durch ein besseres Schloß und in einer eisernen Kiste verwahrt werden!«

»Na, das ist doch merkwürdig!« sagte der Küster, das Buch, welches er so eben geöffnet hatte wieder schließend und fröhlich mit der Hand darauf schlagend. »Ganz dasselbe pflegte mein alter Meister immer zu sagen, als ich noch ein Bursche war. ›Warum,‹ sagte er, ›warum wird das Kirchenbuch (womit er dieses hier meinte, welches ich in der Hand habe) nicht in einer eisernen Kiste aufbewahrt?‹ Das habe ich ihn nicht einmal, sondern hundertmal sagen hören. Er war hier der Advocat damals, Sir, und hatte dabei das Amt des Kirchspielschreibers inne. Ein prächtiger, aufrechter alter Herr – und der eigenste alte Herr, den es nur geben konnte. So lange er lebte, bewahrte er auf seiner Expedition in Knowlesbury eine Abschrift dieses Buches und ließ von Zeit zu Zeit die bei uns eingetragenen Certificate genau in derselben nachschreiben. Sie werden es kaum glauben, aber er hatte seine bestimmten Tage, ein oder zweimal alle Vierteljahre auf seinem alten weißen Pony hier nach der alten Kirche herüberzureiten, um mit eigner Hand das Kirchenbuch nach seiner Abschrift zu controliren. ›Wie kann ich wissen‹ (pflegte er zu sagen) ›wie kann ich wissen, ob nicht dies Kirchenbuch einmal gestohlen oder vernichtet werden mag? Warum verwahrt man es nicht in einer eisernen Kiste? Warum sind andere Leute nicht ebenso vorsichtig wie ich? Es wird sich eines Tages irgend etwas Ungehöriges ereignen – und wenn dann das Kirchenbuch fort ist, werden die Herren den Werth meiner Abschrift erkennen.‹ Dann pflegte er seine Prise zu nehmen und so stolz wie ein Lord um sich zu blicken. Ach! Seinesgleichen als Geschäftsmann ist so leicht nicht wiederzufinden. Sie können nach London gehn und selbst dort nicht einen Mann finden, der ihm gleich käme. Welches Jahr sagten Sie, Sir? Achtzehnhundert und wieviel?«

»Achtzehnhundert und vier,« entgegnete ich, heimlich entschlossen, dem alten Manne keine fernere Gelegenheit zum Schwatzen zu geben, bis ich mit meiner Durchsicht des Kirchenbuches fertig sein würde.

Der Küster setzte seine Brille auf und wandte die Blätter des Buches um, indem er bei jedem dritten Blatte sorgfältig den Zeigefinger und Daumen benetzte. »Da ist es, Sir,« sagte er, indem er abermals vergnügt auf das Buch klopfte. »Da ist das Jahr, welches Sie suchen.«

Da ich nicht wußte, in welchem Monate Sir Percival geboren war, begann ich meine Nachsuchung mit dem Anfange des Jahres. Das Kirchenbuch war eins nach der alten Art: die Certificate waren auf leere Blätter geschrieben und durch Linien getrennt, welche mit Tinte dicht unter jedes Certificat über die ganze Seite hingezogen waren.

Ich kam bis zum Schlusse des Jahres Achtzehnhundert und vier, ohne die Heirath zu finden und ging dann rückwärts durch Achtzehnhundert und drei, durch den December, November, October, durch –

Nein! nicht durch den September. Unter der Unterschrift dieses Monats fand ich die Heirath!

Ich besah das Eingetragene aufmerksam. Dasselbe stand am unteren Ende einer Seite und war wegen Mangels an Raum auf einen kleineren Platz zusammengedrängt, als die Certificate der Heirathen darüber einnahmen. Die unmittelbar vorhergehende Heirath prägte sich meinem Gedächtnisse durch den Umstand ein, daß der Taufname des Bräutigams derselbe war, den ich trug. Die unmittelbar folgende (an der Spitze der nächsten Seite) fiel auf andere Weise auf, indem sie einen größeren Raum einnahm, als die übrigen, da sie die Vermählung zweier Brüder zu gleicher Zeit berichtete. Das Certificat der Heirath von Sir Felix Glyde war durch Nichts bemerkbar, außer durch den engen Raum, in den das Geschriebene zusammengedrängt war. Ueber seine Gemahlin enthielt es genau dieselbe Art von Auskunft, welche gewöhnlich in solchen Fällen gegeben wird. Sie war angeführt als: »Cäcilia Jane Elster aus Park-View Cottages, Knowlesbury; einzige Tochter des weiland Patrick Elster, Esquire, ehedem aus Bath.«

Ich schrieb mir diese Einzelheiten in mein Taschenbuch ein, wobei sich einigermaßen Zweifel und Entmuthigung in Bezug auf meine zunächst zu thuenden Schritte bei mir einschlich. Das Geheimniß, von dem ich bis zu diesem Augenblicke geglaubt hatte, daß ich es schon fast ergriffen, schien mir jetzt ferner denn je entrückt.

Welche Andeutungen auf unerklärte Geheimnisse hatte mein Besuch in der Sacristei ergeben? Ich sah deren keine. Welche Fortschritte hatte ich gemacht, um den geargwöhnten Flecken auf dem Rufe seiner Mutter zu entdecken?

Das einzige Factum, worüber ich mir Gewißheit verschafft, sprach denselben vollkommen rein. Neue Zweifel, neue Schwierigkeiten, neue Zeitverluste begannen sich in unabsehbarer Weite vor mir zu erheben. Was sollte ich zunächst beginnen? Die einzige unmittelbare Hülfsquelle, die mir noch übrig blieb, schien die folgende zu sein: ich konnte Nachfragen über »Miß Elster in Knowlesbury« anstellen auf die Aussicht hin, den Hauptzweck meiner Forschungen dadurch zu fördern, daß ich das Geheimniß von Mrs. Catherick’s Verachtung für Sir Percival’s Mutter entdeckte.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten, Sir?« frug der Küster, als ich das Kirchenbuch schloß.

»Ja,« erwiderte ich; »aber ich habe Ihnen noch einige Fragen vorzulegen. Ich vermuthe, daß der Geistliche, welcher im Jahre Achtzehnhundert und drei den Gottesdienst in dieser Kirche verrichtete, nicht mehr am Leben ist?«

»Nein, nein, Sir. Er war schon vor drei oder vier Jahren, ehe ich hieher kam, gestorben – und das war im Jahre Achtzehnhundert und siebenundzwanzig. Ich bekam die Stelle, Sir,« fuhr mein geschwätziger alter Freund fort, »dadurch, daß mein Vorgänger sie aufgab. Man sagt, daß seine Frau ihn aus Haus und Hof vertrieben – und die lebt noch, da drüben in der neuen Stadt. Ich selbst weiß nicht genau, wie die Geschichte zusammenhängt; das Einzige, was ich weiß, ist, daß ich die Stelle bekam. Mr. Wansborough verschaffte sie mir – der Sohn meines alten Herrn, von dem ich Ihnen erzählte. Er ist ein freier, freundlicher Mann, liebt die Jagd, hält sich seine Hunde und all’ dergleichen. Er ist jetzt unser Kirchspielschreiber, wie sein Vater es vor ihm war.«

»Sagten Sie nicht, Ihr früherer Herr wohnte in Knowlesbury?« frug ich, indem ich mich der langen Erzählung über den pünktlichen Herrn aus der alten Zeit  erinnerte, mit der mich mein redseliger Freund vorhin gelangweilt hatte.

»Ja wohl, Sir,« entgegnete der Küster. »Der alte Mr. Wansborough wohnte zu Knowlesbury, und der junge Mr. Wansborough wohnt dort ebenfalls.«

»Sie erwähnten soeben, daß er, wie sein Vater, Kirchspielschreiber hier sei. Ich weiß nicht recht, was eigentlich ein Kirchspielschreiber ist?«

»Wirklich nicht, Sir? – und kommen noch dazu aus London! Jedes Kirchspiel, müssen Sie wissen, hat sowohl seinen Kirchspielschreiber wie seinen Büttel. Der Büttel ist ein Mann wie ich (ausgenommen, daß ich ein gut Theil mehr Bildung habe; wie die meisten von ihnen – obgleich ich nicht damit prahle). Kirchspielschreiber ist eine Art Amt, welches die Advocaten bekommen; so daß, falls für die Sacristei Geschäfte zu machen sind, sie dieselben sofort übernehmen können. Es ist in London ebenso. Jede Kirche hat ihren Kirchspielschreiber, und Sie können mir auf’s Wort glauben, daß derselbe jedesmal ein Advocat ist.«

»Dann ist vermuthlich auch der junge Mr. Wansborough ein Advocat?«

»Das versteht sich, Sir! Advocat in der Hochstraße, Knowlesbury – das alte Geschäftslocal, das schon sein Vater hatte. Die unzähligen Male, daß ich jene Expedition ausgekehrt und den alten Mann auf seinem weißen Pony zum Geschäft hereintraben gesehen habe, wobei er die ganze Straße entlang rechts und links blickte und allen Leuten zunickte! Das war ein beliebter Mann, kann ich Ihnen sagen! Der hätte in London leben sollen!«

»Wie weit ist es von hier nach Knowlesbury?«

»Ein ganzes Stück, Sir,« sagte der Küster, mit jener übertriebenen Idee von Entfernungen und jener lebhaften Schätzung der Schwierigkeiten, um von einem Orte zum andern zu gelangen, welche allen Landleuten eigen sind. »Nahe an fünf Meilen, kann ich Ihnen sagen!«

Es war noch früh am Vormittage und Zeit genug, um nach Knowlesbury und von dort zurück nach Welmingham zu spazieren; es gab in der Stadt wahrscheinlich Niemanden, der mich besser über die Stellung und den Ruf von Sir Percival’s Mutter vor ihrer Heirath unterrichten konnte, als der Advocat des Orts. Indem ich beschloß, sofort zu Fuße nach Knowlesbury aufzubrechen, ging ich dem Küster voran aus der Sacristei.

»Danke schönstens, Sir,« sagte der Küster, als ich ihm mein kleines Geschenk in die Hand drückte. »Wollen Sie wirklich den ganzen Weg nach Knowlesbury und zurück zu Fuße machen? Nun! Sie sind gut zu Fuße, und das ist ein großes Glück, wie? Das da ist der Weg; Sie können nicht fehl gehen. Ich wollte, ich hätte Ihres Weges zu gehen – es ist sehr angenehm, einem Herrn aus London zu begegnen. Da hört man doch einmal, was in der Welt vorgeht. Wünsch’ Ihnen einen guten Morgen,Sir – und danke Ihnen nochmals recht schön.«

Wir gingen auseinander. Als ich die Kirche hinter mir ließ, schaute ich zurück – und da unten auf der Straße waren wieder die beiden Männer, zu denen sich noch ein dritter gesellt hatte; dieser Dritte war der kleine Mann im schwarzen Anzuge, dem ich am Abende zuvor nach der Eisenbahnstation gefolgt war.

