In der Dämmerstunde



Die Erzählung des Anglers von der Lady von Glenwith Grange

Einleitung

Meine Maler Tätigkeit war nicht immer mit menschlichen Bildnissen beschäftigt, sondern man überließ mir auch das Malen von Pferden, Hunden, Gebäuden u.s.w. Einmal hatte ich sogar den Auftrag, einen Stier, der der Ruhm, aber auch oft der Schrecken seines — Dorfes war, zu malen, der, nebenbei bemerkt, mein unruhigster Kunde war. Das Tier hatte den treffenden Namen: »Donner und Blitz.« Sein Eigentümer war ein entfernter Verwandter von meiner Frau; ein gebildeter Pächter, namens Garthwaite. Dass der Stier mich nicht auf seine Hörner nahm und tötete, bevor ich noch sein Bild vollendet hatte, ist mir bis heute unerklärlich. Als »Donner und Blitz« mich und meine Malergeräthschaften erblickte, wurde er so wütend, dass zwei Männer ihn halten mussten, während ihm ein dritter einen Ring durch die Nasenlöcher zog; nun erst konnte ich zu malen anfangen. Aber das Tier machte fortwährend Anstrengung, sich zu befreien. Er schüttelte sein riesiges Haupt und rollte die großen Augen wild vor Verdruss, dass er mich nicht aufspießen konnte, da ich mir erlaubte, ihn fortwährend fest anzublicken.

Als ich das Bild von meinem unruhigen Kunden kaum halb vollendet hatte, ging ich eines Morgens mit meinem Freunde zu dem Stall des Tieres; es kam uns aber schon auf dem halben Wege einer der Gutsarbeiter entgegen und meldete, dass »Donner und Blitz« heute in einer so außerordentlich wilden Laune sei, dass es unmöglich sein würde, an seinem Bilde zu arbeiten.

Ich blickte fragend auf meinen Freund, den Gutsherren, dieser lächelte und bemerkte: Nun, wenn es heute nicht geht, so wird es morgen gehen! — Hätten Sie nicht Lust, Mister Kerby, heute mit mir eine Angelpartie zu unternehmen, da der Stier Ihnen Ferien gibt?

Ich gestand aufrichtig, dass ich nichts von der Fischerei verstünde; aber Mister Garthwaite war ein so eifriger Angler, dass ihn mein Geständnis durchaus nicht störte: »Daran ist nichts zu lernen,« entgegnete er, »ich werde Sie in kurzer Zeit zu dem geübtesten Angler machen, wenn Sie meinen Anweisungen folgen.«

Es war unmöglich, noch länger zu widerstreben und ich nahm mit geheimem Widerwillen die erste Angelrute in meine Hand.

»Wir werden jetzt aufbrechen!« sagte Mister Garthwaite; »ich werde Sie nun zu dem besten Mühlbach führen, der hier in der ganzen Nachbarschaft ist.«

Mir war das ziemlich gleichgültig, ob wir früher oder später gingen, ob der Mühlbach gut oder schlecht sei. Ich ging geduldig und etwas missvergnügt mit.

Nachdem wir eine Weile gegangen waren, hörte ich schon deutlich das Rauschen des Wassers.

Garthwaite bezeichnete nun eine recht tiefe Stelle des Wassers als die geeignetste für den Fischfang, und bevor ich noch meine Angelschnur abgewickelt hatte, ließ er die seinige schon ruhig auf dem Wasser schwimmen.—

Das Losmachen war nicht die einzige Schwierigkeit bei meiner neuen Beschäftigung, denn nachdem ich die Schnur glücklich von der Rute gelöst hatte, griff der Angelhaken in meine Kleidungsstücke, und ich fing, statt der Fische, meinen Hut, mein Jaquet, meine Weste, Hosen und schließlich meinen Daumen. Ein böser Geist musste in den Angelhaken gefahren sein, denn nun ward auch gar mein Hemd von ihm gefangen, kurz, ich hatte mich selbst gefesselt und konnte nicht von der Stelle. Mein Freund sprang helfend herbei und mit der Hilfe meines Taschenmessers gelang es ihm auch bald, mich von dem Haken zu befreien. Nachdem diese Unannehmlichkeit beseitigt war, fingen wir ernstlich an zu angeln.

Wir fingen wohl einige kleine Fische, die indes nicht viel wert waren. Ich wunderte mich, dass wir bei unserer langweiligen Beschäftigung noch einen Zuschauer fanden.

Der Müllergeselle hatte sich auf das Gitter eines kleines Gärtchens gestützt und blickte unaufhörlich, und wie es schien, mit großer Aufmerksamkeit auf unsere Angeln. —

Nachdem wir ungefähr zwei Stunden vergeblich nach größeren Fischen geangelt hatten, erklärte Mister Garthwaite, es müsse in der Nacht ein Fischdieb dagewesen sein, der die großen Bewohner des Baches weggefangen habe. — Dann forderte er mich auf, mit ihm noch weiter zu gehen, er wolle mir ergiebigere Stellen für die Angel zeigen. Die kleinen Weißfischchen, die bei uns angebissen hatten, wurden verächtlich in die feuchte Tiefe zurückgeschleudert und ihnen das Leben bis zu einem andern Besuche geschenkt.

Wir gingen; aber der unermüdliche Müllers blieb noch immer wie festgenagelt auf seinem Beobachtungsposten.

»Warten Sie ein wenig!« sagte Mister Garthwaite, nachdem wir ein Weilchen schweigend neben einander gegangen waren, »ich habe eine glückliche Idee! Da wir doch diesen Tag zum Angeln bestimmt haben, so will ich Sie wohin führen, wo wir nicht wieder vergeblich unsere Angeln auswerfen werden; außerdem kann ich Sie da gleich einer Dame vorstellen, welche Sie sehr interessieren wird, denn sie hat eine höchst merkwürdige Lebensgeschichte, die ich Ihnen ja gelegentlich einmal erzählen kann.«

»Wirklich?« fragte ich. »In welcher Beziehung ist denn ihre Geschichte merkwürdig?«

»Sie steht im Zusammenhang mit den Verhältnissen ihrer Familie, die hier in einem alten Hause in unserer Nachbarschaft auch lebte. Die Dame heißt eigentlich Miss Welwym aber die armen Leute hier in unsrer Gegend, die sie vergöttern, nennen sie die Lady von Glenwith Grange. Fragen Sie mich nicht weiter nach ihr, bis Sie sie gesehen haben! Sie lebt in strenger Zurückgezogenheit und ich bin fast der einzige Besuch, den sie empfängt; auch darf ich wohl einen Freund mitbringen, weil die Dame weiß, dass ich nie Missbrauch von ihrer Erlaubnis gemacht habe,« sagte Garthwaite.

