In der Dämmerstunde

Die Erzählung der französischen Gouvernante von Schwester Rose



Fünftes Kapitel

Der Tag schritt vor. Nach und nach kamen die Gefangenen aus dem Saale in das Wartezimmer; um zwei Uhr Mittags war Alles beendet, selbst die Totenliste gelesen und dem Beamten zur weiteren Besorgung übergeben. Der Gefängniswärter führte seine Truppe nach Sankt-Lazarus zurück.

Der Abend kam. Das Abendessen wurde von den Gefangenen eingenommen und die Totenliste noch einmal innerhalb des Hofraumes vorgelesen. Die Türen erhielten wie gewöhnlich die Kreidezeichnung. Louis Trudaine und seine Schwester bewohnten zusammen eine Zelle, es war dies auch eine Vermittlung durch Lomaque’s Schlauheit; beide erwarteten zusammen den grauenvollen Morgen. Rosa’s Gedanken waren nur mit dem wahren Tode beschäftigt, ihr Herz schlug so leise, als wenn der Todesengel schon seine Hand nach ihr ausgestreckt hielt. — Still und in sich versunken saß sie mit dem Kopfe an des Bruders Schulter gelehnt, ein Bild des Mitleids und der Ergebung.

Der Morgen kam und die strahlende Sonne tauchte im Osten glühend auf. — Es nahte schon die Stunde, die den Unglücklichen als eine ihrer letzten bezeichnet war. Trudaine lauschte, es nahten sich Schritte seiner Zelle. Der Schlüssel wurde umgedreht und die Tür geöffnet und er stand dem buckligen Kerkermeister und einem andern Beamten gegenüber.

»Siehst Du, da sind sie frisch und gesund in ihrer Zelle, wie ich es sagte und ich wiederhole Dir noch einmal, dass sie nicht mit auf der Totenliste gestanden haben. Du wirst mich doch nicht meine Pflichten kennen lehren, sieh Du nur danach; die Deinigen zu erfüllen, und betrinke Dich nicht! Ich weiß selbst, was ich zu tun habe,« sagte er zu dem Buckligen.

»Sei ruhig! Und lass mich lieber noch einmal auf die Liste sehen,« sagte der Andere. Zog dann seinen Kollegen von der Zelle fort und sah die Liste noch einmal durch.

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das begreife,« sagte der Mann, »nur kommt vor, als hätte ich die Namen gestern unten vorgelesen. Gib mir eine Priese! Wache ich denn oder schlafe ich noch, oder bin ich schon am Morgen besoffen!«

»Nüchtern!« sagte eine Stimme und stieß den Sprecher an, »denn ich sah Sie gestern Abend in ganz anderer Verfassung!«

»Ah, Sie sind es, Bürger Lomaque! Denken Sie nur, mir kommt vor, als hätte ich gestern hier die Namen der beiden Gefangenen auf der Totenliste selbst gelesen und jetzt finde ich sie nicht mehr darauf. Was sagen Sie dazu?«

»Ja,« sagte der andere Beamte. »denken Sie nur, Bürger, da er selbst betrunken war, ließ er mich die Türen bezeichnen, die heute unter die Guillotine kommen und da er seine rechte Hand nicht mehr von seiner linken unterscheiden konnte, ließ er mich eine falsche Tür bezeichnen. — Wäre er nicht ein so guter Kerl, so zeigte ich ihn an.«

»Sie haben ganz Recht,« sagte Lomaque, »er ist zwar gut, aber er hätte Sie auch nicht in solche Verlegenheit bringen sollen. — Sie können die Namen nicht in der Liste gelesen haben, weil sie eben nicht darauf gestanden haben! Doch machen Sie nicht so viel Lärm um solche Dinge. Heute zu Tage dürfen keine Zweifel im Dienste laut werden. Vernichten Sie lieber die Liste.«

»Lassen Sie mich doch sehen,« sagte Lomaque, »sind denn das wirklich die Gefangenen, bei denen ich im Wartezimmer blieb?« Der Kerkermeister schloss die Zelle noch einmal auf und Lomaque sah die Geschwister vor sich. Er wisperte schnell: »Die Vorsicht hat gewirkt! Sie sind für einige Tage gerettet.« Der Kerkermeister war nämlich nach einigen andern Türen gegangen. Danville ist gestern Abend auf ausdrücklichen Befehl Robespierres verhaftet. Er sitzt im Temple. Still! Der Kerkermeister kommt. Hoffen Sie! Doch nur von dem Wechsel der Politik. Teilen Sie Ihrer Schwester nur das Alles mit; trösten Sie sich jedoch nur mit dem Gedanken, dass die Rettung für einige Tage gesichert ist.«

»Und morgen?« fragte Trudaine.

»Denken Sie nur an heute, und lassen Sie den Morgen für den Morgen sorgen!«


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