Die Drei standen eine Weile und sprachen zusammen und trennten sich dann. Der kleine Mann in Schwarz ging allein nach Welmingham zu; die andern Beiden blieben beisammen, indem sie offenbar warteten, bis sie mir, sobald ich weiter gehen würde, wieder folgen könnten.

Ich setzte meinen Weg fort, ohne sie gewahr werden zu lassen, daß ich sie bemerkt hatte. Ich war in diesem Augenblicke nicht besonders aufgebracht über sie – im Gegentheil, sie belebten meine sinkenden Hoffnungen wieder etwas. In meiner Ueberraschung, den Beweis der Heirath zu finden, hatte ich ganz vergessen, zu welchem Schlusse ich gekommen, als ich jene beiden Männer in der Nähe der Sacristei erblickt hatte. Ihr Wiedererscheinen erinnerte mich, daß Sir Percival meinen Besuch in der Kirche von Alt-Welmingham als nächste Folge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick vorausgesehen – widrigenfalls er sicher nicht seine Spione dorthin geschickt haben würde, um mich zu erwarten. So glatt und offen die Sache sich in der Sacristei auch herausgestellt, so war doch etwas Verkehrtes darunter– es war in dem Kirchenbuche Etwas, das ich vielleicht noch nicht ausfindig gemacht hatte.



Kapiteltrenner

X.

Sowie mir die Kirche aus dem Gesichte war, setzte ich meinen Weg nach Knowlesbury munter fort.

Der Weg war meistens gerade und eben. Jedesmal, wenn ich mich umschaute, sah ich die beiden Spione mir ruhig folgen. Während der größten Strecke des Weges hielten sie sich in sicherer Entfernung hinter mir. Aber ein paarmal beeilten sie ihre Schritte, wie wenn sie mich einholen wollten – standen dann stille – beriethen sich – und blieben in ihrer vorigen Entfernung zurück. Sie hatten offenbar irgend einen besondern Zweck im Auge und schienen über die beste Art und Weise, denselben auszuführen, uneinig oder im Zweifel. Ich konnte nicht recht errathen, welches ihr Zweck sein mochte; aber ich hegte ernstliche Befürchtungen, daß ich Knowlesbury nicht ohne Unfall erreichen würde. Diese Befürchtungen stellten sich als begründet heraus.

Ich war eben an einer einsamen Stelle des Weges angelangt, von wo ich eine scharfe Biegung desselben in einiger Entfernung vor mir sah, und war gerade zu dem Schlusse gekommen (indem ich eine Zeitberechnung machte), daß ich mich der Stadt nähern müsse, als ich plötzlich die Schritte der Männer dicht hinter mir hörte.

Ehe ich mich noch umschauen konnte, ging der Eine von ihnen (der Mann, welcher mir in London gefolgt war) schnell zu meiner linken Seite an mir vorbei und stieß mich mit seiner Schulter. Ich hatte mich durch die Art und Weise, in welcher er und sein Gefährte mich von Welmingham aus verfolgt, heftiger aufreizen lassen, als ich mir dessen selbst bewußt, und ließ mich hierdurch unglücklicherweise hinreißen, den Menschen ziemlich herzhaft mit der flachen Hand von mir zu stoßen. Er fing augenblicklich an, um Hülfe zu rufen, worauf sein Gefährte – der stämmige Bursche in der Wildhüterkleidung – an meine rechte Seite sprang – und im nächsten Augenblicke hielten sie mich geknebelt mitten auf dem Wege zwischen sich.

Die Ueberzeugung, daß man mir eine Falle gelegt, und der Verdruß darüber, daß ich in dieselbe gegangen war, hielten mich glücklicherweise davon ab, meiner Lage durch einen nutzlosen Kampf mit zwei Männern, von denen der eine wahrscheinlich allein schon mehr als genug für mich gewesen wäre, noch zu verschlimmern. Ich unterdrückte die erste natürliche Bewegung, durch welche ich versucht hatte, mich ihren Griffen zu entziehen, und blickte umher, um zu sehen, ob Niemand in der Nähe sei, dessen Hülfe ich anrufen könne.

Ein Bauer arbeitete in einem nahen Felde; er mußte gesehen haben, was sich zugetragen, und ich forderte ihn daher auf, uns nach der Stadt zu folgen. Er schüttelte mit dummer Beharrlichkeit den Kopf und ging fort einem Häuschen zu, das etwas von der Landstraße abgelegen war. Zu gleicher Zeit erklärten die beiden Männer, welche mich hielten, ihre Absicht, mich eines Angriffes auf sie anzuklagen. Ich war jetzt ruhig und klug genug, keine Einwendungen weiter zu machen. »Laßt meinen Arm los,« sagte ich, »und ich will Euch in die Stadt folgen.« Der Mann in der Wildhüterkleidung äußerte eine grobe Weigerung. Der andere aber war schlau genug, um an die Folgen zu denken, und seinem Gefährten nicht zu gestatten, sich durch unnütze Gewaltthätigkeit zu compromittiren. Er gab ihm ein Zeichen, und ich ging dann frei zwischen den Beiden.

Wir langten an der Biegung im Wege an, und da dicht vor uns war die Vorstadt von Knowlesbury. Einer der Ortsconstabler ging im Pfade am Wege entlang. Die Männer riefen ihn augenblicklich an. Er entgegnete, daß der Magistrat augenblicklich im Gerichtssaale versammelt sei und empfahl uns, uns sogleich dorthin zu begeben.

Wir gingen nach dem Rathhause. Der Gerichtsschreiber fertigte eine Vorladung aus, und die Anklage gegen mich wurde dann mit den bei solchen Gelegenheiten üblichen Uebertreibungen und Verdrehungen vorgebracht. Der Richter (ein unfreundlicher Mann mit einem sauren Wohlbehagen an der Ausübung seiner Macht) frug, ob irgend Jemand auf oder neben dem Wege Zeuge des Angriffes gewesen, und zu meiner großen Ueberraschung gaben die Kläger die Anwesenheit des Bauern im Felde zu. Ich wurde jedoch durch die nächsten Worte des Richters über den Zweck dieser Zugabe aufgeklärt. Er verwies mich sofort auf die Vorführung des Zeugen, wobei er zugleich seine Bereitwilligkeit aussprach, Bürgschaft für mein Erscheinen zu nehmen, falls ich ihm eine solche zu bieten im Stande sei. Wäre ich in der Stadt bekannt gewesen, so würde er mich auf mein eigenes persönliches schriftliches Unterpfand entlassen haben; da ich aber dort vollkommen fremd war, so war es nothwendig, daß ich eine verantwortliche Bürgschaft stellte.

Der ganze Zweck des Streiches war mir jetzt klar. Man hatte es so eingerichtet, daß ein gerichtlicher Aufschub nothwendig war in einem Orte, wo ich vollkommen fremd und es mir deshalb unmöglich war, meine Freiheit durch Bürgschaft wieder zu erhalten. Dieser Aufschub erstreckte sich auf blos drei Tage: bis zur nächsten Magistratssitzung. Doch inzwischen konnte Sir Percival, während ich im Gefängnisse saß, von allen möglichen Mitteln Gebrauch machen, um mein ferneres Fortschreiten zu verhindern – vielleicht sich ganz und gar gegen Entdeckung schützen – und zwar ohne von meiner Seite das geringste Hinderniß befürchten zu müssen. Nach Verlauf der drei Tage würde die Anklage ohne Zweifel zurückgenommen werden und das Erscheinen des Zeugen unnöthig sein.

Meine Entrüstung, ich möchte fast sagen meine Verzweiflung über diese unheilvolle Störung all’ meiner ferneren Fortschritte – die an sich so erbärmlich und unbedeutend, aber in ihren wahrscheinlichen Folgen so entmuthigend und bedeutungsvoll war – machte mich zuerst ganz unfähig, über die Mittel nachzusinnen, durch welche ich mich würde aus diesem Dilemma ziehen können. Ich war thöricht genug, Schreibmaterial zu fordern und daran zu denken, dem Magistrate im Vertrauen meine ganze Lage auseinanderzusetzen. Die Hoffnungslosigkeit und Unvorsichtigkeit eines solchen Verfahrens fiel mir nicht eher ein, als bis ich wirklich schon die ersten Zeilen des Briefes geschrieben hatte. Erst als ich das Papier wieder von mir gestoßen – und, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, als ich mich durch den Verdruß über meine hülflose Lage fast hatte besiegen lassen – bot sich plötzlich meinem Geiste ein Verfahren dar, auf welches Sir Percival wahrscheinlich nicht gerechnet hatte, und das mich in wenigen Stunden wieder in Freiheit setzen konnte. Ich beschloß, Mr. Dawson in Oak Lodge von der Lage zu unterrichten, in der ich mich befand.

Ich hatte das Haus dieses Herrn, wie man sich erinnern wird, bei Gelegenheit meiner ersten Nachforschungen in der Umgegend von Blackwater Park besucht und hatte ihm einen Brief von Miß Halcombe überbracht, in welchem diese mich ihm in den wärmsten Ausdrücken empfohlen. Ich schrieb jetzt und berief mich auf jenen Brief, sowie auf das, was ich Mr. Dawson damals von der zarten und gefährlichen Natur meiner Nachforschungen anvertraut hatte. Ich hatte ihn nicht mit der Wahrheit in Bezug auf Laura bekannt gemacht, sondern ihm meinen Zweck blos als von der größten Wichtigkeit für Familienangelegenheiten beschrieben, die Miß Halcombe nahe angingen. Indem ich auch jetzt noch dieselbe Vorsicht gebrauchte, erklärte sich ihm meine Anwesenheit in Knowlesbury auf dieselbe Weise – und überließ es dann dem Doctor zu bestimmen, ob das Vertrauen, welches eine Dame, die er wohl kannte, in mich gesetzt, und die Gastfreundschaft, welche ich selbst in seinem Hause erfahren, mich rechtfertigten, indem ich ihn bitte, mir in einem Orte zu Hülfe zu kommen, an dem ich vollkommen unbekannt sei.