»Die Lady wohnt kaum zwei Meilen von hier und in der Nähe ihres Hauses ist das fischreiche Glenwith-Becken, wie die Leute es hier nennen, dort werden wir unsere Angeln auswerfen.«

Während wir gingen, wurde Mister Garthwaite schweigsam und gedankenvoll, was mir umso mehr auffiel, da es seine gewöhnliche Art nicht war. Die Erinnerung an Miss Welwyn musste also diese Veränderung in ihm hervorgebracht haben. Ich schritt schweigend neben ihm einher und spähte, ob sich Glenwith Grange noch immer nicht erblicken ließe.

Wir hielten endlich bei einer kleinen Kirche an, welche an dem äußersten Ende eines hübschen Dörfchens stand. Die niedrige Kirchhofmauer war von einer Seite von Bäumen begrenzt, es befand sich hinter den Bäumen ein kleines Gitter, dessen Tür Mister Garthwaite öffnete, wir gingen durch und traten in ein Gebüsch, welches zu dem bezeichneten Wohnhaus führte.

Wir kamen an der Rückseite des Gebäudes an, weil wir einen Privatweg eingeschlagen hatten. Ich blickte zu dem Hause hinauf und gewahrte an einem der Fenster ein ungefähr neunjähriges Mädchen, welches uns kommen sah. Ich musste sie einen Augenblick betrachten, denn ihr dunkles Haar und ihr reiner Teint harmonierten so schön zusammen. Ihr Gesicht hatte eine unaussprechliche Anziehungskraft und ich mochte mein Auge nicht von ihr wenden. —

Mister Garthwaite sah meine Aufmerksamkeit für das hübsche Gesichtchen; er ergriff meinen Arm und flüsterte mir zu: »sagen Sie nicht, dass Sie das arme Kind gesehen haben! Ich werde Ihnen später mitteilen warum.« Dann führte er mich schnell nach der Vorderfront des Hauses.

Es war ein traurig aussehendes altes Gebäude mit einem großen Grasplatz davor. Schlingpflanzen umzogen die großen Steine, die hier und dort zerstreut lagen und rankten auch angeordnet bis zu den niedrigen Fenstern hinauf.

Eine Grabesstille hing über das Haus und seine nächste Umgebung; — sie schien mich auch ergriffen zu haben, denn als mein Gefährte die Hausglocke zog, wollte es mir wie ein Unrecht erscheinen, dass diese heilige Ruhe so plötzlich gestört werden sollte. Als die alte Dienerin die Tür öffnete, dachte ich es mir noch immer unwahrscheinlich, dass wir diese Schwelle überschreiten würden; doch wir traten in das Haus. Das Innere des Hauses zeigte dieselbe Stille als seine äußere Umgebung; kein Hundegebell ließ sich hören, es knarrten weder Türen noch steckten neugierige Dienstleute die Köpfe hervor. Wir traten in ein großes saalartiges Zimmer, welches halb wie ein Bibliothek-Zimmer, halb wie ein Frühstückszimmer erschien. Auf einem Stuhle lag zusammen gekauert eine Angora-Katze und schlief und in einem großen Käfig saß stumm und ernst ein alter grauer Papagei. Mister Garthwaite sprach nicht; er hatte sich an das Fenster gestellt und blickte nach außen. Ich unterbrach die allgemeine Schweigsamkeit nicht, sondern blickte neugierig im Zimmer umher; denn ich wollte von seiner Ausstattung auf den Charakter der Eigentümerin schließen.

Zuerst fesselten meine Aufmerksamkeit zwei mit Büchern bedeckte Tische. Sonderbar! Die moderne Literatur, die in unseren Tagen von Millionen verschlungen wird, war auch nicht durch ein Exemplar hier vertreten. Jedes Werk, welches ich ansah, hatte schon vor fünfzehn oder zwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt. Die Noten waren auch alle aus der Zeit Haydn’s und Mozarts. Man sah, die Besitzerin liebte es, sich in frühere Zeiten zu versetzen; denn alle geistigen Werke, die hier vorhanden waren, hatten ein viertel Jahrhundert hinter sich. Als ich mich noch mit diesen Bemerkungen beschäftigte, öffnete sich die Tür und die Dame des Hauses erschien selbst.

Man sah es ihr an, dass der Frühling des Lebens längst hinter ihr lag; aber trotzdem hatte ich doch früher nie ein Gesicht gesehen, welches so viel von seiner ehemaligen Schönheit bewahrt hatte. Wahrscheinlich waren schwere Sorgen an dieser Dame vorübergegangen, aber sie hatten ihr Antlitz nicht entstellt, sondern ihm nur den Ausdruck der Entschlossenheit verliehen. Ihr Gesichtsausdruck war jugendlich geblieben, aber das Haar fing an zu ergrauen, und um den Mund zogen einige seine Fältchen und der Ernst in ihrem Auge zeugte von beginnendem Alter. An dem Ton ihrer Stimme konnte man leicht erkennen, dass sie viel gelitten habe; aber diesen Leiden war es doch nicht gelungen, das Äußere dieser Erscheinung zu Grunde zu richten. Mister Garthwaite und die Dame begrüßten sich wie Verwandte, denn 59 ihre Freundschaft war schon eine seit langer Zeit bestehende.

Unser Besuch war ein kurzer. Die Unterhaltung bewegte sich in ganz gewöhnlicher Weise, ich hatte also nur Gelegenheit, die Dame nach der Ausstattung ihres Zimmers zu beurteilen, und doch hatte sie mich so gefesselt, dass ich es sehr ungern sah, als wir uns so schnell wieder entfernten. Ich bedauerte, dass ich ihr nie näher treten konnte, denn ich fühlte deutlich, dass sie weder geneigt sei, neue Bekanntschaften anzuknüpfen, noch konnte ich, ein Fremder hoffen, ihre Sympathie für mich erweckt zu haben.

Sobald wir uns von Miss Welwyn verabschiedet hatten und auf dem Wege zu dem Bach waren, drückte ich meinem Begleiter meinen Dank für diese interessante Bekanntschaft aus und bat ihn, mir doch etwas über die Dame oder das Kind mitteilen zu wollen; allein er entgegnete, dass er mir dann erst die Geschichte der Lady erzählen wolle, wenn wir bei dem Angeln sein würden. Nach fünf Minuten war auch das Bächlein erreicht dessen Wasser anmutig von den Bäumen gefärbt erschien; es floss leise murmelnd dahin. Wir setzten uns nahe nebeneinander unter die Bäume, deren Zweige über dem Wasser hingen, und nachdem Garthwaite seine und meine Angel in das Wasser gesenkt, begann er die folgende Geschichte.



Kapiteltrenner

Die Lady von Glenwith Grange

Ich kenne Miss Welwyn lange genug, um von der Wahrheit der Begebenheiten überzeugt zu sein, die ich Ihnen nun mitteilen werde,« begann der Angler neben mir. »Ich habe sowohl ihren Vater, wie ihre jüngere Schwester Rosamunde gekannt und auch den Franzosen, den Rosamunde heiratete. Diese vier Personen bilden die hervorragenden Charaktere in der Geschichte der Lady.

Der Vater der Miss Welwyn starb vor Jahren, aber ich erinnere mich seiner noch sehr gut, obgleich er weder mir noch andern Personen ein besonderes Interesse einflößte. Er war der Erbe eines großen Vermögens, welches sein Vater durch glückliche Spekulationen, die nicht immer ganz rechtschaffener Art waren, an sich gebracht hatte. Er kaufte diesen Landsitz hier und machte sich dadurch zu einem Mitglied unserer ländlichen Aristokratie.

Jetzt glaube ich Ihnen über ihn Alles mitgeteilt zu haben, was notwendig ist. Er war ein ganz gewöhnlicher Mensch ohne bedeutende Tugenden aber auch ohne hervorragende Laster; außerdem hatte er ein hübsches Gesicht, eine stattliche Gestalt, keinen besonders großen Geist aber ein liebenswürdiges Benehmen. Seine Gattin habe ich oft gesehen, als ich noch Kind war, aber ich erinnere mich nur, dass sie schlank und hübsch war, und besonders gütig und freundlich gegen mich. Sie war von besserer Herkunft als ihr Gatte und überragte ihn geistig auch bedeutend. Sie las in allen Sprachen und war eine so ausgezeichnete Klavierspielerin, dass die Leute hier rings umher sich heute noch ihres wunderbar schönen Spieles erinnern. Alle ihre Freunde sollen außer sich gewesen sein, als sie erfuhren, dass die talentvolle Dame Mister Welwyn heiraten wollte, und waren nicht wenig erstaunt, als sie im Laufe der Zeit sahen, dass Mistreß Welwyn vollkommen ruhig und glücklich an der Seite dieses so tief unter ihr stehenden Gemahls war.

Man sagt, sie fand ihr größtes Glück in ihrer kleinen Tochter Ida. (Es ist dies die Dame, die wir eben besuchten.) Das Kind glich der Mutter vollkommen Ida liebte die Musik, Bücher, besaß die Herzensgüte der Mutter, ihre Geduld und deren Gemütsstimmung. Die Mutter leitete die Erziehung ihrer Tochter ganz allein; man sah nie die Eine ohne die Andere.

Dadurch wurde sie den Kindern ihres Alters nicht zugänglich und Ida entwickelte sich auch demnach in außergewöhnlicher Weise.

Als Ida elf Jahr alt war, wurde ihre Schwester Rosamunde geboren, und da Mister Welwyn sich einen Sohn gewünscht hatte, so war keine besondere Freude über die Geburt der zweiten Tochter in dem alten Hause, aber es sollte sich sogar bald tiefe Traurigkeit über dasselbe ausbreiten, denn Mistreß Welwyn starb wenige Monate nach der Geburt des Kindes.

Die Krankheit war auf dem Wochenbett entstanden und man hörte hier, dass ihr Krankenlager ein sehr schmerzvolles gewesen war.

Mister Welwyn hatte selbst viel gelitten und in der letzten Zeit, als Mistreß Welwyn zuweilen von ihrem nahen Ende sprach, brach ihr Gatte oft in ihrer Gegenwart in lautes Weinen aus. Allein die letzten Worte, welche die sterbende, Mutter sprach, waren nicht an ihren Gatten gerichtet, sondern sie flüsterte sie in das Ohr ihrer tief betrübten Tochter. Ida hatte das Krankenzimmer nie verlassen, von dem Anfange der Krankheit bis zu dem traurigen Ende derselben: nur manchmal schlich sie sich aus dem Zimmer und weinte draußen ihre Kindertränen, und wenn sie dann wieder an das Bett ihrer Mutter trat, schien sie ruhig und gefasst.

Ihre Mutter war ihr Spielkamerad, ihr steter Begleiter, ihre teuerste und beste Freundin gewesen und doch hatte sie den Mut, diese geliebte Mutter ihren Schmerz nicht sehen zu lassen.

Als die Trennung von der teuren Toten vorüber war, konnte Mister Welwyn sich nicht entschließen, im Trauerhaus zu bleiben und er beschloss, eine Reise zu unternehmen Ida bat ihren Vater, dass er sie allein zu Hause lassen möge, denn sie habe ihrer Mutter versprochen, über ihre kleine Schwester wachen zu wollen, sagte sie.

Eine Verwandte von Mistreß Welwyn und eine alte Magd redeten jedoch dem Vater Idas zu, dass er sie mit sich nehmen solle, weil sie sahen, dass das Kind furchtbar litt, aber sie blieb in Glenwith Grange.

Nach diesem Ereignis, sah ich Ida das erste Mal.

Ich machte mit meiner Mutter eines Tages einen Besuch in dem alten Hause, es war an einem warmen Sommertage, wir fanden aber Niemand im Innern des Hauses und gingen in den Garten. Wir schlugen den Weg ein, der zum Kirchhofe führt und erblickten dort eine Magd, und ein, in Trauer gekleidetes, junges Mädchen, welches ein kleines Kind vor sich hatte, welches sie das Gehen zu lehren schien.

Sie schien mir noch zu jung als Wärterin eines Kindes; außerdem blickte sie so ernst in den kostbaren Sonnenschein, dass ich meine Mutter überrascht fragte, wer sie sei. Meine Mutter teilte mir die traurige Familiengeschichte mit, soweit ich sie Ihnen eben erzählt habe.

Ich beschreibe Ihnen diese unbedeutend scheinende Szene deshalb, damit sie wissen sollen, wie sich die ältere Schwester der jüngeren seit deren zartester Kindheit angenommen hat.

Es wurde wohl nie der Wunsch eines Sterbenden so pünktlich erfüllt, wie der, den Mistreß Welwyn gegen ihre Tochter Ida aussprach. Die ganze fernere Zukunft dieses jüngeren Kindes wurde glücklich beeinflusst, durch die Erfüllung der Pflichten, welche die sterbende Mutter ihrer Tochter Ida aufgetragen hatte.

Die Zeit verging. Ich verließ die Schule; besuchte die Universität, machte Reisen nach Deutschland und lernte die deutsche Sprache; aber wenn ich von Zeit zu Zeit nach Hause zurückkehrte und mich dann nach den Angelegenheiten der Familie Welwyn erkundigte, so hörte ich stets, dass sich nichts geändert habe. Mister Welwyn gab seine gewöhnlichen Diners, erfüllte seine öffentlichen Pflichten und war nach wie vor ein leidenschaftlicher Sportsmann geblieben. Seine beiden Töchter lebten eng beieinander, und Ida war der stete Schutzgeist ihrer kleineren Schwester; ja, sie verwöhnte das junge Mädchen sogar, wie dies zärtliche Mütter auch oft zu tun pflegen.

Ich besuchte Grange sehr oft an Feiertagen, oder in den Ferien und hatte dann Gelegenheit, die Schwestern zu beobachten. Ruhig und geduldig gab Ida ihrer Schwester den verschiedenen Unterricht, als diese älter geworden war; sie war stolz darauf, wenn man das Kind hübsch fand und war, kurz gesagt, bei ihrem jugendlichen Alter wie eine liebende Mutter für das Kind besorgt.

Als Rosamunde erwachsen war, kam nun auch die Zeit, wo sie den Winter in London zubringen und bei Hofe vorgestellt werden sollte. Sie war sehr schön geworden, viel schöner, als Ida je gewesen war, und daneben wurde von ihrer vollkommenen Ausbildung in den verschiedenen Lehrgegenständen mit Bewunderung in unsern ländlichen Kreisen gesprochen; sie sang, spielte gut Klavier, malte in Aquarell, sprach fertig französisch, las gut deutsch und besaß noch viele andere Fertigkeiten; alles dies hatte sie nur von ihrer Schwester erlernt. Für so viele Güte und Aufopferung war Rosamunde zwar nicht undankbar, aber sie hatte doch etwas von dem gewöhnlichen Charakter ihres Vaters ererbt, denn sie betrachtetet Alles, was ihre Schwester für sie schon getan hatte und noch tat, als Etwas, das sich so gehöre; sie war eben nicht zartfühlend genug, um den ganzen Wert der großen Opfer begreifen zu können, die ihre Schwester ihr brachte. Als Ida zwei ausgezeichnete Heiratsanträge, die ihr gemacht wurden, zurückwies, konnte Rosamunde nicht einmal begreifen, dass dies nur ihretwegen geschähe. —

Als die Saison in London begann, in der Rosamunde zum ersten Male öffentliche Unterhaltungen besuchen sollte, begleitete Ida ihren Vater und ihre Schwester, trotzdem sie lieber in ihrer ländlichen Zurückgezogenheit geblieben wäre, weil Rosamunde erklärt hatte, sie würde sich ohne ihre Schwester zu hilflos in der großen Stadt erscheinen und diese stündlich vermissen. Ida ging also mit; denn sie erfüllte alle kleinen Launen ihrer jüngeren Schwester eben so gern, wie sie deren Fehler zu entschuldigen wusste.

Sie bereute es auch nicht, mitgegangen zu sein, denn — sie erquickte sich an den Triumphen, welche ihre geliebte Rosamunde feierte und wurde nie müde, das Lob ihrer Schwester von deren Bewunderern mit anzuhören.

Nach dem Ende der Saison kehrte Mister Welwyn mit seinen Töchtern nach Grange zurück, hielt sich aber nicht lange auf dem Lande auf, sondern beschloss mit seiner Familie den Herbst und den Anfang des Winters in Paris zu zubringen.

Die Familie hatte vorzügliche Empfehlungsschreiben und mit ihnen versehen wurden sie in die besten Zirkeln der französischen Hauptstadt aufgenommen. An einem der ersten Abende, als sie die Pariser Gesellschaft besuchten, war der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung die Rückkehr eines französischen Edelmannes, des Baron Franval, der sehr lange von seinem Vaterland abwesend gewesen war. Es wurde Franval’s von allen Gästen lobend gedacht. Die Familie Welwyn erfuhr ungefähr das Folgende über ihn:

Der Baron erbte von seinen Vorfahren nur den hohen Rang und Namen, aber sehr wenig irdische Besitztümer

Als sein Vater starb, hatten Franval und seine beiden unverheirateten Schwestern nichts weiter, als ein unbedeutendes Landgut in der Normandie, kaum ergiebig genug, um die drei Geschwister mit dem Notwendigsten zu versehen. Der Baron war zu jener Zeit 23 Jahre alt und suchte Militär-Dienste zu nehmen, aber, obgleich die Bourbons wieder den Thron Frankreichs einnahmen, gelang es ihm doch nicht, eine, seinem Rang angemessene Stellung zu erlangen, da geheime Feinde gegen seine Anstellung wirkten. So beschloss er endlich sein Vaterland zu verlassen. Er ließ seine Schwestern unter dem Schutze eines alten, männlichen Verwandten auf dem Familiensitze zurück und schiffte sich nach West-Indien ein; später ging er nach Süd-Amerika.

Nach fünfzehnjähriger Abwesenheit und nachdem er schon einige Male für tot gehalten worden, kehrte er mit dem bedeutenden Ertrage seiner überseeischen Tätigkeit nach Frankreich zurück. Man sagte, er sei nur gekommen, um die verschuldeten Güter seiner Ahnen wieder an die Familie zu bringen. — Des Barons aufopfernde Fürsorge unterhielt für einige Zeit die gesellschaftlichen Zirkel von Paris. Man erwartete den Baron täglich in der Hauptstadt; natürlich musste sein Empfang in der Gesellschaft ein ausgezeichnet angenehmer sein, und er war es auch.—

Mister Welwyn hatte die Nachrichten über den Fremden mit großem Interesse vernommen; Rosamunde erklärte jedoch, mit einem Anflug von Romantik, ihrem Vetter und ihrer Schwester, dass sie danach schmachte, diesen interessanten Mann kennen zu lernen. Diesem Wunsche wurde bald genügt. Franval kam nach Paris und wurde auch den Welwyns vorgestellt: aber er hatte nicht das Glück, Ida zu gefallen, umso mehr jedoch deren Schwester Rosamunde. Als Franval den Wunsch aussprach, England kennen zu lernen, lud ihn der alte Welwyn ein, die Jagd-Saison in Glenwith Grange mitzumachen.

Ich kam gerade von Deutschland zurück, als die Welwyns von Paris kamen, und besuchte die Familie. Ich gestehe Ihnen, ich verliebte mich vollständig in Ida, aber diese Neigung hatte keine Folgen und ich erwähne diesen Umstand nur nebenbei. Die Jagd-Saison kam heran, und mit ihr Franval. Er machte merkwürdiger Weise auf mich denselben ungünstigen Eindruck, den er auf Ida hervorgebracht hatte.

Ich konnte mir eigentlich keine Rechenschaft geben, warum er mir so missfiel, denn ich begriff, dass sein Äußeres doch das Herz eines jungen Mädchens zu fesseln vermochte, weil sein Gesicht hübsch, und seine Manieren sehr angenehm waren; besonders war er interessant, wenn er mit Damen sprach, auch sang er so sehr innig, dass man unwillkürlich lauschen musste; diese Eigenschaften waren genügend, um Rosamunde zu fesseln.

Dem alten Welwyn gefiel er schon deshalb, weil er ein guter Jäger und ein tüchtiger Reiter war; außerdem sprach er ausgezeichnet englisch und kennzeichnete sich in Toilette,wie in seiner ganzen Außenseite mehr, wie ein Engländer als Franzose, kurz, Mister Welwyn hielt den Baron für das Muster aller französischen Edelleute. Gegen mich war Franval äußerst artig und zuvorkommend, aber ich konnte mich doch nicht an ihn gewöhnen, obgleich wir oft mit einander auf die Jagd gingen oder bei Tische Nachbarn waren. Mir wollte es oft so erscheinen, als erwäge er jedes seiner Worte zu sorgfältig. Er hatte etwas in seinem Wesen, was mir ihn stets fremd bleiben ließ.

Ida sah äußerst besorgt auf die täglich wachsende Neigung für Franval; ja, sie wurde so melancholisch, dass die Veränderung ihres Wesens sogar ihrem Vater auffiel, und er machte die unzarte Bemerkung, Ida sei eifersüchtig, wenn Rosamunde irgend einem Andern Aufmerksamkeit erzeige.

Der Frühling wich dem Sommer. Franval ging nach London, kehrte aber bald nach Glenwith Grange zurück verlangte die Hand Rosamundes und erhielt sie auch, zum Erstaunen aller Derjenigen, die die Welwyns kannten, sogleich.

Er händigte dem Vater seiner Braut alle die Papiere ein, die bei Heiraten von der Ortsbehörde und der Kirche verlangt zu werden pflegen; alle waren in bester Ordnung. Er schrieb seinen Schwestern von seiner bevorstehenden Hochzeit und erhielt auch bald eine zärtliche Antwort mit dem Bedauern, dass ihr Gesundheitszustand ihnen zwar der Hochzeit beizuwohnen nicht gestatte, dass sie aber dass junge Paar, wie die neue Familie bitte, sie auf ihrem Schloss in der Normandie zu besuchen.

Die Bewohner von Glenwith Grange waren in angenehmster Aufregung bei dem Gedanken an die nahe Hochzeit, nur Idas Herz blieb freudenleer und ihr Gesicht zeigte Spuren von Kummer. Ja, der Gedanke, dass ihre geliebte Schwester nun bald diesem Manne ganz angehören werde, erfüllte sie mit unbeschreiblicher Angst.

Doch es tröstete sie der Gedanke, dass Rosamunde in Glenwith Grange wohnen bleiben würde. — Sie wusste, der Baron liebte sie gerade so wenig, wie sie ihn liebte; aber sie willigte doch ein, dass das junge Paar mit ihr immer unter einem Dach wohnen sollte, denn so konnte sie ja ihre Schwester wenigstens täglich sehen. Der Baron war ein viel zu höflicher Mann, als dass er seiner Braut es hätte abschlagen können, als diese den Wunsch aussprach, sich nicht von ihrer Schwester trennen zu wollen.

Die Hochzeit fand mitten im Sommer statt, und das junge Ehepaar machte nun eine kurze Reise nach Cumberland, dann kehrten sie nach Glenwith Grange zurück und als sie gerade beschlossen hatten, die Reise in die Normandie zu machen, starb Mister Welwyn plötzlich.

Die Reise wurde nicht gemacht. Es kam der Herbst und die Zeit der Jagd, und Franval wollte sich durchaus nicht von Glenwith Grange trennen.

Es kamen Briefe aus Briefe von seinen Schwestern, aber er entschuldigte sich bald mit Diesem, bald mit Jenem und reiste nicht. Im Winter wollte er sein Weibchen nicht allein lassen, im Frühling klagte er über stetes Unwohlsein, im Sommer wurde die Reise unmöglich, weil Rosamunde sich Mutter fühlte und sich in der Tat kleinen Unpässlichkeiten ausgesetzt sah. Und so wurde der Besuch zu den Schwestern stets verzögert —

Die Ehe schien indes eine der glücklichsten werden zu wollen, denn Franval war liebenswürdig, aufmerksam und gütig gegen seine junge Frau; musste er sie dann und wann einmal auf kurze Zeit verlassen, so schien er überaus glücklich zu sein, wenn er die Baronin wiedersah. Auch gegen die Freunde und Bekannte des Hauses war er so zuvorkommend, höflich und gastfrei, so dass er ganz dem guten Rufe zu entsprechen schien, der ihm voranging, bevor er nach Paris gekommen war.

Aber trotzdem Monate in dieser Weise friedlich und ruhig vorübergingen, konnte sich Ida doch nicht zu ihrem Schwager mehr hingezogen fühlen.

Nach einiger Zeit hatte Rosamunde aber doch Gelegenheit, ihren Gemahl über Kleinigkeiten, welche sich die Dienstleute zu Schulden kommen ließen, sehr rau und grob zu sehen. — Sie war etwas erstaunt und unangenehm berührt. —

Der Baron hielt sich zwei Zeitungen. Die eine erschien in Bordeaux, die andere in Havre. Diese Journale öffnete der Baron stets sehr hastig, sobald sie ankamen, durchflog einige Zeilen mit großer Aufmerksamkeit in wenigen Minuten und warf dann die Zeitungen in den Papierkorb.

Seine Frau und deren Schwester waren Anfangs über diese Art des Zeitungslesens erstaunt, aber er lachte, als sie ihn einst darüber fragten und antwortete, dass er nur den kommerziellen Teil flüchtig durchlese.

Diese Journale erschienen wöchentlich. Einmal geschah es nun, dass die Zeitung aus Havre ausblieb. — Dieser Umstand machte den Baron ernstlich böse und er schrieb sofort an das Postamt und an den Zeitungs-Agenten in London.

Seine Frau fand seinen Unmut über eine so alltäglich vorkommende Kleinigkeit so komisch, dass sie darüber scherzte; aber zum ersten Male hörte sie eine sehr unartige Erwiderung von ihrem Gemahl. Sie hatte nur noch wenige Wochen bis zu ihrer Entbindung und erwartete jetzt am allerwenigsten von ihrem Manne eine barsche Behandlung. Die junge Frau zog sich erschrocken zurück.

Als auch am zweiten Tage keine Antwort kam, ritt der Baron zur Stadt, um die Zeitung persönlich zu verlangen. — Nachdem er ungefähr eine Stunde fort war, erschien ein fremder Herr in dem Hause zu Glenwith Grange und wünschte die Baronin zu sehen. Da die Antwort kam, sie sei zu unwohl um Jemand zu empfangen, ließ er ihr sagen, sein Auftrag sei von so großer Wichtigkeit, dass er warten würde, bis sie ihn sprechen könnte.

Rosamunde fragte ihre älteste Schwester um Rat, und Ida ging nun sogleich zu dem Fremden.

Alles, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, weiß ich aus dem Munde der Miss Welwyn selbst, sagte der Anleger.

Als sie in das Zimmer trat, wo der Fremde wartete, fühlte sie sich ungemein aufgeregt.

Der Herr verbeugte sich höflich und fragte mit fremdem Accent, ob sie die Baronin Franval sei. Sie teilte ihm mit, dass ihre Schwester, die Baronin, krank sei, aber sie selbst wäre in der Lage, die Geschäfte ihrer Schwester besorgen zu können, da deren Mann nicht zu Hause sei.

Der Fremde entgegnete, dass seine Aufträge durchaus nicht direkt an den Baron gerichtet werden könnten.

Ida fragte erstaunt nach dem Grunde.

Der Fremde entgegnete, dass es ihm lieb sei, zunächst mit ihr über die unangenehmen Angelegenheiten zu sprechen, die ihn hierher geführt hätten, sie könnte dann ihre Schwester darauf vorbereiten.

Ida schien einer Ohnmacht nahe zu sein und der Fremde füllte ein Glas mit Wasser und reichte es ihr. — Nachdem sie wieder aufmerksam aus den Fremden blickte, stellte er sich ihr als einen Beamten der französischen Polizei vor; dann zog er ein Zeitungsblatt hervor und erklärte, es sei die Zeitung aus Havre, welche auf seine Befehle nicht nach Glenwith Grange abgegangen sei. Dann bezeichnete er eine Stelle in der Zeitung und bat Ida, dieselbe zu lesen, danach würde sie wissen, weshalb er hier erschienen sei.

Die Zeilen in der Zeitung trugen die Überschrift »angekommene Schiffe.« und lauteten:

»Die Berenica ist mit einer wertvollen Ladung Häuten eingetroffen Sie bringt als Passagier den Baron Franval nach Schloss Franval in der Normandie.«

Nachdem Miss Welwyn dies gelesen, fühlte sie sich wie von einem Fieberfrost geschüttelt. Der Beamte reichte ihr Wasser und bat sie, sich nun zu setzen und aufmerksam zuhören zu wollen.

Es ist kein Zweifel darüber, begann er, dass es nur einen Baron Franval gibt, aber es trat bei der Nachricht, dass noch ein Franval auftrat, die Frage auf, welcher von den beiden der richtige sei.

Die Person, welche in den letzten Wochen in Havre ankam, wurde von den Damen Franval, als sie zu ihnen kam, als Betrüger erklärt und sie machten sogleich der Polizei Anzeige davon. Die Pariser Polizei sandte mich und einige andere Beamten sofort nach dem Schloss in der Normandie.

Wir verhörten den vermeintlichen Betrüger, der höchst unwillig und böse über den Empfang und über die Folgen desselben war.

Wir hörten von den Bekannten, dass der Angekommene eine große Ähnlichkeit mit dem Baron habe, und dass er mit den Personen und den Verhältnissen im Schloss und der Umgebung sehr bekannt sei.

Wir setzten uns nun mit der Ortspolizei in Verbindung, und es wurden alle verdächtigen Personen in den Büchern dieser Behörde nachgeschlagen, die seit etwa zwanzig Jahren in der Normandie und speziell in der Nähe von Franval gelebt hatten. Da fand sich denn folgende Notiz der Polizei:

»Hector August Monbrun, Sohn eines rechtschaffenen Eigentümers in der Normandie. Sehr gut erzogen, mit feinen Manieren ausgestattet, lebt in Zwiespalt mit seiner Familie. Sein Charakter ist kühn, unternehmend, eigennützig gewissenlos; er ist ein geschickter Mimiker. Wegen Diebstahl und Raubanfall ist er zu zwanzigjähriger Gefängnisstrafe verurteilt Monbrun ist leicht zu Rekognoszieren, da er eine sprechende Ähnlichkeit mit dem Baron Franval hat.«

Der Beamte blickte auf Miss Welwyn, ob sie stark genug sei, ihm weiter zuzuhören. Da sie ihm ein bejahendes Zeichen machte, nahm er sein Notizbuch hervor und sagte: Jener Notiz in den Büchern der Polizei war das Folgende hinzugefügt:

»H. A. Monbrun ist, des Mordes und anderer Verbrechen schuldig, zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt Er entfloh jedoch aus dem Gefängnisse zu Toulon. Seit seiner ersten Flucht ließ er sich den Bart und das Haar lang wachsen, damit es der Polizei nicht gelingen sollte, ihn nach der Ähnlichkeit mit dem Baron Franval wieder einzufangen.«

Es standen noch andere Bemerkungen dabei, sagte der Beamte, aber für unsere Untersuchung genügte das schon. War der Angekommene Monbrun, so musste er, wie alle Galeerensträflinge, die beiden Buchstaben T.F. (Travaux Forcés = Zwangsarbeit) auf seiner Schulter eingebrannt haben. Der Baron unterzog sich auch dieser Prüfung, aber seine Schultern waren rein von diesem Brandmal. Als diese Entdeckung gemacht war, wurden die Zeitungen, welche von Havre an einen englischen Agenten gehen, confiscirt, und ich erhielt nun aus telegraphischem Wege von meiner Ortsbehörde in Paris den Befehl, mich hierher zu begeben.

Ida hörte nichts mehr, sie fühlte nur, dass ihr Gesicht mit Wasser besprengt wurde; dann sah sie die Fenster des Zimmers geöffnet, damit sie frische Luft schöpfen konnte. Der Polizeibeamte war noch mit ihr allein.

Der Polizist ordnete an, dass Niemand im Hause erfahre, in welcher Angelegenheit er hier sei, damit der Baron nicht gewarnt werden könne. Er zeigte Ida an, dass er jetzt gehen, aber zwischen acht und neun Uhr wiederkommen werde; sie möge ihre Schwester bis dahin vorbereiten. Er verbeugte sich und ließ die Unglückliche allein.

Das erste Gefühl, welches Ida empfand, war, das entsetzliche Geheimnis ihrer Schwester so lange als nur möglich zu verbergen.

Sie ging zu Rosamunde und rief ihr durch die halb geöffnete Türe zu, weil sie sich fürchtete, der Schwester durch ihr Aussehen etwas zu verraten, dass der Mann von dem Rechtsanwalt ihres Vaters gekommen sei, und dass sie nun für ihn einige Geschäftsbriefe schreiben müsse. Mit diesen Worten ging sie nach ihrem eigenen Zimmer und gab sich dort der schwachen Hoffnung hin, dass die Polizei sich vielleicht geirrt hätte. —

Sie hörte es regnen und fühlte sich erquickter nach der Angst des Tages. Sie gedachte längst vergangner Tage, ihrer süßen Mutter, ihrer geliebten kleinen Schwester, ihres ruhigen Lebens in Grange; — sie weinte heftig, da tönte Hufschlag, — der Baron kam zurück.

Nachdem sie ihre brennenden Augen etwas gekühlt hatte, ging sie schnell zu ihrer Schwester. Der Baron trat fast mit ihr zugleich ins Zimmer. Er schien sehr aufgeregt; sagte, dass er auf die Post gewartet habe, aber die Zeitung sei wieder nicht mitgekommen. Außerdem fühle er Fieberschauer, der Ritt durch den Regen habe ihm gewiss geschadet. — Rosamunde empfahl ängstlich einige Mittel; aber ihr Gemahl erwiderte rau, dass er nichts wünsche und das einzige Heilmittel sei das Bett. Mit dieser Äußerung verließ er die Schwestern.

Rosamunde fing an zu weinen und sagte: »Mein Mann ist jetzt ganz verändert!«

Die Schwestern saßen wohl eine Stunde stumm nebeneinander; endlich ging die Baronin zu sehen, wie es ihrem Manne ginge, kam jedoch mit der Nachricht zurück, dass er schon fest schlafe.

Es schlug neun Uhr. Es näherten sich Tritte der Tür Ida ahnte, dass der Polizeibeamte gekommen sei, und ging zu ihm hinunter.

Der Beamte fragte, ob Rosamunde in Kenntnis gesetzt sei, ob der Baron schon zu Hause, ob er allein in dem Zimmer schliefe u.s.w. Dann verlangte er, in das Schlafzimmer des Barons geführt zu werden.

Ida fühlte sich mehr tot als lebendig, aber der Polizist erklärte, jedes Geräusch und jede Störung könnte hier sehr unangenehme Folgen haben, denn wäre es Monbrun, so müsste man seiner vorsichtig habhaft zu werden suchen; wäre es aber der unbescholtene, echte Baron Franval, so wollte man ihn nicht einmal mit dein bloßen Verdachte belästigen, dass er ein Betrüger sein könnte.

Das waren Gründe, die Ida wieder kräftigten. Es kam ihr nun noch einmal die Hoffnung, der Baron sei schuldfrei.

Beide stiegen die Treppe zu dem Schlafzimmer hinauf. Der Polizist trat ein. Ida blieb an der geöffneten Tür stehen und blickte durch die Spalte. Franval schlief mit dem Rücken der Tür zugekehrt.

Der Beamte stellt sein Licht leise auf ein Tischchen, schlug ebenso leise die Bettdecke zurück, dann nahm er eine Schere von dem Toilettentisch und zerschnitt zuerst die losen Falten und dann die Bänder von dem Nachthemd des Schläfers. Als das Fleisch zu sehen war, nahm er das Licht und besah sich die Schulter. — Miss Welwyn hörte etwas murmeln. — Der Mann an dem Bette sah sich um und — winkte, damit sie näher trete. —

Sie gehorchte mechanisch. Mechanisch blickte sie auf die Stelle, welche der Finger des Beamten ihr zeigte. — Es war der Verbrecher Monbrun, der da schlief. Hell und deutlich las man auf seiner Schulter das Brandmal T.F.

Die Arme vermochte keinen Laut von sich zu geben. Der Schreck hatte sie sprachlos gemacht. Sie sah nur, dass der Polizeibeamte die Bettdecke und die Nachtbekleidung wieder ordnete, dass er die Schere wieder auf den Tisch legte und etwas Riechsalz zu sich steckte. Dann gab er ihr den Arm, führte sie die Treppen hinunter und stärkte sie mit dem flüchtigen Salz. Als sie unten waren, sagt er: »Jetzt nehmen Sie Ihren ganzen Mut zusammen. Sie und Ihre Schwester müssen das Haus augenblicklich verlassen. Wenn Sie hier Niemand haben, zu dem Sie sich begeben können, so fahren Sie nach Harleybrook und mieten sich dort in dein besten Gasthof ein. Ich muss die Nacht hier bleiben, aber morgen gebe ich Ihnen Nachrichten.«

Der Diener wurde gerufen und ihm gesagt, dass er sich bereit halte, wenn nach ihm geklingelt werde. Der Polizeibeamte sorgte für einen Wagen und Ida begab sich nun erst zu ihrer Schwester.

Wie Rosamunde das Furchtbare aufgenommen hat, kann ich Ihnen nicht sagen, fuhr der Angler fort, denn Ida hat nie darüber gesprochen.

Die Damen fuhren mit einem Diener nach dem näher bezeichneten Hotel zu Harleybrook, und bevor noch der Tag anbrach, gebar Rosamunde ein Mädchen. —

Sie wusste nichts von ihrem Mutterglück, nichts von der schrecklichen Gegenwart, sie sang alte Lieder früherer Tage und starb nach drei Tagen in den Armen ihrer Schwester.

Das Kind lebt noch. Es war das, welches Sie heute sahen, und nun werden Sie auch begreifen, weshalb ich Sie hat, mit Ida nicht über dasselbe zu sprechen. Das arme Kind ist blödsinnig seit der Geburt.

Über Monbrun ist noch zu sagen, dass er in der Tat der entflohene Verbrecher war, der durch eine Reihe von Jahren die Polizei von Europa und Amerika beschäftigt hatte.

Mit Hilfe zweier anderer Verbrecher hatte er sich in den Besitz großer Summen gesetzt, und diese hatten ihn sogar zu ihrem Banquier gemacht und das ganze Geld ihm anvertraut. Ohne den gewagten Betrug, sich für den Baron Franval auszugeben, wäre Monbrun bei seiner Rückkehr nach Frankreich gewiss gefangen genommen, so aber war ihm sein Plan gelungen, und wäre der wirkliche Baron nicht in die Heimat zurückgekehrt, so würde er auch bis an seines Lebens Ende für denselben gegolten haben. Neben seiner großen Ähnlichkeit mit dem Baron hatte er auch seine Gewandtheit und Bildung als betrügerische Hilfsmittel. Seine Freunde aus der Verbrecherwelt nannten ihn seiner feinen Manieren wegen »den Prinzen.«

Er hatte seine Jugendzeit nahe bei Schloss Tranval zugebracht und kannte die Umstände genau, die den Baron fort zureisen bestimmt hatten. Auch war er in jener Gegend Amerikas gewesen, wo der Baron lebte und war geschickt genug, über Verhältnisse und Personen aus dem Kreise des Barons zu sprechen, und wo dies gerade einmal nicht ganz richtig befunden wurde, entschuldigte er sich mit der langen Abwesenheit.

Natürlich wurde der wirkliche Baron in alle Familienrechte eingesetzt, nachdem der Verbrecher entlarvt war.

Monbrun sagte aus, er habe Rosamunde aus wahrer Liebe geheiratet — Möglich ist es, dass das junge unschuldige Mädchen aus England seiner Laune gefiel, und dass das ruhige und angenehme Leben in Glenwith Grange seinem gefahrvollen Vagabundieren vorzuziehen war. Was aus ihm an der Seite eines tugendhaften Weibes geworden wäre, ist jetzt schwer zu beurteilen

Als Monbrun am andern Morgen erwachte, erblickte er den Polizeibeamten mit geladener Pistole in der Hand an seinem Bette. Er wusste sofort, dass er verraten sei, behielt aber seine Selbstbeherrschung

Er bat sich nur noch fünf Minuten Bedenkzeit im Bette aus; dann entschied er sich dafür, dem Beamten nach Frankreich zu folgen. Er hoffte dort wieder in die Nähe der Verbrechergenossen zu kommen, deren Geld er ja verwaltete; vielleicht hoffte er auch jetzt schon wieder auf eine nahe Flucht. Er schrieb noch einen Brief voll heuchlerischer Frasen an Rosamunde und folgte dann dem Beamten, der ihn nach Frankreich brachte.

Nach nicht zu langer Zeit suchte er wieder einmal aus dein Gefängnisse zu entfliehen, aber er wurde von dem Wachtposten niedergeschossen und die Kugel traf ihn so unglücklich in den Kopf, dass er auf der Stelle starb.

Jetzt sind es zehn Jahre, dass Rosamunde dort auf dem Friedhof ruht, und dass Miss Welwyn die einzige Bewohnerin von Glenwith Grange wurde. Sie lebt nur noch der Erinnerung früherer, glücklicherer Tage.

In dem alten Hause ist fast kein Gegenstand, der ihr nicht das Andenken an die teuren Verstorbenen zurückrufen würde. Die Bücher, die Noten, die Kupferstiche, Alles erinnert sie an die Personen, die die Gegenstände benützten. Sie hat jetzt nur noch die Fürsorge für das arme Kind und für die Armen dieser Gegend, die sie beschäftigt, denn die Lady von Glenwith Grange ist weit und breit geliebt und verehrt und jeder Arme wird Sie wie einen alten Freund begrüßen, wenn Sie ihm sagen, Sie kennen die gute Lady von Glenwith Grange.



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