In der Dämmerstunde



Die Erzählung des Professors von der gelben Maske

Einleitung

Bei meinem letzten Aufenthalte in London empfing ich eines Tages einen kleinen schlecht geschriebenen Brief, der meine Frau und mich überraschte und belustigte.

Sein Inhalt bestand in einzelnen Sätzen, welche verrieten, dass ihn ein Fremder geschrieben habe. Er lautete:

»Professor Tizzi grüßt den Künstler Kerby freundlichst und wünscht, dass der Künstler sein Bild zeichne.

Dasselbe soll graviert und einem umfangreichen Werke »Vital-Prinzipien« oder »die unsichtbare Lebenskraft«, als Titelkupfer dienen, welches der Professor eben für den Druck und somit für die Nachwelt vorbereitet.

Der Professor wird fünf Pfund für die Zeichnung geben; außerdem wird der Künstler die Freude haben, dass das Bild ein Gegenstand der Betrachtung für das Publikum späterer Zeiten sein wird. Der Professor wird es dankbar aus den Händen des Künstlers entgegennehmen, wenn dieser es für die bezeichnete Summe malen will.

Sollte der Künstler Zweifel erheben, dass ihm die Summe auch ausgezahlt werde, so wird ein Freund des Professors, der ehrenwerte Mister Lanfray zu Rockleigh, die Bürgschaft dafür übernehmen.«

Der sonderbare Schluss des Briefes ließ mich vermuten, dass sich irgend einer meiner mutwilligen Freunde einen Scherz mit mir erlaubt habe und ich beschloss schon, die Zeilen ins Feuer zu werfen; aber mit der nächsten Post erhielt ich einen Brief von Mister Lanfray, welcher meine Zweifel löste und mich auch bestimmte, die Bekanntschaft des gelehrten Entdeckers der Lebensessenz zu machen.

Lanfray schrieb, dass Tizzi ein etwas überspannter Italiener sei, der früher eine Professur an der Universität zu Padua gehabt, dass er ihn seit Jahren kenne, dass die Wissenschaft sein Steckenpferd und Eitelkeit seine Leidenschaft seien. Der Professor habe ein Buch über die unsichtbare Kraft des Lebens geschrieben, welches außer ihm wahrscheinlich Niemand lesen werde. Diesem Werke solle das Bild des Autors vorangesetzt werden.

Lanfray gab mir noch den Rat, die Arbeit nicht abzulehnen, denn die Bekanntschaft des sonderbaren Gelehrten würde mir viel des Bemerkenswerten bieten. Er fügte hinzu, dass Tizzi seiner politischen Ansichten wegen Italien verbannt sei und nun seit vielen Jahren in England lebe. Das Geld, welches er von seinem Vater, der Postmeister im nördlichen Italien war, geerbt hatte, sei für Bücher und Experimente ausgegeben, aber für die kleine Summe, welche die Zeichnung kostet, wolle er gern einstehen, schloss Lanfray.

Professor Tizzi lebte in dem nördlichen Teile von London. Sein Häuschen war schmutzig von außen und innen, das sah ich gleich. Ich klingelte zwei Mal an dem zerbrochenen Gitter, dann erschien ein schmutziger Mann, mit gelbem Gesicht und fremdem Accent in der Sprache, der führte mich, nachdem ich ihm meinen Namen und die Angelegenheit die mich her führte, genannt hatte, durch einen kleinen vernachlässigten Garten in das Haus. Bei dem ersten Tritt auf den Hausflur sah ich mich von Büchern umgeben, die eng aneinander gepackt, auf Brettern standen. Auf den Treppen, im Vorzimmer, in den nächsten Zimmern, überall gab es nichts Anderes als Bücher!

»Hier ist der Maler!« rief der alte Diener und zeigte mir an, dass ich in das Sprechzimmer eintreten könnte.

Auch hier sah ich wieder nichts als Bücher, sowohl an den Wänden wie auf dem Fußboden.