Ich erhielt Erlaubniß, mir einen Boten zu miethen, der augenblicklich mit dem Briefe in einem Wagen wegfuhr, in welchem er den Doctor gleich mit zurückbringen konnte. Oak Lodge war zwischen Knowlesbury und Blackwater gelegen. Der Mann erklärte, er könne in vierzig Minuten hinfahren und in abermals vierzig Minuten den Doctor mit zurückbringen. Ich gab ihm Befehl, dem Doctor zu folgen, wo er auch sein möge, falls er ihn etwa nicht zu Hause fände – und setzte mich dann, um den Erfolg mit all’ der Ruhe und Geduld abzuwarten, die ich mir zu Hülfe zu rufen im Stande war.

Es war kaum halb zwei Uhr, als der Bote fortfuhr, und noch ehe es halb Drei geschlagen, kehrte er schon zurück und brachte den Doctor mit. Des Doctors Freundlichkeit und das Zartgefühl, mit dem er seinen schnellen Beistand wie eine Sache darstellte, die sich ganz von selbst verstehe, überwältigten mich fast. Die erforderliche Bürgschaft wurde sofort geboten und angenommen. Noch vor vier Uhr desselbigen Nachmittags konnte ich als freier Mann auf der Straße von Knowlesbury dem guten alten Doctor mit einem warmen Händedrucke danken.

Mr. Dawson gab mir eine gastfreundliche Einladung, mit ihm nach Oak Lodge zurückzukehren und die Nacht in seinem Hause zu bleiben. Ich konnte ihm nur antworten, daß meine Zeit nicht mir gehöre, und ihn nur um Erlaubniß bitten, ihm in wenigen Tagen meinen Besuch machen zu dürfen, um ihm die Versicherung meiner Dankbarkeit zu wiederholen und ihm alle Erklärungen zu geben, zu denen, wie ich fühlte, er berechtigt, die ich aber augenblicklich noch nicht zu machen in der Lage war. Wir schieden mit gegenseitigen Freundschaftsversicherungen, und ich wandte meine Schritte darauf sofort nach Mr. Wansborough’s Geschäftslocale in der Hochstraße.

Die Zeit war jetzt von der größten Bedeutung. Die Nachricht, daß ich durch Bürgschaft in Freiheit gesetzt worden, mußte Sir Percival unfehlbar noch vor Einbruche der Nacht erreichen. Falls die nächsten paar Stunden mich nicht so stellten, daß dadurch seine schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt wurden, und er hülflos in meine Macht gegeben war, so konnte ich jeden Zoll des Bodens, den ich gewonnen hatte, verlieren, um ihn nie wieder zu gewinnen. Der gewissenlose Charakter des Mannes, sein Einfluß in der Umgegend, die verzweifelte Gefahr der Blosstellung, mit der meine blindlings angestellten Nachforschungen ihn bedrohten – alles Dies ließ mich die Nothwendigkeit fühlen, der Entdeckung nachzusetzen, ohne auch nur eine Minute zu verlieren. Ich hatte, während ich Mr. Dawson’s Ankunft erwartet, Zeit zum Nachdenken gefunden und hatte guten Gebrauch von derselben gemacht. Gewisse Abschnitte in der Unterhaltung des redseligen alten Küsters, welche mich zur Zeit gelangweilt, stellten sich meinem Geiste jetzt in einem neuen bedeutungsvolleren Lichte dar, und es kam mir ein dunkler Verdacht, der mir in der Sacristei nicht in den Sinn gekommen war. Auf meinem Wege nach Knowlesbury hatte ich Nichts weiter beabsichtigt, als Mr. Wansborough in Bezug auf Sir Percival’s Mutter zu befragen. Jetzt aber beschloß ich, die Abschrift des Kirchenbuches zu Alt-Welmingham zu untersuchen.

Mr. Wansborough war auf seiner Expedition, als ich nach ihm frug.

Er war ein jovialer, freier, ruhiger Mann – er hatte mehr das Aussehen eines vergnügten Landmannes, als das eines Advocaten – und schien sowohl erstaunt als belustigt über mein Anliegen. Er hatte von seines Vaters Abschrift des Kirchenbuches allerdings gehört, sie selbst aber noch nie gesehen. Man hatte nie danach gefragt, doch werde es ohne Zweifel in der Sicherheitskammer unter den übrigen Papieren liegen, welche seit seines Vaters Ableben nie angerührt worden. Mr. Wansborough meinte, es sei jammerschade, daß der alte Herr nicht da sei, um zu hören, wie Jemand endlich seine kostbare Abschrift zu sehen verlange. Er würde danach sein Steckenpferd eifriger denn je geritten haben. Wie war ich dazu gekommen, von der Abschrift zu hören? Durch irgend Jemanden in der Stadt?

Ich wich diesen Fragen aus so gut ich konnte. Es war unmöglich, in diesem Stadium in meinen Nachforschungen zu vorsichtig zu sein, aber ebensosehr Mr. Wansborough nicht vor der Zeit wissen zu lassen, daß ich das Original bereits untersucht hatte. Ich gab ihm daher zu verstehen, daß ich in einer Familienangelegenheit Erkundigungen einziehe, bei der jeder Augenblick von größter Wichtigkeit sei. Ich wünsche ganz besonders noch mit der Abendpost gewisse Einzelheiten über die Sache nach London abzusenden, und ein einziger Blick in die Abschrift (wofür ich natürlich das übliche Honorar zahlen werde) könne mich von dem unterrichten, dessen ich bedürfe, um mir eine fernere Reise nach Alt-Welmingham zu ersparen. Ich fügte noch hinzu, daß, falls ich fernerhin noch eine Abschrift des Originals gebrauchte, ich mich dieserhalb an Mr. Wansborough wenden würde.

Nach dieser Erklärung von meiner Seite wandte er Nichts dagegen ein, mir die Abschrift zu zeigen. Es wurde ein Schreiber in die Sicherheitskammer hinaufgeschickt, und Derselbe kehrte nach einer Weile mit dem Buche zurück. Es war genau von derselben Größe, wie das in der Sacristei, und der einzige Unterschied zwischen beiden Büchern bestand darin, daß die Abschrift schöner gebunden war. Ich trug sie an ein leeres Pult. Meine Hände zitterten – meine Stirn glühte – ich war mir der Nothwendigkeit bewußt, meine Aufregung vor den Leuten, die im Zimmer anwesend waren, zu verbergen, ehe ich das Buch aufschlug.

Auf der leeren Seite am Anfange des Buches, welche ich zuerst betrachtete, standen mit vergilbter Tinte einige Zeilen geschrieben. Dieselben enthielten folgende Worte:

»Abschrift des Heirathregisters in der Pfarrkirche zu Alt-Welmingham. Auf meine Anordnung abgefaßt und später von mir selbst genau mit dem Originale verglichen. (Unterzeichnet:) Robert Wansborough, Kirchspielschreiber.«

Unter dieser Anmerkung stand eine Zeile in einer andern Handschrift:

»Berichtigt vom 1. Januar 1800 bis zum 30. Juni 1815.«

Ich wandte mich zum Monat September 1803. Ich fand die Heirath des Mannes, der meinen Taufnamen trug. Ich fand das doppelte Certificat der beiden Brüder, welche zugleich geheirathet hatten. Und zwischen diesen beiden am untern Ende der Seite –?

Nichts! Auch nicht die Spur von dem Certificate, welches im Kirchenbuche die Vermählung von Sir Felix Glyde und Cäcilia Jane Elster berichtete!

Mein Herz flog und pochte, als ob ich ersticken müßte. Ich blickte noch einmal hin – ich fürchtete meinen Augen zu trauen. Nein! Kein Zweifel mehr. Die Heirath war nicht verzeichnet. Die Certificate in der Abschrift nahmen genau dieselben Stellen auf der Seite ein, wie die im Originale. Das letzte auf der einen Seite war das des Mannnes mit meinem Taufnamen. Darunter war ein leerer Raum – offenbar leer gelassen, weil er nicht groß genug gewesen, um das doppelte Certificat der beiden Brüder aufzunehmen, welches in der Abschrift wie in dem Originale die Stelle an der Spitze der nächsten Seite einnahm.

Dieser Raum erzählte die ganze Geschichte! In dem Kirchenbuche mußte derselbe von 1803 an (wo die stattgehabten Vermählungen dort eingetragen worden) bis 1827 geblieben sein, wo Sir Percival in Alt-Welmingham erschien. Hier in Knowlesbury sah ich die Gelegenheit zu der Fälschung in der Abschrift, – und dort in Alt-Welmingham war dieselbe in dem Kirchenbuche benutzt worden!

Es schwindelte mir; ich hielt mich am Pulte fest, um nicht zu fallen. Von all’ den verschiedenen Arten des Verdachtes, welche sich mir in Bezug auf jenen verzweifelten Mann aufgedrängt hatten, war nicht eine einzige der Wahrheit nahe gekommen. Der Gedanke, er sei überhaupt gar nicht Sir Percival Glyde und habe nicht mehr Anrecht an der Baronetschaft und an Blackwater Park als der ärmste Bauer auf der Besitzung, war mir keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Zu einer Zeit hatte ich gedacht, er sei vielleicht Anna Catherick’s Vater; dann, daß er mit ihr verheirathet gewesen – aber das Vergehen, dessen er sich in Wirklichkeit schuldig gemacht, war meinen ausschweifendsten Muthmaßungen fern geblieben.

Ich war überwältigt von der Betrachtung der erbärmlichen Mittel, durch welche die Fälschung bewerkstelligt worden, durch die Größe und das Wagniß des Verbrechens und das Entsetzen vor den Folgen der Entdeckung desselben: Wer konnte sich jetzt noch über die brutale Unruhe der Lebensweise des Elenden wundern; über seine verzweifelten Abwechselungen zwischen verworfener Doppelzüngigkeit und rücksichtsloser Gewaltthätigkeit; über die Tollheit seines schuldbewußten Mißtrauens, in welchem er Anna Catherick in die Irrenanstalt gesperrt und in den schändlichen Verrath gegen seine Frau gewilligt hatte, in dem blosen Argwohne, daß die Eine wie die Andere sein furchtbares Geheimniß wisse? Die Enthüllung dieses Geheimnisses hätte in früheren Jahren Hinrichtung und jetzt lebenslängliche Deportation zur Folge haben können. Sie mußte ihn, selbst im Todesfall Derjenigen, welche durch den Betrug gelitten hatten, mit einem Schlage seines Namens, seines Ranges, seiner Besitzungen und der ganzen gesellschaftlichen Stellung berauben, die er sich angemaßt hatte. Dies war das Geheimniß, und es war mein! Ein Wort von mir und – Haus, Güter, Titel – er hatte Alles auf immer verloren, er wurde als namenloser, mittelloser, freundloser Ausgestoßener in die Welt hinaus getrieben! Des Mannes ganze Zukunft hing an meinen Lippen – und in diesem Augenblicke wußte er dies bereits ebenso gewiß, wie ich selbst!

Dieser letztere Gedanke gab mir einige Festigkeit wieder. Interessen, die mir weit kostbarer waren als meine eigenen, hingen von der Umsicht ab, welche jetzt meine geringsten Handlungen leiten mußte. Es gab keine erdenkliche Schändlichkeit, von der Sir Percival nicht Gebrauch gegen mich machen würde. In der Gefahr und Verzweiflung seiner Lage würde er sich durch kein Wagniß, durch kein Verbrechen zurückschrecken lassen – er würde buchstäblich vor Nichts erbeben, das ihn retten konnte.

Ich sann einen Augenblick nach. Die erste Nothwendigkeit für mich war, ein geschriebenes Zeugniß Dessen zu erhalten, was ich gesehen hatte, und dasselbe für den Fall, daß mir ein persönlicher Unfall begegnen sollte, so unterzubringen, daß Sir Percival seiner nicht habhaft werden konnte. Die Abschrift des Kirchenbuches war in Mr. Wansborough’s Sicherheitskammer wohl verwahrt. Das Original aber in der Sacristei war, wie ich mit eigenen Augen gesehen, nichts weniger als das.

In dieser dringenden Gefahr beschloß ich, nach der Kirche zurückzukehren, mich nochmals an den Küster zu wenden und mir, ehe ich mich für die Nacht schlafen legte, den nöthigen Auszug aus dem Kirchenbuche zu machen. Es war mir damals noch nicht bekannt, daß eine gerichtlich attestirte Abschrift nothwendig war, und daß kein Document, das ich allein abgefaßt, als genügender Beweis angenommen werden würde. Meine größte, einzige Sorge war die, nach Welmingham zurückzukehren. Ich erklärte so gut ich konnte die Bestürzung und Aufregung meines Wesens, welche Mr. Wansborough bereits bemerkt hatte, legte das Honorar auf den Tisch, kam mit ihm überein, daß ich ihm in wenigen Tagen schreiben werde, und verließ dann die Expedition, während mein Gehirn sich im Wirbel drehte und mein Blut in Fieberhitze durch meine Adern schoß.

Es fing eben an dunkel zu werden. Mir kam der Gedanke, daß man mich vielleicht auf der Landstraße abermals belauern und angreifen werde.

Mein Spazierstock war nur schwach und daher als Vertheidigungswaffe von wenig oder gar keinem Nutzen. Ich ging, ehe ich Knowlesbury verließ, in einen Kaufladen und versah mich mit einem starken Landknittel, der ziemlich kurz und am Kopfende gewichtig war. Mit dieser einfachen Waffe war ich jedem einzelnen Manne, der mich angreifen mochte, gewachsen. Falls mehr als Einer kamen, so konnte ich mich auf die Schnelligkeit meiner Beine verlassen. In meiner Schulzeit war ich ein berühmter Läufer gewesen, und es hatte mir seitdem, namentlich während meiner vielfachen Abenteuer in Central-Amerika, nicht an Uebung gefehlt.

Ich verließ die Stadt mit schnellen Schritten und hielt mich in der Mitte des Weges.

Es fiel ein nebelartiger kleiner Staubregen, und es war mir deshalb während der ersten Hälfte des Weges unmöglich, zu entdecken, ob ich verfolgt werde oder nicht. Als ich aber auf der letzten Hälfte angelangt und mich etwa zwei Meilen von der Kirche entfernt wähnte, sah ich einen Mann im Regen an mir vorbei laufen – und hörte dann ein Feldpförtchen am Wege heftig zuschlagen. Ich setzte meinen Weg gerade fort, wobei ich meinen Knittel zur Vertheidigung bereit hielt und mit Ohren und Augen die Finsterniß zu durchdringen mich anstrengte. Ehe ich noch hundert Ellen weiter geschritten, rauschte es in dem Gesträuche zu meiner Rechten, und drei Männer stürzten in den Weg hinaus.

Ich sprang augenblicklich zur Seite auf den Fußpfad hinauf. Die beiden ersten Männer wurden durch die Gewalt ihres Sprunges an mir vorbei getrieben; der dritte war schnell, wie der Blitz. Er stand still, wandte sich halb um und schlug mit seinem Stocke nach mir. Der Schlag geschah auf’s Gerathewohl und war kein sehr schmerzhafter; er fiel auf meine linke Schulter. Ich gab ihm denselben verstärkt auf den Kopf zurück Er taumelte und fiel gegen seine beiden Gefährten, gerade als diese auf mich losfahren wollten. Dieser Umstand gab mir einen augenblicklichen Vortheil. Ich schlüpfte an ihnen vorüber wieder in die Mitte des Weges hinein und rannte davon, so schnell, wie meine Füße mich nur tragen wollten.

Die beiden Unverletzten verfolgten mich. Sie waren Beide gute Läufer, der Weg glatt und eben, und während der ersten fünf Minuten war ich mir bewußt, daß ich die Entfernung zwischen mir und ihnen nicht vergrößerte. Es war eine gefährliche Sache, lange in der Dunkelheit dahin zu rennen. Ich konnte kaum die undeutliche schwarze Linie der Hecken zu beiden Seiten unterscheiden, und das geringste Hinderniß auf dem Wege hätte mich ohne Fehl niedergeworfen. Bald fühlte ich, daß der Boden sich veränderte: bei einer Biegung ging er abwärts und fing dann wieder an aufwärts zu steigen. Bergab kamen die Männer mir etwas näher, aber so wie es bergan ging, ließ ich sie bedeutend hinter mir zurück. Das rasche regelmäßige Stampfen ihrer Füße fiel immer schwächer an mein Ohr, und ich berechnete nach dem Klange, daß ich jetzt weit genug von ihnen sei, um in das Feld zu laufen, wobei ich dann Hoffnung hatte, daß sie in der Dunkelheit an mir vorbei laufen würden. Auf den Fußpfad springend eilte ich auf die erste lichte Stelle in der Hecke los, die ich mehr errieth als sah; dieselbe stellte sich als eine verschlossene Pforte heraus. Ich schwang mich hinüber und lief, im Felde angelangt, im gemessenen Trabe, mit dem Rücken der Landstraße zugewandt, über dasselbe hin. Ich hörte die Männer an dem Pförtchen vorüberrennen – dann, eine Minute später, wie der Eine den Andern zurückrief. Es war mir jedoch einerlei, was sie jetzt thaten, denn ich befand mich bereits außer ihrem Bereiche. Ich lief gerade über das Feld hin, und am entgegengesetzten Ende desselben angelangt, stand ich einen Augenblick stille, um wieder zu Athem zu kommen.

Es war unmöglich, mich auf die Landstraße zurückzuwagen; dennoch aber war ich fest entschlossen, diesen Abend noch nach Alt-Welmingham zurückzukehren.

Weder Mond noch Sterne ließen sich blicken, um mir zu leuchten. Ich wußte blos, daß ich, als ich Knowlesbury verlassen, Wind und Regen im Rücken gehabt, und falls ich diese Richtung auch jetzt beibehielt, so konnte ich wenigstens annehmen, daß es nicht die ganz verkehrte war.

Hiernach eilte ich über die Felder dahin – ohne andern Hindernissen als Gräben, Hecken und Gebüschen zu begegnen, welche mich hin und wieder nöthigten, ein wenig von meiner Richtung abzuweichen – bis ich mich auf einer Anhöhe fand, wo der Boden sich steil vor mir abwärts senkte. Ich stieg in die Vertiefung hinab, drückte mich durch eine Hecke und befand mich dann in einem Nebenwege. Da ich, als ich die Landstraße verlassen, mich rechts gewendet, so wandte ich mich, in der Hoffnung, dadurch wieder in die Linie zurückzukehren, welche ich verlassen, jetzt wieder links. Nachdem ich ungefähr zehn Minuten lang auf dem schmutzigen Nebenwege dahingegangen war, erblickte ich ein Häuschen, dessen Fenster erleuchtet waren. Das Gartenpförtchen nach der Straße zu war offen und ich trat sofort hinein, um mich nach dem Wege zu erkundigen.

Ehe ich noch an die Thür klopfen konnte, wurde dieselbe plötzlich geöffnet, und ein Mann kam mit einer brennenden Laterne herausgelaufen Er stand still und hielt die Laterne empor, und wir standen Beide überrascht da, als wir einander erblickten. Meine Irrfahrten hatten mich außen um das Dorf herum und am untern Ende desselben hinein geführt. Ich war in Alt-Welmingham, und der Mann mit der Laterne war Niemand Anderes als meine Bekanntschaft von heute Morgen: der alte Küster.

Sein Wesen schien sich, seit ich ihn zuletzt gesehen, auf seltsame Weise verändert zu haben. Er sah argwöhnisch und verändert aus, seine blühenden Wangen waren tief geröthet und seine ersten Worte, als er mich anredete, mir vollkommen unverständlich.

»Wo sind die Schlüssel?« frug er. »Haben Sie sie genommen?«

»Welche Schlüssel?« frug ich. »Ich komme in diesem Augenblicke aus Knowlesbury zurück. Von welchen Schlüsseln sprechen Sie?«

»Die Schlüssel zur Sacristei. Der Herr erbarme sich unser! Was soll ich machen? Die Schlüssel sind fort! Hören Sie wohl?« schrie der alte Mann, in seiner Aufregung die Laterne gegen mich schüttelnd, »die Schlüssel sind fort!«

»Wie? Wann? Wer kann sie genommen haben?«

»Ich weiß nicht,« sagte der Küster, in der Finsterniß wild um sich stierend. »Ich bin eben erst wieder nach Hause gekommen. Ich sagte Ihnen heute Morgen, ich habe heute lange zu thun – ich verschloß die Thür und das Fenster ebenfalls – und jetzt ist es offen – das Fenster ist offen. Sehen Sie! Es ist Jemand hineingestiegen und hat die Schlüssel genommen!«

Er wandte sich dabei nach dem Fenster zu, um mir zu zeigen, daß es offen war. Das Thürchen der Laterne öffnete sich bei seinem Schwenken derselben, und der Luftzug blies das Licht aus.

»Holen Sie sich schnell ein anderes Licht,« rief ich, »und lassen Sie uns dann zusammen nach der Sacristei eilen. Schnell! schnell!«

Ich trieb ihn ins Haus. Der Anschlag, den ich alle Ursache zu erwarten hatte und der mich jedes Vortheils berauben konnte, den ich bisher gewonnen, war vielleicht in diesem Augenblicke schon ausgeführt zu werden im Begriffe. Meine Ungeduld, nach der Kirche zu kommen, war so groß, daß ich, während der Küster nach Licht suchte, nicht unthätig in der Hütte bleiben konnte. Ich ging den Gartensteig entlang in die Straße hinunter. Ehe ich noch zehn Schritte gegangen war, kam mir ein Mann von der Kirche her entgegen. Er redete mich achtungsvoll an, als er mir näher kam. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen; doch nach der Stimme allein zu urtheilen war er« mir gänzlich fremd.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Percival –« begann er.