An einem Tische, der überreich mit Manuskripten und Büchern bedeckt war, entdeckte ich einen Kopf und eine Hand, die sich abwehrend mir entgegenstreckte. Es schien ein Zeichen zu sein, dass ich nicht sprechen möge.

Ich sah mich im Zimmer um. Auf den mächtigen Bücherschränken standen Gläser mit Spiritus angefüllt, in der Flüssigkeit schwammen seltsame Gegenstände. Von der Decke hing schwarzes Spinnengewebe lang herab. Die Fenster schienen nie gereinigt zu sein, und von dem Fußboden wirbelte der Staub bei meinen Tritten hoch empor.

Nachdem ich dies Alles einige Sekunden schweigend beobachtet hatte fiel die warnende Hand des Professors mit lautem Geräusch auf einen Stoß Manuskripte nieder, dann warf der Vertiefte das Buch, welches keine Unterbrechung gestattet hatte, weit von sich in die andere Ecke und rief: »Ich werde dies mit Beweisen widerlegen!« Dann blickte er noch einen Moment wohlgefällig auf die Staubwolken, welche das Buch aufwirbelte und wandte sich zu mir.

Welch eine mächtige weiße Stirn! Welche glänzenden schwarzen Augen! Wie groß und schön der ganze Kopf, umrahmt von weißen Haaren!

Ich fühlte, dass ich diesen Kopf, so arm ich auch war, gern ohne Bezahlung malen würde. Tizian, Van Dyke, Velasquez und noch andere Größen würden diesen Mann sogar für seine Sitzungen bezahlt haben.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ,« begann der alte Mann mit außerordentlicher Reinheit der englischen Sprache, »aber das absurde Buch hatte mich so gefesselt, dass ich Sie nicht gleich empfangen konnte Mister Kerby.«

»Sie sind also in der Tat geneigt, mein Bild für einen so geringen Preis zu zeichnen?« fragte er und erhob sich dabei.

Ich sah, dass er einen langen schwarzen Sammetrock trug, der wunderbar zu der ganzen Erscheinung passte.

Ich erklärte ihm, dass die gebotene Summe von fünf Pfund die übliche sei für derartige Arbeiten.

»Es scheint mir sehr wenig«, entgegnete der Professor, »aber wenn Sie berühmt werden wollen, so kann ich dazu beitragen.

»Dort liegt mein großes Werk; es ist das Ebenbild meines Geistes und der Spiegel meiner Gelehrsamkeit, aber wenn das Publikum nun auch noch mein Bild an der Spitze des Werkes findet, so kann es meine äußere und innere Bekanntschaft gleichzeitig machen.

»Ihre Zeichnung soll graviert und Ihr Name darunter gesetzt werden; so werden Sie durch ein Werk mit auf die Nachwelt kommen, welches eine ganze Epoche in der menschlichen Wissenschaft bilden wird. —

»Das Vital-Prinzip oder mit anderen Worten, das geheime Etwas, das wir Leben nennen, und das sich über die Menschen, wie über die kleinsten Insekten und die unbedeutendsten Pflanzen ausbreitet, ist bis jetzt ein unerklärliches Rätsel gewesen. Aber ich habe es gelöst! Hier liegt die Auflösung!«

Mit diesen Worten zeigte der interessante alte Mann auf die riesenhaften Manuskript-Berge.

Ich sah, er erwartete eine Äußerung von mir, und ich fragte schüchtern, ob diese Arbeit nicht viel Zeit und Mühe gekostet habe.

»Ich bin jetzt siebzig Jahre,« antwortete der Professor, »und mit zwanzig Jahren habe ich das Werk begonnen. Ich schrieb es in der englischen Sprache, obgleich ich noch drei andere weiß, als einen Beweis meiner Dankbarkeit für die englische Nation, die mir ein Asyl gewährte als mein Vaterland mich vertrieb.