Ich unterbrach ihn, ehe er weiter sprechen konnte.

»Die Dunkelheit täuscht Sie,« sagte ich, »ich bin nicht Sir Percival.«

Der Mann trat schnell zurück.

»Ich glaubte, es sei mein Herr,« murmelte er auf verwirrte, unsichere Weise.

»Sie erwarteten, Ihren Herrn hier zu treffen?«

»Ich hatte Befehl, ihn hier im Nebenwege zu erwarten.«

Mit dieser Antwort ging er wieder in der Richtung zurück, aus der er gekommen war. Ich schaute mich nach der Hütte um und sah den Küster mit der Laterne herauskommen. Ich nahm des alten Mannes Arm, um ihm um so schneller fortzuhelfen. Wir eilten den Weg entlang und kamen an dem Manne vorbei, welcher mich angeredet hatte. So gut ich Dies bei dem Lichte der Laterne zu sehen vermochte, war er ein Diener ohne Livree.

»Wer ist das?« flüsterte der Küster. »Weiß er Etwas von den Schlüsseln?«

»Wir wollen uns nicht damit aufhalten, ihn zu fragen,« antwortete ich, »sondern schnell erst nach der Sacristei eilen.«

Die Kirche war selbst bei Tage nicht eher zu sehen, als bis man am Ende des Nebenweges stand. Als wir die kleine Anhöhe hinanstiegen, welche von diesem Punkte aus nach dem Gebäude führte, kam eins der Dorfkinder– ein Knabe – dicht zu uns heran und erkannte beim Lichte unserer Laterne den Küster.

»Wißt Ihr was, Meister,« sagte der Bursche, den Küster am Rocke zupfend, »’s ist da oben Wer in der Kirche. Ich hört’n die Thüre hinter sich schließen – und hört’n ein Licht anmachen.«

Der Küster zitterte und lehnte sich schwer auf meinen Arm.

»Kommt! kommt!« sagte ich, ihn ermuthigend »Wir kommen noch nicht zu spät. Wir wollen ihn fangen, wer er auch sei. Halten Sie die Laterne fest und folgen Sie mir, so schnell Sie können.«

Ich stieg schnell den Hügel hinan. Die dunkle Masse des Kirchthurms war das Erste, was ich undeutlich sich auf dem Nachthimmel abzeichnen sah. Als ich zur Seite bog, um nach der Sacristei zu gehen, hörte ich schwere Schritte dicht neben mir. Der Bediente war uns zur Kirche gefolgt. »Ich beabsichtige Ihnen kein Leides zu thun,« sagte er, als ich mich schnell zu ihm wandte; »ich suche blos meinen Herrn.«

Der Ton, in dem er Dies sagte, verrieth deutlich, daß er in Furcht war. Ich nahm keine Notiz von ihm und ging weiter.

Sowie ich um die Ecke kam und die Sacristei sehen konnte, sah ich, daß das Gewölbefenster auf dem Dache hell von innen erleuchtet war. Dasselbe leuchtete mit einer blendenden Helle gegen den dunkeln, sternlosen Himmel.

Ich lief durch den Kirchhof der Thüre zu.

Als ich näher kam, stahl sich ein sonderbarer Geruch durch die feuchte, stille Luft mir entgegen. Ich hörte drinnen ein Geräusch, wie von einem zusammenschnappenden Schlosse – ich sah das Licht oben heller und heller werden – eine Glasscheibe zersprang – ich rannte auf die Thüre zu und legte meinen Arm dagegen. Die Sacristei brannte!

Ehe ich mich noch rühren, ehe ich nach dieser Entdeckung Athem schöpfen konnte, erfüllte mich ein schwerer Fall von innen gegen die Thüre mit Entsetzen. Ich hörte, wie der Schlüssel heftig im Schlosse hin und her gedreht wurde – ich hörte hinter der Thüre die Stimme eines Mannes in entsetzlich gellenden Tönen um Hülfe schreien.

Der Bediente, der mir gefolgt war, fuhr schaudernd zurück und fiel auf seine Kniee. »O mein Gott!« rief er aus; »es ist Sir Percival!«

Als die Worte seinen Lippen entfuhren, trat der Küster zu uns – und in demselben Augenblicke ließ sich das Geräusch des Schlüssels im Schlosse noch einmal und zum letzten Male hören.

»Der Herr erbarme sich seiner Seele!« rief der Küster aus. »Er ist des Todes. Er hat das Schloß verdreht!«

Ich stürzte gegen die Thür. Der eine, Alles verzehrende Gedanke, der seit Wochen mein ganzes Innere erfüllt und alle meine Handlungen geleitet hatte, schwand in einer Secunde aus meinem Geiste. Alle Erinnerungen an das grenzenlose Elend, welches des Mannes herzloses Verbrechen verursacht hatte, an die Liebe, die Unschuld und das Glück, die er so erbarmungslos mit Füßen getreten, an den Eid, den ich im eignen Herzen geschworen, daß ich furchtbare Rechenschaft von ihm fordern wolle – schwand wie ein Traum aus meinem Gedächtnisse. Ich dachte an Nichts weiter, als an das Entsetzliche seiner Lage; ich fühlte Nichts als den natürlichen menschlichen Drang, ihn von einem furchtbaren Tode zu retten.

»Versuchen Sie die andere Thüre!« schrie ich ihm zu, »versuchen Sie die andere Thüre, die in die Kirche führt! Das Schloß ist verdreht. Sie sind des Todes, wenn Sie noch einen Augenblick dabei verlieren!«

Es hatte sich, als der Schlüssel zum letzten Male im Schlosse umgedreht wurde, kein erneuerter Hülferuf hören lassen, und es war jetzt kein Ton irgend einer Art mehr zu vernehmen, der uns bewiesen hätte, daß er noch am Leben sei. Ich vernahm Nichts, als das immer schnellere Knistern der Flammen und das scharfe Zerspringen der Glasscheiben im Gewölbefenster.

Ich sah mich um nach meinen beiden Begleitern. Der Diener war aufgestanden, hatte die Laterne ergriffen und hielt dieselbe mit geistesabwesendem Gesichte gegen die Thüre. Der Schreck schien ihn geradezu mit Blödsinn geschlagen zu haben – er wartete an meinen Fersen und folgte mir, wohin ich mich wandte, wie ein Hund. Der Küster saß kauernd, stöhnend und bebend auf einem Grabsteine. Der kurze Blick, den ich auf die Beiden warf, genügte, um mich zu überzeugen, daß ich von ihnen keine Hülfe zu erwarten hatte.

Indem ich kaum wußte, was ich that, und nur nach dem Drange meiner Gefühle handelte, erfaßte ich den Diener und stieß ihn gegen die Mauer der Sacristei. »Bücken Sie sich!« sagte ich, »und halten Sie sich an den Steinen. Ich werde über Sie auf’s Dach steigen – ich werde das Gewölbefenster einbrechen und ihm etwas Luft geben!«

Der Mann zitterte am ganzen Leibe, aber er stand fest. Ich stieg, mit meinem Knittel im Munde, auf seinen Rücken, faßte die Vormauer mit beiden Händen und hatte mich im Nu auf das Dach geschwungen: In der wahnsinnigen Eile und Aufregung des Augenblickes fiel es mir gar nicht ein, daß ich, anstatt blos die Luft hineinzulassen, die Flamme herauslassen würde. Ich schlug auf das Gewölbefenster und zerbrach das zersprungene, gelöste Glas mit einem Schlage. Das Feuer sprang heraus wie ein wildes Thier aus seinem Hinterhalte. Hätte der Wind es nicht glücklicherweise in der Richtung von mir fort getrieben, so hätten hiermit alle meine Bemühungen ihr Ende erreicht. Ich kauerte auf dem Dache nieder als Rauch und Flamme über mich herausströmten Das Leuchten des Feuers zeigte mir das Gesicht des Dieners, das blödsinnig zu mir heraufstierte; den Küster, der aufgestanden war und in Verzweiflung die Hände rang, und die spärliche Bevölkerung des Dorfes, bleiche Männer und erschrockene Frauen, die sich außerhalb des Kirchhofes drängten – die Alle in der furchtbaren Gluth der Flammen auftauchten und in dem schwarzen, erstickenden Rauche wieder verschwanden. Und der Mann unter mir! – der Mann der uns Allen so nahe und so hoffnungslos außer unserem Bereiche erstickte, verbrannte, starb!

Der Gedanke machte mich beinah wahnsinnig. Ich ließ mich an den Händen vom Dache herunter und fiel auf den Boden.

»Den Schlüssel zur Kirche!« schrie ich dem Küster zu. »Wir müssen es von der anderen Seite versuchen – wir mögen ihn noch retten können, wenn wir die innere Thür sprengen.«

»Nein, nein, nein!« schrie der alte Mann. »Keine Hoffnung! Der Schlüssel zur Kirchenthüre und der zur Sacristei sind an demselben Ringe – beide da drinnen! O, Sir, er ist nicht mehr zu retten – er ist jetzt schon Staub und Asche!«

»Sie werden das Feuer von der Stadt aus sehen,« sagte eine Stimme unter den Leuten zu mir. »Sie haben eine Feuerspritze in der Stadt. Sie werden die Kirche retten.«

Ich rief dem Manne zu – er wenigstens hatte noch etwas Geistesgegenwart – ich rief ihm zu, er möge zu mir kommen. Es mußte wenigstens eine Viertelstunde währen, ehe die Feuerspritze uns zu Hülfe kommen konnte. Der grauenvolle Gedanke, so lange in Unthätigkeit zu bleiben, war mehr als ich ertragen konnte. Trotz Allem, was meine eigene Vernunft mir sagte, überredete ich mich, daß der Unglückliche bewußtlos in der Sacristei am Boden liege und noch nicht todt sei. Falls wir die Thür sprengten, konnten wir ihn nicht noch retten? Ich wußte, wie stark das schwere Schloß war und wie dick die Thür von nägelbeschlagenem Eichenholze – ich wußte, wie hoffnungslos es sei, eins oder das andere auf gewöhnlichem Wege anzugreifen. Aber gab es denn in den abgerissenen Hütten rund umher keinen Balken? Konnten wir uns nicht einen solchen holen und ihn als Sturmbock gegen die Thür anwenden?

Der Gedanke sprang auf in mir, wie die Flammen durch das zerschlagene Gewölbefenster gesprungen waren. Ich sprach zu dem Manne, welcher zuerst der Feuerspritze erwähnt hatte: »Haben Sie Ihre Spitzaxt zur Hand?« Ja, sie hatten sie. »Und ein Beil, eine Säge und einen Reif?« Ja! ja! ja! »Fünf Schillinge für Jeden, der mir hilft!« Die Worte gaben ihnen Leben. Jener gierige zweite Hunger der Armuth: der Hunger nach Geld brachte sie sofort in Bewegung und Thätigkeit. »Zwei von Euch – bringt noch Laternen mit, wenn Ihr welche habt! Zwei holen Spitzhacken und Brechwerkzeuge! Die Anderen mir nach, um einen Balken zu holen.« Sie schrieen – mit gellenden, verhungerten Stimmen schrieen sie Hurrah! Die Frauen und Kinder stoben zu beiden Seiten auseinander. Wir stürzten zusammen den Pfad vom Kirchhofe der ersten leeren Hütte zu hinunter. Kein Mann blieb zurück, außer dem Küster – dem armen, alten Küster, der schluchzend und jammernd auf einem Grabsteine den Verlust der Kirche betrauerte. Der Bediente folgte mir noch immer auf den Fersen; sein weißes, hülfloses, entsetztes Gesicht blickte dicht über meine Schulter hinweg, als wir uns in die Hütte drängten. Es lagen Sparren von der abgerissenen Decke am Boden – doch waren sie zu leicht. Ein Balken lag oben über unseren Häupten, doch nicht außer dem Bereiche unserer Arme und Hacken – ein Balken, der an beiden Enden in der zerfallenden Mauer festsaß, um den der Boden und die Decke fortgebröckelt war und über dem ein großes Loch im Dache den Himmel zeigte. Wir griffen den Balken an beiden Enden zugleich an. O Gott! wie fest er saß – wie uns Stein und Kalk widerstand. Wir hackten und hieben und rissen. Der Balken wich an einem Ende – er stürzte herunter, gefolgt von einer Schuttmasse. Die Weiber, die sich alle um den Eingang drängten, um uns zuzuschauen, stießen einen Schrei aus – die Männer einen lauten Ausruf – zwei von ihnen lagen am Boden, doch unverletzt. Noch einen Riß mit gesammter Anstrengung – der Balken war an beiden Enden los. Wir hoben ihn auf und befahlen, am Eingange Raum zu machen. Jetzt ans Werk! Jetzt auf sie Thür los! Da ist das Feuer, das zum Himmel hinan speiet, heller denn je, um uns zu leuchten! Vorsichtig, den Pfad entlang, vorsichtig mit dem Balken – auf die Thüre zu. Eins, zwei, drei – und los! Das Hurrahrufen erschallte unbezähmbar. Wir haben die Thür bereits erschüttert; die Angeln müssen sich lösen, falls das Schloß sich sprengen läßt. Noch einen Stoß mit dem Balken! Eins, zwei, drei – los! Sie weicht! Das schleichende Feuer leckt uns aus jeder Spalte an. Noch einen letzten Stoß! Die Thür bricht krachend ein. Eine große, angsterfüllte, athemlose, erwartungsvolle Stille hält jede lebende Seele umfangen. Wir suchen nach dem Körper. Die sengende Hitze, die unseren Gesichtern begegnet, treibt uns zurück: wir sehen Nichts – oben, unten, im ganzen Zimmer sehen wir nichts als eine große Flammenmasse.

»Wo ist er?« flüsterte der Diener, blödsinnig in die Flammen stierend.

»Er ist Staub und Asche,« sagte der Küster. »Und die Bücher sind Staub und Asche – und o, Ihr Herren! die Kirche wird auch bald Staub und Asche sein.«

Sie waren die einzigen Beiden, welche sprachen. Als sie wieder schwiegen, war Nichts weiter zu hören, als das Knistern und Lodern der Flammen.

Horch!

Ein scharfer, rasselnder Ton aus der Ferne – dann das hohle Trampeln von Pferdefüßen im schnellen Gallopp – dann das Getöse, der Alles übertönende Tumult von Hunderten von menschlichen Stimmen, die Alle zugleich schreien und rufen. Endlich ist die Feuerspritze da.

Die Leute um mich her wandten sich Alle vom Feuer dem Gipfel der Anhöhe zu. Der alte Küster versuchte, ihnen zu folgen, aber seine Kraft war erschöpft. Ich sah, wie er sich an einem der Grabsteine festhielt. »Rettet die Kirche!« rief er mit matter Stimme, wie wenn er schon jetzt von den Feuerleuten gehört zu werden erwartete. »Rettet die Kirche!«

Der Einzige, der sich nicht rührte, war der Bediente. Da stand er – die Augen noch immer mit demselben geistesabwesenden Blicke auf die Flammen geheftet. Ich redete auf ihn hinein und schüttelte ihn am Arme: er war nicht zu erwecken. Er flüsterte blos immer wieder: »Wo ist er?«

In zehn Minuten war die Spritze aufgestellt; aus dem Brunnen auf der Hinterseite der Kirche versah man sie mit Wasser und trug dann den Schlauch an den Eingang der Sacristei. Falls man jetzt der Hülfe von mir bedurft, so hätte ich sie nicht leisten können. Meine Willenskraft war fort – meine Kräfte erschöpft – der Aufruhr meiner Gedanken war jetzt, da ich wußte, er sei todt, auf furchtbare, plötzliche Weise gestillt. Ich stand nutzlos und hülflos da und stierte in das brennende Zimmer hinein.

Ich sah,wie man langsam das Feuer überwältigte. Die Helle der Gluth erbleichte – der Dampf erhob sich in weißen Wolken und die glimmenden Aschenhaufen zeigten sich roth und schwarz auf dem Boden. Es trat ein Stille ein – dann begaben sich die Leute von der Feuerbrigade und von der Polizei an den Eingang – es erfolgte eine Berathung von leisen Stimmen – und dann wurden zwei von den Männern durch die Menge hindurch fortgeschickt. Die Menge wich zu beiden Seiten zurück, um sie durchzulassen.

Nach einer Weile rann ein großes Entsetzen durch das Gedränge, die lebendige Allee wurde langsam breiter. Die Männer kamen auf derselben mit einer Thür aus einer der leeren Hütten zurück. Sie trugen dieselbe an die Sacristei und gingen hinein. Die Polizei umringte abermals den Eingang; die Leute schlichen sich zu Zweien und Dreien aus der Menge heraus und stellten sich hinter die Polizei, um es zuerst zu sehen. Andere warteten in der Nähe, um es zuerst zu hören. Frauen und Kinder gehörten zu den Letzteren.

Die Berichte aus der Sacristei fingen an, unter die Menge zu kommen – dieselben fielen langsam von Munde zu Munde, bis sie den Ort erreichten, an dem ich stand. Ich hörte die Fragen und Antworten mit leisen, eifrigen Stimmen um mich her wiederholen.

»Haben sie ihn gefunden?« »Ja.« – »Wo?« »An der Thür. Mit dem Gesichte an der Thür.« »An welcher Thür?« »An der Thür, die in die Kirche führt.« – »Ist sein Gesicht verbrannt?« »Nein.« »«Ja.« »Nein; versengt, aber nicht verbrannt. Er lag mit dem Gesichte gegen die Thür gelehnt, sag’ ich Euch ja.« – »Wer war er? Ein Lord, sagen sie.« »Nein, kein Lord. Sir Soundso; Sir heißt soviel wie Ritter.« »Und wie Baronet.« »Nein.« »Ja doch.« »Was wollte er da drinnen?« »Nichts Gutes, kannst Du glauben!« – »That er es vorsätzlich?« »Ob er sich vorsätzlich verbrannt hat!« – »Ich meine nicht sich selbst, sondern ob er die Sacristei vorsätzlich verbrannt hat.« – »Sieht er sehr schrecklich aus?« »Entsetzlich!« – »Aber nicht im Gesichte?« »Nein, nein; im Gesichte nicht so schlimm.« – »Kennt ihn kein Mensch?« »Es ist da ein Mann, der sagt, er kennt ihn.« – »Wer?« »Ein Bedienter, heißt es. Aber er scheint ganz verdummt zu sein und die Polizei glaubt ihm nicht.« – »Weiß kein Mensch, wer es ist?« »Stille –!«

Die laute, klare Stimme eines Mannes in Autorität brachte das leise summende Gespräch um mich her augenblicklich zum Schweigen.

»Wo ist der Herr, der ihn zu retten versuchte?« frug die Stimme,

»Hier, Sir – hier ist er!« Dutzende von eifrigen Gesichtern drängten sich um mich, und Dutzende von Armen trennten die Menge. Der Mann in Autorität kam mit einer Laterne in der Hand zu mir heran.

»Hierher, Sir, wenn’s gefällig ist,« sagte er ruhig.

Es war mir nicht möglich, zu ihm zu sprechen und unmöglich, mich ihm zu widersetzen, als er meinen Arm faßte. Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich den Todten nie zu dessen Lebzeiten gesehen – daß keine Hoffnung vorhanden sei, ihn durch einen Fremden, wie ich war, zu identificiren. Aber die Worte erstarben mir auf den Lippen. Ich war schwach und stille und hülflos.

»Kennen Sie ihn, Sir?«

Ich stand mitten in einem Kreise von Männern. Drei von ihnen, die mir gegenüber standen, hielten Laternen tief am Boden. Ihre Augen und die Augen aller Uebrigen waren erwartungsvoll auf mein Gesicht gerichtet. Ich wußte, was zu meinen Füßen lag – ich wußte, warum sie die Laternen so tief am Boden hielten.

»Können Sie ihn identifizieren, Sir?«

Meine Blicke senkten sich langsam. Zuerst sahen sie nichts als ein grobes Canevastuch. Das Tröpfeln des Regens auf dasselbe war deutlich zu hören. Ich blickte weiter hinauf an dem Canevastuche entlang, und da am Ende, steif, grimmig und schwarz in dem gelben Scheine – da lag sein todtes Gesicht.

So sah ich ihn zum ersten und letzten Male. Es war Gottes Wille gewesen, daß er und ich einander so begegneten!



Kapiteltrenner

XI.

Die Todtenschau wurde aus gewissen Localgründen, welche bei dem Leichenbeschauer und den städtischen Behörden ins Gewicht fielen, beeilt. Dieselbe fand am Nachmittage des folgenden Tages statt. Ich war nothwendigerweise unter den Zeugen, welche für die Untersuchung vorgeladen wurden.