»Sie denken vielleicht, dass dies die ganze Arbeit ist, o nein! Es sind jetzt schon zwölf Bände vollendet und ich finde, dass der Gegenstand meiner Bearbeitung noch nicht halb erschöpft ist. Zwei Bände bestimmte ich dazu, die Theorien der älteren und neueren Philosophen der Welt über die Vital-Prinzipien zu prüfen. — Zwei Bände füllten sich mit den Beweisen, dass jene Theorien falsch waren.«

»Zwei weitere Bände schrieb ich über den Stoff, aus denen die zwei ersten Wesen gebildet waren, die von ihren Nachkommen Adam und Eva genannt werden.

»Zwei Bände schrieb ich — aber «, unterbrach sich der Professor, »da stehe ich nun und spreche anstatt dass ich Ihnen zu meinem Bilde sitze.

»Bitte, nehmen Sie doch, wo Sie wollen, Bücher von dem Fußboden und bereiten Sie sich einen Sitz! Ich habe keine Möbel, weil diese mir nur im Wege sein würden.«

Ich folgte diesem Rate und hatte mir auch bald einen Haufen Bücher zu einem Sitze zusammengetragen.

Als ich damit fertig war, trat der alte Diener mit einer Art Präsentierteller in der Hand, in das Zimmer, auf welchem ich eine Brotrinde ein Stückchen Knoblauch, ein Glas Wasser und Essig und Öl entdeckte.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Mister Kerby, werde ich mein Frühstück einnehmen,« sagte der Professor, als das Mahl vor ihm stand.

Dann rieb er das Brot mit dem Knoblauch, bis es glänzte, danach goss er ein klein wenig Öl und Essig darauf und streute Salz und Pfeffer darüber. Und mit einem freudig gierigen Blick schnitt er sich mit dem Messer den ersten Bissen von der gewürzten Brotkruste ab.

»Das ist das beste Frühstück!« sagte er zu mir, »das ist kein kannibalisches Töten von Hühner-Leben, gewöhnlich Ei genannt; keines toten Tieres Fleisch, Blut oder Knochen, gewärmt mit Feuer, gewöhnlich Beefsteak genannt; nicht ein Frühstück, wie es Löwen, Tiger oder Wilde einnehmen, es ist ein einfaches Mahl aus Pflanzenstoffen zur Erquickung eines Philosophen, ein Frühstück, welches einen Preiskämpfer anwidern, aber einen Plato entzückt haben würde.«

Ich zweifelte nicht daran, dass er Recht habe, aber ich war so wenig erbaut von dem Lobe seines Mahles, dass mir fast übel zu Mute wurde, und da meine Hände von den Büchern sehr staubig geworden waren, so bat ich um etwas Waschwasser, bevor ich zeichnen würde. — Ich suchte natürlich nur einen Entschuldigungsgrund, damit ich dem Mahle nicht länger zuzusehen genötigt sei.

Der Philosoph sah mich erstaunt an, es schien ihm meine Bitte wahrscheinlich sehr sonderbar, aber er klingelte und befahl seinem Bedienten, mich in das Schlafzimmer zu führen.

Der Anblick dieses Zimmers bot eine neue Überraschung für mich. Das Lager, welches der Philosoph nach der Tagesarbeit aufsuchte, war mit Rollen versehen, aber es war so elend, dass man gewiss sehr wenig dafür erhalten hätte wenn es zum Verkaufe ausgeboten worden wäre.

An der einen Seite desselben hing ein männliches Skelett von der Decke herab. Es machte den Eindruck, als habe sich hier Jemand vor etwa hundert Jahren erhenkt und keine Hand habe seitdem den Selbstmörder berührt. — An der anderen Seite stand ein Tisch mit allen möglichen Präparaten in Spiritus, die dem Muskelsystem anzugehören schienen; außerdem sah man in Gläsern fremdartige Dinge eingeschlossen, sie glichen den Eingeweidewürmern; daneben lag des Professors Haarbürste mit einem letzten Reste von Borsten und Überbleibseln seines weißen Bartes; einzelne Stücke eines Barbier-Apparates, ein zerbrochener Schuhanzieher und ein kleiner Spiegel im Werte von einigen Pfennigen.

Bücher lagen auch hier, wie überall, auf dem Fußboden, und an den Wänden waren anatomische Bilder festgenagelt. Im Zimmer lagen verschiedene zusammengewickelte Handtücher; es sah aus, als wäre dasselbe mit ihnen bombardiert worden, so waren sie zusammen geknäult. Außer anderen sonderbaren Gegenständen enthielt das Schlafzimmer einen großen ungeschorenen ausgestopften Pudel, der auf einem Tische stand und über ein Paar Beinkleider des Professors Wache zu halten schien, denn er hielt seine Vorderpfoten darauf.

Ich erstaunte bei meinem Eintritt in das Zimmer über das Skelett und jetzt wieder über den Hund.

Sind Sie erschrocken?« fragte der alte Diener und, setzte hinzu: »Der Eine ist gerade so gut tot wie der Andere.«

Damit entfernte er sich.

Ich fand nur wenig Wasser und keine Seife.

Als ich das Zimmer verließ, sah ich noch einmal nach dem Pudel und fand auf dem Brett, worauf er befestigt war, das Wort: »Scarammucia«, wahrscheinlich nannte man das Tier früher so, dachte ich, gewiss hat ihn der Professor hier zur Erinnerung an vergangene Tage aufstellen lassen.

Als ich wieder zu dem Philosophen eintrat, hatte er sein Frühstück bereits vollendet und bereitete sich eben auch einen Sitz. Ich zog Papier und Kreide hervor und das Zeichnen begann.

»Es sind schöne anatomische Präparate in meinem Zimmer, nicht wahr, Mister Kerby?« fragte Tizzi. »Diese Gegenstände sind in meinem Werke umständlich besprochen.«

»Sie werden mich sehr unwissend finden,« entgegnete ich, »aber ich muss sagen, am meisten interessierte mich der ausgestopfte Pudel in dem Zimmer, und ich setze voraus, er sei einst Ihr Liebling gewesen.«

»Nein, nein,« antwortete Tizzi, »er war der Liebling einer jungen Dame bevor ich noch geboren wurde.

»Die Lebenskraft in diesem Hunde muss eine sehr starke gewesen sein, er wurde fabelhaft alt und spielte eine sehr wichtige Rolle in einem Romane des wirklichen Lebens, wie Sie Engländer das zu nennen pflegen. Wenn ich hätte den Hund zergliedern können, so würde er an der Spitze meines Werkes »über tierisches Leben« stehen.«

Hier ist eine Geschichte in Aussicht, sagte ich zu mir, wenn ich seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand richte.

»Ja, ja,« sagte der Professor, »Scarammucia« würde eines der Beispiele gewesen sein, die meine Theorien unterstützen; leider starb er, bevor ich das Licht der Welt erblickte. Seine Herrin übergab ihn, so ausgestopft wie Sie ihn da sahen, meinem Vater und dieser hinterließ ihn wieder mir als Erbstück.«

Er verließ seinen Sitz und sagte: »Mister Kerby ich habe große Lust, Ihnen einige meiner Präparate zu zeigen.«

Allein ich bat ihn schnell, sich jetzt nicht mehr zu bewegen, wenn er wollte, dass sein Bild ähnlich werde.

Er kehrte zu seinem Sitz zurück und ich bat ihn nun, mir die Geschichte des Pudels mitteilen zu wollen.

Diese Aufforderung schien ihm vielleicht von sehr schlechtem Geschmack zu zeugen, und ich merkte wohl, dass er sich ungern von seinem »großen Werke« losriss. Ich werde mir erlauben, die Geschichte, zu der ich nun gelangte, mit meinen eigenen Worten zu erzählen und ich füge gleich hier hinzu, dass ich niemals das Bild, welches ich von dem Professor aufnahm, gedruckt zu sehen bekam.

Professor Tizzi lebt zwar noch, aber ich sehe vergeblich nach der Anzeige seines »großen Werkes« in den Zeitungen nach. Vielleicht fügt er dem Werke noch zwei Bände zu und häuft somit immer mehr die Schulden der Nachwelt für seine Arbeit an.


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