Mein Erstes am nächsten Morgen war, nach der Post zu gehen und den Brief zu fordern, den ich von Mariannen erwartete. Kein Wechsel der Verhältnisse, so außerordentlich derselbe auch sein mochte, konnte die eine große Sorge, die auf meinem Herzen lag, während ich von London abwesend war, in den Hintergrund drängen. Der Brief mit der Frühpost, welcher mir die einzige Sicherheit war, daß sich während meiner Abwesenheit kein Unfall ereignet hatte, war zugleich das ausschließliche Interesse, mit welchem mein Tag begann.

Zu meiner Beruhigung fand ich Mariannens Brief an mich auf der Post.

Es hatte sich Nichts ereignet – sie waren Beide so wohl und sicher, wie zur Zeit, da ich sie verlassen. Laura schickte mir ihren Gruß und bat mich, sie einen Tag vor meiner Rückkehr von derselben in Kenntniß zu setzen. Ihre Schwester fügte, um mir diesen Wunsch zu erklären, hinzu, daß sie »beinah einen Sovereign« aus ihrem eigenen Verdienste erspart habe und daß sie sich das Privilegium erbeten, das kleine Diner, das meine Heimkehr feiern sollte, selbst zu bestellen und anzuordnen. Ich las diese häuslichen kleinen Mittheilungen im hellen Morgenlichte mit der furchtbaren lebendigen Erinnerung an Das, was sich gestern Abend zugetragen hatte. Die Nothwendigkeit, Laura vor einer plötzlichen Kenntniß der Wahrheit zu schützen, war die erste Betrachtung, welche dieser Brief mir ins Gedächtniß rief. Ich schrieb augenblicklich an Marianne und erzählte ihr Alles, was vorgefallen, indem ich sie so allmälich und sorgsam wie möglich auf die Nachricht vorbereitete und sie warnte, Laura um keinen Preis während meiner Abwesenheit ein Zeitungsblatt in die Hände fallen zu lassen. Irgend einem anderen, weniger muthigen und weniger zuverlässigen Weibe gegenüber, hätte ich wohl gezögert, so ohne Rückhalt die ganze Wahrheit zu enthüllen. Aber Mariannen war ich es schuldig, meinen früheren Erfahrungen in Bezug auf sie treu zu bleiben und ihr zu vertrauen, wie ich mir selbst vertraute.

Mein Brief wurde nothwendigerweise ein langer, und er beschäftigte mich bis zu dem Augenblicke, wo ich nach der Todtenschau aufbrechen mußte.

Der gerichtlichen Untersuchung legten sich manche Verwickelungen und Schwierigkeiten in den Weg. Außer der Untersuchung über die Art und Weise, wie der Verstorbene seinen Tod gefunden, gab es ernste Fragen in Bezug auf die Ursache des Feuers, die Wegnahme der Schlüssel und die Anwesenheit des Fremden in der Sacristei zur Zeit, wo das Feuer ausbrach, zu lösen. Selbst die Identification des todten Mannes hatte noch nicht stattgefunden. Der hülflose Zustand des Dieners hatte die Polizei abgehalten, sein angebliches Erkennen seines Herrn als maßgebend anzunehmen. Sie hatte in der Nacht nach Knowlesbury geschickt, um sich Zeugen zu verschaffen, die mit Sir Percival Glyde’s persönlichem Aussehen genau bekannt waren, und hatte frühmorgens Boten nach Blackwater Park abgesandt. Diese Maßregeln setzten den Leichenbeschauer und die Geschworenen in den Stand, die Frage über die Identität zu lösen und die Richtigkeit der Behauptung des Dieners zu bestätigen, welches Zeugniß dann durch die Entdeckung gewisser Thatsachen, durch die Aussage competenter Zeugen und eine Untersuchung der Uhr des Verstorbenen noch bekräftigt wurde, welche Letztere inwendig Sir Percival Glyde’s Namen und Wappen trug.

Die nächsten Nachfragen bezogen sich auf das Feuer.

Der Diener, ich und der Knabe, welcher gehört hatte, wie in der Sacristei ein Licht angemacht worden, waren die ersten Zeugen, welche aufgerufen wurden. Der Knabe machte seine Angabe klar genug; aber des Dieners Geist hatte sich noch nicht von dem Schlage erholt, der ihn betroffen – es war augenscheinlich, daß er nicht im Stande war, den Zweck der Untersuchung zu fördern und erhielt derselbe daher Befehl, abzutreten.

Zu meiner Erleichterung währte mein Verhör nicht lange. Ich hatte den Verstorbenen nicht gekannt; hatte ihn nie gesehen; hatte von seiner Anwesenheit in Alt-Welmingham Nichts gewußt und war nicht zugegen gewesen, als man den Körper in der Sacristei gefunden. Alles, was ich beweisen konnte, war, daß ich in die Wohnung des Küsters getreten, um mich nach dem Wege zu erkundigen; daß ich von ihm von dem Verluste der Schlüssel gehört; daß ich ihn nach der Kirche begleitet, um ihm alle Hülfe zu leisten, die in meiner Macht war; daß ich das Feuer gesehen; daß ich gehört, wie im Innern der Sacristei Jemand, der mir unbekannt war, vergebens das Schloß zu öffnen versuchte; und daß ich gethan, was ich gekonnt – aus blosen Menschlichkeitsgründen – um den Mann zu retten. Andere Zeugen, welche mit dem Verstorbenen bekannt gewesen, wurden befragt, ob sie das Geheimniß seiner angeblichen Wegnahme der Schlüssel und seiner Anwesenheit in dem brennenden Zimmer erklären könnten. Aber der Leichenbeschauer nahm es natürlicherweise für ausgemacht an, daß ich als Fremder in der Nachbarschaft und für Sir Percival Glyde nicht im Stande sein würde, irgendwie Zeugniß über diese beiden Punkte abzulegen.

Mein Verfahren, nachdem mein förmliches Verhör vorüber war, schien mir vollkommen klar. Ich fühlte mich nicht berufen, mich zu einer freiwilligen Angabe meiner persönlichen Ueberzeugungen zu erbieten; erstens, weil dies keinem praktischen Zwecke dienen konnte, jetzt da jeder Beweis für meine Muthmaßungen mit dem Kirchenbuche verbrannt war; zweitens, weil ich meine Ansicht nicht auf verständliche Weise hätte auseinandersetzen können, ohne die ganze Geschichte von dem Complotte zu enthüllen und ohne wahrscheinlich auf den Leichenbeschauer und die Geschworenen denselben unbefriedigenden Eindruck zu machen, den ich bereits auf Mr. Kyrle gemacht hatte.

In diesen Blättern jedoch und nach einem so langen Zeitraume brauchen solche Berücksichtigungen die freie Mittheilung meiner Ansichten nicht länger zu hindern. Ich will daher, ehe meine Feder sich wieder mit anderen Ereignissen beschäftigt, kurz andeuten, auf welche Weise meine eigene Ueberzeugung mir die Wegnahme der Schlüssel, das Ausbrechen des Feuers und den Tod des Mannes erklärt.

Die Nachricht, daß ich wider Erwarten auf Bürgschaft frei gelassen, trieb, wie ich mir denke, Sir Percival auf seine letzten Hülfsmittel zurück. Der Angriff gegen mich auf der Landstraße war das eine derselben, und die Beseitigung jeden thatsächlichen Beweises seines Verbrechens, durch die Vernichtung des Blattes im Kirchenbuche, auf dem die Fälschung begangen, war das zweite und sicherste von beiden. Falls ich keinen geschriebenen Auszug aus dem Kirchenbuche beibringen konnte, damit derselbe mit der beschworenen Abschrift in Knowlesbury verglichen würde, so hatte ich keinen entschiedenen Beweis gegen ihn und konnte ihm daher nicht damit drohen, ihn durch Bloßstellung zu Grunde richten zu wollen. Alles, dessen er für seinen Zweck bedurfte, war, daß er ungesehen in die Sacristei gelangte, daß er das Blatt aus dem Kirchenbuche risse und dann die Sacristei ebenso unbemerkt, wie er sie betreten, wieder verließe.

Nach dieser Voraussetzung ist leicht zu begreifen, warum er bis Einbruch der Nacht wartete und warum er die Abwesenheit des Küsters benutzte, um sich die Schlüssel zu verschaffen. Er war gezwungen, ein Licht anzumachen, um das betreffende Kirchenbuch zu finden, und die gewöhnlichste Vorsicht erforderte, daß er die Thür von innen verschloß, für den Fall, daß irgend ein neugieriger Fremder oder etwa ich ihn zu stören käme, falls ich zufällig in der Nähe war.

Ich kann nicht glauben, daß es irgendwie in seiner Absicht gelegen, die Vernichtung des Kirchenbuches im Lichte eines Unfalles erscheinen zu lassen, indem er die Sacristei vorsätzlich in Brand steckte. Die blose Möglichkeit, daß schnelle Hülfe kommen und die Bücher etwa gar gerettet würden, mußte nach kurzer Ueberlegung genügt haben, um ihn den Gedanken wieder aufgeben zu lassen. Wenn ich an die Masse leicht entzündbarer Gegenstände in der Sacristei denke – an das Stroh, die Papiere, die Packkisten, das trockene Holz und die wurmstichigen alten Schränke– so deuten alle Wahrscheinlichkeiten meiner Ansicht nach darauf hin, daß das Feuer die Folge eines Unfalles war, den er entweder mit seinen Zündhölzchen oder seinem Lichte gehabt hatte.

Sein erster Impuls war unter diesen Umständen ohne Zweifel der, die Flammen zu löschen, und der zweite, da ihm dies mißlang (und er mit dem Zustande des Schlosses unbekannt war) der Versuch, durch die Thür, durch die er gekommen, zu entfliehen. Als ich ihm zugerufen, mußten die Flammen sich über die Thür, welche in die Kirche führte, erstreckt haben, zu deren beiden Seiten die Schränke standen und um welche herum die brennbaren Gegenstände lagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er, als er durch die innere Thür zu entfliehen versucht, von dem Rauche (und den Flammen (die keinen Ausweg aus dem Zimmer fanden) überwältigt worden. Er mußte in seiner Todesohnmacht – gerade in dem Augenblicke, wo ich auf das Dach gesprungen war und das Fenster einschlug – auf der Stelle hingesunken sein, an der man ihn fand. Selbst falls es uns später gelungen wäre, in die Kirche zu dringen und die Thür von der Seite zu sprengen, so mußte der Verzug doch schon tödtlich gewesen sein. Er konnte zu der Zeit längst nicht mehr zu retten sein. Wir hätten den Flammen nur freien Eingang in die Kirche gestattet, welche jetzt gerettet war, die aber in jenem Falle das Schicksal der Sacristei getheilt haben würde. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß er schon, ehe wir noch in der leeren Hütte anlangten und mit aller Gewalt arbeiteten, um den Balken zu lösen, todt gewesen sein mußte.

Dies ist die nächste Annäherung an eine Erklärung, die ich mir über ein Resultat zu machen im Stande bin, das eine sichtbare Thatsache war. Wie ich sie beschrieben habe, so trugen sich draußen die Ereignisse vor unsern Augen zu. Und so, wie ich es erzählt habe, wurde seine Leiche gefunden.

Die Leichenschau wurde auf einen Tag vertagt; denn es war Nichts entdeckt worden, was das Auge des Gesetzes als genügende Erklärung der geheimnißvollen Umstände des Falles hätte anerkennen können.

Man kam überein, noch mehr Zeugen zu vernehmen und den Rechtsanwalt des Verstorbenen aus London zu verschreiben. Auch wurde ein Arzt beauftragt, über den geistigen Zustand des Dieners zu berichten, da derselbe augenblicklich unfähig schien, irgendwie Zeugniß von Wichtigkeit abzulegen. Er konnte blos auf eine geistesabwesende Art und Weise wiederholen, daß er am Abende des Feuers Befehl erhalten, in dem Nebenwege zu warten, und daß er weiter von Nichts wisse, außer daß der Verstorbene ganz gewiß sein ehemaliger Herr sei.

Meine eigene Ueberzeugung ging dahin, daß man ihn (ohne schuldiges Mitwissen von seiner Seite) dazu gebraucht hatte, sich von der Abwesenheit des Küsters zu überzeugen und dann im Nebenwege (doch außer Gesichtsweite von der Sacristei) zu warten, um für den Fall, wo ich dem Angriffe auf der Landstraße entginge und hier mit Sir Percival zusammenträfe, seinem Herrn Beistand zu leisten. Ich muß jedoch hinzufügen, daß des Mannes eigene Aussage diese meine Ansicht nie bestätigt hat. Der ärztliche Bericht über ihn lautete dahin, daß das Wenige, was er an Geistesfähigkeit besitze, ernstlich erschüttert sei; in der vertagten Untersuchung wurde nichts Befriedigendes aus ihm herausgebracht, und soviel ich weiß, ist er bis auf diesen Tag noch nicht wieder hergestellt.

Ich kehrte geistig und körperlich so erschöpft und durch Alles, was ich durchgemacht, so geschwächt und niedergedrückt zum Gasthofe in Welmingham zurück, daß ich nicht im Stande war, die Unterhaltung über die Leichenschau und die trivialen Fragen zu ertragen, welche die Gäste im Kaffeezimmer an mich richteten. Ich zog mich nach meinem frugalen Mittagsmahle auf mein schlichtes Dachstübchen zurück, um mir etwas Ruhe zu gönnen und ungestört an Laura und Marianne denken zu können.

Falls ich ein reicherer Mann gewesen, so wäre ich nach London gefahren, um mich noch diesen Abend durch den Anblick der beiden lieben Angesichter zu erquicken. Aber ich war verpflichtet, bei der vertagten Untersuchung zu erscheinen und doppelt verpflichtet vor der Behörde in Knowlesbury, der für mich geleisteten Bürgschaft nachzukommen. Unser bescheidenes Kapital hatte bereits ohnedies gelitten, und die zweifelhafte Zukunft – jetzt zweifelhafter denn je – ließ mich fürchten, dasselbe unnöthigerweise noch zu verringern, wenn es selbst nur die unbedeutende Ausgabe einer doppelten Eisenbahnfahrt zweiter Klasse war.

Den nächsten Tag – den, welcher unmittelbar dem Tage der Leichenschau folgte – hatte ich zu meiner eigenen Verfügung. Ich begann den Morgen, indem ich mir erst wieder den regelmäßigen Bericht von Mariannen auf der Post abholte. Ich fand denselben wie gewöhnlich vor, und er war durchweg mit frohen Lebensgeistern geschrieben. Ich las den Brief voll Dankbarkeit durch und machte mich dann auf den Weg nach Alt-Welmingham, um den Schauplatz des Feuers beim Tageslicht in Augenschein zu nehmen.

Welche Veränderungen fielen mir, dort angelangt, ins Auge!

Durch alle Wege unserer unerfaßlichen Welt geht das Triviale mit dem Furchtbaren Hand in Hand. Die Ironie der Verhältnisse schont keine Katastrophe der Sterblichkeit. Als ich bei der Kirche anlangte, war der zertrampelte Zustand des Begräbnißplatzes die einzige ernste Spur, welche von dem Feuer und dem Tode noch zurückgeblieben. Ein roher Bretterverschlag war vor dem Eingange der Sacristei errichtet. Bereits waren grobe Carricaturen auf denselben gezeichnet, und die Dorfkinder schrieen und balgten sich um das beste Guckloch, um in die Brandstätte zu schauen. An der Stelle, wo ich den Hülferuf aus dem brennenden Zimmer gehört, an der Stelle, wo der von Entsetzen ergriffene Diener auf seine Knie gesunken, kratzte jetzt eine geschäftige Hühnerfamilie nach Regenwürmern – und auf dem Boden zu meinen Füßen, wo die Thür mit ihrer grauenvollen Last gelegen, stand das Mittagsmahl eines Arbeiters in einer gelben Schüssel in ein Tuch gebunden, und sein treuer Hund, welcher es bewachte, bellte mich an, als ich der Stelle zu nahe kam. Der alte Küster, welcher in Müßigkeit dem langsamen Anfange der Ausbesserungen zuschaute, hatte jetzt nur ein Interesse, über das er schwatzen konnte – daß er selbst nämlich nach diesem Unfalle allem Tadel entginge. Eines der Dorfweiber, deren weißes, wildes Gesicht sich mir als ein Bild des Entsetzens gezeigt, als wir den Balken heruntergerissen, stand jetzt kichernd – ein Bild der Nichtigkeit – mit einer anderen Frau beim Waschkübel. Es giebt nichts Ernstes in der Sterblichkeit! Selbst bei Salomo in all’ seiner Glorie lauerten in jeder Falte seiner Gewänder, in jedem Winkel seines Palastes die Elemente des Verächtlichen.

Als ich den Ort verließ, dachte ich – nicht zum ersten Male – daran, wie für jetzt wenigstens alle Hoffnung darauf, Laura’s Identität zu behaupten, durch Sir Percival’s Tod über den Haufen geworfen war. Er war todt – und mit ihm die Aussicht, auf die ich meine größten Hoffnungen gebaut hatte.

Konnte ich das Mißlingen meiner Bemühungen aus keinem besseren Gesichtspunkte ansehen?

Gesetzt, er wäre am Leben geblieben – würde diese Veränderung der Verhältnisse den Erfolg verändert haben? Hätte ich – selbst um Laura’s willen – meine Entdeckung als eine verkaufbare Waare benutzen können, nachdem ich gesehen, daß der Raub der Rechte Anderer das Wesen von Sir Percival’s Verbrechen ausmachte? Hätte ich ihm den Preis meines Schweigens für sein Bekenntniß des Complotts bieten können, wenn die Wirkung dieses Schweigens die sein mußte, dem rechtmäßigen Erben sein Besitzthum und dem rechtmäßigen Eigenthümer seinen Namen vorzuenthalten? Unmöglich! Falls Sir Percival am Leben geblieben, so lag es nicht in meiner Macht, die Entdeckung, von der ich (in meiner Unkenntniß der wahren Natur des Geheimnisses) so viel gehofft hatte, zu verschweigen oder bekannt zu machen, wie ich es eben zur Behauptung der Rechte Laura’s nöthig erachtet hätte. Nach den allergewöhnlichsten Regeln der Redlichkeit und Ehre hätte ich sofort zu dem Fremden gehen müssen, dessen Erbrecht Jener sich angemaßt – ich hätte meinem Siege in dem Augenblick, wo ich ihn gewonnen, entsagen müssen, indem ich die Entdeckung ohne Vorbehalt in die Hände dieses Fremden gab – und ich hätte abermals all’ den Schwierigkeiten entgegentreten müssen, die sich zwischen mir und dem einen Zwecke meines Lebens erhoben – gerade wie ich auch jetzt noch im Innersten meines Herzens entschlossen war, denselben entgegenzutreten!

Ich kehrte mit ruhigerem Gemüthe nach Welmingham zurück, indem ich mich über mich selbst und meinen Entschluß sicherer fühlte, als ich noch bisher gethan.

Auf meinem Wege nach dem Gasthofe ging ich an dem einen Ende des Platzes vorbei, in welchem Mrs. Catherick wohnte. Sollte ich nach dem Hause zurückgehen und noch einen Versuch machen, sie zu sehen? Nein. Jene Nachricht von Sir Percival’s Tode, welche die letzte Nachricht war, die sie zu hören erwartete, mußte längst zu ihr gedrungen sein. Das ganze Verfahren bei der Leichenschau war in  dem Intelligenzblatte des betreffenden Tages beschrieben worden: ich hatte ihr Nichts zu erzählen, was sie nicht bereits wußte. Mein Interesse, sie zum Sprechen zu bewegen, hatte abgenommen. Ich gedachte des heimlichen Hasses, der sich in ihrem Gesichte aussprach, als sie sagte: »Es giebt keine Nachrichten über Sir Percival, auf die ich nicht vorbereitet wäre – ausgenommen die Nachricht seines Todes.« Ich gedachte des lauernden Blickes, mit dem sie nach diesen Worten beim Scheiden meine Gestalt betrachtete. Ein Instinct tief in meinem Herzen, von dem ich fühlte, daß er ein wahrer sei, machte mir den Gedanken, sie wiederzusehen, im höchsten Grade zuwider – ich wandte mich von dem Platze ab und ging geradezu nach dem Gasthofe zurück.

Einige Stunden später, als ich allein im Gastzimmer saß, überbrachte mir der Kellner einen Brief. Derselbe war an mich adressirt und, wie man mir sagte, gerade vor Dunkelwerden, ehe das Gas angezündet gewesen, von einer Frau abgegeben worden. Sie hatte Nichts gesagt und war schon wieder fortgegangen, ehe man noch Zeit gehabt, zu ihr zu sprechen oder zu bemerken, wer sie sei.

Ich öffnete den Brief. Derselbe war weder datirt noch unterzeichnet, und die Handschrift war sichtbar verstellt. Doch ehe ich noch den ersten Satz zu Ende gelesen, wußte ich, wer der Schreiber sei. Mrs. Catherick.

Der Brief lautete folgendermaßen. – Ich schreibe ihn Wort für Wort ab:



Kapiteltrenner


Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte