Der Mondstein
Zweite Periode:
Die Entdeckung der Wahrheit
in verschiedenen Erzählungen.
1848
- 1849
Erste Erzählung.
Von Miß Clack, Nichte des verstorbenen Sir John Verinder.
Erstes Capitel.
Ich bin meinen lieben Eltern, die beide jetzt im Himmel sind, Zu Dank dafür verpflichtet, daß sie mich schon in frühester Jugend an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnt haben.
In jenen vergangenen glücklichen Tagen wurde mir gelehrt, mein Haar bei Tag und Nacht in Ordnung zu halten und jedes Kleidungsstück sorgfältig zusammen immer auf dieselbe Weise, auf denselben Stuhl, an dieselbe Stelle am Fuße des Bettes zu legen, ehe ich schlafen ging. Dem Zusammenlegen ging ebenso regelmäßig das Eintragen der Tagesereignisse in mein kleines Tagebuch voran. Auf das Zusammenlegen folgte eben so unabänderlich das Abendgebet, sobald ich mich in’s Bett gelegt hatte.
In meinem spätern Leben folgten auf dieses Gebet, ach! oft trübe Gedanken und an die Stelle des süßen Schlafs trat der unterbrochene Schlummer, wie er das Sorgenkissen des Unglücklichen heimsucht. Aber die Gewohnheit, meine Kleider zusammenzulegen und mein Tagebuch zu führen, behielt ich bei. Die erstere Gewohnheit verknüpft mich noch mit meiner glücklichen Jugend, der Zeit vor dem Ruin meines Vaters. Die letztere Gewohnheit —— die mir hauptsächlich dazu behilflich gewesen, war, die sündige Natur, die wir Alle von Adam geerbt haben, im Zaume zu halten —— hat sich ganz unerwarteter Weise als in ganz anderer Art für meine bescheidenen Interessen wichtig erwiesen. Sie hat mein armes Ich in den Stand gesetzt, den Launen eines reichen Mitgliedes unserer Familie zu stöhnen. Ich bin so glücklich, mich Herrn Franklin Blake im irdischen Sinne des Worts nützlich machen zu können.
Seit längerer Zeit war ich ausser aller Verbindung mit dem von Glück begünstigten Zweig der Familie gewesen. Wenn wir allein in der Welt dastehen und arm sind, werden wir nicht selten vergessen. Ich lebe jetzt aus Gründen der Oekonomie in einer kleinen Stadt der Bretagne, die von einem ausgewählten Kreise ernster Freunde bewohnt wird und die Vortheile eines protestantischen Geistlichen und eines billigen Marktes bietet.
In dieser Zurückgezogenheit, einem Patmos inmitten des wüthenden Oceans der Papisterei, die uns umgiebt, ist endlich ein Brief aus England an mich gelangt. Herr Franklin Blake erinnert sich plötzlich meines unbedeutenden Daseins. Mein reicher Verwandter, —— könnte ich ihn doch auch meinen Verwandten in Christo nennen! —— schreibt mir, ohne es auch nur im Mindesten zu verbergen, daß er etwas von mir will. Er ist aus den Einfall gekommen, die traurige und scandalöse Mondsteingeschichte wieder aufzurühren und ich soll ihm dabei durch einen schriftlichen Bericht über Das behilflich sein, was ich selbst während meines Besuchs in Tante Verinders Haus in London erlebt habe. Mit dem den Reichen eigenen Mangel an Zartgefühl bietet er mir dafür Bezahlung an. Ich soll Wunden wieder aufreißen, die die Zeit kaum geheilt hat; ich soll die schmerzlichsten Erinnerungen wieder auffrischen. und soll mich dafür durch eine neue schmerzliche Berührung, in Gestalt von Herrn Blake’s Anweisung, belohnen lassen. Meine Natur ist schwach. Es kostete mich einen harten Kampf, bevor die christliche Demuth den sündigen Stolz überwand und bis mich Selbstverleugnung die Anweisung annehmen ließ.
Ich zweifle, ob ich ohne mein Tagebuch, —— um die Sache mit gütiger Erlaubniß des Lesers ohne Umschweife beim rechten Namen zu nennen, —— mein Geld hätte ehrlich verdienen können. Mit ihrem Tagebuch in der Hand ist aber die arme Arbeiterin, welche Herrn Blake sein kränkendes Benehmen verzeiht, ihres Lohnes werth. Nichts habe ich mir in jener Zeit, wo ich bei der lieben Tante zum Besuch war, entgehen lassen. Alles wurde, Dank meiner frühen Gewöhnung, Tag für Tag eingetragen, wie es sich zutrug und Alles bis auf die kleinste Einzelheit soll hier wieder erzählt werden. Meine heilige Achtung vor der Wahrheit steht mir, dem Herrn sei Dank dafür! viel höher als jede Rücksicht auf Menschen. Es wird Herrn Blake leicht sein, solche Stellen in den folgenden Blättern zu unterdrücken, welche für die Hauptperson in denselben etwa nicht schmeichelhaft genug erscheinen möchten. Er hat meine Zeit von mir gekauft, aber selbst mit seinem Reichthum kann er mir mein Gewissen nicht abkaufen.[Anmerkung von Franklin Blake. Miß Clack kann sich über diesen Punkt vollkommen beruhigen.In ihrem Manuscript so wenig wie in irgend einem andern Manuscripte, die in meine Hände gelangen, soll irgend etwas hinzugefügt, verändert oder entfernt werden. Gleichviel was für Ansichten der eine oder andere der Schreibenden aussprechen mag, was für Eigenthümlichkeiten der Behandlung des Stoffs die Erzählungen, welche ich jetzt sammle, charakterisiren und im literarischen Sinn vielleicht entstellen mögen, nirgends wird auch nur eine einzige Zeile verändert oder weggelassen werden. Als echte Documente gehen sie mir zu und als echte Documente werde ich sie, mit der Beglaubigung von Leuten versehen, welche die Wahrheit der Thatsachen bezeugen können, aufbewahren. Es bleibt mir nur noch hinzuzufügen, daß die »Hauptperson« in Miß Clack’s Erzählung im gegenwärtigen Augenblick so glücklich ist, nicht nur den beißendsten Ergüssen von Miß Clacks Feder Trotz bieten, sondern sogar den unbestreitbaren Werth dieser Ergüsse für die Erkenntniß von Miß Clacks Charakter anerkennen zu können.]
Mein Tagebuch belehrt mich, daß ich am Montag, den 3. Juli 1848, zufällig an Tante Verinder’s Haus in Montague-Square vorüberging.
Da ich die Laden offen und die Jalousien aufgezogen sah, hielt ich es für eine passende Höflichkeit, hineinzugehen und mich nach den Damen zu erkundigen. Die Person, welche mir die Thür öffnete, benachrichtigte mich, daß meine Tante und ihre Tochter —— ich kann sie wirklich nicht meine Cousine nennen —— vor einer Woche vom Lande hereingekommen seien und einige Zeit in London zu bleiben beabsichtigten. Ich schickte sofort hinaus und ließ sagen, ich wolle nicht stören und mich nur erkundigen, ob ich mich den Damen in irgend einer Weise nützlich machen könne. Die Person, welche mir die Thür geöffnet hatte, nahm meine Bestellung mit einem impertinenten Schweigen entgegen und ließ mich in der Halle stehen. Sie ist die Tochter eines alten Heiden, Namens Betteredge, der sehr lange —— zu lange —— in der Familie meiner Tante geduldet worden ist. Ich setzte mich in der Halle nieder, um die Antwort auf meine Bestellung zu erwarten, und da ich immer ein Paar Tractätchen in meiner Handtasche bei mir führe, so nahm ich eins heraus, das sich in einer ganz providentiellen Weise als auf die Person, welche mir die Thür geöffnet hatte, anwendbar erwies. Die Halle war schmutzig und der Stuhl hart; aber das beseligende Bewußtsein, Böses mit Gutem zu vergelten, erhob mich weit über alle geringfügigen Beobachtungen dieser Art. Das Tractätchen gehörte zu einer Serie, die sich auf die Sündhaftigkeit der Kleidung bei jungen Frauenzimmern bezog. Es war im Style frommer Vertraulichkeit geschrieben. Sein Titel war: »Ein Wort an Euch über Eure Mützenbänder.«
»Mylady läßt Ihnen bestens. danken und bittet Sie, sie morgen um 2 Uhr zum Frühstück zu besuchen.«
Ich nahm keine Notiz von der Art, wie sie ihre Bestellung ausrichtete, und von der schrecklichen Frechheit ihres Blickes. Ich dankte der verworfenen jungen Person und sagte zu ihr im Tone christlichen Antheils: »Wollen Sie mir die Freude machen, ein Tractätchen von mir anzunehmen?«
Sie warf einen Blick auf den Titel und fragte dann: »Hat es ein Mann oder eine Frau geschrieben? Wenn es von einer Frau geschrieben ist, so möchte ich es deshalb lieber nicht lesen. Wenn es aber von einem Mann geschrieben ist, so möchte ich Sie bitten, ihm zu sagen, daß er nichts davon versteht.« Sie gab mir das Tractätchen wieder und öffnete mir die Thür Wir müssen die gute Saat ausstreuen, wie wir können. Ich wartete, bis die Thür hinter mir geschlossen war und ließ dann das Tractätchen in den Briefkasten gleiten. Als ich dann ein zweites Tractätchen über das Kellergeländer geworfen hatte, fühlte ich mich von einer schweren Verantwortlichkeit gegen meine Mitmenschen in etwas erleichtert.
Wir hatten an jenem Abend eine Versammlung des Comittes der Gesellschaft der Mütter zur Umwandlung von Hosen.
Der Zweck dieses vortrefflichen mildthätigen Unternehmens ist, wie alle ernsten Menschenfreunde wissen, die unausgelösten Hosen von Vätern vom Pfandleiher wiederzuerlangen und ihre Wiederversetzung von Seiten des unverbesserlichen Vaters dadurch zu verhindern, daß man sie auf der Stelle zu Kleidungsstücken für das unschuldige Kind zerschneidet.
Ich war um jene Zeit Mitglied dieses Comités und ich thue der Gesellschaft hier Erwähnung, weil mein bewunderungswürdiger und vorzüglicher Freund, Herr Godfrey Ablewhite, sich bei diesem Unternehmen sittlicher und materieller Nützlichkeit betheiligt hat. Ich hatte gehofft, ihn an jenem Montag-Abend, von dem ich eben berichte, im Sitzungszimmer zu sehen und hatte mir vorgenommen, ihm, wenn ich ihn träfe, die Ankunft meiner lieben Tante Verinder in London zu berichten.
Zu meiner sehr unangenehmen Enttäuschung erschien er aber nicht, Als ich meiner Ueberraschung über seine Abwesenheit Ausdruck gab, blickten meine Schwestern im Comité alle zugleich von ihren Hosen auf, —— wir hatten an jenem Abend ungemein viel zu thun, —— und fragten höchst erstaunt, ob ich die große Neuigkeit noch nicht vernommen habe. Ich bekannte meine völlige Unwissenheit und erfuhr dann zum ersten Mal von einem Ereigniß, welches gewissermaßen den Ausgangspunkt dieser Erzählung bildet.
Am verwichenen Freitag waren zwei Herren, welche sehr verschiedene Stellungen in der Gesellschaft einnahmen, der Gegenstand einer Insulte geworden, welche ganz London in Aufregung versetzt hatte. Einer dieser Herren war Herr Septimus Luker von Lambeth, der andere war Herr Godfrey Ablewhite.
In meiner jetzigen Zurückgezogenheit ist es mir nicht möglich, mir den Zeitungsbericht über jene Insulte zu verschaffen und denselben in meine Erzählung aufzunehmen. Auch entging mir damals der unschätzbare Vortheil, die Ereignisse aus dem beredten Munde des Herrn Godfrey Ablewhite zu vernehmen. Alles, was ich daher thun kann, ist, die Ereignisse anzugeben, wie sie mir mitgetheilt wurden, indem ich dabei das Verfahren beobachten werde, an das ich beim Zusammenlegen meiner Kleider von Jugend aus gewöhnt worden bin. Jedes Ding soll klar und deutlich dargestellt und an die rechte Stelle gesetzt werden. Diese Zeilen werden von einem schwachen Weibe geschrieben. Wer wird so unbillig sein, von einem armen schwachen Weibe mehr zu verlangen?
Das Datum —— kein Wörterbuch der Welt kann, Dank sei eS meinen lieben Eltern genauer sein, als ich es in Betreff der Daten bin —— war Freitag den 30. Juni 1848.
Früh am Morgen jenes denkwürdigen Tages war unser reichbegabter Herr Godfrey damit beschäftigt, eine Anweisung bei einem Bankier in Lombardstreet einzukassiren. Der Name der Firma ist in meinem Tagebuch zufällig durch einen Tintenfleck unleserlich geworden und meine heilige Achtung vor der Wahrheit verbietet mir, in einer solchen Angelegenheit eine Vermuthung zu wagen. Glücklicherweise kommt es auf den Namen der Firma nicht an. Worauf es vielmehr ankommt, ist ein Umstand, der sich zutrug, als Herr Godfrey sein Geschäft besorgt hatte. An der Ausgangsthür traf er mit einem ihm vollkommen fremden Herrn zusammen, der zufälligerweise das Bureau genau in demselben Augenblicke, wie er, verließ, Zwischen den beiden Herren entspann sich ein augenblicklicher Höflichkeitsstreit über den Vortritt beim Ausgang aus der Bank. Der Fremde bestand darauf, daß er Godfrey vorangehe; Herr Godfrey sagte einige höfliche Worte; sie vereinigten sich gegen einander und trennten sich vor dem Hause.
Gedankenlose und oberflächliche Menschen werden vielleicht sagen: Da ist ein ganz lumpiger und kleiner Vorfall mit einer albernen Umständlichkeit erzählt! O, meine jungen Freunde und Mitsünder! Hütet der Anmaßung, Euch Eurer armseligen fleischlichen Vernunft zu bedienen. Befleißigt Euch der höchsten sittlichen Accuratesse! Laßt Euren Glauben sein wie Eure Strümpfe und Eure Strümpfe wie Euren Glauben! Beide immer fleckenlos, beide immer so bei der Hand, daß Ihr sie in jedem Augenblick anziehen könnt!
Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ich bin unmerklich in meinen Sonntagsschulen-Styl verfallen, der doch für einen Bericht wie dieser höchst unpassend ist. Ich will versuchen mich weltlich auszudrücken und sagen, daß in diesem wie in vielen anderen Fällen die geringfügigsten Kleinigkeiten die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen können. Ich will nur noch bemerken, daß der höfliche Fremde Herr Luker von Lambeth war und dann mit dem Leser Herrn Godfrey nach seiner Wohnung in Kilburn begleiten.
Wir finden dort in der Halle einen ärmlich gekleideten, aber zart und interessant aussehenden kleinen Jungen auf ihn warten. Der Junge überreichte ihm einen Brief, und bemerkte dabei nur, daß ihm derselbe von einer alten Dame, die er nicht kenne und die ihm nicht ausgetragen habe, auf Antwort zu warten, zur Besorgung übergeben worden sei. Derartige Vorkommnisse wie diese waren nichts Ungewöhnliches in Herrn Godfrey’s Praxis als Beförderer öffentlicher Mildthätigkeits-Unternehmungen. Er hieß den Knaben gehen und öffnete den Brief. Die Handschrift war ihm völlig unbekannt. Er wurde darin ersucht, sich in seiner Stunde in einem Hause in Northumberlandstreet am Strand, das er nie zuvor betreten hatte, einzustellen. Der Zweck dieses Besuchs war, von dem würdigen Verwalter gewisse Details über die Gesellschaft für Mütter zur Umwandlung von Hosen zu erhalten, und diese Auskunft wurde von einer ältlichen Dame erbeten, welche sich zu einem bedeutenden Zuschuß zu den Mitteln der Gesellschaft bereit erklärte, falls sie auf ihre Fragen eine befriedigende Antwort erhalten werde. Sie nannte ihren Namen und fügte hinzu, daß die Kürze ihres Aufenthaltes in London sie verhindere, dem ausgezeichneten Philantropen, an den sie sich wende, mehr Zeit zu widmen.
Gewöhnliche Menschen würden vielleicht Anstand genommen haben, ihre eigenen Geschäfte aus Gefälligkeit für einen Fremden hintanzusetzen. Der wahre Christ aber denkt nie an seine eigenen Interessen, wo es gilt Gutes zu thun. Herr Godfrey ging auf der Stelle wieder fort und begab sich nach dem Hause in Northumberlandstreet. Ein höchst respectabel aussehenden etwas korpulenter Mann öffnete die Thür und führte Herrn Godfrey, sobald dieser seinen Namen genannt hatte, sofort in ein nach hinten gelegenes leeres Zimmer zu ebener Erde. Beim Eintritt in das Zimmer bemerkte er zwei ungewöhnliche Dinge. Das eine war ein schwacher Geruch von Moschus und Campher, das andere ein altes orientalisches, reich mit indischen Figuren und Emblemen verziertes Manuscript, welches auf einem Tische offen da lag.
Er betrachtete das Buch, dessen Lage ihn veranlaßte, den geschlossenen Flügelthüren, welche in das Vorderzimmer führten, den Rücken zu kehren, als er sich plötzlich, ohne daß ihn das leiseste Geräusch vorher hätte aufmerksam machen können, von hinten an der Gurgel gepackt fühlte. Er hatte noch eben Zeit zu bemerken, daß der Arm an seinem Hals nackt und von gelblich brauner Farbe sei, ehe ihm die Augen verbunden, der Mund geknebelt und er, wie ihm vorkam, von zwei widerstandslos auf den Boden geworfen wurde. Ein Dritter leerte seine Taschen, und durchsuchte ihn —— wenn ich mir als Dame diesen Ausdruck erlauben darf —— ohne Umstände durch und durch bis auf die Haut. Hier würde ich mit großem Vergnügen einige tröstende Worte über das fromme Gottvertrauen sagen, welches allein Herrn Godfrey in einer so schrecklichen Lage aufrecht erhalten konnte. Aber vielleicht überschreiten die Lage und das Aussehen meines bewundernswürdigen Freundes auf dem vorhin beschriebenen Gipfelpunkt der ihm angethanen Insulten die Grenzen der Besprechung durch eine weibliche Feder. Ich übergehe daher die nächsten Augenblicke und kehre zu Herrn Godfrey in dem Moment zurück, wo die abscheuliche Durchsuchung seiner Person beendigt war. Die schmachvolle Behandlung war von Anfang bis zu Ende im tiefsten Schweigen vor genommen worden. Als dieselbe vorüber war, wechselten die unsichtbaren Spitzbuben einige Worte mit einander, in einer Herrn Godfrey unverständlichen Sprache, aber in Tönen, welche für sein gebildetes Ohr Enttäuschung und Wuth deutlich genug erkennen ließen. Plötzlich wurde er vom Boden aufgehoben, auf einen Stuhl gesetzt und hier an Händen und Füßen gebunden. Im nächsten Moment fühlte er einen durch eine geöffnete Thür eindringenden Luftstrom, horchte auf und hielt sich fest überzeugt, daß er wieder allein im Zimmer sei.
Nach einer Pause vernahm er unter sich einen dem Rauschen eines Frauenkleides ähnlichen Ton. Der Ton näherte sich von der Treppe her und hielt an. Ein weiblicher Schrei durchdrang die verbrecherische Atmosphäre. Eine männliche Stimme rief von unten »Halloh!« Ein männlicher Fuß stieg die Treppe herauf. Herr Godfrey fühlte, daß christliche Hände ihm das Tuch von den Augen und den Knebel aus dem Munde nahmen. Er sah mit überraschtem Staunen zwei respectable Fremde vor sich und brachte mit schwacher Stimme die Worte heraus: »Was soll das heißen?« Die beiden respectablen Fremde, sahen ihn wieder an und sagten: »Genau dieselbe Frage waren wir im Begriff an Sie zu richten.«
Die unvermeidliche Erklärung folgte. Nein, ich will mit der scrupulösesten Genauigkeit zu Werke gehen. Flüchtiges Salz und Wasser folgten zunächst, um die Nerven des guten Herrn Godfrey zu beschwichtigen. Dann kam die Erklärung.
Es ergab sich aus der Mittheilung des Hauswirths und der Hauswirthin, welche beide in der Nachbarschaft eines sehr guten Rufs genossen, daß ihre erste und zweite Etage vor einigen Tagen von einem sehr respectabel aussehenden Herrn —— demselben, von welchem bereits erwähnt wurde, daß er Herrn Godfrey die Thür geöffnet habe —— für eine Woche fest gemiethet worden sei. Der Herr hatte die Wochenmiethe und alle Extras unter der Angabe im Voraus bezahlt, daß er die Zimmer für drei orientalische Edelleute, seine Freunde, welche England zum ersten Male besuchten, miethe. Früh am Morgen des Tages, von dem ich erzähle, hatten zwei der orientalischen Edelleute in Begleitung ihres respectabeln englischen Freundes von dem Logis Besitz genommen. Der Dritte werde ihnen, wie sie sagten, in Kurzem folgen, und das als sehr umfänglich geschilderte Gepäck werde, wie sie weiter berichteten, spät am Nachmittage, nachdem es das Zollhaus passirt habe, eintreffen. Nicht länger als zehn Minuten, bevor Herr Godfrey in’s Haus gekommen, war der dritte Fremde eingetroffen. Nichts Ungewöhnliches hatte sich, so weit es der Hauswirth und die Hauswirthin in ihrer im Keller befindlichen Wohnung wahrgenommen hatten, ereignet, bis sie vor etwa fünf Minuten die drei Fremden in Begleitung ihres respectabeln englischen Freundes allzusammen das Haus verlassen und ruhig in der Richtung des Strand weggehen gesehen hatten. Der Hauswirthin, die sich erinnerte, daß ein Herr zum Besuch gekommen sei, diesen Herrn aber nicht hatte fortgehen sehen, war es sonderbar vorgekommen, daß dieser Herr oben allein gelassen sei. Nach einer kurzen Ueberlegung mit ihrem Mann hatte sie es für räthlich gehalten, sich zu überzeugen, ob vielleicht etwas nicht in Ordnung sei. Das Ergebniß dieses Entschlusses war, wie ich bereits zu schildern versucht habe, und damit war die Erklärung des Hauswirths und der Hauswirthin zu Ende.
Demgemäß wurde eine Nachforschung im Zimmer angestellt. Die Sachen des guten Herrn Godfrey wurden nach allen Richtungen hin zerstreut gefunden. Als dieselben jedoch wieder aufgelesen waren, fand es sich, daß nichts fehlte. Seine Uhr, seine Kette, seine Börse, seine Schlüssel, sein Schnupftuch, sein Notizbuch und alle seine losen Zettel, alles war genau untersucht worden, dann aber unversehrt liegen gelassen, so daß der Eigenthümer es wieder zu sich nehmen konnte. Ebenso war auch nicht das kleinste den Hausbesitzern gehörende Stück aus dem Zimmer entfernt worden. Die orientalischen Edelleute hatten nur ihr eigenes buntgemaltes Manuscript mitgenommen; weiter nichts.
Was sollte das heißen? Indem ich die Sache von einem weltlichen Standpunkt aus betrachtete, schien es mir, daß Herr Godfrey das Opfer eines unbegreiflichen, von unbekannten Leuten begangenen Irrthums gewesen. Eine dunkle Verschwörung war in unserer Mitte angezettelt und unser theurer unschuldiger Freund war in die Netze derselben verstrickt worden. Wenn der christliche Held von Hundert mildthätiger Siege in eine ihm irrthümlich gestellte Falle geht, welche Warnung liegt für uns Uebrige darin, unaufhörlich auf unserer Hut zu sein! Wie leicht können sich unsere eigenen schlechten Leidenschaften als orientalische Edelleute erweisen, welche uns unversehens überfallen!
Ich könnte Bogen voll christlicher Warnungen über dieses eine Thema schreiben, aber ach! es ist mir ja leider nicht erlaubt, hier an der Besserung meiner Mitmenschen zu arbeiten; ich darf nur erzählen. Die Anweisung meines reichen Verwandten, welche jetzt wie ein Alp auf mir lastet, mahnt mich, daß ich mit meinem Bericht über jene Gewaltthätigkeit noch nicht zu Ende bin. Wir müssen Herrn Godfrey sich in Northumberland Street erholen lassen und müssen sehen, was Herr Luker zu einer späteren Tagesstunde vornahm.
Nachdem er die Bank verlassen, hatte Herr Luker verschiedene Londoner Quartiere in Geschäftsangelegenheiten aufgesucht. In seine Wohnung zurückgekehrt, fand er einen Brief vor, der, wie man ihm sagte, kurz vorher von einem Knaben überbracht worden war. Die Handschrift des Briefes war gerade wie die auf Herrn Godfrey’s Brief, sonderbar, aber der darin erwähnte Name war der eines von Herrn Luker’s Kunden. Der Schreiber meldete in der dritten Person, anscheinend einem andern dictirend, daß er unerwarteter Weise nach London beschieden worden sei. Er habe soeben in einem Logis in Alfred-Place, Tottenham Court-Road, Quartier genommen und wünsche Herrn Luker sofort in Betreff eines Kaufs zu sprechen, den er zu machen im Begriff stehe. Der Schreiber war ein enthusiastischer Sammler orientalischer Alterthümer und seit langen Jahren ein liberaler Beschützer der Handlung des Herrn Luker. O! wann werden wir uns von der Anbetung des Mammons entwöhnen! Herr Luker ließ sich einen Fiaker kommen und fuhr auf der Stelle zu seinem liberalen Beschützer.
Genau dasselbe, was Herrn Godfrey in Northumberland Street begegnet war, begegnete nun Herrn Luker in Alfred Place. Auch hier öffnete der respectable Mann die Hausthür und führte den Besucher in das nach hinten gelegene Wohnzimmer. Auch hier lag das buntgemalte Manuskript auf dem Tisch. Herrn Luker’s Aufmerksamkeit wurde wie Herrn Godfrey’s Aufmerksamkeit durch dieses schöne Werk indischer Kunst ganz absorbirt. Auch er wurde aus seiner Betrachtung, durch einen braunen nackten Arm, der ihn an der Kehle packte, durch eine Binde über seine Augen und durch einen Knebel in seinem Munde aufgeschreckt. Auch er wurde zu Boden geworfen und bis auf die Haut durchsucht. Hier war dann eine längere Pause als in Herrn Godfrey’s Fall eingetreten, aber sie hatte ebenso damit geendet, daß den Leuten im Hause etwas nicht in Ordnung zu sein schien und daß sie die Treppe hinaufkamen, um zu sehen, was vorgefallen sei. Genau dieselbe Erklärung, welche der Hauswirth in Northumberland Street Herrn Godfrey gegeben hatte, gab jetzt der Hauswirth in Alfred Place Herrn Luker. Beiden hatte die plausible Adresse und die wohlgefüllte Börse des respectabeln Fremden, der sich bei ihnen, als von seinen ausländischen Freunden beauftragt, eingeführt hatte, imponirt. Der einzige bemerkenswerthe Unterschied der beiden Fälle zeigte sich, als der verstreute Inhalt von Herrn Luker’s Taschen vom Boden aufgelesen war. Seine Uhr und seine Börse waren unversehrt, aber —— darin weniger glücklich als Herr Godfrey —— hatte man ihm eins der losen Notizblätter, die er bei sich trug, weggenommen. Das fragliche Papier war der Empfangschein über einen sehr kostbaren Gegenstand, welchen Herr Luker gerade an jenem Tage seinen Bankiers übergeben hatte. Dieses Document war zu betrügerischen Zwecken nicht verwendbar, insofern es ausdrücklich besagte, daß der kostbare Gegenstand nur auf persönliches Anhalten des Eigenthümers wieder ausgeliefert werden solle. Sobald Herr Luker sich erholt hatte, eilte er, in Voraussicht der Möglichkeit auf die Bank, daß die Diebe, welche ihn beraubt hatten, sich in dummer Weise mit dem Empfangschein bei der Bank melden möchten. In der Bank aber hatten sie sich, als Herr Luker dort eintraf, nicht blicken lassen und ließen sie sich auch später nicht blicken. Nach der Ansicht des Bankiers würde wohl ihr respectabler Freund, bevor sie davon Gebrauch zu machen versucht hatten, die Quittung genauer angesehen und sie noch zu rechter Zeit gewarnt haben. Von beiden Ueberfällen wurde die Polizei in Kenntniß gesetzt und die nöthigen Nachforschungen wurden, glaube ich, mit großer Energie ins Werk gesetzt. Die Behörden waren der Meinung, daß ein Raub auf ungenügende Kunde der Diebe hin beabsichtigt gewesen sei. Sie seien offenbar nicht sicher gewesen, ob Herr Luker die Uebergabe seines kostbaren Edelsteins einer andern Person anvertraut habe oder nicht, und der arme höfliche Herr Godfrey habe dafür büßen müssen, daß man ihn zufällig mit jenem sprechen gesehen habe. Dazu kam, daß Herrn Godfrey’s Abwesenheit von unserer Montag-Abend-Versammlung durch eine Berathung der Behörden veranlaßt war, der beizuwohnen man ihn ersucht hatte. Nachdem ich nun alle erforderlichen Erklärungen gegeben habe, darf ich wohl mit der einfachen Geschichte meiner eigenen Erlebnisse fortfahren.
Ich stellte mich am Dienstag pünktlich zur Frühstücksstunde bei Lady Verinder ein. Beim Nachschlagen in meinem Tagebuche finde ich, daß dies ein bewegter Tag war, der Vieles brachte, was zu frommem Bedauern, aber auch Vieles, was zu frommem Danke Veranlassung gab.
Tante Verinder empfing mich mit ihrer gewöhnlichen liebenswürdigen Freundlichkeit, aber sehr bald bemerkte ich, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Gewisse ängstliche Blicke entschlüpften meiner Tante, die alle auf ihre Tochter gerichtet waren. Ich selbst sehe Rachel niemals, ohne mich darüber zu wundern, wie es möglich ist, daß eine so unbedeutend aussehende Person das Kind so distinguirter Eltern wie Sir John und Lady Verinder ist.
Bei dieser Gelegenheit jedoch gab sie mir nicht nur zu dieser Verwunderung Anlaß, sondern choquirte mich geradezu. In ihrem ganzen Benehmen und ihrer Sprache machte sich ein höchst peinlicher Mangel an aller seinen Zurückhaltung bemerklich. Sie war von fieberhafter Aufregung, lachte unanständig laut und ging mit Speise und Trank beim Frühstück in einer sündhaft verschwenderischen und launenhaften Weise um. Ich empfand ein tiefes Mitleid mit ihrer armen Mutter, noch ehe mir die wahre Sachlage im Vertrauen mitgetheilt worden war.
Als das Frühstück vorüber war, sagte meine Tante: »Erinnere Dich, Rachel, was der Doctor Dir in Betreff der Zuträglichkeit von Lectüre zur Beruhigung nach den Mahlzeiten gesagt hat.«
»Ich will in die Bibliothek gehen, Mama,« antwortete sie, »aber wenn Godfrey uns besuchen sollte, laß es mich, bitte, wissen. Ich brenne vor Verlangen nach weiteren Nachrichten von ihm nach seinem Abenteuer in Northumberlandstreet.«
Sie küßte ihre Mutter auf die Stirn und warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Adieu Clack!« sagte sie in nachlässigem Ton. Ihre Insolenz erweckte keine Empfindung des Zornes in mir. Ich machte mir nur innerlich eine Notiz für sie zu beten.
Als wir allein waren, erzählte mir meine Tante die ganze schreckliche Geschichte des indischen Diamanten, welche ich ja glücklicher Weise hier nicht zu wiederholen brauche. Sie verhehlte mir nicht, daß sie es vorgezogen haben würde Schweigen über die Geschichte zu beobachten. Da aber ihre sämmtlichen Dienstboten um den Verlust des Mondstein wüßten und da einige mit diesem Verlust zusammenhängende Umstände jetzt ihren Weg in die öffentlichen Blätter gefunden hätten; da Fremde sich da mit beschäftigten, einen Zusammenhang zwischen Dem was sich auf ihrem Landsitz, und Dem was sich in Northumberlandstreet und Alfredplace zugetragen habe, herauszufinden; so sei an Verheimlichung nicht länger zu denken und sei vollkommene Offenheit ebenso nothwendig wie lobenswerth.
Manche würden, wenn sie zum ersten Male gehört hätten, was ich jetzt erfuhr, wahrscheinlich von Erstaunen überwältigt worden sein. Was mich aber betrifft, so kannte ich Rachel’s für eine Wiedergeburt im Geiste von Jugend auf unempfänglichen Sinn so gut, daß nichts, was meine Tante mir in Betreff ihrer Tochter erzählt hätte, mich überrascht haben würde. Sie hätte mir das Schlimmste bis zu Mord und Todtschlag erzählen können und ich würde doch noch immer zu mir gesagt, haben: »die ganz natürliche Folge! O, mein Gott, die ganz natürliche Folge!« Das Einzige, was mich frappirte war das Verfahren, welches meine Tante unter den obwaltenden Umständen eingeschlagen hatte. Hier, wenn jemals, wäre es unzweifelhaft am Orte gewesen, einen Geistlichen herbeizuziehen Lady Verinder war anderer Ansicht gewesen, sie hatte einen Arzt zu Rathe gezogen. Meine arme Tante hatte ihr ganzes früheres Leben in dem gottlosen Hause ihres Vaters zugebracht. Also wieder die ganz natürliche Folge! O, mein Gott, mein Gott, wieder die ganz natürliche Folge!
»Die Doctoren,« sagte Lady Verinder, »empfehlen viel Bewegung und Zerstreuung für Rachel und rathen mir angelegentlichst, ihre Gedanken so viel wie möglich von der Vergangenheit abzulenken.«
»O, welch’ ein heidnischer Rath« dachte ich bei mir, »in diesem christlichen Lande, welch’ ein heidnischer Rath!«
Meine Tante fuhr fort: »Ich thue mein Bestes, die ärztlichen Vorschriften genau zu befolgen. Aber dieses sonderbare Abenteuer ist Godfrey in einem sehr unglücklichen Moment zugestoßen. Seit Rachel davon gehört hat, ist sie fortwährend ruhelos und aufgeregt. Sie hat nicht nachgelassen in mich zu dringen, bis ich meinem Neffen Ablewhite geschrieben und ihn gebeten habe, zu uns zu kommen. Sie interessirt sich sogar für den andern Mann, der ebenfalls mißhandelt worden ist —— einen Herrn Luker, oder wie er heißt —— obgleich derselbe ihr natürlich vollkommen fremd ist.«
»Du kennst die Welt besser als ich, liebe Tante,« schaltete ich mißtrauisch ein: »aber dieses ungewöhnliche Benehmen Rachel’s muß doch seine Gründe haben. Sie hält vor Dir und vor Jedermann ein sündiges Geheimniß verborgen. Sollten diese neuesten Ereignisse ihr Geheimniß nicht mit einer Entdeckung bedrohen?«
»Entdeckung?« wiederholte meine Tante »Was verstehst Du darunter? Eine Entdeckung durch Herrn Luker oder durch meinen Neffen?«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als das Walten der Vorsehung auf wunderbare Weise sichtbar wurde. Der Diener öffnete die Thür und meldete Herrn Godfrey Ablewhite.
Zweites Capitel.
Herr Godfrey folgte der Meldung seines Namens —— wie er Alles thut — genau im richtigen Augenblick. Er folgte dem Diener nicht so unmittelbar auf dem Fuß, daß er uns hätte überraschen können. Er zögerte aber auch nicht so lange, daß er uns die doppelte Unbequemlichkeit einer Pause und einer offenstehenden Thür bereitet hätte. Der wahre Christ zeigt sich bei ihm auch in seinem vollendeten Benehmen bei den kleinsten Vorkommnissen des täglichen Lebens. Dieser theure Mann war in der That höchst vollendet.
»Melden Sie Fräulein Verinder,« sagte meine Tante zu dem Diener, »daß Herr Ablewhite hier ist.«
Wir erkundigten uns Beide nach seinem Befinden. Wir fragten ihn Beide wie aus einem Munde, ob er sich nach seinem schrecklichen Abenteuer der letzten Woche wieder erholt habe. Mit vollkommenem Takt suchte er uns Beiden in demselben Augenblick zu antworten. Lady Verinder antwortete er mit Worten, mir mit seinem reizenden Lächeln.
»Was« rief er mit unaussprechlicher Zärtlichkeit »habe ich gethan, um alle diese Theilnahme zu verdienen? Meine liebe Tante, meine liebe Miß Clack! Die ganze Sache läuft ja darauf hinaus, daß ich für einen Andern gehalten worden bin. Man hat mir nur die Augen verbunden, man hat mich nur strangulirt, man hat mich nur platt aus einen sehr harten, mit einem sehr dünnen Teppich bedeckten Fußboden geworfen. Denken Sie nur, wie viel schlimmer die Sache hätte werden können! Man hätte mich berauben, man hätte mich morden können! Was habe ich verloren? Nichts als Nervenkraft, welche das Gesetz nicht als Eigenthum anerkennt; so daß ich, genau genommen, gar nichts verloren habe. Wenn ich nach meinem Sinn hätte handeln dürfen, so hätte ich das ganze Abenteuer für mich behalten: mir widerstrebt all’ dieser Lärm und die Publicität der Sache. Aber Herr Luker hat die ihm widerfahrene Mißhandlung an die Oeffentlichkeit gebracht und in natürlicher Folge davon ist auch die mir angethane Insulte bekannt geworden. Die Zeitungen haben mich mit Beschlag belegt, bis die Leser die Sache satt haben werden. Ich sebst bin ihrer schon völlig überdrüssig! Gott gebe, daß es den Lesern bald ebenso geht! Und wie geht es meiner lieben Cousine? Findet sie noch immer Geschmack an den Londoner Zerstreuungen? Freut mich ungemein! Miß Clack, ich bedarf Ihrer ganzen Nachsicht. Ich bin zu meinem lebhaftesten Bedauern im Rückstand mit meinen Comité-Arbeiten und meinen verehrten Damen. Ich hoffe aber sehr, mich nächste Woche bei der Versammlung unseres mütterlichen Hosenvereins einstellen zu können. Sind Sie am vorigen Montag hübsch weiter gekommen? Hatte man in der Versammlung gutes Vertrauen auf die Entwickelung der Sache? Und hat unser Vorrath an Hosen gut zugenommen?
Die himmlische Freundlichkeit seines Lächelns machte seine Entschuldigung unwiderstehlich. Die Fülle seiner tiefen Stimme verlieh der interessanten geschäftlichen Angelegenheit, über die er eben mit ihr sprach, einen unbeschreiblichen Reiz. In der That hatten wir fast einen zu großen Vorrath von Hosen; wir wurden förmlich mit denselben überfluthet. Ich war eben im Begriff, ihm das mitzutheilen, als sich die Thür abermals öffnete und ein Element weltlicher Störung in der Person Fräulein Verinders das Zimmer betrat.
Sie näherte sich dem lieben Herrn Godfrey mit einer höchst unanständigen Eile, das Haar widerwärtig ungeglättet und das Gesicht von einer nach meiner Ansicht sehr unschicklichen Röthe bedeckt.
»Es freut mich ungemein, Dich zu sehen, Godfrey,« sagte sie, wie ich zu meinem Bedauern hinzufügen muß, in dem Tone und der Manier eines jungen Mannes gegen den andern. »Ich wollte, Du hättest Herrn Luker mitgebracht, Du und er sind, so lange unsere gegenwärtige Aufregung dauert, für uns die beiden interessantesten Männer in ganz London. Es ist krankhaft, so etwas zu sagen; es ist ungesund, es ist alles, wovor ein wohlgeordneter Geist wie der Miß Clack’s instinctiv zurückschreckt. Aber einerlei. Bitte, erzähle mir gleich die ganze Geschichte von Northumberlandstreet Ich weiß, die Zeitungsberichte haben einige Umstände weggelassen.«
Selbst der theure Herr Godfrey ist nicht ganz frei von den Schwächen des gefallenen Menschen, welche wir Alle von Adam geerbt haben —— er hat einen äußerst kleinen Antheil an diesem allgemeinen menschlichen Vermächtniß, aber doch einen Antheil. Ich bekenne, daß es mich schmerzte, zu sehen, wie er Rachels Hand in seine beiden Hände nahm und sie sanft an die linke Seite seiner Weste legte. Das war ja geradezu eine Aufmunterung für ihre freie Art zu reden und ihre insolente Bezugnahme auf meine Person.
»Liebste Rachel,« sagte er in demselben Tone, der mich bezaubert hatte. als er von unseren Aussichten und unseren Hosen sprach, »die Zeitungen haben Dir Alles und zwar viel besser erzählt, als ich es im Stande bin.«
»Godfrey meint, wir machen Alle zu viel aus der Sache bemerkte meine Tante. »Er hat gerade eben gesagt, daß er nicht gern davon spricht.«
»Warum das?«
Sie that diese Frage mit einem plötzlich aufflammenden Blick, mit dem sie Godfrey gerade in’s Gesicht sah. Er seinerseits sah sie wieder mit einer so deplacirten und so unverdienten Nachsicht an, daß ich mich in der That berufen fühlte, einzuschreiten.
»Rachel, meine Liebes« wandte ich freundlich ein, »wahre Größe und wahrer Muth sind immer bescheiden.«
»Du bist auf Deine Weise ein sehr guter Kerl, Godfrey,« sagte sie, indem sie, wohlbemerkt, nicht die mindeste Notiz von meiner Aeußerung nahm und noch immer mit ihrem Vetter sprach, als wäre sie ein junger Mann, der sich mit einem andern jungen Manne unterhält. »Aber ich weiß ganz gewiß, daß Du durchaus nichts von Größe an Dir hast; ich glaube nicht, daß Du einen ungewöhnlichen Grad von Muth besitzest, und bin fest überzeugt, daß, wenn Du je etwas von Bescheidenheit besessen hast, Deine weiblichen Anbeter Dich schon seit langen Jahren von dieser Tugend befreit haben. Du hast Deine besonderen Gründe, aus denen Du nicht von Deinen Abenteuern in Northumberlandstreet sprechen willst, und ich glaube sie zu kennen.«
»Meine Gründe sind die denkbar einfachsten und solche, denen man gewiß seine Anerkennung nicht versagen wird,« antwortete er noch immer geduldig. »Ich bin der Sache überdrüssig.«
»Du bist der Sache überdrüssig? Mein lieber Godfrey, erlaube mir eine Bemerkung.«
»Und welche?«
»Du bewegst Dich viel zu viel in der Gesellschaft von Frauen und hast in Folge dessen zwei sehr schlechte Gewohnheiten angenommen. Du hast Dir angewöhnt, ernstgemeintes dummes Zeug zu schwatzen und aus reiner Liebhaberei zu flunkern. Du kannst mit Deinen weiblichen Anbetern nicht gerade zu Werke gehen. Mit mir aber, denke ich, sollst Du keine Umschweife machen. Komm’, setz’ Dich! Ich stecke übervoll von unumwundenen Fragen, und hoffe, Du wirst übervoll von unumwundenen Antworten sein.«
Sie schleppte ihn nun förmlich durch das Zimmer nach einem Stuhl an dem Fenster, wo das Licht gerade aus sein Gesicht fallen mußte. Ich empfinde es höchst schmerzlich, dazu genöthigt zu sein, eine solche Sprache wiederzugeben und ein solches Benehmen zu schildern. Aber eingeklemmt wie ich bin zwischen Herrn Franklin Blake’s Anweisung aus der einen und meiner heiligen Achtung für die Wahrheit auf der anderen Seite, was bleibt mir übrig? Ich sah meine Tante an. Sie saß regungslos da, anscheinend durchaus nicht geneigt, sich in die Sache zu mischen. Wie zuvor hatte ich an ihr diese Art von Erstarrung bemerkt. Vielleicht war es die Wirkung einer Reaction nach der schweren Zeit, die sie auf dem Lande durchzumachen gehabt hatte. Keinesfalls aber war es ein erfreuliches Symptom in dem Alter der guten Lady Verinder und bei ihrer mit den Jahren zunehmenden Corpulenz.
Inzwischen hatte sich Rachel mit unserem liebenswürdigen und langmüthigen, unserem allzu langmüthigen Freunde am Fenster niedergelassen Sie fing mit der Fragenschnur, mit der sie ihn bedroht hatte, an, und nahm dabei von ihrer Mutter oder mir so wenig Notiz, als ob wir gar nicht im Zimmer gewesen wären.
»Hat die Polizei irgend etwas in der Sache gethan, Godfrey?«
»Durchaus nichts.«
»Man kann als ausgemacht annehmen, nicht wahr, daß die drei Männer, welche Dich überfallen haben, die selben gewesen sind, welche später Herrn Luker überfielen?«
»Menschlich zu reden, liebe Rachel, kann darüber kein Zweifel bestehen.«
»Und man hat keine Spur von ihnen entdeckt?«
»Keine.«
»Man hält diese drei Männer für die drei Indier welche damals vor unserem Landhause erschienen, nicht wahr?«
»Einige Leute glauben das.«
»Glaubst Du es?«
»Liebe Rachel, sie haben mir die Augen verbunden, ehe ich sie erkennen konnte; ich weiß durchaus nichts von der Sache. Wie kann ich irgend eine Ansicht darüber aussprechen?«
Selbst die engelhafte Freundlichkeit des Herrn Godfrey fing, wie man steht, unter der auf ihm lastenden Zudringlichkeit endlich nachzulassen an. Ob ungezügelte Neugierde oder unbezwingliche Furcht Fräulein Verinder ihre Fragen eingaben, maße ich mir nicht an zu untersuchen. Ich habe nur zu berichten, daß, als Herr Godfrey den Versuch machte, sich nach der eben mitgetheilten Antwort von seinem Sitze zu erheben, sie ihn an beiden Schultern faßte und wieder auf seinen Stuhl zurückdrängte. Sagt nicht, daß das unbescheiden war! Ja, sagt nicht, daß nur die rücksichtslose Angst eines schuldvollen Bewußtseins ein Benehmen, wie das eben geschilderte, erklären könne! Wir sollen nicht über Andere richten, meine christlichen Freunde; wahrlich, wahrlich, wahrlich, wir sollen nicht über Andere richten!
Ohne die mindeste Verlegenheit fuhr sie mit ihren Fragen fort. Ernste Bibelfreunde werden sich dabei vielleicht, wie es mit mir der Fall war, der verblendeten Kinder des Teufels erinnern, welche in der Zeit kurz vor dem Eintritt der Sündfluth ihre Orgien schamlos fortsetzten.
»Ich möchte etwas über Herrn Luker wissen, Godfrey.«
»Ich muß mich zu meinem lebhaften Bedauern zu dieser Auskunft wieder außer Stande erklären, Rachel. Kein Mensch weiß weniger von Herrn Luker, als ich.«
»Du hast ihn früher nie gesehen, bevor Du ihm zufällig in der Bank begegnetest?«
»Niemals.«
»Hast Du ihn seitdem wiedergesehen?«
»Ja. Wir sind auf Anhalten der Polizei sowohl zusammen, wie einzeln verhört worden.«
»Herrn Luker haben sie einen Empfangschein, den er von seinen Bankiers erhalten hat, geraubt; nicht wahr? Ueber was war der Empfangschein ausgestellt?«
»Ueber einen kostbaren Edelstein, den er im Gewölbe der Bank niedergelegt hatte.«
»Das steht in den Zeitungen. Das mag den gewöhnlichen Lesern genügen, aber mir genügt es nicht. In dem Empfangschein der Bankiers muß gestanden haben, was für ein Edelstein es war.«
»So viel ich gehört habe, Rachel, stand in dem Empfangsschein der Bankiers nichts der Art. Ein kostbarer Edelstein, Eigenthum des Herrn Luker; deponirt von Herrn Luker; versiegelt von Herrn Luker’s Petschaft; nur auszuliefern auf persönliches Anhalten des Herrn Luker. So lautete der Empfangschein und das ist alles, was ich darüber weiß.«
Als er das gesagt hatte, wartete sie einen Augenblick. Sie sah ihre Mutter an und seufzte, sah dann wieder Herrn Godfrey an und fuhr fort:
»Unsere Familien-Angelegenheiten,« sagte sie, »scheinen theilweise ein Gegenstand der Besprechung in den Zeitungen geworden zu sein.«
»Leider ist dem so!«
»Und einige uns völlig fremde Müßiggänger geben sich Mühe, einen Zusammenhang zwischen Dem, was sich in unserm Landhause in Yorkshire und Dem, was sich seitdem hier in London ereignet hat, heraus zu finden?«
»Ich fürchte, die Neugierde gewisser Kreise macht sich in dieser Weise zu schaffen.«
»Die Leute, welche behaupten, daß die drei unbekannten Männer, welche Dich und Herrn Luker mißhandelten, die drei Indier sind, sagen auch, daß der kostbare Edelstein ——«
Hier hielt sie inne. Sie war in den letzten Augenblicken allmälig immer blasser und blasser geworden. Das tiefdunkle Schwarz ihres Haars contrastirte so grell mit dieser Blässe und machte den Eindruck derselben so unheimlich, daß wir Alle in dem Augenblick, wo sie mitten in ihrer Frage inne hielt, glaubten, sie würde ohnmächtig werden.
Herr Godfrey benutzte diesen Moment zu einem zweiten Versuch, sich von seinem Sitz zu erheben. Meine Tante bat Rachel dringend, nicht weiter zu reden. ich folgte meiner Tante mit einem Fläschchen flüchtigen Salzes. Aber keiner von uns brachte die mindeste Wirkung aus sie hervor.
»Godfrey, bleib sitzen! Mama, Du hast durchaus keine Ursache, Dich über mich zu beunruhigen. Clack, Sie brennen ja vor Begierde, die Sache zu Ende zu hören —— ich darf ja schon in Rücksicht auf Sie nicht in Ohnmacht fallen.«
Das waren wörtlich ihre Ausdrücke, wie ich sie in dem Moment, wo ich wieder zu Hause war, in mein Tagebuch geschrieben habe. Aber, laßt uns nicht richten! meine christlichen Freunde, laßt uns nicht richten!
Sie wandte sich wieder. an Herrn Godfrey. Mit einem eigensinnigen Trotz, der schrecklich anzusehen war, nahm sie ihre Frage genau da wieder auf, wo sie inne gehalten hatte und vervollständigte dieselbe mit folgenden Worten: »Ich sprach eben mit Dir über das, was die Leute in gewissen Kreisen reden. Sage mir grade heraus, Godfrey, behaupten Einige von ihnen auch, daß Herrn Luker’s kostbarer Edelstein —— der Mondstein ist?«
In dem Augenblick, wo sie den Namen des indischen Diamanten aussprach, ging eine deutlich erkennbare Veränderung mit meinem herrlichen Freunde vor. Er wurde roth. Er verlor die angeborene Anmuth seiner Manieren, welche einen der größten Reize seines Wesens ausmachen. Eine edle Entrüstung gab ihm seine Antwort ein.
»Allerdings behaupten sie das,« erwiderte er. »Es giebt Leute, welche keinen Anstand nehmen, Herrn Luker zu beschuldigen, daß er zu einem Privatzweck eine Unwahrheit sage. Er hat wiederholt feierlich erklärt, daß er, bevor das verleumderische Gerücht sich in dieser Weise seiner bemächtigt habe, niemals von dem Mondstein auch nur gehört habe. Und diese elenden Menschen entgegnen darauf ohne den Schatten eines Beweises für ihre Behauptung: »Er hat seine Gründe, die Sache geheim zu halten; wir glauben seinen Betheuerungen nicht. Schändlich! Schändlich!«
Rachel sah ihn, während er so sprach, mit einem sonderbaren Blick, den ich nicht recht beschreiben kann, an. Als er ausgesprochen hatte, sagte sie: »Wenn ich bedenke, daß Herr Luker nur ein ganz zufälliger Bekannter von Dir ist, Godfrey, so finde ich, daß Du Dich mit einer großen Wärme seiner annimmst!«
Mein reich begabter Freund gab ihr eine der wahrsten evangelischen Antworten, die ich je in meinem Leben gehört habe.
»Ich hoffe« sagte er, »Du findest, Rachel, daß ich mich aller Angegriffenen mit großer Wärme annehme.«
Der Ton, in dem er diese Worte sprach, hätte einen Stein erweichen können. Aber, o mein Gott, was ist die Härte eines Steins im Vergleich mit der Härtigkeit des nicht im Geiste wiedergeborenen menschlichen Herzens! Sie lachte höhnisch. Ich erröthe, indem ich es niederschreibe —— sie lachte ihm höhnisch in’s Gesicht.
»Spare Dir Deine schönen Redensarten für Deine Damen-Comités, Godfrey, Ich bin überzeugt, daß dieses verleumderische Gerücht, daß sich Herrn Luker’s bemächtigt hat, Dich auch nicht verschont hat.«
Diese Worte rissen selbst meine Tante aus ihrer Erstarrung.
»Liebe Rachel,« verwies sie ihr ihre Bemerkung, »Du hast wirklich kein Recht, das zu sagen.«
»Ich meine es nicht böse, Mama, ich meine es nur gut. Habe nur einen Augenblick Geduld mit mir und Du wirst es sehen.«
Sie sah wieder Herrn Godfrey mit einem Blick an, der ein plötzliches Mitleid mit ihm zu verrathen schien. Sie ließ sich herbei, ihn in einer für eine vornehme junge Dame höchst unpassenden Weise bei der Hand zu fassen.
»Ich bin fest überzeugt,« sagte sie, »daß ich den wahren Grund Deiner Ungeneigtheit, über diese Angelegenheit vor meiner Mutter und vor mir zu reden, kenne. Ein unglücklicher Zufall hat Dich in der Vorstellung der Leute mit Herrn Luker in Verbindung gebracht. Du hast mir erzählt, was das Gerücht von ihm sagt; was sagt das Gerücht von Dir?«
Noch in der elften Stunde versuchte es der liebe Herr Godfrey, der immer bereit war, Böses mit Gutem zu vergelten, sie zu schonen.
»Frage mich nicht!« sagte er. »Es ist besser, die Sache in Vergessenheit gerathen zu lassen, es ist wahrhaftig besser.«
»Ich will es aber wissen!« schrie sie wild mit scharfer Stimme.
»Sage es ihr, Godfrey!« bat meine Tanten »Dein Schweigen schadet ihr mehr, als irgend ein Wort es thun kann.«
Herrn Godfrey’s schöne Augen füllten sich mit Thränen. Er warf ihr einen letzten flehenden Blick zu —— und sprach dann die verhängnißvollen Worte aus:
»Wenn Du es durchaus wissen willst — das Gerücht sagt, daß der Mondstein als Pfand im Besitz des Herrn Luker ist, und das; ich derjenige bin, der ihn versetzt hat.«
Sie sprang mit einem Schrei auf. Sie blickte rückwärts und vorwärts, von Herrn Godfrey nach meiner Tante und von meiner Tante nach Herrn Godfrey, und das mit einem solchen Ausdruck des Wahnsinns, daß ich wirklich glaubte, sie sei verrückt geworden.
»Sprecht nicht mit mir! berührt mich nicht!« rief sie aus, indem sie sich vor uns allen wie ein wildes Thier in eine Ecke des Zimmers flüchtete. » Das ist meine Schuld, ich muß die Sache wieder gut machen. Ich habe mich selbst geopfert —— dazu hatte ich ein Recht, wenn es mir so gefiel. Aber einen Unschuldigen ungerecht beschuldigt zu sehen; ein Geheimnis; zu bewahren, das ihn für sein ganzes übriges Leben um seinen guten Namen bringt —— O! mein Gott! Das ist zu furchtbar! Das kann ich nicht ertragen!«
Meine Tante schien sich von ihrem Sitz erheben zu wollen, setzte sich aber dann wieder nieder. Sie rief mich mit schwacher Stimme und deutete auf ein Fläschchen in ihrem Arbeitskasten.
»Rasch!« flüsterte sie. »Sechs Tropfen in Wasser, laß es Rachel nicht sehen.«
Unter andern Umständen würde es mir sonderbar vorgekommen sein. Jetzt war keine Zeit nachzudenken, hier galt es nur rasch die Medicin zu geben. Der liebe Herr Godfrey unterstützte mich unbewußt in der Verheimlichung dessen, was ich that, vor Rachel, indem er ihr am andern Ende des Zimmers zuzureden suchte.
»Du übertreibst, Du übertreibst wirklich!« hörte ich ihn sagen. »Mein Ruf steht zu fest, um durch ein elendes, vorübergehendes, verläumderisches Gerücht vernichtet zu werden. In einer Woche wird die ganze Sache vergessen sein. Lass’ uns nicht wieder davon reden.«
Aber sie war vollkommen unzugänglich, selbst für so großmüthige Worte wie diese. Sie gerieth immer mehr außer sich.
»Ich muß und will der Sache Einhalt thun!« sagte sie. »Mutter! höre was ich sage. Miß Clack! hören Sie auf das, was ich sage. Ich kenne die Hand, die den Mondstein genommen hat —— ich weiß« — sie sprach diese Worte mit scharfer Stimme, sie stampfte wüthend mit dem Fuß auf den-Boden —« »ich weiß, daß Godfrey Ablewhite unschuldig ist! Bringe mich vor den Richter, Godfrey! Bringe mich vor den Richter und ich will es beschwören!«
Meine Tante ergriff mich bei der Hand und flüfterte mir zu: »Stelle Dich ein paar Minuten zwischen uns und laß Rachel mich nicht sehen.«
Ich bemerkte eine bläuliche Gesichtsfarbe an ihr, die mich beunruhigte; sie sah, wie sehr ich erschrak.
»Die Tropfen werden mich in wenigen Minuten wiederherstellen,« sagte sie und damit schloß sie die Augen und schwieg.
Während dessen hörte ich den lieben Herrn Godfrey Rachel noch immer sanfte Vorstellungen machen.
»Du darfst in einer Angelegenheit wie diese nicht öffentlich auftreten,« sagte er. »Dein Ruf, liebste Rachel, ist zu rein, und zu heilig, als daß man leichtsinnig damit umgehen dürfte.«
»Mein Ruf!« lachte sie laut auf; »ich werde ja eben so gut beschuldigt wie Du, Godfrey. Der beste Beamte der geheimen Polizei in England erklärt, daß ich meinen eigenen Diamanten gestohlen habe. Frage ihn, was er denkt und er wird Dir sagen, daß ich den Mondstein verpfändet habe, um meine Privatschulden mit dem Erlös zu bezahlen.« Sie hielt inne, lief durch das Zimmer und fiel zu den Füßen ihrer Mutter auf die Kniee. »O, Mutter, Mutter, Mutter! Muß ich nicht wahnsinnig sein, um jetzt nicht die Wahrheit zu bekennen!«
Sie war zu leidenschaftlich aufgeregt, um den Zustand ihrer Mutter zu bemerken. Im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder erhoben und war wieder zu Herrn Godfrey geeilt: »Ich will nicht, daß Du, daß irgend ein unschuldiger Mensch durch mein Schweigen ungerecht angeklagt und verleumdet wird. Wenn Du mich nicht vor den Richter führen willst, so setze mir eine schriftliche Erklärung Deiner Unschuld auf und ich will sie unterzeichnen. Thu’ was ich Dir sage, Godfrey, oder ich schreibe an die Zeitungen — oder ich laufe auf die Straße und rufe die Sache laut aus.«
Ich will nicht sagen, daß dies die Sprache eines bösen Gewissens war —— ich will es die Sprache eines hysterischen Zufalls nennen. Der nachsichtige Herr Godfrey beschwichtigte sie dadurch, daß er ein Stück Papier nahm und die Erklärung entwarf. Sie unterzeichnete dieselbe in fieberhafter Hast.
»Zeige es überall, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen,« fragte sie, indem sie ihm die unterzeichnete Erklärung überreichte. »Ich fürchte, Godfrey, ich habe Dir bis jetzt in meinen Gedanken noch keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Du bist uneigennütziger, Du bist ein besserer Mensch als ich von Dir geglaubt habe. Komm zu uns so oft Du kannst und ich will versuchen, mein Unrecht wieder gut zu machen.«
Sie reichte ihm ihre Hand. Ach! über unsere gefallene Natur! Ach! über Herrn Godfrey! Er vergaß sich nicht nur so weit, ihre Hand zu küssen, sondern er antwortete in einem Ton der Milde, der in einem solchen Fall nicht viel besser war als ein Abkommen mit der Sünde. »Ich will kommen, beste Rachel,« sagte er, »aber nur unter der Bedingung, daß wir nicht wieder von diesem verhaßten Gegenstand reden.« Niemals hatte ich unsern christlichen Held von einer weniger vortheilhaften Seite kennen gelernt als bei dieser Gelegenheit.
Bevor noch Jemand anderes ein Wort hatte sagen können, wurden wir alle durch ein donnerähnliches Klopfen an der Hausthür erschreckt. Ich sah zum Fenster hinaus und sah in einer vor der Thür haltenden Equipage mit gepudertem Diener die Weltlust, die Fleischeslust und den Teufel in Gestalt von drei in der frechsten Weise gekleideten Frauenzimmern.
Rachel fuhr zusammen und faßte sich. Sie ging quer durch das Zimmer auf ihre Mutter zu.
»Sie sind da, um mich zur Blumen-Ausstellung abzuholen,« sagte sie. »Ein Wort, Mama, ehe ich gehe. Ich habe Dir keinen Kummer gemacht, nicht wahr?«
Ist die Stumpfheit eines sittlichen Gefühls, welche nach dem eben Vorgefallenen eine solche Frage thun konnte, zu bemitleiden oder zu verdammen? Ich neige mich stets dem Erbarmen zu. Bemitleiden wir es.
Die Tropfen hatten ihre Wirkung gethan. Der Teint meiner armen Tante hatte seine frühere Farbe wieder angenommen. »Nein, nein, liebes Kind.« sagte sie, »fahre nur mit unsern Freundinnen und amüsire Dich gut.«
Ihre Tochter küßte sie. Ich hatte das Fenster verlassen und stand neben der Thür, als Rachel sich derselben näherte, um hinaus zu gehen. Abermals war eine Veränderung mit ihr vorgegangen, sie schwamm in Thränen. Ich beobachtete mit Interesse die momentane Weichheit dieses verhärteten Herzens. Ich hatte Lust, ein Paar ernste Worte zu ihr, zu reden. Aber, ach! Mein wohlgemeinter Antheil erregte nur Anstoß. »Aber was soll das heißen, daß Sie mich bemitleiden?« fragte sie mich in einem bittern, flüsternden Tone, als sie an mir vorüber nach der Thür ging. »Sehen Sie nicht, wie glücklich ich bin? Ich gehe auf die Blumen-Ausstellung, Clack; und ich habe den hübschesten Hut in London.« Sie machte das Maß dieser schalen Mockerie dadurch voll, daß sie mir eine Kußhand zuwarf und damit aus dem Zimmer ging.
Ich wollte, ich könnte das Mitleid in Worten schildern, das ich für dies unglückliche und mißleitete Mädchen empfand, aber ich bin fast leider eben so arm an Worten wie an Geld. Man gestatte mir, es auszusprechen: Mein Herz blutete für sie.
Als ich mich wieder zu meiner Tante gesetzt hatte, bemerkte ich, daß der liebe Herr Godfrey leise, hier und dort, an verschiedenen Stellen des Zimmers etwas suchte. Er trat wieder auf meine Tante und mich zu, seine Unschuldserklärung in der einen und ein Zündholzdöschen in der andern Hand. »Liebe Tante,« sagte er, »eine kleine Verschwörung. Liebe Miß Clack, ein frommer Betrug, den selbst Ihre sittliche Strenge entschuldigen wird! Wollen Sie Rachel bei dem Glauben lassen, daß ich das großmüthige Opfer annehme, das sie mir durch die Unterzeichnung dieses Papiers gebracht hat? Und wollen Sie freundlichst Zeuge sein, daß ich es in Ihrer Gegenwart vernichte, bevor ich dieses Haus verlasse?«
Er zündete das Papier mit einem Zündholz an und ließ es auf einem auf dem Tische stehenden Teller verbrennen. »Die geringfügigsten Ungelegenheiten, welche mir vielleicht aus der Sache erwachsen können,« bemerkte er, »sind nichts im Vergleich zu der hohen Wichtigkeit, die es hat, diesen reinen Namen vor der unreinen Berührung mit der Welt zu bewahren. Da! Nun haben wir es zu einem unschädlichen Häufchen Asche gemacht und unsere theure Rachel mit ihren raschen Entschlüssen wird nie erfahren, was wir gethan haben! Wie ist Ihnen zu Muthe, meine theuren Freundinnen? Ich für mein armes Theil fühle mich so leicht wie ein Kind!«
Er lächelte uns mit seinem schönen Lächeln zu; er reichte seiner Tante die eine und mir die andere Hand. Sein edles Benehmen hatte mich zu tief ergriffen, als daß ich hätte reden können. Ich schloß die Augen; ich führte seine Hand in einer Art frommer Selbstvergessenheit an meine Lippen. Er murmelte eine sanfte Einwendung. O, die Extase, die reine unirdische Extase jenes Augenblicks! Ich saß —— ich wüßte kaum zu sagen worauf —— ganz in meine entzückten Empfindungen verloren. Als ich die Augen wieder öffnete, war es mir, als ob ich vom Himmel wieder auf die Erde hinabstiege.
Nur meine Tante war noch im Zimmer, er war fortgegangen.
Gern würde ich hier schließen, gern würde ich in meiner Erzählung mit dem Bericht über Herrn Godfrey’s edles Benehmen abbrechen. Unglücklicher Weise aber giebt es noch Vieles, was der unnachsichtige pecuniäre Druck der Anweisung des Herrn Blake mich zu erzählen nöthigt. Die peinlichen Enthüllungen, welche in meiner Gegenwart während jenes Besuchs am Dienstage in jenem Hause in Montague-square erfolgen sollten, hatten ihr Ende noch nicht erreicht.
Als ich mich mit Lady Verinder wieder allein fand, brachte ich das Gespräch sehr natürlich auf den Gegenstand ihrer Gesundheit, indem ich leise auf die auffallende Angst, mit der sie ihr Unwohlsein und das dagegen angewandte Mittel vor ihrer Tochter zu verbergen gesucht hatte, anspielte.
Die Antwort meiner Tante überraschte mich nicht wenig.
»Drusilla,« sagte sie —— sollte ich noch nicht erwähnt haben, daß mein Vorname Drusilla ist, so erlaube ich mir, es hier zu thun— —, »Du berührst gewiß ganz unabsichtlich einen sehr betrübenden Gegenstand.«
Ich stand sofort auf. Meine Delicatesse ließ mir keine Wahl, ich mußte, nachdem ich mich entschuldigt hatte, gehen. Aber Lady Verinder hielt mich zurück und bestand darauf, daß ich mich wieder hinsetzte.
»Du hast ein Geheimniß erfahren« sagte sie, »welches ich außer meiner Schwester, Mrs. Ablewhite, und meinem Advocaten, Herrn Bruff, Niemandem sonst anvertraut habe. Auf die Discretion jener Beiden kann ich mich verlassen und gewiß auch, wenn ich Dir die Umstände mittheile, auf die Deinige, nicht wahr? Bist Du pressirt, Drusilla, oder bist Du diesen Nachmittag frei?«
Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mich meiner Tante vollständig zur Verfügung stellte.
»Dann leiste mir noch eine Stunde Gesellschaft!« sagte sie. Ich habe Dir etwas zu erzählen, was Du, glaube ich, mit Bedauern hören wirst; und ich werde Dich nachher um einen Dienst zu bitten haben, den Du mir hoffentlich nicht versagen wirst.«
Ich brauche auch hier wohl kaum zu sagen, daß ich mich eifrigst bereit erklärte, ihr behilflich zu sein.
»Du kannst hier bleiben,« fuhr sie fort, »bis Herr Bruff um 5 Uhr zu mir kommt. Und Du kannst eine der Zeuginnen sein, deren es bei der Unterzeichnung meines Testaments bedürfen wird.«
Ihr Testament! Ich dachte an die Tropfen, die ich eingegeben, an die bläuliche Gesichtsfarbe, die ich an ihr beobachtet hatte. Ein Licht, das nicht von dieser Welt war, ein Licht, das prophetisch aus einem ungegrabenen Grabe hervorleuchtet, dämmerte feierlich in meinem Geiste auf. Das Geheimnis; meiner Tante war kein Geheimniß mehr.
Drittes Capitel.
Die Rücksicht für die arme Lady Verinder verbot es mir, auch nur anzudeuten, daß ich die traurige Wahrheit bereits errathen hatte, noch bevor sie die Lippen zu ihrer Mittheilung öffnete. Ich wartete den Moment, wo sie zu reden anfangen würde, ruhig ab, und nachdem ich mich in meinem Innern auf ein paar Trostesworte vorbereitet hatte, die ich bei der ersten passenden Gelegenheit anbringen wollte, war ich zur Uebernahme jeder mir zugedachten Pflicht, so schmerzlich sie auch sein möchte, bereit.
»Ich bin vor einiger Zeit ernstlich krank gewesen, Drusilla,« fing meine Tante an. »Und, sonderbar genug, ohne selbst etwas davon zu wissen.«
»Ich mußte an die Tausende und aber Tausende menschlicher Geschöpfe denken, die Alle in der Sterbestunde an ihrer Seelekrank sind, ohne es selbst zu wissen. Und ich fürchtete gar sehr, daß auch meine arme Tante zu diesen Tausenden gehören möchte.
»Ja, meine Theuerste!« sagte ich traurig, »ja!«
»Ich brachte,« fuhr sie fort, »wie Du weißt, Rachel nach London, um die Aerzte über sie zu consultiren ich hielt es für richtig, mich an zwei Aerzte zu wenden.«
Zwei Aerzte! und —— o, mein Gott! Rachel’s Zustand keinen Geistlichen.
»Jawohl meine Theuerste,« wiederholte ich, »jawohl.«
»Einer der beiden Aerzte,« fuhr meine Tante fort, »war mir bis dahin unbekannt. Der andere war ein alter Freund meines verstorbenen Mannes gewesen und hatte stets um meines Gatten willen ein aufrichtiges Interesse an mir genommen. Nachdem er Rachel etwas verordnet, erklärte er, er wünsche mich in einem andern Zimmer allein zu sprechen. Ich erwartete natürlich einige specielle Anweisungen, wie ich mich in Betreff meiner Tochter zu verhalten habe. Zu meiner Ueberraschung ergriff er mit sehr ernster Miene meine Hand und sagte: »Ich habe Sie mit dem Auge des Freundes und des Arztes angesehen, Lady Verinder. Ich fürchte, Sie bedürfen ärztlichen Raths viel dringender, als Ihre Tochter.«
Er that mir einige Fragen, mit denen ich es anfänglich sehr leicht nehmen wollte, bis ich bemerkte, daß meine Antworten ihn betrübten. Unsere Unterhaltung endete damit, daß wir für den nächsten Tag auf eine Stunde, wo Rachel nicht zu Hause sein würde, eine Consultation verabredeten, die er mit einem ärzlichen Freunde meinetwegen halten wollte. Das Ergebniß dieser Consultation, das mir in einer höchst rücksichtsvollen und milden Weise mitgetheilt wurde, war die von beiden Aerzten gewonnene Ueberzeugung, daß eine kostbare und nicht wieder einzubringende Zeit verloren sei und daß ihre Kunst über meinen Zustand jetzt nichts mehr vermöge. Seit länger als zwei Jahren habe ich an einem tückischen Herzübel gelitten, welches, ohne von irgend beunruhigenden Symptomen begleitet zu sein, ganz allmälig meine Gesundheit zerrüttet hat. Ich kann vielleicht noch ein paar Monate leben, ich muß aber jeden Augenblick auf meinen Tod gefaßt sein, die Aerzte können nicht positiver reden. Es würde vergebens sein, wenn ich Dich glauben machen wollte, meine Liebe, daß ich nicht sehr schlimme Stunden durchgemacht habe, seit ich über meinen wirklichen Zustand aufgeklärt bin. Aber ich bin jetzt gefaßter als ich es war und ich bin nach Kräften bemüht, meine weltlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Das Einzige, was mir Sorge macht, ist der Gedanke, daß Rachel eine Ahnung von meinem Zustand bekommen könnte. Wenn sie etwas davon erführe, so würde sie auf der Stelle die Erschütterung meiner Sorge wegen des Diamanten zuschreiben und würde sich bittere Vorwürfe über Etwas machen, was das arme Kind in keiner Weise verschuldet hat. Beide Aerzte stimmen« darin überein, daß das Uebel zwei, wenn nicht vor drei Jahren seinen Anfang genommen hat. Ich bin überzeugt, Drusilla, daß Du mein Geheimniß gut bewahren wirst, denn ich täusche mich nicht, wenn ich aufrichtige Sorge und Sympathie für mich in Deinem Gesicht zu lesen glaube.«
Sorge und Sympathie! O, wie kann man so heidnische Empfindungen von einer glaubensfesten englischen Jungfrau erwarten!
Meine arme Tante hatte wenig Vorstellung davon, welch ein Strom frommer Dankbarkeit sich über mich ergoß, als sie sich dem Ende ihrer traurigen Erzählung näherte. Vor mir eröffnete sich ein weites Feld nützlicher Thätigkeit! Eine geliebte Verwandte und ein dem Tode naher Mitmensch, am Rande der großen Reise, völlig unvorbereitet und durch eine Fügung der Vorsehung in dem Fall mir ihre Lage zu enthüllen! Wie soll ich die Freude schildern, mit der ich mich nun erinnerte, daß die würdigen geistlichen Freunde, auf die ich mich verlassen konnte, nicht nach ein oder zwei, sondern nach zehn und zwanzigen zählten! Ich schloß meine Tante in meine Arme, ich vermochte meiner überströmenden Zärtlichkeit jetzt durch nichts Geringeres, als durch eine Umarmung zu genügen. »O!« rief ich feurig aus, welch’ ein unbeschreibliches Interesse flößest Du mir ein! O! Wie viel Gutes hoffe ich Dir noch erweisen zu können, bevor wir von einander Abschied nehmen!«
Nachdem ich noch einige ernste vorbereitende Worte gesagt hatte, ließ ich ihr die Wahl unter drei würdigen Freunden, die Alle in ihrer Nachbarschaft das Werk der Gnade vom Morgen bis Abend übten, die Alle gleich unermüdlich im Ermahnen, Alle freundlich bereit waren, auf ein Wort von mir ihre reiche Begabung zur Anwendung zu bringen. Aber ach! das Ergebniß meiner Bemühung war weit entfernt, ermuthigend zu sein. Die arme Lady Verinder sah bei meinen Worten verwirrt und erschrocken aus und begegnete allen meinen Vorstellungen mit dem rein weltlichen Einwand, daß sie sich nicht stark genug fühle, den Besuch Fremder zu empfangen. Ich gab, natürlich nur für den Augenblick, nach. Meine reiche Erfahrung —— als Hörerin und Besucherin von im Ganzen nicht weniger als vierzehn geistlichen Freunden —— belehrte mich, daß hier wieder einmal ein Fall der Vorbereitung durch Bücher vorliege. Ich besaß eine kleine Bibliothek von Werken, die Alle für die gegenwärtige Situation geeignet, Alle darauf berechnet waren, meine Tante zu erwecken, zu überzeugen, vorzubereiten, zu erleuchten und zu stärken. »Du mußt lesen, Liebste, nicht wahr, das wirst Du thun?« sagte ich im gewinnendsten Ton. »Nicht wahr, Tante, Du wirst lesen, wenn ich Dir meine köstlichen Bücher bringe, in denen die Blätter bei allen wichtigen Stellen eingeschlagen und wo alle solche Worte, bei denen Du inne halten und Dich fragen mußt: »Paßt dies auf mich?« mit Bleistift angestrichen sind?« Selbst diese einfache Aufforderung, —— so absolut unchristlich ist der Einfluß der Welt ——, schien meine Tante unangenehm zu berühren. Sie sagte mit einem Blick der Ueberraschung, der für mich eben so belehrend wie erschreckend war: »Ich will Dir gern zu Gefallen thun, was ich kann, Drusilla.« Da war kein Augenblick zu verlieren. Die Uhr auf dem Kamine mahnte mich, daß ich noch eben Zeit habe, nach Hause zu eilen, mich mit einer ersten Serie auserwählter Schriften, etwa einem Dutzend, zu versehen und noch zu rechter Zeit wieder da zu sein, wenn der Advocat kommen und ich als Zeugin bei Lady Verinder’s Testament gebraucht werden würde. Nachdem ich versprochen, um fünf Uhr zurück zu sein, ging ich fort, um mein Gnadenwerk auszurichten.
Wo es nur meine eigenen Interessen gilt, begnüge ich mich in meiner Demuth mit der Beförderung durch den Omnibus. Man kann sich also von meiner Hingebung an die Interessen meiner Tante eine Vorstellung machen, wenn ich bemerke, daß ich bei dieser Gelegenheit die Verschwendung beging, mir eine Droschke zu nehmen.
Ich fuhr nach Hause, suchte meine erste Serie von Schriften zusammen und fuhr zurück nach Montaguesquare mit einem Dutzend Bücher in einem Nachtsack, deren Gleichen sich, wie ich fest überzeugt bin, die Literatur keines andern Landes in Europa rühmen kann. Ich bezahlte dem Droschkenkutscher genau seine Taxe. Er nahm dieselbe mit einem Fluch entgegen, worauf ich ihm sofort ein Tractätchen einhändigte. Hätte ich ihm eine Pistole vor den Kopf gehalten, so hätte dieses verlorene Menschenkind kaum betroffener aussehen können. Er sprang von seinem Bock auf und fuhr unter profanen Ausrufen des Entsetzens, die ohne jede Wirkung auf mich blieben, davon. Ich säete, seinem Zornausbruche Trotz bietend, die gute Saat, indem ich ein zweites Tractätchen durch’s Fenster in den Wagen warf.
Dieses Mal öffnete mir zu meiner großen Freude nicht die Person mit den Mützenbändern, sondern der Diener die Thür und theilte mir mit, daß während meiner Abwesenheit der Doktor gekommen und noch mit Lady Verinder eingeschlossen sei. Vor wenigen Augenblicken war der Advocat Herr Bruff eingetroffen und wartete in der Bibliothek. Ich ward in die Bibliothek geführt, um gleichfalls dort zu warten.
Herr Bruff schien überrascht, mich zu sehen. Er ist der Advocat der Familie und wir hatten uns schon wiederholt bei früheren Gelegenheiten in Lady Verinder’s Hause getroffen. Ein Mann, der, wie ich mit Bedauern sagen muß, im Dienst der Welt alt und grau geworden, ein Mann, der in seinen Geschäftsstunden der auserwählte Prophet des Gesetzes und des Mammons, und der in seinen Mußestunden fähig war, einen Roman zu lesen und ein Tractätchen zu zerreißen.
»Kommen Sie, um längere Zeit im Hause zu bleiben, Miß Clack?« sagte er mit einem Blick auf meinen Nachtsack. Einem Mann wie diesem den Inhalt meines Nachtsacks zu enthüllen, wäre eine Aufforderung zu einem profanen Ausbruch gleichgekommen. Ich ließ mich zu dem Niveau seiner Vorstellungen herab und nannte mein Geschäft hier im Hause.
»Meine Tante hat mir mitgetheilt, daß sie im Begriff steht, ihr Testament zu unterzeichnen,« antwortete ich; »sie hat mich freundlichst ersucht, ihr dabei als Zeugin zu dienen.«
»Ei! ei! Gut, Miß Clack, Sie können als Zeugin dienen; Sie sind über 21 Jahre alt und Sie haben nicht das mindeste pecuniäre Interesse an Lady Verinder’s Testament.«
Nicht das mindeste pecuniäre Interesse an Lady Verinder’s Testament! O! wie dankbar war ich, als ich das hörte. Wenn meine reiche Tante an meine arme Person gedacht hätte, für die fünf Pfund schon eine bedeutende Summe ist; wenn mein Name in Verbindung mit einem kleinen mir vermachten Legat in dem Testament vorgekommen wäre: so würden meine Feinde vielleicht die Motive, die mich bestimmt hatten, mich mit den kostbarsten Schätzen meiner Bibliothek zu beladen, verdächtigt und vielleicht in Veranlassung meiner verschwenderischen Ausgabe für eine Droschke auf meine geringen Mittel gestichelt haben. Aber jetzt konnte auch der grausamste Spötter unter ihnen die Reinheit meiner Motive nicht anzweifeln Es war viel besser so! Gewiß! Gewiß! Viel besser so!
Ich wurde aus diesen tröstlichen Reflexionen durch Herrn Bruff erweckt. Mein nachdenkliches Schweigen schien auf diesem Weltkind zu lasten und ihn gewissermaßen wider seinen Willen zur Unterhaltung mit mir zu zwingen.
»Nun, Miß Clack, was giebt es Neues in den mildthätigen Kreisen? Wie geht es Ihrem Freunde, Herrn Godfrey Ablewhite, nach der Mißhandlung, die er von den Spitzbuben in Northumberlandstreet erfahren hat? In meinem Club erzählen sie wahrhaftig eine hübsche Geschichte über diesen mildthätigen Herrn.«
Ich hatte die Art, mit welcher dieser Mensch bemerkt hatte, daß ich über einundzwanzig Jahr alt sei und daß ich kein pecuniäres Interesse an dem Testament meiner Tante habe, schweigend hingenommen. Aber der Ton, in dem er auf den theuren Herrn Godfrey anspielte, war zu viel für mich. Da ich mich durch Das, was diesen Nachmittag in meiner Gegenwart vorgefallen war, verpflichtet fühlte, die Unschuld meines bewundernswerthen Freundes zu bezeugen, wo immer ich einem Zweifel an derselben begegnen würde, betrachtete ich es, wie ich bekenne, als einen Theil meiner Aufgabe, diesem Herrn Bruff eine scharfe Zurechtweisung zu Theil werden zu lassen.
»Ich lebe wenig in der Welt,« sagte ich, »und kann mich nicht wie Sie, mein Herr, rühmen, einem Club anzugehören Aber ich kenne zufällig die Geschichte, auf welche Sie anspielen und weiß auch, daß niemals eine erbärmlichere Lüge als diese Geschichte erzählt worden ist.«
»Jawohl, Miß Clack! Sie glauben an Ihren Freund. Das ist sehr natürlich! Aber Herr Godfrey Ablewhite wird die Welt im Allgemeinen nicht ganz so bereit finden, sich überzeugen zu lassen, wie ein Comité von mildthätigen Damen. Der Schein ist entschieden gegen ihn. Er war im Hause, als der Diamant zuerst vermißt wurde und war der Erste, der nach dem Verlust des Edelsteins nach London ging. Das sind häßliche Umstände, mein Fräulein, wenn man sie in dem Licht späterer Ereignisse betrachtet.«
Ich bin mir wohl bewußt, daß ich ihn, bevor ich ihn weiter reden ließ, tüchtig hätte zurechtsetzen müssen; ich hätte ihm sagen sollen, daß er ohne Kenntniß von einem Zeugniß der Unschuld des Herrn Godfrey rede, welches von der einzigen Person ausgestellt worden sei, die unleugbar competent war, mit positiver Sachkenntniß zu sprechen. Aber ach! die Versuchung, dem Advocaten auf Umwegen eine Niederlage zu bereiten, war zu groß für mich! Ich fragte ihn mit der anscheinend unschuldigsten Miene, was er mit den »späteren Ereignisse« meine.
»Mit späteren Ereignissen, Miß Clack, meine ich Ereignisse, bei denen die Indier eine Rolle spielen,« fuhr Herr Bruff fort, indem er, je länger er sprach, mehr und mehr die Oberhand über meine arme Person zu gewinnen schien. »Was beginnen die Indier in dem Moment, wo sie aus dem Gefängniß in Frizinghall entlassen werden? Sie gehen direct nach London und richten ihr Absehen auf Herrn Luker. Und was sagt Herr Luker da, wo er sich zum ersten mal um Schutz an den Richter wendet?
Er bekennt, daß er einen fremden Arbeiter in seinem Geschäft in Verdacht hat, mit den Indiern unter einer Decke zu stecken. Kann es einen klareren moralischen Beweis dafür geben, daß die Spitzbuben unter den Leuten in Herrn Lukers Geschäft einen Complicen gefunden hatten und daß sie wußten, daß sich der Mondstein in Herrn Lukers Haus befinde? Gut! Was geschieht weiter? Herr Luker ist, und das mit gutem Grunde, über die Sicherheit des ihm verpfändeten Edelsteins besorgt. Er deponirt denselben unter einer allgemeinen Bezeichnung in dem Gewölbe seines Bankiers. Aeußerst schlau erdacht! Nur daß die Indier ebenso schlau sind. Sie argwöhnen, daß der Diamant seinen Platz gewechselt hat, und sie verfallen auf einen merkwürdig kühnen Weg, diesen Argwohn vollständig aufzuklären. Wen ergreifen und durchsuchen sie? Nicht Herrn Luker allein, was erklärlich genug wäre, sondern auch Herrn Godfrey Ablewhite. Warum? Herr Ablewhite erklärt die Sache damit, daß sie auf einen blinden Verdacht hin handelten, weil sie ihn zufällig mit Herrn Luker sprechen gesehen hatten. Absurd! Ein halb Dutzend andere Personen hatten an jenem Morgen auch mit Herrn Luker gesprochen. Warum wurden diese anderen Personen nicht auch nach Hause verfolgt und in die Falle gelockt? Nein, nein! man muß einfach schließen, daß Herr Ablewhite so gut wie Herr Luker sein besonderes Interesse an dem Mondstein hat, und daß die Indier so ungewiß waren, welcher von Beiden die Disposition über den Edelstein habe, daß ihnen nichts Anderes übrig blieb, als sie Beide zu durchsuchen. So spricht die öffentliche Meinung, Miß Clack, und die öffentliche Meinung läßt sich bei dieser Gelegenheit nicht leicht widerlegen.«
Bei diesen letzten Worten sah er so selbstgefällig weise aus, daß ich in der That, zu meiner Schande sei es gesagt —— der Versuchung nicht zu widerstehen vermochte, ihn noch ein wenig weiter reden zu lassen, bevor ich ihn mit der Wahrheit zu Boden schmettern würde.
»Ich maße mir nicht an, mit einem so gewandten Advocaten zu discutiren,« sagte ich. »Aber es ist ganz gerecht, Herr Bruff, gegen Herrn Ablewhite die Ansicht des berühmten Londoner Polizeibeamten, der die Untersuchung dieses Falles geleitet hat, ganz außer Acht zu lassen? Nach der Ueberzeugung des Sergeant Cuff haftete nicht der Schatten eines Verdachts aus irgend Jemand, außer Fräulein Verinder.«
»Wollen Sie damit sagen, Miß Clack, daß Sie der Ansicht des Sergeanten beistimmen?«
»Ich klage Niemanden an, Herr Bruff, und ich äußere gar keine Meinung.«
»Ich aber mache mich dieser beiden Ungeheuerlichkeiten schuldig, mein Fräulein. Ich klage den Sergeanten an, auf gänzlich falscher Fährte gewesen zu sein, und ich äußere die Meinung, daß, wenn er Rachel’s Charakter gekannt hätte, wie ich ihn kenne, er aus alle anderen Personen im Hause eher einen Verdacht geworfen haben würde, als auf sie. Ich gebe zu, daß sie ihre Fehler hat, sie ist verschlossen und eigenwillig, launenhaft und abenteuerlich, und anders als andere Mädchen ihres Alters. Aber echt wie Gold und großmüthig und edeldenkend bis zum Exceß. Wenn der klarste Beweis von der Welt nach einer Richtung hin, und wenn nichts als Rachel’s Ehrenwort nach der andern Richtung hinwiese, so würde ich, obgleich Jurist, größeren Werth auf ihr Wort als aus den Beweis legen! Das ist stark ausgedrückt, Miß Clack, aber es ist meine wirkliche Meinung!«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir Ihre Ansicht durch einige Beispiele verdeutliche, Herr Bruff, um Sie besser zu verstehen? Angenommen, es stellte sich heraus, daß Fräulein Verinder ein ganz unerklärliches Interesse an dem nehme, was Herrn Ablewhite und Herrn Luker begegnet ist. Angenommen, sie thäte die sonderbarsten Fragen über dieses abscheuliche Gerücht und geriethe in die maßloseste Aufregung, sobald sie erführe, auf was dieses Gerücht abzielt?«
»Nehmen Sie an, was Sie wollen, Miß Clack, es würde mein Vertrauen auf Rachel Verinder nicht im Mindesten erschüttern.«
»Ist sie so unbedingt zuverlässig?«
»So unbedingt zuverlässig.«
»Dann erlauben Sie mir, Ihnen mitzutheilen, Herr Bruff, daß Herr Godfrey Ablewhite dieses Haus vor noch nicht zwei Stunden verlassen hat und daß seine vollständige Unschuld an dem Verschwinden des Diamanten von Fräulein Verinder selbst in den stärksten Ausdrücken, die ich in meinem ganzen Leben aus dem Munde eines jungen Mädchens gehört habe, proclamirt wurde.«
Ich weidete mich an dem Triumph —— an dem unheiligen Triumph, wie ich leider zugeben muß —— Herrn Bruff durch einige wenige einfache Worte von mir gänzlich außer Fassung gebracht und niedergeschmettert zu sehen. Er sprang auf und starrte mich schweigend an. Ich blieb ruhig sitzen und berichtete die ganze Scene, genau wie sie vorgegangen war. »Und was sagen Sie jetzt von Herrn Ablewhite?« fragte ich im Tone größtmöglichster Freundlichkeit, sobald ich mit meinem Berichte fertig war.
»Wenn Rachel seine Unschuld bezeugt hat, Miß Clack, so nehme ich keinen Anstand, zu erklären, daß ich eben so fest an seine Unschuld glaube, wie Sie. Ich habe mich, wie die übrige Welt, durch den Schein irre leiten lassen, und ich will, so viel an mir ist, die Sache wieder gut machen, indem ich dem Gerücht, welches sich gegen Ihren Freund gerichtet hat, so oft ich auf dasselbe stoße, öffentlich widerspreche. Zugleich erlauben Sie mir, Ihnen mein Compliment über die Art zu machen, wie Sie das ganze Feuer Ihrer Batterien in dem Augenblicke aus mich losgelassen haben, in welchem ich es am wenigsten erwartete. Sie würden ein ausgezeichneter Advocat geworden sein, wenn Sie ein Mann gewesen wären.«
Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und fing an unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen.
Es war mir klar, daß das neue Licht über die Angelegenheit, welches ihm durch mich aufgegangen war, ihn sehr überrascht und verwirrt hatte. Als er sich mehr und mehr von seinen eigenen Gedanken absorbieren ließ, entfuhren ihm einzelne Ausdrücke, welche mir einen Schluß auf die abscheuliche Auffassung gestatteten, welche er bis her von dem Geheimniß des verlorenen Diamanten gehabt hatte. Er hatte kein Bedenken getragen, den theuren Herrn Godfrey der Infamie zu verdächtigem den Diamanten genommen zu haben und Rachel’s Betragen dem großmüthigen Entschluß zuzuschreiben, das Verbrechen zu verheimlichen. Auf die eigene Autorität Fräulein Verinder’s hin —— eine nach Herrn Bruff’s Schätzung, wie man gesehen hat, völlig unangreifbare Autorität —— mußte jetzt diese Erklärung als eine durchaus falsche aufgegeben werden. Die Perplexität, in welche ich diesen hochangesehenen Mann des Gesetzes gestürzt hatte, überwältigte ihn dermaßen, daß er völlig unfähig war, sie zu verbergen.
»Welch’ ein Fall!« hörte ich ihn vor sich hin murmeln, während er am Fenster stille stand und mit den Fingern an die Scheiben trommelte. Es läßt keine Erklärung zu, er macht sogar jede Vermuthung zu Schanden.«
In diesen Worten lag nichts, das irgend eine Erwiederung meinerseits erforderlich gemacht hätte, und doch antwortete ich auf dieselben!
Es scheint kaum glaublich, daß ich noch jetzt Herrn Bruff nicht in Ruhe lassen konnte. Es scheint fast über die einfache menschliche Verderbniß hinauszugehen, daß ich in dem, was er eben gesagt hatte, eine neue Gelegenheit erspähte, mich ihm persönlich unangenehm zu machen.
Aber ach! meine Freunde! Nichts geht über die menschliche Verderbniß hinaus, und alles ist glaublich, wenn unsere sündhafte Natur die Oberhand über uns gewinnt.
»Verzeihen Sie, wenn ich mich in Ihre Reflexionen mische,« sagte ich zu dem nichts argwöhnenden Herrn Bruff, »aber sicher giebt es eine Vermuthung, auf die wir bis jetzt noch nicht gefallen sind.«
»Mag sein, Miß Clack. Ich gestehe, daß ich nicht weiß, was Sie sagen wollen.«
»Bevor ich das Glück hatte, Sie, Herr Bruff, von Herrn Ablewhites Unschuld zu überzeugen, bezeichneten Sie es als einen der Verdachtsgründe gegen ihn, daß er zur Zeit des Verlustes des Diamanten im Hause gewesen sei. Erlauben Sie mir, Sie zu erinnern, daß auch Herr Franklin Blake im Hause war, als der Diamant verloren ging.«
Der alte Weltmann verließ auf einmal seinen Platz am Fenster, setzte sich auf einen mir gerade gegenüberstehenden Stuhl und sah mir mit einem sündhaften und starren Lächeln fest in’s Gesicht.
»Sie sind doch kein so guter Advocat, Miß Clack,« bemerkte er nachdenklich, »wie ich glaubte. Sie verstehen es nicht, im rechten Moment die Dinge aus sich beruhen zu lassen.«
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Bruff,« sagte ich bescheiden.
»Es geht nicht, Miß Clack, es geht wahrhaftig nicht zum zweiten Mal. Franklin Blake ist mein besonderer Liebling, wie Sie wohl wissen. Aber daraus kommt es nicht an. Ich will mich in diesem Falle auf Ihren Standpunkt stellen, bevor Sie mich überrumpeln Sie haben vollkommen Recht, liebes Fräulein. Ich habe Herrn Ablewhite auf Gründe hin in Verdacht gehabt, welche, wenn man die Sache abstract nimmt, auch eine Verdächtigung des Herrn Blake rechtfertigen würden. Nun wohl! Wir wollen einmal Beide einen solchen Verdacht auf ihn richten. Wir wollen die Frage, ob er nach seinem Charakter eines Diebstahls des Mondsteins fähig war, hier außer Acht lassen, wir wollen uns auf die Frage beschränken, ob ein solcher Diebstahl in seinem Interesse lag.«
»Herrn Franklin Blake’s Schulden« bemerkte ich, »sind für die Familie eine notorische Thatsache.«
»Und Herrn Godfrey Ablewhites Schulden haben diese Höhe noch nicht erreicht. Aber Ihrer Auffassung, Miß Clack, stehen doch zwei Schwierigkeiten entgegen. Ich habe Franklin Blake’s Angelegenheiten in Händen und erlaube mir, Ihnen mitzutheilen,« daß die große Mehrheit seiner Gläubiger, die wissen, daß sein Vater ein reicher Mann ist, sich damit begnügen, für den Betrag ihrer Forderung Zinsen zu berechnen und geduldig auf ihr Geld zu warten. Das ist die erste Schwierigkeit und schon eine ziemlich starke. Sie werden die zweite noch stärker finden. Ich weiß es aus dem eigenen Munde Lady Verinder’s, daß ihre Tochter bereit war, Franklin Blake zu heirathen, bevor jener höllische indische Diamant aus dem Hause verschwand. Sie hatte ihn mit der Coquetterie eines jungen Mädchens an sich gezogen und wieder abgestoßen. Aber sie hatte ihrer Mutter gestanden, daß sie Vetter Franklin liebe und ihre Mutter hatte Vetter Franklin das Geheimniß anvertraut. So war also seine Lage die, Miß Clack, daß seine Gläubiger zu warten bereit waren und daß er die sichere Aussicht vor sich hatte, eine Erbin zu heirathen. Nehmen Sie getrost an, er sei ein Schurke, aber sagen Sie mir gefälligst, was ihn veranlassen konnte, den Mondstein zu stehlen?«
»Das menschliche Herz ist unergründlich,« sagte ich sanft, »wer kann in seine Tiefen dringen?«
»Mit andern Worten, mein verehrtes Fräulein, obgleich er nicht den Schatten eines Grundes hatte, den Diamanten zu nehmen, so konnte er ihn doch aus natürlicher Verderbtheit genommen haben. Gut. Sagen wir, er nahm ihn. Warum zum Teufel ——?«
»Ich bitte um Vergebung, Herr Bruff, wenn der Teufel in dieser Weise in meiner Gegenwart genannt wird, muß ich das Zimmer verlassen.«
»Ich bitte Sie um Verzeihung, Miß Clack, ich werde in Zukunft in meinen Ausdrücken wählerischer sein. Alles was ich fragen wollte, war: Warum, angenommen selbst, er habe den Diamanten gestohlen —— warum war er von allen Personen im Hause am beflissensten in seinen Bemühungen zur Wiedererlangung des Edelsteins? Sie werden mir vielleicht sagen, er that das absichtlich aus schlauer Berechnung, um den Verdacht von sich abzulenken. Darauf antworte ich, daß er nicht nöthig hatte den Verdacht von sich abzulenken, da Niemand Verdacht aus ihn hatte. Erst stiehlt er den Mondstein ohne die geringste Ursache, aus natürlicher Verderbtheit, und übernimmt dann in Betreff des Verschwindens des Edelsteins eine Rolle, die zu spielen er durchaus keine Veranlassung hat, und welche dahin führt, daß er die junge Dame, die ihn sonst geheirathet haben würde, tödtlich beleidigt. Eine so ungeheuerliche Behauptung sind Sie genöthigt aufzustellen, wenn Sie das Verschwinden des Mondsteins mit Franklin Blake in Verbindung bringen wollen. Nein, nein, Miß Clack! Nach dem was heute hier zwischen uns Beiden vorgegangen, ist das Dunkel, in welches dieser Fall gehüllt ist, nur noch undurchdringlicher geworden. Rachel’s eigene Unschuld ist, wie ihre Mutter und ich wissen, über jeden Zweifel erhaben. Ebenso gewiß ist Herrn Ablewhite’s Unschuld, denn sonst würde Fräulein Rachel sie niemals bezeugt haben. Und Franklin Blake’s Unschuld geht, wie Sie sich eben selbst überzeugt haben, unwiderleglich aus den Umständen hervor. Einerseits sind wir von all’ diesen Dingen moralisch überzeugt, andererseits aber sind wir ebenso gewiß, daß Jemand den Mondstein nach London gebracht hat, und daß Herr Luker oder sein Banquier sich in diesem Augenblick im Besitz desselben befindet. Was nützen mir da meine Erfahrungen? Der Fall spottet jeder Erfahrung.«
Nein —— nicht jeder Erfahrung, nicht der Sergeant Cuff’s. Ich war eben im Begriff, dies so milde wie möglich und unter aller nöthigen Verwahrung gegen die Annahme, daß ich auch nur den leisesten Schatten auf Rachel’s Ruf werfen wolle, auszusprechen, als der Diener eintrat und meldete, daß der Doctor Lady Verinder verlassen habe und daß sie bereit sei, uns zu empfangen.
Damit hatte unsere Diskussion ein Ende. Herr Bruff, der von unserer Unterhaltung ein wenig erschöpft aussah, nahm meinen Sack voll köstlicher Schriften. Ich, die ich noch stundenlang hätte fortsprechen können, und er gingen schweigend nach Lady Verinder’s Zimmer.
Man gestatte mir hier, bevor meine Erzählung zu anderen Ereignissen übergeht, die Bemerkung, daß ich bei der Schilderung dessen, was zwischen mir und dem Advokaten geschehen, nicht ohne einen bestimmten Zweck gehandelt habe. Ich muß meiner Weisung gemäß in meinem Beitrag zu der entsetzlichen Geschichte des Mondsteins eine klare Darstellung nicht nur der Richtung, in welcher sich der Verdacht bewegte, sondern selbst der Namen derjenigen Personen aufnehmen, auf welchen zu der Zeit, wo das Vorhandensein des Diamanten in London bekannt wurde, ein Verdacht haftete. Ein Bericht über meine Unterhaltung in der Bibliothek mit Herrn Bruff schien mir genau dem angegebenen Zwecke zu entsprechen, während derselbe zu gleicher Zeit den großen moralischen Vortheil gewährte, ein Opfer sündhafter Selbstachtung von meiner Seite nothwendig zu machen. Ich bin zu dem Bekenntniß genöthigt gewesen, daß meine sündhafte Natur die Oberhand über mich gewann. Indem ich dieses demüthigende Bekenntniß ablege, gewinne ich wieder die Oberhand über meine sündhafte Natur. Das moralische Gleichgewicht ist wieder hergestellt, die geistliche Atmosphäre ist wieder rein. Seht, lieben Freunde, können wir wieder fortfahren.
Viertes Capitel.
Das Unterzeichnen des Testaments ging viel rascher vor sich, als ich mir gedacht hatte. Dasselbe wurde mit einer nach meinem Gefühl unanständigen Hast durchgejagt. Der Diener Samuel wurde herbeigeholt, um als zweiter Zeuge zu fungieren, und ehe man sich’s versah, wurde die Feder meiner Tante in die Hand gesteckt. Ich fühlte mich gedrungen, die feierliche Gelegenheit nicht ohne einige angemessene Worte vorübergehen zu lassen, aber Herrn Bruff’s Benehmen überzeugte mich, daß es das Richtigste sein werde, dieses Bedürfniß zurückzudrängen, so lange er im Zimmer sei. In weniger als zwei Minuten war Alles vorbei und Samuel war wieder hinuntergegangen.
Herr Bruff faltete das Testament zusammen und sah mich dann mit einem Blicke an, der mich zu fragen schien, ob ich ihn mit meiner Tante allein zu lassen gedenke oder nicht. Ich hatte meine Gnadenmission zu erfüllen und hatte meinen Sack voll köstlicher Schriften auf meinem Schooße bereit. Er hätte es eben so gut versuchen können, die Paulskirche durch seine Blicke von der Stelle zu rücken, als mich. Er hatte eine gute Eigenschaft, die er ohne Zweifel seiner weltlichen Erziehung verdankte und die ich keineswegs in Abrede zu stellen gemeint bin. Er war rasch im Erfassen der Dinge. Ich schien auf ihn einen ähnlichen Eindruck hervorzubringen, wie einige Stunden früher auf den Droschkenkutscher. Auch er stieß. ein profanes Wort aus, er ging mit leidenschaftlicher Hast von dannen und ließ mich als Meisterin des Platzes zurück. Sobald wir allein waren, lehnte sich meine Tante in die Kissen des Sophas zurück und spielte dann, anscheinend etwas verwirrt, auf die Testaments-Angelegenheit an.
»Ich hoffe, Drusilla,« sagte sie, »Du fühlst Dich nicht zurückgesetzt. Ich will Dir das kleine Vermächtniß, das ich Dir zugedacht habe, mit warmer Hand geben.«
Das war eine goldene Gelegenheit! Ich ergriff sie auf der Stelle. Mit anderen Worten, ich öffnete sofort meinen Sack und nahm die Hauptschrift heraus. Es war eine der ersten Auflagen —— erst die fünfundzwanzigste —— des berühmten anonymen, der vortrefflichen Miß Bellows zugeschriebenen Werkes: »Die Schlange im Hause.« Die Tendenz des Buches, die dem weltlichen Leser vielleicht nicht bekannt, ist, zu zeigen, wie der Böse in allen, auch den anscheinend unschuldigsten Lagen unseres täglichen Lebens auf uns, lauert. Die zur Nutzanwendung für weibliche Leser geeignetsten Capitel sind: Satan in der «Haarbürste; Satan hinter dem Spiegel; Satan unter dem Theetisch; Satan vor dem Fenster und viele andere.
»Lies dieses kostbare Buch mit Aufmerksamkeit, liebe Tante, und ich verlange kein weiteres Geschenk von Dir.« Mit diesen Worten überreichte ich es ihr offen an einer bezeichneten Stelle. Es war ein ununterbrochener Sturm glühender Beredtsamkeit und behandelte das Thema: Satan in den Sophakissen.
Die arme Lady Verinder, die gedankenlos in ihre Sophakissen zurückgelehnt dasaß, warf einen Blick auf das Buch und sah noch verwirrter als vorher aus, als sie es mir wieder zurückgab.
»Ich fürchte, Drusilla,« sagte sie, »ich muß warten, bis ich mich etwas besser befinde, bevor ich das lesen kann. Der Doctor ——«
In dem Augenblick, wo sie den Namen des Doctors aussprach, wußte ich, was kommen würde. Zu wiederholten Malen waren in meiner früheren Wirksamkeit bei meinen todtkranken Mitmenschen die Mitglieder des notorisch ungläubigen Standes der Aerzte unter dem elenden Vorwande zwischen mich und meine Gnadensendung getreten, daß der Patient der Ruhe bedürfe und daß der von Allen störendste Einfluß, den sie zumeist fürchteten, der Miß Clacks und ihrer Bücher sei. Genau derselbe verblendete Materialismus war jetzt verrätherisch hinter meinem Rücken arbeitend darauf bedacht gewesen, mich des einzigen Eigenthums zu berauben, auf welches ich Arme Anspruch machen konnte —— meines geistigen Eigenthumsrechts an meiner dem Tode nahen Tante.
»Der Doktor findet,« fuhr meine arme mißleitete Verwandte fort, »daß es mir heute nicht gut geht. Er verbietet mir, irgend einen Fremden zu sehen, und verordnet mir, wenn ich überhaupt lese, nur die leichteste und unterhaltendste Lectüre »»Vermeiden Sie Alles, Lady Verinder, was Ihren Kopf angreifen oder Ihren Puls beschleunigen könnte.«« Das waren heute seine letzten Worte beim Fortgehen, Drusilla.«
Hier war wieder nichts zu thun, als, wie vorhin, für den Augenblick nachzugehen. Jedes offene Aussprechen über die unendlich höhere Wichtigkeit einer Behandlung wie die meinige im Vergleich mit der Behandlung des Arztes hätte nur dahin führen können, daß der Doktor auf die menschliche Schwäche seines Patienten gewirkt und gedroht haben würde, sich ganz zurückzuziehen. Glücklicher Weise giebt es mehr als einen Weg, die gute Saat auszustreuen, und wenige Menschen kennen die Wege besser, als ich.
»Vielleicht fühlst Du Dich in einigen Stunden stärker, liebe Tante,« sagte ich, »oder vielleicht erwachst Du morgen früh mit dem Gefühl eines geistigen Bedürfnisses und vielleicht ist dieses anspruchslose Buch im Stande, demselben abzuhelfen. Darf ich das Buch hier lassen, Tante? Dagegen wird der Doctor doch nichts haben können!«
Ich ließ es sachte in die Sophakissen gleiten, so daß es zur Hälfte in demselben steckte, zur Hälfte daraus dicht neben ihrem Schnupftuch und ihrem Riechfläschchen hervorragte. So oft ihre Hand nach einem dieser Gegenstände griff, mußte sie auch das Buch berühren und früher oder später, wer weiß? konnte das Buch auch sie rühren. Nachdem ich diese Vorkehrungen getroffen hatte, schien es mir richtig, mich zurückzuziehen.
»Du mußt jetzt Ruhe haben, liebe Tante; ich spreche morgen wieder vor.« Bei diesen Worten blickte ich zu fällig nach dem Fenster. Eine Fülle von Blumen in Vasen und Töpfen stand vor demselben. Lady Verinder war eine leidenschaftliche Liebhaberin dieser vergänglichen Schätze und hatte die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit aufzustehen und an ihre Blumen zu treten und daran zu riechen. Ein neuer Gedanke fuhr mir durch den Kopf.
»Darf ich mir eine Blume nehmen?« sagte ich. Mit diesen Worten konnte ich an’s Fenster, ohne irgend welchen Argwohn zu erregen. Anstatt eine Blume wegzunehmen, legte ich noch eine hin, und zwar in Gestalt eines andern Buches aus meinem Sack, welches meine Tante zu ihrer Ueberraschung zwischen Geranium und Rosen finden sollte. Daraus kam mir der glückliche Gedanke: »Warum soll ich nicht für die arme Seele dasselbe in allen übrigen Räumen thun, die sie betritt?« Ich verabschiedete mich auf der Stelle und ging durch die Halle verstohlen in die Bibliothek. Samuel, der von unten heraufkam, um mir die Hausthür zu öffnen, ging, als er mich nicht sah, in der Meinung, daß ich bereits fortgegangen sei, wieder hinunter. Auf dem Tische in der Bibliothek sah ich zwei von den unterhaltenden Büchern liegen, welche der ungläubige Doctor empfohlen hatte. Ich entzog sie auf der Stelle dem Auge, indem ich zwei meiner köstlichen Schriften aus sie legte. Im Frühstückszimmer fand ich den Lieblings-Canarienvogel in seinem Käfig singen. Lady Verinder hatte die Gewohnheit, ihren Vogel immer selbst zu füttern. Auf einem unter dem Käfig stehenden Tisch war etwas Canariensaamen verstreut Ich legte ein Buch zwischen die Samenkörner. Im Wohnzimmer fand ich noch bessere Gelegenheiten, meinen Sack zu leeren. Die Lieblingsnoten meiner Tante lagen auf dem Clavier. Ich schob noch zwei Bücher unter dieselben. Wieder ein anderes legte ich in dem hintern Wohnzimmer unter eine unvollendete Stickerei, an der meine Tante, wie ich wußte, arbeitete. Noch ein drittes kleines Zimmer lag neben dem hintern Wohnzimmer, von welchem es nur durch Portieren getrennt war. Auf dem Kamin lag der einfache altmodische Fächer meiner Tante. Ich öffnete mein neuntes Buch an einer sehr bedeutsamen Stelle und legte den Fächer als Lesezeichen hinein. Es entstand nun für mich die Frage, ob ich noch weiter gehen, mich in das Schlafzimmer wagen und damit unzweifelhaft der Gefahr aussetzen solle, von der Person mit den Mützenbändern, wenn dieselbe sich zufällig in den oberen Regionen des Hauses aufhalten und mir dort begegnen sollte, insultirt zu werden. Aber, was kümmerte ich mich darum? Der ist nur ein armseliger Christ, der sich vor Insulten fürchtet. Ich ging, auf Alles gefaßt, die Treppe hinauf. Ueberall herrschte die größte Stille —— es war, glaube ich, die Theestunde der Dienstboten. Das Schlafzimmer meiner Tante lag nach vorn. Das Miniaturbild meines lieben verstorbenen Onkels hing an der Wand, dem Bett gegenüber. Es schien mich anzulächeln, es schien zu mir zu sagen: »Drusilla, lege hier ein Buch hin.« Zu beiden Seiten des Betts meiner Tante standen Tische. Sie schlief in der Regel schlecht und bedurfte Nachts einer Menge von Dingen oder glaubte ihrer zu bedürfen. ich legte ein Buch neben die Zündhölzer auf der einen und ein anderes unter die Schachtel mit Chocoladebonbons auf der andern Seite. Mochte sie nun eines Lichts oder eines Bonbons bedürfen, in beiden Fällen mußte ihr Auge auf eine köstliche Schrift fallen oder mußte ihre Hand eine solche berühren, die in beiden Fällen zu ihr sprechen würde: »Komm’, prüfe mich! prüfe mich!«
Aber ein Buch lag noch auf dem Boden meines Sacks und ein Raum war noch unbesucht, das Badezimmer, welches direct mit dem Schlafzimmer in Verbindung stand. Ich warf einen Blick hinein; und die heilige innere Stimme, die uns nie täuscht, flüsterte mir zu: »Du hast sie überall anderswo getroffen, Drusilla; triff sie auch im Badezimmer und Deine Arbeit ist gethan.« Ich bemerkte einen über einen Stuhl hängenden Schlafrock. In demselben befand sich eine Tasche und in die selbe steckte ich mein letztes Buch. Wer kann das glückliche Gefühl erfüllter Pflicht schildern, mit dem ich, ungesehen von irgend Jemand, aus dem Hause schlüpfte und mit meinem leeren Reisesack unter dem Arm auf die Straße trat. O! meine weltlichen Freunde, die ihr dem Phantom »Vergnügen« durch die sündigen Irrgänge der Zerstreuung nachjagt, wie leicht ist es, glücklich zu sein, wenn ihr nur tugendhaft sein wollt!
Als ich an jenem Abend meine Kleider zusammenlegte und die echten Reichthümer überdachte, welche ich mit so verschwenderischer Hand in dem Hause meiner reichen Tante von oben bis unten ausgestreut hatte, da fühlte ich mich so frei von jeder ängstlichen Sorge, als wäre ich wieder ein Kind geworden. Ich fühlte mich so leicht, daß ich einen Vers des Abendgebets sang und einschlief, bevor ich den zweiten Vers singen konnte. Ganz wieder wie ein Kind! Ganz wie ein Kind!
So verbrachte ich diese glückselige Nacht. Und wie jung fühlte ich mich, als ich am nächsten Morgen aufstand! Ich könnte hinzufügen, wie jung sah ich aus, wenn ich im Stande wäre mich bei dem Aussehen meines eigenen verjüngten Lebens aufzuhalten. Aber ich bin dazu nicht im Stande und ich füge nichts hinzu.
Gegen die Zeit des zweiten Frühstücks setzte ich, —— nicht des leiblichen Genusses wegen, sondern um die liebe Tante sicher zu finden —— meinen Hut auf, um nach Montague-Square zu gehen.
Als ich eben fertig war, blickte die Magd des Logis in dem ich damals wohnte, zur Thür hinein und sagte: »Lady Verinder’s Diener wünscht Sie zu sprechen, Miß Clack.«
Ich wohnte bei meinem damaligen Aufenthalte zu ebener Erde. Mein Wohnzimmer lag nach der Straße. Es war sehr klein, sehr niedrig und sehr dürftig möblirt, —— aber ach! so sauber. Ich blickte zur Thür hinaus auf den Vorplatz, um zu sehen, welcher von Lady Verinder’s Dienern nach mir gefragt habe? Es war der junge Diener Samuel, ein höflicher, gut aussehender Mensch mit einem intelligenten Auge und sehr artigen Manieren.
Ich hatte stets ein geistliches Interesse für Samuel empfunden und immer gewünscht, einmal die Wirkung einiger ernsten Worte auf ihn zu versuchen. Ich benutzte die Gelegenheit, ihn zu mir hereinkommen zu lassen.
Er trat mit einem großen Packet unter dem Arm herein. Als er dasselbe hinstellte, schien er etwas verlegen: »Dies soll ich mit Mylady’s besten Empfehlungen abgeben und dabei bestellen, daß Sie einen Brief darin finden werden.
Nachdem er diese Bestellung ausgerichtet, machte der hübsche junge Diener zu meiner Ueberraschung ein Gesicht als ob er sich gern rasch aus dem Staube gemacht hätte. Ich hielt ihn zurück, um einige freundliche Fragen an ihn zu richten: Ob ich meine Tante treffen würde, wenn ich jetzt nach Montague-Square ginge? Nein, sie sei ausgefahren. Miß Rachel habe sie begleitet und auch Herr Ablewhite sei von der Parthie. Da ich wußte, wie sehr Herr Godfrey mit seinen Arbeiten für mildthätige Zwecke im Rückstand sei, befremdete es mich zu hören, daß er, wie Jemand der nichts zu thun hat, spazieren fahre. Ich hielt Samuel an der Thür zurück und that noch einige weitere freundliche Fragen. Fräulein Rachel wolle an diesem Abend einen Ball besuchen und Herr Ablewhite habe versprochen, zum Caffee zu kommen und sie zu begleiten. Für den nächsten Tag war eine musikalische Matiné angekündigt und Samuel hatte Ordre, Plätze, für eine große Gesellschaft, zu der auch Herr Ablewhite gehörte, zu nehmen. »Wenn ich nicht rasch mache, Miß,« sagte der unschuldige Junge, »so sind vielleicht alle Billete vergriffen.« Mit diesen Worten eilte er fort und ich fand mich wieder allein, mit einigen sorgenvollen Gedanken mich zu beschäftigen.
Auf den Abend war eine Sitzung unserer »Gesellschaft für Mütter zur Umwandlung von Hosen« angesetzt und in den Convocationen ausdrücklich als Zweck angegeben, Herrn Godfrey’s Rath und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Anstatt unserer Schwesterschaft bei dem Vorhandensein einer überwältigenden Fluth von Hosen, welche unsere kleine Gemeinschaft ganz außer Fassung gebracht hatte, treulich zur Seite zu stehen, hatte er eine Verabredung, in Montague-Square Caffee zu trinken und nachher auf einen Ball zu gehen. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Jahresfeier der britischen Dienstmädchen - Sonntagsliebsten - Ueberwachungs - Damengesellschaft stattfinden. Anstatt dieser Feier eines schwer ringenden Vereins als die Seele desselben beizuwohnen, hatte er sich mit einer Gesellschaft von Weltlingen engagirt, eine musikalische Matiné zu besuchen! Ich fragte mich, was das zu bedeuten habe? Ach! es bedeutete, daß unser christlicher Held mir in meinem neuen Lichte erschien und sich in meiner Vorstellung eng mit einem der schrecklichsten in neuerer Zeit vorgekommenen Abfällen vom Glauben verknüpfte.
Kehren wir jedoch zur Geschichte dieses Tages zurück. Als ich mich allein in meinem Zimmer befand, wendete ich meine Aufmerksamkeit natürlich dem Packet zu, welches den gutaussehenden jungen Diener so auffallend verlegen zu machen schien. Sollte es das mir von meiner Tante versprochene Vermächtniß enthalten, und zwar in der Gestalt von abgetragenen Kleidern, oder abgeputzter silberner Löffel, oder aus der Mode gekommener Schmucksachen oder von sonst etwas der Art? Entschlossen, alles anzunehmen und nichts übel zu nehmen, öffnete ich das Packet, und —— was mußten meine Augen sehen! die zwölf köstlichen Schriften, die ich Tags zuvor im Hause verstreut hatte; alle auf Ordre des Doktors an mich zurückgeschickt! Nun erklärte sich die Scheu des Jünglings Samuel, mir das Packet abzugeben! Nun erklärte sich die Eile, mit der er wieder aufgebrochen war, als er seinen elenden Auftrag ausgerichtet hatte! Der Brief meiner Tante beschränkte sich auf die einfache Mittheilung, daß sie —— die arme Seele —— ihrem Arzte gehorchen müsse.
Was war nun zu thun? Meine Erziehung und meine Principien ließen mich nie einen Augenblick schwanken.
Wenn der wahre Christ sich erst einmal der stets bereiten Hilfe seines Gewissens versichert, wenn er erst einmal die Bahn einer unfehlbar heilsamen Wirksamkeit betreten hat, so weicht er niemals einen Schritt zurück. Weder öffentliche noch private Einflüsse bringen die mindeste Wirkung auf uns hervor, wenn wir einmal unsere Mission erkannt haben. Unsere Mission kann Aufruhr und Krieg hervorrufen, wir führen unser Werk fort, unbeirrt durch jede menschliche Rücksicht welche die Welt außerhalb unseres Kreises bewegt. Wir fühlen uns erhaben über die Vernunft; wir scheuen uns nicht, lächerlich zu erscheinen, wir sehen mit Niemandes Augen, wir hören mit Niemandes Ohren, wir fühlen mit keinem menschlichen Herzen, als mit unserm eigenen. Herrliches, herrliches Vorrecht! Und wie erwirkt man es? O, meine Freunde, spart Euch diese unnöthige Frage! Wir sind die Einzigem die es erwerben können, denn wir sind die einzigen Gerechten.
In dem Falle meiner mißleiteten Tante war mir der Weg, den meine fromme Beharrlichkeit zunächst einzuschlagen hatte, sofort klar.
Eine Vorbereitung durch geistliche Freunde war durch Lady Verinder’s eigenes Widerstreben vereitelt. Eine Vorbereitung durch Bücher war durch den ungläubigen Trotz des Doctors vereitelt. Nun wohl! Womit konnte man es jetzt versuchen? Der nächste Versuch war mit kleinen Billeten zu machen. Mit andern Worten, da die Bücher selbst zurückgeschickt worden waren, mußten jetzt ausgewählte Auszüge aus den Büchern in verschiedenen Handschriften und alle in Briefform an meine Tante adressirt ihr theils durch die Post zugeschickt, theils im ganzen Hause in der Weise, wie ich es Tags zuvor mit den Büchern gethan hatte, vertheilt werden. In ihrer Briefform würden diese Auszüge keinen Verdacht erregen, als Briefe würden sie geöffnet, und einmal geöffnet, vielleicht gelesen werden. Einige dieser Briefe schrieb ich selbst. »Liebe Tante, darf ich Deine Aufmerksamkeit für einige Augenblicke in Anspruch nehmen?« u. s. w. »Liebe Tante, gestern Abend frappirte mich bei meiner Lectüre die folgende Stelle« u. s. w. Andere Briefe ließ ich mir von meinen trefflichen Mitarbeitern am Werke des Herrn, von der Schwesterschaft des mütterlichen Hosenvereins, schreiben. »Verehrte Frau! Halten Sie es dem Interesse, welches ein treuer, aber demüthiger Freund an Ihnen nimmt, zu Gute« u. s. w. »Sehr verehrte Frau! Darf ein ernster Freund es sich herausnehmen, Ihnen einige ermunternde Worte zuzurufen?« u. s, w. Indem wir uns dieser und ähnlicher Formen einer höflichen Ansprache bedienten, verschafften wir allen meinen köstlichen Stellen in einer Gestalt wieder Eingang, gegen welche selbst der argwöhnische und wachsame Materialismus des Doctors nichts vermochte. Noch ehe der Abend anbrach, hatte ich ein Dutzend erweckender Briefe für meine Tante, anstatt eines Dutzends erweckender Bücher. Sechs bestimmte ich für die Beförderung durch die Post und sechs behielt ich in der Tasche, um sie selbst am nächsten Tage im Hause zu vertheilen.
Bald nach 2 Uhr stand ich wieder auf der Stätte frommer Kämpfe, an der Schwelle von Lady Verinder’s Haus und richtete wieder freundliche Fragen an Samuel.
Meine Tante hatte wieder eine schlechte Nacht gehabt. Sie hatte sich in dem Zimmer, in welchem ich als Zeuge bei der Unterzeichnung ihres Testaments fungirt hatte, auf das Sopha gelegt, um wo möglich etwas zu schlummern. Ich sagte, ich wolle in der Bibliothek warten, ob ich sie vielleicht werde sehen können. In meinem Feuereifer, die Briefe zu vertheilen, dachte ich nicht daran, nach Rachel zu fragen. Das Haus war ruhig und die Zeit des Beginns der musikalischen Ausführung war bereits vorüber. Ich hielt es für ausgemacht, daß sie und ihre Gesellschaft von Vergnüglingen, Herrn Godfrey leider mit einbegriffen, alle im Concert seien, und benutzte Zeit und Gelegenheit, wie sie sich mir darboten, meinem guten Werke eifrig obzuliegen.
Die für meine Tante eingetroffenen Briefe —— die sechs Erweckungsschreiben, die ich Abends zuvor auf die Post gegeben hatte, mit einbegriffen, lagen uneröffnet auf dem Tisch in der Bibliothek. Sie hatte sich offenbar der Lectüre einer so großen Menge von Briefen nicht gewachsen gefühlt und würde voraussichtlich, wenn sie im Laufe des Tages die Bibliothek beträte, über die Zahl derselben erschrocken gewesen sein. Ich legte einen von meinen zweiten Halbdutzend-Brief-Serie allein auf das Kaminsims indem ich darauf rechnete, daß seine einsame, von den übrigen entfernte Lage ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen werde. Einen zweiten Brief legte ich absichtlich auf den Fußboden des Frühstückszimmers. Der erste Dienstbote, der das Zimmer nach mir beträte, würde glauben, daß meine Tante den Brief habe fallen lassen und es sich besonders angelegen sein lassen, ihn ihr wiederzubringen. Nachdem ich so im Erdgeschoß das Feld bestellt hatte, eilte ich leichten Fußes hinaus, um meine Gnadensaat im ersten Stock auszustreuen.
In dem Augenblick, als ich in das Vorderzimmer treten wollte, hörte ich ein zweimaliges Klopfen an der Hausthür —— ein sanftes, zaghaftes rücksichtsvolles kleines Klopfen.
Bevor ich daran denken konnte, wieder in die Bibliothek zu schlüpfen, wo man mich wartend glaubte, war der behende junge Diener in der Halle, um die Hausthür zu öffnen. Das Klopfen konnte nach meiner Meinung nicht viel zu bedeuten haben. Bei dem Gesundheitszustande meiner Tante wurden Besuche in der Regel nicht angenommen. Zu meinem Schrecken und Erstaunen zeigte es sich, daß mit dem Urheber des sanften Klopfens eine Ausnahme von der Regel gemacht wurde. Samuel sagte, nachdem er anscheinend einige Fragen beantwortet, die ich nicht hören konnte, ganz vernehmlich: »Wollen Sie sich gefälligst hinauf bemühen.« Im nächsten Augenblicke hörte ich männliche Fußtritte sich dem ersten Stock nähern. Wer« konnte wohl dieser begünstigte männliche Besucher sein? Aber kaum hatte ich mir selbst diese, Frage gestellt, als mir auch schon die Antwort einfiel. Wer anders konnte es sein, als der Doctor?
Bei jedem anderen Besuch würde ich mir nichts daraus gemacht haben, mich im Wohnzimmer betreffen zu lassen. Man würde nichts Auffallendes darin gefunden haben, daß ich der Bibliothek überdrüssig, der Abwechslung wegen hinaufgegangen wäre. Aber meine Selbstachtung verbot mir, den Mann zu treffen, der mich durch die Zurücksendung meiner Bücher insultirt hatte. Ich schlüpfte in das dritte kleine Zimmer, in welches, wie ich bereits erzählt habe, das hintere Wohnzimmer führt, und zog die Vorhänge, welche als Thür dienten, hinter mir zu. Dort würde ich nur ein paar Minuten zu verweilen brauchen, bis der Doctor wie gewöhnlich in das Zimmer seiner Patientin geführt werden würde.
Ich wartete und wartete. Ich hörte den Besucher unruhig auf und abgehen. Dann hörte ich ihn mit sich selber reden. Ich glaubte sogar die Stimme zu erkennen. Hatte ich mich geirrt? War es nicht der Doctor, sondern Jemand anders? Vielleicht Herr Bruff? Nein, ein sicherer Instinkt sagte mir, daß es nicht Herr Bruff sei. Aber wer es auch sein mochte, er sprach noch immer mit sich selbst. Ich zog die schweren Vorhänge unmerklich ein ganz klein wenig auseinander und horchte.
Ich hörte die Worte: »Ich will es heute thun!« und die Stimme, welche diese Worte aussprach, gehörte Herrn Godfrey Ablewhite.
Fünftes Capitel.
Ich zog die Hand plötzlich vom Vorhang zurück. Aber glaubet nicht, —— glaubet nicht —— daß die schreckliche Verlegenheit meiner Situation der Gedanke war,der mich am meisten beschäftigte!
So lebhaft war das schwesterliche Interesse, daß ich nicht müde ward, mich zu fragen, warum er wohl nicht im Concert sei. Nein! ich dachte nur an die Worte —— die beunruhigenden Worte —— die ihm eben entfahren waren. Er wolle es heute thun, hatte er in einem Tone furchtbarer Entschlossenheit gesagt, er wolle es noch heute thun. Was, was wollte er thun? Etwas seiner noch bedauernswerther Unwürdiges als was er bereits gethan hatte? Wollte er offen vom Glauben abfallen? Wollte er uns in unserm mütterlichen Hosenvereine verlassen? Sollten wir sein himmlisches Lächeln zum letzten Mal in unserm Versammlungszimmer gesehen haben? Sollten wir seine unvergleichliche Beredsamkeit zum letzten Mal in Exeter-Hall gehört haben? Ich war von der bloßen Idee solcher Möglichkeiten so aufgeregt, daß ich glaube, ich würde aus meinem Versteck hervorgebrochen sein und ihn im Namen aller Damen-Comités in London angefleht haben, sich zu erklären, wenn ich nicht eine zweite Stimme im Nebenzimmer vernommen hätte. Die Stimme drang durch die Vorhänge, sie klang laut, verwegen, jeder weiblichen Anmuth baar. Es war die Stimme Rachel Verinder’s!
»Warum bist Du hier hinaufgekommen, Godfrey?« fragte sie; »warum bist Du nicht in die Bibliothek gegangen?«
Er lachte leise und antwortete: »In der» Bibliothek ist Miß Clack.«
»Clack in der Bibliothek!« rief Rachel, indem sie sich auf die im Zimmer stehende Ottomane setzte: »Du hast ganz Recht, Godfrey, dann sind wir viel besser hier.«
Vor einem Augenblick war ich noch in einer fieberhaften Aufregung gewesen, und ganz unschlüssig was ich beginnen solle. Jetzt wurde ich plötzlich vollkommen ruhig und hatte meinen Entschluß gefaßt. Nach dem, was ich gehört hatte, hervorzutreten, war unmöglich. Mich jetzt zurückzuziehen, es wäre denn in’s Kamin, war ebenso unmöglich. Ein Märtyrerthum stand mir bevor. ich arrangirte die Vorhänge geräuschlos so, daß ich zugleich sehen und hören konnte und hielt mich bereit, mein Märtyrerthum im Geiste eines der ersten Christen zu erleiden.
»Setz’ Dich nicht auf die Ottomane,« fuhr die junge Dame fort, »nimm Dir einen Stuhl, Godfrey; ich habe die Leute gern mir gegenüber, wenn ich mit ihnen rede.«
Er nahm den nächst stehenden Sitz. Es war ein niedriger Stuhl. Er war viel zu groß für diesen Sitz. Ich hatte seine Beine nie so unvortheilhaft gesehen.
»Nun,« fuhr sie fort, »was hast Du ihnen gesagt?«
»Dasselbe was Du zu mir gesagt hast, liebe Rachel.«
»Daß Mama heute gar nicht wohl sei? Und daß ich sie nicht gern verlassen und in’s Concert gehen wolle?«
»Das waren meine Worte. Sie bedauerten sehr, Deine Gesellschaft im Concert entbehren zu müssen, erkannten aber die Triftigkeit Deiner Gründe vollkommen an. Sie lassen Dich Alle herzlich grüßen und Dir sagen wie sehr sie hofften, daß Lady Verinder’s Unwohlsein nur vorübergehend sein werde.«
»Du hältst das Unwohlsein doch nicht für bedenklich, Godfrey; nicht wahr?«
»Durchaus nicht! Ich bin fest überzeugt, daß sie in einigen Tagen wieder ganz wohl sein wird.«
»Das glaube ich auch. Ich habe mich zuerst etwas geängstigt, aber jetzt glaube ich es auch. Es war sehr freundlich von Dir, mich bei Leuten zu entschuldigen, die Dir fast völlig fremd sind. Aber warum bist Du nicht mit ihnen in’s Concert gegangen? Es thut mir sehr leid, daß Du auf diese Weise um die Musik kommst.«
»Sage das nicht, Rachel! Wenn Du nur wüßtest, wie viel glücklicher ich mich hier bei Dir fühle!«
Er faltete die Hände und sah sie an. Er saß so, daß sein Blick dabei auf die Vorhänge fallen mußte. Wie soll ich schildern was ich empfand, als ich jetzt genau denselben Ausdruck in seinem Gesicht beobachtete, welcher mich entzückt hatte, wenn er auf der Tribüne in Exeterhall für Millionen von Unglücklichen unter seinen Mitmenschen das Wort ergriff!
»Es ist schwer, seine schlechten Gewohnheiten abzulegen, Godfrey, aber versuche es, mir zu Gefallen, die schlechte Gewohnheit, Complimente zu machen, los zu werden.«
»Dir habe ich in meinem Leben noch kein Compliment gemacht, Rachel. Glückliche Liebe bedient sich vielleicht bisweilen der Sprache der Schmeichelei, das gebe ich zu; aber hoffnungslose Liebe spricht immer die Wahrheit.«
Bei den Worten »hoffnungslose Liebe« rückte er einen Stuhl nahe an sie heran und ergriff ihre Hand. Es entstand eine kurze Pause. Er, dessen Wort Jedermann zu Herzen ging, hatte offenbar auch ihr Herz getroffen. Jetzt glaubte ich die Worte zu verstehen, die ihm entfahren waren, als er sich allein im Zimmer befand. »Ich will es heute thun!« Ach! Kein Zweifel, er that eben jetzt.«
»Hast Du vergessen, über was wir bei unserer Unterhaltung auf unserm Landsitz übereingekommen sind: daß wir fortan Vetter und Cousine sein wollten und weiter nichts?«
»Ich vergesse unser Uebereinkommen, so oft ich Dich sehe, Rachel!«
»Dann thust Du besser, mich nicht zu sehen.«
»Das würde mir nichts helfen. Ich vergesse unser Uebereinkommen, so oft ich an Dich denke. O, Rachel, wie freundlich hast Du mir noch vor wenigen Tagen gesagt, daß Deine Achtung für mich größer geworden sei, als sie es je zuvor gewesen! Ist es ein reiner Wahn, wenn ich auf diese Worte ein Gebäude von Hoffnungen gründe? Ist es ein reiner Wahn, wenn ich von künftigen Tagen träume, wo weichere Empfindungen für mich in Deinem Herzen Platz finden werden? Wenn es ein Wahn ist, sag’ es mir nicht! Laß mir meine Täuschung, theuerste Rachel! Ich bedarf dieser Täuschung zu meinem Trost und zu meiner Aufmunterung!«
Seine Stimme zitterte und er wischte sich mit seinem weißen Schnupftuch die Thränen aus den Augen. Wieder Exeterhall! Es fehlte nichts um die Aehnlichkeit der Erscheinung vollkommen zu machen, als die Zuhörer, die Zurufe und das Glas Wasser.
Selbst ihr verhärtetes Herz war gerührt. Ich sah, wie sie ihm etwas näher rückte. Der Ton, mit dem sie die nächsten Worte sprach, verrieth ein erhöhtes Interesse.
»Glaubst Du wirklich, Godfrey, daß Du mich so innig liebst?«
»Ich weiß es ganz gewiß! Du weißt, was ich war, Rachel. Laß mich Dir sagen, was ich jetzt bin. ich habe jedes Interesse am Leben, soweit es Dich nicht betrifft, verloren. Es ist eine Umwandlung mit mir vorgegangen, die ich mir selbst nicht zu erklären weiß. Wirst Du es glauben? Meine Beschäftigung mit mildthätigen Zwecken ist mir jetzt zu einer unerträglichen Last geworden, und wenn ich jetzt ein Damen-Comité sehe, so wünsche ich mich an’s andere Ende der Welt!«
Ich weiß nicht, ob die Annalen der Geschichte des Abfalls vom Glauben etwas der eben erwähnten Erklärung Aehnliches enthalten, ich kann so viel sagen, daß mir im Bereich meiner Lectüre kein ähnlicher Fall vorgekommen ist. Ich dachte an den mütterlichen Hosenverein, ich dachte an die Sonntagsliebsten-Ueberwachung und an die vielen anderen Gesellschaften, deren Zahl viel zu groß ist, um sie hier alle einzeln aufführen zu können und die alle auf diesen Mann wie auf ein unerschütterliches Fundament gegründet waren. Ich dachte an die schwer ringenden weiblichen Vereine, die so zu sagen den Athem ihrer geschäftlichen Existenz durch die Naslöcher des Herrn Godfrey einsogen, desselben Herrn Godfrey, der eben unser gutes Werk »eine unerträgliche Last« gescholten und so eben erklärt hatte, daß er sich an’s andere Ende der Welt wünsche, wenn er sich in unserer Mitte sehe.
Meine jungen weiblichen Freunde werden sich ermuthigt fühlen, auf ihrem Wege zu beharren, wenn ich ihnen sage, daß selbst ein so geschultes Gemüth wie das meinige Mühe hatte, seine gerechte Entrüstung schweigend in sich zu verarbeiten. Die Gerechtigkeit gegen mich selbst gebietet mir aber hinzuzufügen, daß ich keine Silbe von der Unterhaltung verlor. Rachel ergriff zuerst wieder das Wort.
»Du hast mir Dein Bekenntniß abgelegt,« sagte sie, »ich möchte wohl wissen, ob es Dich von Deiner unglücklichen Neigung heilen würde, wenn ich Dir nun auch mein Bekenntniß machte.«
Er wurde stutzig. Ich muß gestehen, ich auch. Er glaubte und auch ich glaubte, daß sie im Begriff stehe, das Geheimniß des Mondsteins zu enthüllen.
»Würdest Du es glauben,« fuhr sie fort, »wenn Du mich ansiehst, daß ich das elendeste Mädchen der Welt bin? Es ist wahr, Godfrey! Kann es ein größeres Elend geben, als mit dem Bewußtsein, in seiner eigenen Achtung gesunken zu sein, zu leben? Das ist jetzt mein Leben.«
»Liebe Rachel! Es ist unmöglich, daß Du eine genügende Ursache hast, so von Dir selber zu reden.«
»Woher weißt Du das?«
»Wie kannst Du mich das nur fragen! Ich weiß es, weil ich Dich kenne. Dein Schweigen, theuerste Rachel, hat Dich nie in der Achtung Deiner wahren Freunde herabgesetzt Das Verschwinden Deines kostbaren Geburtstags-Geschenks kann auffallend erscheinen; Dein unerklärlicher Antheil an diesem Ereigniß kann noch auffallender erscheinen ——«
»Sprichst Du von dem Mondstein, Godfrey?«
»Ich glaubte sicher, daß Du darauf ——«
»Ich spielte auf nichts derartiges an. Ich kann von dem Verlust des Mondsteins, es sei, wen es wolle, reden hören, ohne mich in meiner eigenen Achtung herabgesetzt zu fühlen. Wenn die Geschichte des Diamanten jemals an den Tag kommt, so wird man erfahren, daß ich eine große Verantwortlichkeit aus mich genommen habe und daß ich mich in die Bewahrung eines elenden Geheimnisses habe verwickeln lassen, aber es wird so klar werden wie die Sonne am hellen Tage, daß ich nicht Böses damit beabsichtigt habe. Du hast mich mißverstanden, Godfrey. Das ist meine Schuld, ich hätte mich deutlicher aussprechen müssen. Es koste mich, was es wolle, ich will jetzt deutlicher sein. Nimm an, Du liebtest mich nicht; nimm an, Du liebtest ein anderes Mädchen.«
»Und?«
»Nimm an, Du machtest die Entdeckung, daß dieses Mädchen Deiner vollkommen unwürdig sei; nimm an, Du überzeugtest Dich, daß Du Dich selbst entehren würdest, wenn Du noch einen weiteren Gedanken an sie verschwendetest, nimm an, die bloße Idee, eine solche Person jemals zu heirathen, machte Dein Gesicht vor Scham glühen.«
»Und?«
»Und nimm an, daß Dein Herz sich trotz alledem und alledem nicht von ihr abwenden könne; nimm an, daß sie zu der Zeit, wo Du an sie glaubtest, Gefühle in Dir rege gemacht hätte, die Du jetzt auf keine Weise zurückzudrängen vermöchtest; nimm an, die Liebe, die diese Elende Dir eingeflößt hätte —— wo soll ich Worte finden, es auszudrücken? Wie kann ich es einem Manne begreiflich machen, daß eine Empfindung, die mich vor mir selber schaudern macht, mich doch wieder, wie mit einem Zauber, gefangen hält? Sie ist der Athem meines Lebens, Godfrey, und sie ist das Gift, das mich verzehrt. Beides zugleich! Geh’! Ich muß mich völlig selbst vergessen haben, um so zu reden. Nein! Bleib? Du darfst mich nicht unter einem falschen Eindruck verlassen. Ich muß noch sagen, was ich zu meiner eigenen Vertheidigung anzuführen habe. Merk’ es wohl! Er weiß nicht und wird es nie erfahren, was ich Dir gesagt habe. Ich werde ihn nie wiedersehen —— was auch geschehen möge —— ich will ihn nie, nie, niemals wiedersehen! Frage mich nicht nach seinem Namen! Frage mich nichts mehr! Laß uns von etwas Anderem reden. Bist Du Arzt genug, Godfrey, um mir sagen zu können, warum mir zu Muthe ist, als ob mir der Athem ausginge und als ob ich ersticken müßte? Giebt es hysterische Zufälle, die sich in einem Ausbruch von Worten, statt von Thränen äußern? Es scheint fast so. Aber was liegt daran? Du wirst nun alle Aufregung, die ich Dir verursacht habe, gewiß leicht genug verwinden. Ich habe mir jetzt den richtigen Platz in Deiner Achtung errungen, nicht wahr? Nimm keine Notiz mehr von mir. Bemitleide mich nicht! Ich bitte Dich um Gotteswillem geh’ fort!«
Plötzlich drehte sie sich um und schlug mit den Händen wild auf die Rücklehne der Ottomane. Ihr Kopf sank in’s Kissen und sie brach in Thränen aus. Bevor ich noch Zeit hatte, dies unschicklich zu finden, machte mich ein ganz unerwarteter Schritt des Herrn Godfrey vor Entsetzen starr. Wird man es glauben, daß er vor ihr auf die Kniee sank? —— auf beide Kniee, wie ich hiermit feierlichst versichere! Muß ich meiner Sittsamkeit die Mittheilung machen, daß er dann seinen Arm um sie schlug? Und muß ich es mit staunendem Bedauern anerkennen, daß er sie mit zwei Worten elektrisirte.
»Edles Wesen!«
Weiter nichts. Aber er that es mit einem jener wunderbaren Ausbrüche, die seinen Ruf als öffentlichen Redner begründet haben. Sie saß, ganz starr vor Schrecken, oder wie von einem Zauber gebannt —— ich weiß es nicht —— ohne auch nur einen Versuch zu machen, seine Arme wieder an die Stelle zu legen, wohin sie gehörten. Was mich betrifft, so war mein Sinn für das Schickliche so tief verletzt, daß ich mich gar nicht zu finden wußte. Ich befand mich in einem so peinlichen Zweifel darüber, ob es meine erste Pflicht sei, die Augen zu schließen oder die Ohren zu verstopfen, daß ich beides unterließ. Wenn ich mich frage, was mir die Kraft gab, den Vorhang noch ferner so zu halten, daß ich gut hören und sehen konnte, so vermag ich es mir nur aus einer Art von unterdrücktem hysterischen Zufall zu erklären. Bei unterdrückten hysterischen Zufällen muß man, wie selbst die Aerzte zugeben, etwas in der Hand halten.
»Ja!« sagte er mit allem Zauber seiner evangelischen Stimme und Gesticulation, »Du bist ein edles-Wesen! Ein Weib, das die Wahrheit nur um der Wahrheit willen reden kann; ein Weib, das lieber ihren Stolz als einen rechtschaffenen Mann opfert, der sie liebt, ist der kostbarste aller Schätze. Wenn ein solches Weib heirathet, so gewinnt der Mann, wenn es ihm nur gelingt, sich ihre Achtung zu erringen, genug, um sein ganzes Leben dadurch zu verklären. Du hast von der Stelle gesprochen, die Du in meiner Achtung einnimmst. Urtheile selbst, wie hoch Du in meiner Achtung stehst, wenn ich Dich auf meinen Knieen anflehe, meinen Händen die Heilung Deines armen verwundeten Herzens zu überlassen. Rachel! Willst Du mir die höchste Ehre erweisen, willst Du mich glücklich machen, willst Du mein Weib werden?«
In diesem Augenblick würde ich unfehlbar beschlossen haben, mir die Ohren zu verstopfen, wenn Rachel mich nicht dadurch ermuthigt hätte, sie noch ferner offen zu halten, daß sie ihm eine Antwort in so verständigen Worten gab, wie ich sie nie zuvor von ihr gehört hatte.
»Godfrey,« sagte sie, »Du mußt den Verstand verloren haben.«
»Ich habe nie verständiger, sowohl in Deinem wie in meinem Interesse gesprochen. Blicke einen Augenblick in die Zukunft. Willst Du Dein Glück einem Manne opfern, der nie erfahren hat, wie Du für ihn fühlst, und den Du entschlossen bist, nie wieder zu sehen? Ist es nicht Pflicht gegen Dich selbst, diese unglückselige Neigung zu vergessen? und wirst Du vergessen können, so lange Du Dein jetziges Leben fortführst? Du hast dies Leben nun lange genug geführt und bist seiner bereits überdrüssig. Umgieb Dich mit edleren Interessen, als den Interessen dieser Welt. Ein Herz, das Dich liebt und ehrt, eine Häuslichkeit, deren friedliche Beschäftigungen und beglückende Pflichten Dir von Tage zu Tage theurer werden —— versuche es mit dem Troste, Rachel, den Du darin finden wirst! Ich bitte Dich nicht um Deine Liebe, ich will mich mit Deiner Zuneigung und Deiner Achtung begnügen. Ueberlaß das Uebrige vertrauensvoll der Ergebenheit Deines Gatten und der Zeit, die selbst so tiefe Wunden wie die Deinigen heilt.«
Sie fing schon an, nachzugehen. O! welche Erziehung mußte sie gehabt haben! O! wie anders würde ich an ihrer Stelle gehandelt haben!
»Führe mich nicht in Versuchung, Godfrey,« sagte sie, »ich bin schon elend genug, führe mich nicht in Versuchung, noch elender zu werden.«
»Eine Frage, Rachel, Hast Du irgend etwas gegen meine Person?«
»Ich! Ich habe Dich immer gern gehabt. Nach dem, was Du mir eben gesagt hast, müßte ich vollkommen unempfindlich sein, wenn ich Dich jetzt nicht auch achten und bewundern wollte.«
»Kennst Du viele Frauen, liebe Rachel, die ihre Männer achten und bewundern? Und doch leben sie ganz glücklich mit diesen Männern? Wie viele Bräute treten vor den Altar, deren Herzen den Einblick der Männer ertragen würden, denen sie die Hand reichen? Und doch nimmt die Sache meistens kein unglückliches Ende —— auf eine oder die andere Weise geht die Ehe ihren Gang. Die Wahrheit ist, daß die Frauen die Ehe viel öfter als eine letzte Zufluchtsstätte betrachten, als sie zugeben wollen; und, was mehr ist, sie finden schließlich, daß die Ehe das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigt. Betrachte Deinen eigenen Fall noch einmal. Ist es denkbar, daß Du in Deinem Alter und mit Deinen Reizen Dich zu einem ehelosen Leben Verurtheiltest? Vertraue meiner Kenntniß der Welt, es giebt nichts so Undenkbares Es ist lediglich eine Frage der Zeit. In einigen Jahren heirathest Du vielleicht einen andern Mann, oder heirathest den Mann, Liebste, der jetzt zu Deinen Füßen liegt und der Deine Achtung und Deine Bewunderung höher schätzt, als die Liebe irgend eines anderen Weibes auf dem weiten Erdenrund.«
»Halt ein, Godfrey! Du führst mir ein Bild vor, das mir noch nie erschienen ist. Du führst mich in Versuchung mit einer neuen Aussicht, in einem Augenblick, wo sich alle anderen Aussichten vor mir geschlossen haben. Ich wiederhole Dir, ich bin elend und verzweifelt genug, Dich, wenn Du noch ein Wort sagst, auf Deine eigene Bedingungen hin zu heirathen. Laß Dir das gesagt sein, und geh!«
»Ich weiche nicht von diesem Fleck, bis Du Ja gesagt hast.«
»Wenn ich Ja sage, wird es Dich gereuen und wird es mich gereuen, wenn es zu spät ist.«
»Theuerstes Mädchen, wir werden beide den Tag segnen, wo ich in Dich drang und wo Du nachgabst.«
»Bist Du wirklich so vertrauensvoll, wie Du sprichst?«
»Urtheile selbst. Ich spreche im Bewußtsein dessen, was ich in meiner eigenen Familie erlebt habe. Sag’ mir, was Du über unsere Häuslichkeit in Frizinghall denkst. Leben mein Vater und meine Mutter unglücklich mit einander?«
»Durchaus nicht, so weit ich darüber urtheilen kann.«
»Nun, meine Mutter liebte als Mädchen, das ist kein Geheimniß in der Familie —— wie Du, Rachel, sie hatte ihr Herz an einen Unwürdigen verloren. Sie heirathete meinen Vater, den sie achtete und bewunderte, den sie aber nicht liebte. Du hast jetzt mit eigenen Augen gesehen, wie diese Ehe ausgefallen ist. Liegt darin nicht eine Ermuthigung für Dich und mich?«
»Du willst mich doch nicht zu einer Entscheidung drängen, Godfrey?«
»Ich dränge Dich nicht!«
»Du verlangst nicht mehr von mir, als ich Dir geben kann?«
»Mein Engel, ich verlange nichts von Dir, als Dich selbst.«
»Nimm mich!«
Mit diesen beiden Worten nahm sie seinen Antrag an.
Wieder erfolgte von seiner Seite ein Ausbruch —— dieses Mal ein Ausbruch unheiliger Verzückung. Er zog sie näher und näher an sich, bis ihr Gesicht das seinige berührte und dann —— Nein! ich kann es nicht über mich gewinnen, diesen anstößigen Bericht noch weiter zu führen. Ich will nur noch bemerken, daß ich es versuchte meine Augen zu schließen, bevor es geschah, daß ich es aber gerade einen Augenblick zu spät that. Ich hatte, wie man sieht, darauf gerechnet, daß sie widerstehen würde. Aber sie ergab sich. Für jede feinfühlende Person meines Geschlechts bedarf es keines weiteren Wortes.
Selbst mit meiner Unerfahrenheit in solchen Dingen fing ich jetzt an, das Ende der Zusammenkunft abzusehen. Sie waren so völlig mit einander einig geworden, daß ich ganz daraus gefaßt war, sie Arm in Arm fortgehen zu sehen, um sich trauen zu lassen. Nach Herrn Godfrey’s nächster Aeußerung zu urtheilen, gab es jedoch noch eine kleine Formalität zu erfüllen. Er setzte sich jetzt, und zwar dieses Mal ohne daß sie ihm wehrte, an ihre Seite auf die Ottomane. »Soll ich mit Deiner lieben Mutter sprechen,« sagte er, »oder willst Du es selbst thun?«
Sie lehnte Beides ab.
»Laß meine Mutter von keinem von uns Beiden etwas über die Sache hören, bis es ihr besser geht. Ich möchte die Sache vorläufig noch geheim gehalten wissen, Godfrey. Geh jetzt und komm diesen Abend wieder. Wir sind lange genug hier allein zusammen gewesen.«
Sie stand auf und blickte im Aufstehen zum ersten Mal nach dem kleinen Zimmer, in welchem ich noch immer mein Märtyrerthum zu bestehen hatte.
»Wer hat denn die Vorhänge zugezogen?« rief sie aus. »Das Zimmer ist ja so schon dumpfig genug, warum noch die Luft in dieser Weise absperren?«
Sie ging auf die Vorhänge zu. In dem Augenblick, wo die Entdeckung meiner Person unvermeidlich geworden zu sein schien, erscholl plötzlich die Stimme des gut aussehenden jungen Dieners auf der Treppe und that jedem weiteren Vorgehen von ihrer oder meiner Seite Einhalt. Die Stimme gab in unzweideutiger Weise eine große Aufregung kund.
»Fräulein Rachel!« rief er laut, »wo find Sie, Fräulein Rachel?«
»Sie trat plötzlich vom Vorhange zurück und eilte an die Thür.
In demselben Augenblick trat der Diener in’s Zimmer. Seine frische Farbe war ganz verschwunden. Er sagte: »Bitte, kommen Sie hinunter, gnädiges Fräulein! Mylady ist in Ohmnacht gefallen und wir können sie nicht wieder zu sich bringen.«
Im nächsten Augenblick war ich allein und konnte ungehindert und unbeobachtet auch meinerseits hinuntergehen.
In der Halle streifte ich Herrn Godfrey, der fortstürzte, um den Doctor zu holen. »Gehen Sie hinein und helfen Sie!« sagte er, auf das Zimmer deutend.
Ich fand Rachel auf den Knieen bei dem Sopha, den Kopf ihrer Mutter an ihrem Busen. Für mich, die ich den Zustand Lady Verinder’s kannte, genügte ein Blick auf das Gesicht meiner Tante, um mir die schreckliche Wahrheit zu enthüllen. Ich behielt meine Gedanken für mich, bis der Doctor eintrat, der nicht lange auf sich warten ließ. Sein Erstes war, Rachel aus dem Zimmer zu entfernen, dann theilte er uns Uebrigen mit, daß Lady Verinder todt sei. Ernste Menschen, welche Beispiele von verhärtetem Skepticismus zu ihrer Belehrung sammeln, wird es vielleicht interessieren zu hören, daß er bei meinem Anblick keine Spur von Gewissensbissen zu empfinden schien.
Etwas später warf ich einen flüchtigen Blick in’s Frühstückszimmer und in die Bibliothek hinein. Meine Tante war gestorben, ohne einen einzigen der Briefe, die ich ihr geschrieben hatte, gelesen zu haben. Dies berührte mich so peinlich, daß es mir erst einige Tage später einfiel, daß sie auch gestorben sei, ohne mir mein kleines Vermächtniß zu geben.
Sechstes Capitel.
l. Miß Clack beehrt sich, Herrn Franklin Blake mit ihren besten Empfehlungen das fünfte Capitel ihres Berichts zu übersenden; sie erlaubt sich dabei zu bemerken, daß sie sich durchaus unfähig fühlt, sich über ein unter den obwaltenden Umständen so entsetzliches Ereigniß, wie es der Tod Lady Verinder’s ist, zu verbreiten und hat deshalb ihrem Manuskript zahlreiche Auszüge aus werthvollen, in ihrem Besitz befindlichen Schriften beigefügt, welche alle dieses furchtbare Thema behandeln. Sie schließt mit dem Ausdruck des Wunsches, daß diese Auszüge auf ihren geschätzten Verwandten, Herrn Franklin Blake, wirken mögen, wie die gewaltigen Töne einer Posaune.
2. Herr Franklin Blake sagt Miß Clack mit freundlichen Grüßen seinen verbindlichen Dank für die Sendung des fünften Capitels ihres Berichts. Die dem Bericht angehängten Auszüge folgen anbei zurück. Herr Franklin Blake enthält sich jeder Ausdeutung seiner persönlichen Ansicht über den Werth dieser Art von Literatur und beschränkt sich auf die Bemerkung, daß die fraglichen Anlagen zu dem Manuskript zur Erreichung des Zieles, das er sich gesteckt hat, nicht erforderlich sind.
3. Miß Clack bekennt sich zum Empfang der ihr zurückgesandten Auszüge und erlaubt sich Herrn Franklin Blake freundlichst daran zu erinnern, daß sie eine Christin und daß es deshalb ganz unmöglich für ihn ist, sie zu beleidigen. Miß Clack nimmt fortwährend das lebhafteste Interesse an Herrn Franklin Blake und verpfändet ihr Wort dafür, daß sie ihm bei der ersten Gelegenheit, wo er krank darnieder liegt, ihre Auszüge wieder zur Verfügung zu stellen bereit sein wird. Inzwischen möchte sie vor Beginn des nächsten und letzten Capitels ihres Berichts gern wissen, ob es ihr gestattet ist, ihren bescheidenen Beitrag dadurch zu vervollständigen, daß sie die Dinge in dem Lichte darstellt, welches spätere Entdeckungen über das Geheimniß des Mondsteins verbreitet haben.
4. Herr Franklin Blake bedauert, dem Wunsche Miß Clack’s nicht entsprechen zu können. Er kann die Instructionen, welche er die Ehre hatte, ihr beim Beginn ihres Berichtes zu ertheilen, nur wiederholen. Sie wird ersucht, sich auf ihre persönlichen Erfahrungen über Personen und Dinge, wie sie in ihrem Tagebuche verzeichnet sind, zu beschränken. Spätere Entdeckungen wolle sie gütigst der Feder solcher Personen überlassen, welche in der Eigenschaft von Zeugen darüber zu schreiben im Stande sind.
5. Miß Clack bedauert unendlich, Herrn Franklin Blake abermals behelligen zu müssen. Ihre Auszüge sind ihr zurückgeschickt und der Ausdruck ihrer gereiften Ansichten über die Angelegenheit des Mondsteins ist ihr untersagt worden. Miß Clack ist sich schmerzlich bewußt, daß sie sich (weltlich gesprochen) dadurch gekränkt fühlen müßte. Aber nein — Miß Clack hat in der Schule des Unglücks Beharrlichkeit gelernt. Der Zweck dieser Zeilen ist, zu erfahren, ob Herr Blake, der ihr alles Uebrige untersagt, auch gegen die Aufnahme der gegenwärtigen Correspondenz in Miß Clack’s Bericht etwas einzuwenden hat. Die Zulassung einer Erklärung über die Lage, in welche Herrn Blake’s Verbot sie als Schriftstellerin versetzt hat, scheint durch die einfachste Billigkeit geboten und Miß Clack hat ihrerseits den lebhaften Wunsch, ihre Briefe, die für sich selber sprechen, veröffentlicht zu sehen.
6. Herr Franklin Blake genehmigt Miß Clacks Vorschlag in der Voraussetzung, daß sie diese seine Einwilligung gefälligst als den Schluß dieser Correspondenz betrachten wolle.
7. Miß Clack betrachtet es als einen Act christlicher Pflichterfüllung, Herrn Franklin Blake vor dem Schluß ihrer Correspondenz davon in Kenntniß zu setzen, daß er den augenscheinlichen Zweck seines letzten Briefes, sie zu kränken, nicht erreicht hat. Sie ersucht Herrn Franklin Blake, sich in sein Kämmerlein zurückzuziehen und sich selbst in stillem Nachdenken zu fragen, ob die Erziehung, welche ein armes schwaches Weib für Insulten so unempfänglich zu machen im Stande ist, nicht größere Bewunderung verdient als er ihr angedeihen zu lassen jetzt geneigt ist. Sobald Miß Clack eine desfallsige Aufforderung erhält, wird sie, wie sie hiermit feierlichst verspricht, Herrn Franklin Blake die vollständige Sammlung ihrer Auszüge wieder zusenden.
(Aus diesen Brief erfolgte keine Antwort. Eines weiteren
Commentars bedarf es nicht.
Gezeichnet: Drusilla Clack.)
Siebentes Capitel.
Die vorstehende Correspondenz wird es zur Genüge erklären, weshalb mir keine andere Wahl gelassen ist als mich in Betreff des Todes Lady Verinder’s auf die einfache Mittheilung der Thatsache, welche den Schluß meines fünften Capitels bildet, zu beschränken.
Indem ich mich von nun an streng innerhalb der Grenzen meiner eigenen persönlichen Erfahrung zu halten habe, berichte ich zunächst, daß nach dem Tode meiner Tante ein Monat verfloß, bevor Rachel Verinder und ich uns wieder trafen. Dieses Zusammentreffen war die Veranlassung, daß ich mehrere Tage unter einem Dache mit ihr zubrachte. Während dieses Besuchs ereignete sich etwas in Betreff ihrer Verlobung mit Herrn Godfrey Ablewhite, das wichtig genug ist, um in diesen Blättern hervorgehoben zu werden. Nachdem ich diesen letzten der vielen peinlichen Vorfälle in der Familie berichtet haben werde, wird meine Ausgabe erfüllt sein; denn ich werde dann Alles erzählt haben, was ich als wirkliche, wenn auch sehr widerwillige Zeugin von den Ereignissen weiß.
Die sterblichen Ueberreste meiner Tante wurden von London nach ihrem Landsitze gebracht und dort auf dem kleinen zu der Kirche in ihrem eigenen Park gehörenden Kirchhofe begraben. Ich wurde nebst der übrigen Familie zu dem Leichenbegängnisse eingeladen. Aber es war mir bei bei meinen religiösen Anschauungen unmöglich, mich in so wenigen Tagen aus der Erschütterung welche dieser Tod bei mir versucht hatte, aufzuraffen. Ueberdies hatte ich erfahren, daß der Pfarrer von Frizinghall die Leichenrede halten werde. Ich hatte diesen verworfenen Geistlichen in früheren Tagen an Lady Verinder’s Whisttisch sitzen sehen und ich zweifle, ob ich, selbst wenn ich mich stark genug zu der Reise gefühlt hätte, mich entschlossen haben würde, der Feierlichkeit beizuwohnen.
Lady Verinder’ Tod stellte ihre Tochter unter die Obhut ihres Schwagers, des älteren Herrn Ablewhite. Das, Testament machte ihn zum Vormund bis seine Nichte sich verheirathen oder volljährig werden würde. Im Hinblick auf dieses Verhältnis; setzte Herr Godfrey, glaube ich, seinen Vater von seiner neuen Beziehung zu Rachel in Kenntniß. Wenigstens war das Geheimniß ihrer Verlobung zehn Tage nach dem Tode ihrer Mutter für ihre Familie kein Geheimniß mehr und die große Frage für den älteren Herrn Ablewhite, einem gleichfalls ganz verworfenen Menschen, war, wie er sich und seine Autorität der reichen jungen Dame, die seinen Sohn heirathen wollte, möglichst angenehm machen könne.
Rachel machte ihm gleich im Anfang durch die Schwierigkeiten zu schaffen, die sie in Betreff ihrer künftigen Wohnung erhob. Das Haus in Montague-Square war ihr durch den darin erfolgten Tod ihrer Mutter, das Haus in Yorkshire durch die Mondstein-Angelegenheit verleidet. Dem eigenen Hause ihres Vormundes in Frizinghall stand zwar keines dieser Hindernisse im Wege, aber Rachels Anwesenheit in demselben nach ihrem kürzlichen Verlust erschien als eine unbequeme Beschränkung der Zerstreuungen ihrer Cousinen, der Fräulein Ablewhite und sie bat selbst um einen Aufschub ihres Besuchs bis zu einem günstigeren Zeitpunkte. Schließlich wurde ein Vorschlag des alten Herrn Ablewhite, es mit einem möblirten Hause in Brighton zu versuchen, angenommen. Seine Frau, eine kränkliche Tochter und Rachel sollten dasselbe gemeinschaftlich bewohnen und er selbst wollte später im Jahre zu ihnen kommen. Sie würden daselbst keine andere Gesellschaft als einige alte Freunde sehen und würden seinen Sohn Godfrey, der mit dem Londoner Zuge hin- und herreisen könnte, immer zu ihrer Verfügung haben.
Ich schildere dieses Umherziehen von einer Wohnung zur andern, diese unbefriedigte Ruhelosigkeit des Körpers und diese entsetzliche Stagnation der Seele lediglich im Hinblick auf gewisse Folgen. Das Ereigniß, welches die Vorsehung zu dem Mitte! ausersehen hatte, mich und Rachel Verinder wieder zusammenzuführen, war kein anderes als das Miethen des Hauses in Brighton. Meine Tante Ablewhite ist eine große stille Frau von weißem Teint mit einer bemerkenswerthen Charaktereigenschaft. Von dem Moment ihrer Geburt an hat sie nie irgend etwas selbstständig gethan; ihr ganzes Leben hindurch hat sie sich von Jedermann helfen lassen und sich zu Jedermanns Ansichten bekannt. Ein hoffnungsloseres Wesen im geistlichen Sinne habe ich nie gesehen —— sie würde keinem aus sie geübten Einfluß auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen im Stande sein. Tante Ablewhite würde einem Priester des Dalai Lama von Tibet gerade so gut zuhören wie mir und würde seine Ansichten genau so treu widerspiegeln, wie sie jetzt die meinigen widerspiegelt. Sie erfuhr die Adresse des möblirten Hauses in Brighton, nachdem sie in einem Hotel in London abgestiegen war, sich dort auf einem Sopha ausgeruht und zu ihrem Sohn geschickt hatte. Sie engagirte die nöthigen Domestiken, indem sie eines Morgens noch während ihres Aufenthalts in London im Bett frühstückte und ihrem Kammermädchen unter der Bedingung einen freien Tag schenkte, daß das Mädchen zuerst Miß Clack bitte zu ihr zu kommen. Ich fand sie um 11 Uhr Vormittags in ihrem Schlafrock sich ruhig fächelnd. »Liebe Drusilla, ich brauche einige Domestiken. Du bist eine so gewandte Person, bitte, besorge sie mir. Ich sah mich in dem unaufgeräumten Zimmer um. Die Kirchenglocken erklangen eben zu einem Wochengottesdienst, sie gaben mir ein freundlich-vorwurfsvolles Wort an die Hand. »O Tante!« sagte ich traurig, »ist das einer christlichen englischen Frau würdig? Ist das die Art, wie wir auf dem Wege von der Zeitlichkeit zur Ewigkeit wandeln sollen?« Meine Tante antwortete: »Ich will mich ankleiden, Drusilla, wenn Du so gut sein willst, mir behilflich zu sein.« Was war da weiter zu sagen? Ich habe bei Mörderinnen Wunder gewirkt —— mit Tante Ablewhite bin ich niemals vom Flecke gekommen. »Wo ist die Liste der Domestiken, die Du brauchst?« fragte ich. Meine Tante schüttelte mit dem Kopf; ihre Energie reichte nicht einmal so weit, eine solche Liste bei sich zu behalten. »Rachel hat sie, liebes Kind« sagte sie, »drinnen im anderen Zimmer.« Ich ging in das anstoßende Zimmer und sah hier Rachel zum ersten Mal wieder seit unserm letzten Zusammentreffen im Montague-Square.
Sie sah bejammernswerth klein und mager in ihrer tiefen Trauer aus. Wenn ich eines so nichtig vergänglichen Dinges, wie der persönlichen Erscheinung, schon einmal Erwähnung thue, so darf ich wohl noch hinzufügen, daß sie eine jener unglücklichen Complexionen hatte, welche nur durch Weiß in der Toilette gehoben werden können. Aber was sind unsere Complexionen und unsere Blicke? Hindernisse und Fallstricke, liebe Schwestern, welche uns auf unserm Wege zu höhern Dingen umgarnen! Zu meiner großen Ueberraschung stand Rachel auf, als ich in’s Zimmer trat, und kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen,« sagte sie. »Drusilla, ich pflegte früher sehr albern und unhöflich gegen Sie zu sein. Ich hoffe, Sie verzeihen mir das.«
Vermuthlich verriethen meine Züge das Erstaunen, welches diese Anrede bei mir hervorrief. Sie erröthete einen Augenblick und erklärte sich dann näher.
»Zu Lebzeiten meiner armen Mutter,« fuhr sie fort, »waren ihre Freunde nicht immer auch meine Freunde. Jetzt, wo ich sie verloren, habe, findet mein Herz einen Trost darin, sich Denen zuzuwenden, welche sie gerne hatte. Sie waren Eine von diesen. Versuchen Sie es, auch mir eine Freundin zu sein, wenn Sie können.«
Für jedes wohl angelegte Gemüth mußte das von ihr selbst bezeichnete Motiv geradezu anstößig sein. Da stand auf dem Boden des christlichen Englands ein junges Mädchen, das so wenig einen Begriff davon hatte, wo sie den wahren Trost für einen herben Verlust zu suchen habe, daß sie denselben bei den Freunden ihrer Mutter zu finden hoffte. Hier stand eine Verwandte von mir, in welcher ein Gefühl für ihr Unrecht gegen Andere nicht auf dem Wege der Pflicht, sondern der Empfindung und des Impulses rege geworden war! Ein Seelenzustand, der, so traurig er auch an und für sich war, doch für eine Person von meinen Erfahrungen auf dem Gebiete der Arbeit im Dienste des Herrn der Hoffnung auf Erweckung noch Raum gab. Es konnte, wie es mir schien, keinesfalls schaden, wenn ich mir über den Umfang der Wandlung, welche der Verlust ihrer Mutter in Rachel’s Charakter hervorgebracht hatte, Gewißheit verschaffte. Ich beschloß, mich ihrer Verlobung mit Herrn Godfrey Ablewhite als eines guten Probirsteins zu bedienen. Nachdem ich zuerst ihr freundliches Entgegenkommen möglichst herzlich erwidert hatte, entsprach ich ihrer Aufforderung, mich zu ihr aufs Sopha zu setzen. Wir redeten über Familienangelegenheiten und Pläne für die Zukunft, immer jedoch ohne den für ihre Zukunft entscheidendsten Plan, ihre Heirath, zu berühren. Ich mochte es versuchen wie ich wollte, die Unterhaltung auf diesen Gegenstand zu lenken, sie schien entschlossen, mir darin nicht zu willfahren. Eine direkte Berührung der Frage meinerseits würde in diesem ersten Stadium unserer Versöhnung vorzeitig erschienen sein. Ueberdies hatte ich bereits Alles, was ich wissen wollte, herausgebracht. Sie war nicht mehr die rücksichtslose und herausfordernde Person, die ich bei Gelegenheit meines Märtyrerthums in Montague-Scuare gehört und gesehen hatte. Dies war schon genug, um mich zu ermuthigen, an ihre Bekehrung zu gehen. Ich fing damit an, mich in einigen ernsten Worten gegen die übereilte Schließung des Ehebündnisses auszusprechen und gelangte auf diesem Wege zu höheren Dingen. Indem ich sie jetzt mit einem neuen Interesse betrachtete und mich der überstürzten Plötzlichkeit erinnerte, mit welcher sie auf Herrn Godfrey’s Heirathsantrag eingegangen war, empfand ich es als eine heilige Pflicht, hier mit einem Eifer einzuschreiten, der mir die beste Gewähr für die Erreichung eines nicht geringen Zieles bot. Rasches Vorgehen war, wie mir schien, hier von entscheidender Wichtigkeit. Ich kam sofort auf die für das möblirte Haus zu engagirenden Dienstboten zurück.
»Wo hast Du die Liste, liebe Rachel?«
Rachel gab sie mir.
Ich las: »Köchin", Küchenmädchen, Hausmädchen und Diener.« »Liebe Rachel, diese Dienstboten sollen nur für eine bestimmte Zeit, die Zeit, für welche Dein Vormund das Haus gemiethet hat, engagirt werden. Wir werden hier in London große Mühe haben, gute und brauchbare Leute zu finden, die bereit sein würden, auf ein solches temporäres Engagement einzugehen. Ist das Haus in Brighton schon gefunden?«
»Ja, Godfrey hat es gemiethet, und in demselben Leute gefunden, die gern von ihm als Dienstboten engagirt werden wollten. Sie schienen ihm aber für uns nicht zu genügen und er ist zurückgekommen, ohne noch irgend etwas mit ihnen abgemacht zu haben.«
»Und Du selbst hast keine Erfahrung in solchen Dingen, Rachel?«
»Durchaus keine!«
»Und Tante Ablewhite will sich auch nicht darum bemühen?«
»Nein, und Du darfst die arme gute Tante nicht darum tadeln, Drusilla. Ich glaube, sie ist die einzige wirklich glückliche Person, die mir je vorgekommen ist.«
»Es giebt verschiedene Arten, glücklich zu sein, liebes Kind. Wir müssen darüber einmal ein Wort miteinander reden. Einstweilen will ich versuchen, die Schwierigkeiten mit den Dienstboten aus dem Wege zu räumen. Deine Tante wird an die Leute im Hause einen Brief schreiben ——«
»Sie wird einen Brief unterzeichnen, wenn ich ihn für sie schreibe, was ja auf dasselbe herauskommt.«
»Ganz dasselbe. Ich bekomme den Brief und will morgen damit nach Brighton gehen.«
»Wie gütig von Dir! Wir werden Dir nachkommen, sobald Du zu unserem Empfang bereit bist und Du wirst hoffentlich eine Zeitlang als mein Gast bei uns bleiben. Brighton ist so lebendig; es wird Dir da gewiß gefallen.«
In diesen Worten erhielt ich meine Einladung und eröffnete sich mir eine herrliche Aussicht auf Gelegenheit, meinen Entschluß geltend zu machen.
Dies geschah an einem Mittwoch. Am Sonnabend Nachmittag war das Haus zum Empfang der Familie bereit. In diesen wenigen» Tagen hatte ich nicht nur die Charaktere, sondern auch die religiösen Ansichten aller der Stellen suchenden Dienstboten, die sich bei mir meldeten, geprüft, und es war mir gelungen, eine Auswahl zu treffen, bei der sich mein Gewissen beruhigen konnte. Ich fand auch, daß sich zwei ernste Freunde von mit in der Stadt aufhielten und besuchte dieselben in der Gewißheit, daß ich ihnen den frommen Zweck, der mich nach Brighton geführt hatte, getrost anvertrauen dürfe. Einer derselben, ein Geistlicher, war mir freundlich dabei behilflich, in der Kirche, in der er predigte, für unsere kleine Gesellschaft Plätze zu verschaffen. Die andere, eine einzelne Dame gleich mir, stellte mir ihre durchweg aus werthvollen Schriften bestehende Bibliothek ganz zur Disposition. Ich lieh mir von ihr ein halbes Dutzend Werke, die ich Alle mit Rücksicht auf Rachel sorgfältig ausgewählt hatte. Nachdem ich dieselben umsichtig in den verschiedenen Zimmern vertheilt hatte, welche voraussichtlich von ihr bewohnt werden würden, war ich mit meinen Vorbereitungen fertig. Das Wort Gottes in den Dienstboten, die ihr aufwarteten, das Wort Gottes in dem Prediger, dessen Kirche sie besuchen würde, und das Wort Gottes in den Büchern, die auf ihrem Tische lagen —— das war der dreifache Willkomm’ den mein Eifer für das mutterlose Mädchen bereitet hatte! Eine himmlische Ruhe erfüllte mein Gemüth an jenem Sonnabend-Nachmittag, als ich am Fenster saß und die Ankunft meiner Verwandten erwartete. Ein flüchtiges Menschengedränge zog vor meinen Augen vorüber. Ach! wie viele unter ihnen mochten wohl mit mir das unvergleichlich wohlthuende Gefühl erfüllter Pflicht theilen? Eine furchtbare Frage. Versuchen wir nicht, sie zu beantworten.
Zwischen 6 und 7 Uhr trafen die Reisenden ein. Zu meiner unbeschreiblichen Ueberraschung befand sich in ihrer Begleitung nicht, wie ich erwartet hatte, Herr Godfrey, sondern der Advocat Herr Bruff.
»Wie geht’s Ihnen, Miß Clack?« sagte er, »dieses Mal denke ich hier zu bleiben.«
Diese Anspielung aus unser letztes Zusammentreffen, bei welchem ich ihn gezwungen hatte, vor mir das Feld zu räumen, überzeugte mich, daß der alte Weltmann zu einem besondern Zweck nach Brighton gekommen sein müsse. Ich hatte ein kleines Paradies für meine geliebte Rachel bereitet, und siehe da! —— hier war auch schon die Schlange.
»Es that Godfrey außerordentlich leid, nicht mit uns gehen zu können, Drusilla,« sagte meine Tante Ablewhite. »Er ist durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten und Herr Bruff fand sich freundlich bereit, seine Stelle zu übernehmen und sich bis Montag Morgen für uns frei zu machen. Beiläufig, Herr Bruff, ich soll mir Bewegung machen und ich habe keine Neigung dazu. Das,« fügte Tante Ablewhite hinzu, indem sie aus dem Fenster nach einem in einem in einem Rollstuhl vorüberfahrenden Kranken hinwies, »ist, was ich unter Bewegung verstehe. Will man Luft haben, so kann man sie im Rollstuhl genießen und wenn man Ermüdung braucht, so ist es, denk ich, ermüdend genug, den Mann, der den Rollwagen schiebt, anzusehen.«
Rachel stand schweigend allein an einem Fenster, die Augen fest auf die See geheftet.
»Bist Du müde, liebes Kind?« fragte ich.
»Nein, nur ein wenig verstimmt,« antwortete sie; »ich habe die See oft an unserer Yorkshirer Küste in dieser Beleuchtung gesehen und ich dachte eben an vergangene Tage, Drusilla, die nie wiederkehren können.
Herr Bruff aß mit uns zu Mittag und blieb auch den ganzen Abend. Je länger ich mit ihm zusammen war, desto klarer wurde es mir, daß er nicht ohne einen bestimmten Zweck nach Brighton gekommen sei. Ich beobachtete ihn sorgfältig. Er behauptete dasselbe ruhige Beharren der Erscheinung und schwatzte den ganzen Abend dasselbe gottlose Zeug, bis es Zeit für ihn war, sich zu verabschieden. Als er Rachel die Hand zum Abschied gab, beobachtete ich, wie sein kalter und verschlagener Blick einen Augenblick mit einem sehr eigenthümlichen Ausdruck von Interesse und Aufmerksamkeit auf ihr ruhte. Offenbar stand sie in Verbindung mit dem Zweck, den er im Auge hatte. Er sagte weder zu ihr, noch zu sonst Jemandem irgend etwas Ungewöhnliches beim Weggehen. Er lud sich auf den nächsten Tag zum zweiten Frühstück ein und ging dann nach seinem Hotel.
Am nächsten Morgen war es unmöglich, meine Tante Ablewhite zu bewegen, sich rechtzeitig für die Kirche anzukleiden Ihre kranke Tochter, die nach meiner Ueberzeugung an nichts litt als an einer unheilbaren, von ihrer Mutter ererbten Trägheit, erklärte ihre Absicht, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Rachel und ich gingen allein zusammen in die Kirche. Mein reich begabter Freund hielt eine herrliche Predigt über die heidnische Gleichgültigkeit der Welt gegen die Sündhaftigkeit kleiner Sünden. Länger als eine Stunde donnerte seine, von einer klangvollen Stimme getragene Beredtsamkeit durch die heiligen Räume.
Beim Fortgehen sagte ich zu Rachel: »Hat das Wort der Predigt seinen Weg zu Deinem Herzen gefunden, liebes Kind?«
Und sie antwortete: »Nein, es hat mir nur Kopfschmerzen verursacht.«
Diese Antwort würde vielleicht Manchen entmuthigt haben, aber ich lasse mich, wenn ich eine Bahn heilbringender Wirksamkeit einmal betreten habe, durch nichts entmuthigen.
Wir fanden Tante Ablewhite und Herrn Bruff beim Frühstück. Als Rachel erklärte, ihres Kopfschmerzes wegen gar nicht frühstücken zu wollen, erspähte und ergriff der schlaue Advocat alsbald die sich ihm darbietende Gelegenheit.
»Es giebt nur ein Mittel gegen Kopfschmerzen,« sagte dieser abscheuliche Alte; »Sie müssen einen Spaziergang machen, Fräulein Rachel, das wird curiren. Ich stehe Ihnen zu Diensten, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, meinen Arm anzunehmen.«
»Mit dem größten Vergnügen; ich habe eine wahre Sehnsucht nach frischer Luft.«
»Es ist nach zwei Uhr,« bemerkte ich sanft, »und der Nachmittags-Gottesdienst fängt um drei Uhr an, Rachel.«
»Wie kannst Du denken,«« fuhr sie mich Ungestüm an, »daß ich mit solchem Kopfschmerz zum zweiten Male in die Kirche gehen werde?«
Herr Bruff öffnete ihr höflich beflissen die Thür; eine Minute später hatten sie Beide das Haus verlassen. Ich erinnere mich nicht, je die heilige Pflicht einzuschreiten so lebhaft empfunden zu haben wie in jenem Augenblick.
Aber was war hier zu thun? Ich mußte die erste Gelegenheit abwarten, die sich mir im Laufe des Tages darbieten würde.
Als ich vom Nachmittags-Gottesdienst wieder nach Hause kam, waren auch die Beiden eben von ihrem Spaziergang zurückgekehrt. Ein Blick genügte mir zu sehen, daß der Advocat das, was er hatte sagen wollen, ausgesprochen hatte. Noch nie hatte ich Rachel so schweigsam und so nachdenk1ich und noch nie hatte ich Herrn Bruff sie mit einer so ausgesuchten Aufmerksamkeit und einer so ergebenen Achtung behandeln sehen. Er hatte angeblich für heute eine Einladung zu Tisch angenommen und verabschiedete sich bei Zeiten von uns Allen, da er am nächsten Morgen schon mit dem ersten Zuge wieder nach London zu gehen beabsichtige.
»Sind Sie Ihres Entschlusses gewiß?« sagte er zu Rachel an der Thür.
»Vollkommen gewiß,« antwortete sie —— und damit ging er fort.
Kaum hatte er den Rücken gewandt, als Rachel sich in ihr Zimmer zurückzog Auch bei Tische erschien sie nicht. Ihr Kammermädchen, die Person mit den Mützenbändern, kam herunter zu melden, daß ihre Kopfschmerzen wiedergekehrt seien. Ich eilte hinaus und erbot mich durch die Thür zu allen Arten schwesterlicher Liebesdienste. Aber die Thür war und blieb verschlossen. Hier gab es einen widerstandsfähigen Boden, der der Bebauung harrte! Das Verschließen ihrer Thür war für mich nur ein ermunternder Sporn.
Als ihr am nächsten Morgen der Thee auf’s Zimmer gebracht wurde, ging ich mit hinein. Ich setzte mich zu ihr an’s Bett und sprach einige ernste Worte. Sie hörte mir mit einer schlaffen Höflichkeit zu. Ich bemerkte, daß die köstlichen Schriften meiner ernsten Freundin in einer Ecke des Tisches unordentlich zusammengepackt lagen. Ich fragte, ob sie einen Blick hineingethan habe. »Ja, und die Bücher hätten sie nicht interessirt.« Ich fragte weiter, ob sie mir erlauben wolle, einige Stellen von dem höchsten Interesse, die ihr wahrscheinlich entgangen seien, vorzulesen? »Nein, jetzt nicht, sie habe an andere Dinge zu denken.« Bei diesen Antworten beschäftigte sie sich angelegentlichst damit, mit den Garnituren ihres Nachthemds zu spielen. Es erschien offenbar nöthig, sie durch eine Anspielung auf die weltlichen Interessen, die ihr noch am Herzen lagen, aus dieser Träumerei zu reißen.
»Weißt Du, liebes Kind,« sagte ich, »ich hatte gestern einen sonderbaren Einfall in Betreff Herrn Bruff’s. Es kam mir vor, als ich Dich nach Deinem Spaziergang mit ihm sah, als ob er Dir eine schlimme Nachricht mitgetheilt haben müsse.«
Ihre Finger ließen plötzlich die Garnitur des Nachthemds fahren und ihre wilden schwarzen Augen flammten auf.
»Ganz das Gegentheil!« sagte sie, »es war eine Nachricht, die mich sehr interessirte und für deren Mittheilung ich Herrn Bruff sehr verpflichtet bin.«
»Wirklich?« sagte ich, in einem Tone freundlichen Antheils.
Ihre Finger nahmen die Garnitur wieder auf und sie wandte ihr Gesicht trotzig von mir ab. Eine ähnliche Behandlung war mir bei der Verfolgung des Gnadenwerks hunderte von Malen zu Theil geworden. Sie reizte mich dadurch nur zu einem neuen Versuch. In meinem unerschrockenen Eifer für ihr Seelenheil unternahm ich das große Wagniß, gerade heraus von ihrer Verlobung zu reden.
»Eine Nachricht, die Dich sehr interessirte?« wiederholte ich. »Ich denke mir, liebe Rachel, das muß eine Nachricht von Herrn Ablewhite gewesen sein?«
Sie fuhr aus ihrem Bett in die Höhe und wurde todtenbleich. Sie hatte offenbar eine jener ihr früher so geläufigen Insolenzen auf der Zunge. Sie bezwang sich aber, legte ihren Kopf wieder auf’s Kissen, dachte einen Augenblick nach und gab mir dann folgende merkwürdige Antwort:
»Ich werde Herrn Godfrey Ablewhite niemals heirathen!«
Nun war die Reihe an mir, erstaunt zu sein.
»Was willst Du damit sagen?« rief ich aus. »Die Heirath wird von der ganzen Familie als eine abgemachte Sache angesehen.«
»Herr Godfrey Ablewhite wird heute hier erwartet,« sagte sie in mürrischem Tone. »Warte bis er kommt und Du wirst sehen.«
»Aber, liebe Rachel ——«
Sie zog an der über ihrem Bette hängenden Glocke. Die Person mit den Mützenbändern erschien.
»Penelope, mein Bad!«
Um gerecht zu sein muß ich zugeben, daß sie damit das einzige Mittel getroffen hatte, mich aus dem Zimmer zu bringen.
Von einem rein weltlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, hätte es scheinen können, als ob meine Stellung Rachel gegenüber nicht gewöhnliche Schwierigkeiten darböte. Ich hatte darauf gerechnet, sie durch eine kleine ernste Ermahnung in Betreff ihrer Heirath auf den Weg zu höheren Dingen zu leiten. Und jetzt war, wenn man ihr glauben durfte, von einer Verheirathung bei ihr gar keine Rede. Aber, o meine Freunde! Eine werkthätige Christin von meiner Erfahrung, mit der Aussicht auf Förderung des Evangeliums, sieht die Dinge von einem höheren Standpunkte aus an. Angenommen selbst Rachel wollte die Partie, welche die Ablewhite’s, Vater und Sohn, als eine abgemachte Sache betrachtetem wirklich zurückgehen lassen, was würde die Folge sein? Die Sache konnte, wenn sie fest auf ihrem Entschluß beharrte und namentlich wenn der alte Herr Ablewhite zugegen war, nur zu einem Austausch harter Worte und schwerer Beschuldigungen auf beiden Seiten führen. Und was würde die Wirkung einer solchen stürmischen Scene sein? Eine heilsame moralische Abspannung Der entschlossene Widerstand, den sie nach ihrem Charakter allen Hindernissen entgegensetzen würde, müßte ihren Stolz und ihren Eigensinn erschöpfen. Sie würde für einen sympathischen Antheil empfänglich werden. Und ich in der Fülle meines Trostes, meiner Bereitwilligkeit ihr mit belebenden und ihrem Zustande angemessenen Worten beizustehen, würde ihr diesen Antheil in vollem Maße darbieten. Niemals hatte mir eine freundlichere Aussicht auf Förderung des Evangeliums gelächelt als diese.
Rachel kam zum Frühstück herunter, genoß aber nichts und sprach fast kein Wort. Nach dem Frühstück schlenderte sie gleichgültig durch die Zimmer, dann raffte sie sich plötzlich auf und öffnete das Clavier.
Die Musik, die sie spielte, war von der anstößigst-weltlichen Art und Ausführungen aus der Bühne entlehnt, bei deren bloßen Gedanken mir das Blut in den Adern erstarrte. Es würde voreilig gewesen sein, schon in diesem Augenblick dagegen einzuschreiten. Ich erkundigte mich unter der Hand nach der Zeit, zu welcher Herr Godfrey Ablewhite erwartet wurde und dann flüchtete ich vor der Musik und verließ das Haus.
Ich benutzte die Gelegenheit, meine beiden in Brighton ansässigen Freunde zu besuchen. Es war ein unbeschreiblicher Genuß für mich, mich der ernsten Unterhaltung mit ernsten Freunden hingeben zu können. Unaussprechlich ermuthigt und erfrischt, lenkte ich meine Schritte wieder dem Hause zu und traf dort vollkommen rechtzeitig ein, um die Ankunft unseres Gastes erwarten zu können. Ich trat in das Eßzimmer, das zu jener Tageszeit immer leer zu sein pflegte und fand mich von Angesicht zu Angesicht Herrn Godfrey Ablewhite gegenüber!
Er machte keinen Versuch, vor mir zu flüchten. Im Gegentheil. Er ging höchst beflissen auf mich zu.
»Liebe Miß Clack! Ich habe nur auf Sie gewartet. Zufällig habe ich mich von meinen Geschäften in London früher losmachen können als ich dachte und bin daher auch früher als zu der von mir bestimmten Zeit hier angekommen.«
In seinen Aeußerungen verrieth sich keine Spur von Verlegenheit, obgleich er mich hier seit der Scene in Montague-Square zum ersten Mal wiedersah. Er wußte zwar nicht, daß ich bei jener Scene zugegen gewesen war, aber wußte doch, daß meine Theilnahme an den Sitzungen des mütterlichen Hosenvereins und meine Beziehungen zu Freunden, die anderen mildthätigen Vereinen angehörten, mich von seiner schamlosen Vernachlässigung seiner Damen und seiner Armen unterrichtet haben mußten. Und doch stand er vor mir im Vollbesitz seiner lieblichen Stimme und seines unwiderstehlichen Lächelns!
»Haben Sie Rachel schon geseh’n?« fragte ich.
Er seufzte leise und ergriff meine Hand. Ich würde ihm unfehlbar meine Hand entzogen haben, wenn mich nicht die Art, wie er mir antwortete, in ein starkes Staunen versetzt hätte.
»Ich habe Rachel gesehen,« sagte er vollkommen ruhig. »Sie wissen, liebe Freundin, daß sie sich mit mir verlobt hatte? Nun, sie hat sich plötzlich enschlossen, diese Verlobung wieder aufzuheben. Sie hat sich nach reiflicher Erwägung überzeugt, daß es für ihre Gemüthsverfassung und ihr Wohl das Beste sei, einen rasch gefaßten Entschluß wieder zurückzunehmen und mich in den Stand zu sehen, eine glücklichere Wahl zu treffen. Das ist der einzige Grund, den sie angiebt, die einzige Antwort, die ich mit allen meinen Fragen aus ihr herausbringen kann.«
»Und was haben Sie gethan?« fragte ich; »haben Sie sich gefügt?»
»Ja,« sagte er mit der vollkommensten Fassung, »ich habe mich gefügt.«
Sein Benehmen unter den obwaltenden Umständen war so völlig unbegreiflich, daß ich ganz bestürzt dastand und nicht daran dachte, meine Hand aus der seinigen zurückzuziehen. Es ist überhaupt Unschicklich, irgend Jemanden anzustarren, und es ist doppelt Unschicklich, einen Herrn anzustarren. Ich beging diese beiden Unschicklichkeiten und sagte wie im Traum: »Was soll das bedeuten?«
»Erlauben Sie mir, Ihnen das zu sagen,« erwiderte er; »aber setzen wir uns.«
Er führte mich zu einem Stuhl. Ich habe eine unbestimmte Erinnerung, daß er sehr zärtlich war. Ich glaube nicht, daß er mir den Arm um die Taille legte, um mich zu stützen, aber ich weiß es nicht ganz gewiß. Ich war ganz hilflos und seine Art, sich gegen Damen zu benehmen, hatte etwas höchst Gewinnendes. Genug, wir setzten uns. Dafür, wenn auch für nichts Anderes, kann ich einstehen.
»Ich habe,« fing Herr Godfrey an, »ein reizendes Mädchen, eine ausgezeichnete gesellschaftliche Stellung und ein glänzendes Einkommen« verloren und habe mich ohne Widerstreben in diesen Verlust gefunden. Sie fragen nach der Ursache meines befremdlichen Benehmens? Meine theure Freundin, es giebt keine Ursache für dieses Benehmen.«
»Keine Ursache?« wiederholte ich.
»Lassen Sie mich an Ihre Erfahrung bei Kindern appelliren, liebe Miß Clack,« fuhr er fort, »Sie beobachten an einem Kinde ein auffallendes Benehmen, dessen Grund Sie wissen möchten. Das liebe kleine Ding ist unfähig, Ihnen seine Gründe zu sagen. Eben so gut könnten Sie das Gras fragen, warum es wächst, und die Vögel, warum sie singen. Nun, sehen Sie, in dieser Angelegenheit bin ich wie das Kind, wie das Gras, wie die Vögel. Ich weiß nicht, warum ich Fräulein Verinder einen Heirathsantrag gemacht, ich weiß nicht, warum ich meine lieben Damen so schmählich vernachlässigt habe, ich weiß nicht, warum ich von dem mütterlichen Hosenverein abgefallen bin. Sie sagen zu dem Kinde: »Warum bist Du unartig gewesen?« und der kleine Engel steckt den Finger in den Mund und sagt: »Weiß ich nicht.« Genau so ist es mit mir, Miß Clack! Niemand Anderem würde ich dies eingestehen, Ihnen fühle ich mich jedoch gedrungen, es zu bekennen.«
Ich fing an, mich wieder zu erholen. Hier lag ein geistiges Problem vor. Geistige Probleme interessiren mich auf das Lebhafteste, und ich bin, wie man sich wohl denken kann, nicht ganz ohne Geschick in der Lösung der selben.
»Beste Freundin, strengen Sie Ihren Scharfsinn an und helfen Sie mir,« fuhr er fort. Sagen Sie mir, warum erscheinen mir jetzt meine Schritte in dieser Heirathsangelegenheit wie ein Traum? Warum wird es mir plötzlich wieder klar, daß mein wahres Glück darin besteht, meinen lieben Damen zu helfen, mein bescheiden nützliches Tagwerk zu verrichten und einige ernste Worte zu reden, wenn ich dazu von meinem Vorsitzenden aufgefordert werde? Wozu brauche ich eine Stellung? Ich habe ja eine Stellung. Wozu brauche ich ein Einkommen? Ich habe genug, mein Brot und Käse, mein hübsches kleines Logis und meine zwei Röcke jährlich zu bezahlen. Wozu brauche ich Fräulein Verinder? Ich habe es aus ihrem eigenen Munde gehört —— das sage ich Ihnen, liebe Freundin, im strengsten Vertrauen —— daß sie einen anderen Mann liebt und daß sie mich nur deshalb heirathen wollte, um zu versuchen, ob sie diesen andern Mann vergessen könne. Welch’ eine schaurige Verbindung wäre das gewesen! O Gott! welch’ eine traurige Verbindung! Alles das habe ich mir auf der Herfahrt gesagt, Miß Clack! Ich näherte mich Rachel mit dem Gefühl eines Verbrechers, der sein Urtheil erwartet. Als ich nun fand, daß auch sie ihren Sinn geändert habe; als sie mir vorschlug, unsere Verlobung wieder aufzuheben; fühlte ich mich, offen gestanden, unendlich erleichtert. Noch vor einem Monate hatte ich sie leidenschaftlich an mein Herz gedrückt und vor einer Stunde wirkte die Gewißheit, sie nie wieder an mein Herz drücken zu können, auf mich wie ein berauschendes Getränk. Die Sache scheint unmöglich —— es kann nicht sein! Und doch ist es so, wie ich die Ehre hatte, es Ihnen mitzutheilen, als wir, uns hier niedersetzten. Ich habe ein reizendes Mädchen, eine ausgezeichnete gesellschaftliche Stellung und ein glänzendes Einkommen verloren und habe mich ohne Widerstreben darin gefunden. Können Sie mir die Sache erklären, liebe Freundin? Ich vermag es nicht!«
Er ließ seinen herrlichen Kopf auf die Brust sinken und verzweifelte an der Lösung seines eigenen geistigen Problems.
Ich war tief gerührt. Der Fall war mir, wenn ich mich der Sprache eines geistigen Arztes bedienen darf, jetzt ganz klar. Es ist keine ungewöhnliche Erscheinung in unser aller Erfahrung, daß die reich begabtesten Menschen bisweilen auf das Niveau der dürftigsten Naturen in ihrer Umgebung herabsinken. Der Zweck, den die Vorsehung in ihrer weisen Oekonomie verfolgt, ist unzweifelhaft, menschliche Größe daran zu erinnern, daß sie sterblich ist und daß die Macht, welche diese Größe verliehen hat, sie auch wieder entziehen kann. Ich glaubte nun in dem beklagenswerthen Benehmen des theuren Herrn Godfrey, dessen unsichtbarer Zeuge ich gewesen war, eine dieser heilsamen Demüthigungen erblicken zu müssen. Und eben so klar erkannte ich den erfreulichen Durchbruch seiner bessern Natur in dem Schauder, mit welchem er vor der Idee einer Heirath mit Rachel zurückschreckte und in dem wohlthuenden Eifer, mit welchem er zu seinen Armen zurückzukehren bestrebt war.
Ich legte ihm diese Auffassung in wenigen einfachen und schwesterlichen Worten dar. Es war rührend, seine Freude darüber zu sehen. Er verglich sich, als ich fortfuhr, mit einem im Dunkel Verirrten, der wieder ans Licht gelangt. Als ich ihm eine freundliche Wiederaufnahme in den mütterlichen Hosenverein zusagte, floß das Herz unseres christlichen Helden von Dankbarkeit über. Er drückte meine Hände abwechselnd an seine Lippen. Ueberwältigt von dem Gefühl des großen Triumphs, ließ ich ihn mit meinen Händen thun, was er wollte. Ich schloß die Augen. Ich fühlte, wie mein Kopf, in einer Ekstase geistlicher Selbstvergessenheit, auf seine Schulter sank. Im nächsten Augenblick würde ich unzweifelhaft bewußtlos in seinen Armen gelegen haben, hätte mich nicht eine von außen her kommende störende Unterbrechung wieder zu mir selbst gebracht. Ein entsetzliches Gerassel von Messern und Gabeln ertönte vor der Thür und der Diener kam herein, den Tisch für das zweite Frühstück zu decken.
Herr Godfrey sprang auf und blickte nach der Uhr auf dem Kaminsims.
»Wie rasch die Zeit in Ihrer Gesellschaft enteilt!« rief er aus. »Ich werde kaum noch den Zug erreichen.«
Ich wagte es, ihn zu fragen, warum er so eilig sei, wieder nach London zu kommen. Seine Antwort erinnerte mich, daß noch schwierige Familienverhältnisse auszugleichen seien und daß noch Streitigkeiten in der Familie in Aussicht standen.
»Ich habe einen Brief von meinem Vater gehabt,« sagte er. »Geschäfte nöthigen ihn, heute von Frizinghall nach London zu gehen und er beabsichtigt diesen Abend oder morgen hierher zu kommen. Ich muß ihm mittheilen, was zwischen mir und Rachel vorgefallen ist. Sein Herz hängt an unserer Heirath; ich fürchte, es wird sehr schwer sein, ihn mit der Idee der Wiederaufhebung der Verlobung auszusöhnen. Ich muß ihn um unser Aller willen verhindern, hierher zu kommen, bevor er mit jener Idee ausgesöhnt ist. Beste und theuerste Freundin, wir werden uns wiedersehen.«
Mit diesen Worten eilte er davon. Ich eilte eben so rasch nach meinem Zimmer hinauf, um mich wieder zu fassen, bevor ich mit Tante Ablewhite und Rachel beim Frühstück zusammenträfe.
Ich weiß —— um noch einen Augenblick bei Herrn Godfrey zu verweilen —— sehr gut, daß die Alles herabziehende öffentliche Meinung ihn beschuldigt hat, aus ganz besonderen Gründen die Verlobung mit Rachel bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit aufgehoben zu haben. Es ist mir auch zu Ohren gekommen, daß man sein angelegentliches Bestreben, sich meine Achtung wieder zu erwerben, in gewissen Kreisen dem eigennützigen Wunsche zugeschrieben hat, durch meine Vermittlung seinen Frieden mit der ehrwürdigen Präsidentin des Comités des mütterlichen Hosenvereins, einer mit den Gütern dieser Welt reich gesegneten Dame und meiner sehr geliebten und vertrauten Freundin zu machen. Ich thue dieser gehässigen Gerüchte nur Erwähnung, um zu erklären, daß sie keinen Augenblick auch nur den mindesten Einfluß auf mein Gemüth geübt haben. Meinen Instructionen gemäß habe ich die Schwankungen meines Urtheils über unsern christlichen Helden dargelegt, genau wie ich sie in meinem Tagebuche verzeichnet finde. Um gerecht gegen mich selbst zu sein darf ich hier wohl hinzufügen, daß mein begabter Freund, nachdem er einmal seinen früheren Platz in meiner Achtung wieder erworben hatte, denselben nie wieder verlor. Ich schreibe mit Thränen in den Augen, voll brennenden Verlangens, mehr zu sagen. Aber nein, —— ich bin ja grausamer Weise auf die Darstellung meiner wirklichen Erlebnisse mit Personen und Dingen beschränkt. In weniger als Monatsfrist nach der Zeit, über die ich jetzt schreibe, zwangen mich Ereignisse auf dem Geldmarkt, welche selbst mein elendes kleines Einkommen verminderten, ein Exil im Auslande aufzusuchen, und ließen mir nichts als eine zärtliche Erinnerung an Herrn Godfrey, den die Verleumdung der Welt vergebens anzugreifen gesucht hat. ——
Ich muß meine Thränen trocknen und zu meiner Erzählung zurückkehren.
Ich ging zum zweiten Frühstück mit dem natürlichen Verlangen hinunter, zu sehen, wie Rachel von der Aufhebung ihrer Verlobung beeindruckt sei.
Es schien mir —— aber ich gestehe, daß ich mich auf solche Dinge schlecht verstehe —— daß die Wiedererlangung der Freiheit ihre Gedanken wieder jenem andern Manne zugelenkt hatte, den sie liebte, und daß sie gegen sich selbst aufgebracht war, weil sie sich außer Stande sah, die Wiederkehr von Gefühlen niederzukämpfen, deren sie sich heimlich schämte. Wer war der Mann? Ich hatte meine Gedanken darüber, aber es war unnütz die Zeit mit müßigen Grübeleien zu vergeuden. Ich vertröstete mich auf die Zeit, wo ich sie bekehrt haben und wo sie selbstverständlich kein Geheimniß mehr vor mir haben würde. Ich würde dann alles über den Mondstein erfahren. Auch wenn ich keinen höheren Zweck bei der Entdeckung des Sinns für geistliche Dinge in ihr verfolgt hätte, so würde die Befreiung ihres Gemüths von ihren schuldvollen Geheimnissen an sich ein genügendes Motiv für mich gewesen sein, auf meinem Wege fortzuschreiten.
Tante Ablewhite machte sich am Nachmittag ihre gewöhnliche Bewegung in einem Rollstuhl Rachel begleitete sie.
»Ich wollte ich könnte den Stuhl schieben,« rief sie unglücklich aus. »Ich wollte ich könnte mich bis zum Umfallen ermüden!«
In derselben Laune war sie noch am Abend.
Ich entdeckte in einer der köstlichen Schriften meines Freundes —— »das Leben, die Briefe und die Arbeiten Miß Jane Ann Stamper’s, 45ste" Auflage« —— Stellen, welche sich wunderbar für Rachel’s gegenwärtige Situation eigneten. Auf meinen Vorschlag, dieselben zu lesen, ging sie an’s Clavier. Man begreift, wie wenig sie von dem Wesen ernsthafter Menschen gewußt haben muß, wenn sie glaubte, meine Geduld auf diese Weise erschöpfen zu können! Ich behielt Miß Jane Ann Stamper bei mir und wartete mit der unerschütterlichsten Zuversicht auf die Zukunft die Ereignisse ab.
Der alte Herr Ablewhite erschien an jenem Abend nicht mehr. Aber ich wußte, welche Wichtigkeit seine weltliche Habgier der Heirath seines Sohnes mit Fräulein Verinder beilegte und ich war fest überzeugt —— Herr Godfrey mochte thun was er wollte es zu verhindern —— daß wir den alten Herrn am nächsten Tage bei uns sehen würden. Seine Einmischung in die Angelegenheit würde unzweifelhaft den Sturm, auf den ich rechnete und die heilsame Erschöpfung von Rachel’s Widerstandskraft herbeiführen. Ich weiß ganz gut, daß der alte Herr Ablewhite allgemein und besonders bei seinen Untergebenen im Rufe großer Gutmüthigkeit steht. Nach meiner Erfahrung verdient er diesen Ruf soweit man ihm seinen Willen läßt und nicht länger.
Am nächsten Tage wurde Tante Ablewhite, genau wie ich es vorhergesehen hatte, durch das plötzliche Erscheinen ihres Gatten in einen Zustand versetzt, der dem Erstaunen so nahe kam, wie es ihre Natur zuließ. Er war kaum eine Minute im Hause gewesen, als ihm, dieses Mal zu meinem Erstaunen, die Veranlassung zu einer unerwarteten Verwicklung in Gestalt des« Herrn Bruff auf dem Fuße folgte.
Ich erinnere mich nicht, durch die Gegenwart des Advokaten je so unangenehm berührt gewesen zu sein, wie in jenem Augenblick. Er sah aus, als ob er, völlig kampfbereit, vor keinem Hinderniß zurückschrecken würde.
»Eine sehr angenehme Ueberraschung, Herr Bruff,« sagte Herr Ablewhite, indem er sich mit seiner trügerischen Herzlichkeit an Herrn Bruff wandte. »Als ich gestern Ihr Bureau verließ, dachte ich nicht, daß ich heute die Ehre haben würde, Sie in Brighton zu sehen.«
»Ich habe unsere Unterhaltung noch einmal überdacht, nachdem Sie mich verlassen haben« erwiderte Herr Bruff, »und es fiel mir ein, daß ich Ihnen vielleicht bei dieser Gelegenheit von einigem Nutzen sein könnte. Ich konnte noch eben den Zug erreichen, fand aber den Wagen, in welchem Sie fuhren, nicht.«
Nachdem er diese Erklärung gegeben hatte, setzte er sich neben Rachel. Ich zog mich bescheiden in eine Ecke zurück, behielt aber Miß Jane Ann Stamper für vorkommende Fälle auf dem Schooß. Meine Tante saß am Fenster, sich, wie gewöhnlich, ruhig fächelnd. Herr Ablewhite stand in der Mitte des Zimmers mit seiner Glatze, die rosiger erschien, als ich sie früher gesehen und wandte sich in den zärtlichsten Ausdrücken an seine Nichte.
»Meine liebe Rachel,« sagte er, »ich habe sehr merkwürdige Dinge von Godfrey gehört und bin hergekommen, mich näher darüber zu erkundigen. Du hast Dein eigenes Wohnzimmer in diesem Hause, willst Du die Gefälligkeit haben, mich in dasselbe zu führen?«
Rachel rührte sich nicht. Ob sie entschlossen war eine Krisis herbeizuführen, oder ob sie eher pantomimischen Einflüsterung Herrn Bruff’s Gehör gab, ist mehr als ich sagen kann. Sie lehnte es ab den alten Herrn Ablewhite in ihr Wohnzimmer zu führen.
»Was Sie mir auch zu sagen wünschen,« antwortete sie, »können Sie hier, in der Gegenwart meiner Verwandten und —— dabei blickte sie auf Herrn Bruff —— »in der Gegenwart des vertrauten alten Freundes meiner Mutter sagen.«
»Ganz wie Du willst, liebes! Kind!« sagte der liebenswürdige Mr. Ablewhite. Er setzte sich. Die Uebrigen sahen ihn an als ob sie erwarteten, er werde nach 70 Jahren weltlicher Rücksichtnahme die Wahrheit sagen. Ich betrachtete seine Glatze, da ich bei andern Gelegenheiten beobachtet habe, daß seine wahre Gemüthsstimmung sich gerade an dieser Stelle zu verrathen pflegte.
»Vor einigen Wochen,« fuhr der alte Herr fort, »theilte mir mein Sohn mit, daß Fräulein Verinder ihm die Ehre erwiesen habe, sich mit ihm zu verloben. Ist es möglich, Rachel, daß er Deine Worte falsch oder zu sehr zu seinen Gunsten ausgelegt haben kann?«
»Ganz gewiß nichts« antwortete sie, »ich habe mich mit ihm verlobt.«
»Sehr offen geantwortet« sagte Herr Ablewhite, »und höchst befriedigend so weit. In Bezug auf das was vor einigen Wochen geschah, hat Godfrey sich nicht geirrt. Sein Irrthum muß daher offenbar in dem bestehen, was er mir gestern mitgetheilt hat. Jetzt wird es mir klar. Ihr Beiden habt mit einander einen Wortwechsel gehabt, wie er unter Verliebten vorkommt, und mein närrischer Sohn hat denselben für Ernst genommen. Ich hätte mich in seinem Alter besser auf dergleichen verstanden.«
Die gefallene Natur in Rachel —— die Mutter Eva so zu sagen —— begann sich bei diesen Worten zu regen.
»Bitte,« sagte sie, »Herr Ablewhite, lassen Sie uns einander nicht mißverstehen. Nichts einem Wortwechsel Aehnliches hat gestern zwischen Ihrem Sohn und mir stattgefunden. Wenn er Ihnen gesagt hat, daß ich ihm proponirt habe, unsere Verlobung wieder aufzulösen und daß er seinerseits sich einverstanden erklärt hat —— so hat er Ihnen die Wahrheit gesagt.«
Der Thermometer auf Herrn Ablewhites Glatze fing zu steigen an. Der Ausdruck seines Gesichts war liebenswürdiger als je, aber das Rosenroth auf seinem Kopf war schon um eine Nuance dunkler geworden!
»Komm’, komm’, liebes Kind!« sagte er in seinem beschwichtigendsten Tone, »sei nicht böse und sei nicht hart gegen den armen Godfrey! Er hat offenbar ein unglückliches Wort gesagt. Er war sein Lebelang unbeholfen, aber er meint es gut, Rachel, er meint es gut!«
»Herr Ablewhite, ich habe mich entweder sehr schlecht ausgedrückt, oder Sie mißverstehen mich absichtlich. Ein für allemal, es ist zwischen Ihrem Sohn und mir eine abgemachte Sache, daß wir für den Rest unsers Lebens Vetter und Cousine bleiben und nichts mehr. Ist das klar genug?«
Der Ton, in welchem sie diese Worte sprach, machte es selbst für den alten Herrn Ablewhite unmöglich, sie noch länger mißzuverstehen. Sein Thermometer stieg wiederum einen Grad, und seine Stimme hatte, als er wieder zu sprechen anfing, aufgehört das Organ eines für gutmüthig anerkannten Mannes zu sein.
»Ich muß Dich also dahin verstehen« sagte er, »daß Deine Verlobung aufgehoben ist.«
»Wenn ich bitten darf,« erwiderte Rachel.
»Ich habe es ferner als eine Thatsache zu betrachten, daß der Vorschlag, die Verlobung aufzuheben, von Dir ausgegangen ist«
»Der Vorschlag ging von mir aus« und fand, wie ich Ihnen sagte, die Zustimmung und Billigung Ihres Sohnes.«
Der Thermometer erreichte seinen höchsten Grad, das heißt das Rosenroth verwandelte sich plötzlich in Scharlach.
»Mein Sohn ist ein niedrig-gesinnter Hund!« schrie jetzt der wüthende alte Weltling »Als Genugthuung für mich, seinen Vater, nicht als Genugthuung für ihn, bitte ich Sie, Fräulein Verinder, mir zu sagen, welche Beschwerden Sie gegen Herrn Godfrey Ablewhite haben?«
Hier legte sich Herr Bruff zum ersten Male in’s Mittel.
»Sie sind nicht verpflichtet, diese Frage zu beantworten,« sagte er zu Rachel.
Sofort stürzte sich der alte Herr Ablewhite auf ihn.
»Vergessen Sie nicht, Herr Bruff,« sagte er, »daß Sie hier ein Gast sind, der sich selber eingeladen hat. Ihre Einmischung würde von besserer Wirkung gewesen sein, wenn Sie gewartet hätten, bis man dieselbe erbeten haben würde.«
Herr Bruff nahm keine Notiz von diesen Worten. Der glatte Firniß auf seinem verschmitzten alten Gesicht erlitt nie einen Bruch. Rachel dankte ihm für den Rath, den er ihr gegeben hatte, und wandte sich dann wieder gegen den alten Herrn Ablewhite mit einer Fassung in ihrem ganzen Wesen, die man in Rücksicht auf ihr Alter und ihr Geschlecht geradezu furchtbar finden mußte.
»Dieselbe Frage, die Sie eben an mich gerichtet haben, hat auch Ihr Sohn mir gethan,« sagte sie. »Ich hatte nur eine Antwort für ihn und habe auch nur eine Antwort für Sie. Ich habe ihm vorgeschlagen, uns gegenseitig unseres Wortes zu entbinden, weil ich mich durch Nachdenken überzeugt hatte, daß ich sowohl sein, wie mein Bestes fördern würde, wenn ich ein zu rasch gegebenes Versprechen zurücknähme und ihm die Freiheit seiner Wahl zurückgäbe.«
»Was hat mein Sohn gethan?« beharrte Herr Ablewhite. »Ich habe ein Recht, das zu erfahren! Was hat mein Sohn gethan?«
Sie beharrte ihrerseits ebenso eigensinnig bei dem einmal Gesagten.
»Ich habe Ihnen die einzige Erklärung gegeben, die ich Ihnen oder ihm zu geben für nothwendig halte,« antwortete sie.
»Mit andern Worten, es beliebt Ihnen, Fräulein Verinder, Ihr Spiel mit meinem Sohn zu treiben?«
Rachel schwieg einen Augenblick. Da ich dicht hinter ihr saß, vernahm ich, wie sie seufzte. Herr Bruff ergriff ihre Hand und drückte dieselbe. Sie erholte sich wieder und antwortete Herrn Ablewhite so kühn wie vorher.
»Ich habe mich schon schlimmeren Mißdeutungen als dieser ausgesetzt gesehen,« sagte sie, »und habe es ruhig ertragen. Die Zeit ist vorüber, wo man mich kränken konnte, wenn man mich eine alte Coquette nannte.«
Sie sprach diese Worte mit einer Bitterkeit des Tons, welche mich überzeugte, daß die scandalöse Mondstein-geschichte sich ihrem Gedächtniß wieder aufgedrängt haben mußte.
»Ich habe weiter nichts zu sagen,« fügte sie matt hinzu, gegen Niemanden im Zimmer gewandt, sondern von allen abgewandt, zu dem ihr zunächst befindlichen Fenster hinausblickend.
Herr Ablewhite sprang auf und stieß seinen Stuhl mit solcher Gewalt bei Seite, daß derselbe zu Boden fiel.
»Aber ich habe noch etwas zu sagen,« rief er aus, indem er mit der flachen Hand heftig auf den Tisch schlug. »Ich habe zu sagen, daß, wenn mein Sohn dieses Verfahren nicht als eine Insulte empfindet, ich thue es.«
Rachel stand auf und sah ihn mit überraschtem Staunen an.
»Insulte?« wiederholte sie. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Insulte!« wiederholte Herr Ablewhite. »Ich kenne den Grund, Fräulein Verinder, aus welchem Sie Ihr meinem Sohne gegebenes Versprechen gebrochen haben! Ich kenne ihn so gut, als ob Sie ihn ausdrücklich zugestanden hätten. Euer verfluchter Familienstolz insultirt jetzt Godfrey, wie er mich insultirte, als ich Deine Tante heirathete. Deine Familie —— Deine Bettlerfamilie —— kehrte ihr den Rücken, weil sie einen braven Mann heirathete, der sich selbst seine Stellung in der Gesellschaft und sein Vermögen erworben hat. Ich hatte keine Vorfahren. Ich stammte nicht von einer Bande gurgelabschneidender Schufte, die sich von Raub und Mord ernährten. Ich war nicht im Stande, die Zeit nachzuweisen, wo die Ablewhite’s kein Hemd auf dem Leibe hatten und ihren Namen nicht schreiben konnten. Ha! ha! ich war nicht gut genug für die Herncastle’s, als ich heirathete. Und jetzt ist mein Sohn nicht gut genug für Dich. Ich argwöhnte die Sache schon von Anfang an. Sie haben das Herncastle’sche Blut in Ihren Adern, mein verehrtes Fräulein. Ich habe die Sache von Anfang an vorausgesehen.«
»Ein sehr unwürdiger Verdacht,« bemerkte Herr Bruff. »Ich bin erstaunt, daß Sie den Muth haben, denselben auszusprechen.«
Bevor noch Herr Ablewhite Worte finden konnte, zu antworten, sprach Rachel in einem Tone geringschätzender Bitterkeit:
»Gewiß,« sagte sie, zu dem Advocaten gewandt, »ist es unter meiner Würde, darauf zu antworten. Wenn er solcher Gedanken fähig ist, so wollen wir ihn ungestört seinen Gedanken überlassen.«
Das Scharlach der Glatze des Herrn Ablewhite verwandelte steh nun in Purpur. Er schnappte nach Luft; seine Augen schweiften zwischen Rachel und Herrn Bruff mit dem Ausdruck einer wahnsinnigen Aufregung hin und her, in der er nicht zu wissen schien, wen von beiden er zuerst angreifen solle. Seine Frau, die bis zu diesem Augenblicke unbeweglich dagesessen und sich gefächelt hatte, fing an, sich zu beunruhigen und versuchte es, wiewohl ganz vergeblich, ihn zu beschwichtigen.
Ich hatte« während der ganzen Dauer dieser peinlichen Scene mehr als einmal den inneren Beruf gefühlt, mich mit einigen ernsten Worten in’s Mittel zu legen und hatte mich, einer christlichen englischen Frau sehr unwürdig, die nicht der gemeinen Klugheit, sondern dem sittlich Rechten Gehör geben soll, durch die Furcht vor den Folgen zurückhalten lassen. Bei dem Höhepunkt aber, den die Dinge jetzt erreicht hatten, erhob ich mich unbekümmert um alle Erwägungen reiner Zweckmäßigkeit. Wenn ich an die mögliche Zurückweisung meines bescheidenen Raths gedacht hätte, so würde ich vielleicht auch jetzt noch gezaudert haben. Aber für die betrübende Familienscene, deren Zeugin ich jetzt war, fand sich eine außerordentlich schöne und wunderbar zutreffende Stelle in der Correspondenz von Miß Jane Ann Stamper im 1001sten Brief über »Familienfrieden.« Ich erhob mich in meiner bescheidenen Ecke und öffnete mein köstliches Buch.
»Lieber Herr Ablewhite,« sagte ich, »ein Wort!«
In dem Augenblick, als ich durch mein Aufstehen die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf mich zog, war er ersichtlich im Begriff mir eine Grobheit zu sagen, aber meine schwesterliche Art ihn anzureden hielt ihn zurück. Er starrte mich in heidnischem Erstaunen an.
»Als einer wohlwollenden Freundin,« fuhr ich fort, »und als Einer, die seit langer Zeit gewohnt ist, Andere zu erwecken, zu überzeugen, vorzubereiten, zu erleuchten und zu stärken, gestatten Sie mir die verzeihlichste aller Freiheiten —— die Freiheit, Ihr Gemüth zu beruhigen.«
Er fing an, seine Fassung wieder zu gewinnen, er war im Begriff auszubrechen, und würde ohne Zweifel gegen jeden Andern seinen Gefühlen freien Lauf gelassen haben. Aber meine gewöhnlich so sanfte Stimme gebietet über einen wunderbar kräftigen Ton bei außerordentlichen Vorfällen. Bei dem gegenwärtigen Vorfall fühlte ich mich gebieterisch berufen, meine Stimme über die seinige zu erheben.
Ich hielt ihm mein kostbares Buch entgegen; ich wies nachdrücklich mit meinem Zeigefinger auf die offene Seite. »Nicht meine Worte!« rief ich heftig unterbrechend aus, »glauben Sie nicht, daß ich Ihre Aufmerksamkeit für meine geringen Worte in Anspruch nehme! Manna in der Wüste, Herr Ablewhite! Thau auf die versengte Erde! Worte des Trostes, Worte der Weisheit, Worte der Liebe —— die drei Mal gesegneten Worte von Miß Jane Ann Stamper!«
Hier wurde ich durch ein augenblickliches Hinderniß im Athmen zu einer Pause genöthigt. Bevor ich fortfahren konnte, schrie mir das Scheusal in Menschengestalt wüthend zu: »Miß Jane Ann Stamper soll ——!«
Es ist mir unmöglich, das furchtbare Wort niederzuschreiben, an dessen Stelle ich hier eine Lücke gelassen habe. Ich fuhr zusammen, als er es über die Lippen brachte; ich flog nach meiner kleinen Handtasche auf dem Nebentisch; ich schüttelte alle meine Tractate aus; ich ergriff ein speciell von Flüchen handelndes Tractätchen, das den Titel führt: »Still, um Gotteswillen!«; ich überreichte ihm dasselbe mit einem Ausdruck flehentlicher Bitte. Er riß es in Stücke und warf es mir über den Tisch wieder zu. Die Uebrigen erhoben sich bestürzt; in dem Gefühl der Ungewißheit über das, was folgen möchte. Ich setzte mich sofort wieder in meine Ecke. Bei einer ähnlichen Gelegenheit war Miß Jane Ann Stamper bei den Schultern gefaßt und aus dem Zimmer geschoben worden. Ich erwartete, von ihrem Geiste beseelt, eine Wiederholung ihres Märtyrerthums.
Aber nein —— es sollte nicht sein. Seine Frau war die nächste Person, an die er sich wandte.
»Wer —— wer —— wer,« sagte er vor Wuth stammelnd, »hat diese unverschämte Fanatikerin eingeladen? Du?«
Bevor Tante Ablewhite ein Wort erwidern konnte, antwortete Rachel für sie.
»Miß Clack ist hier,« sagte sie, »als mein Gast.«
Diese Worte übten eine eigenthümliche Wirkung auf Herrn Ablewhite. Sie verwandelten den rothglühenden Zorn des Mannes plötzlich in eiskalte Verachtung.
Es war klar für Jeden, daß Rachel etwas gesagt hatte, was ihn —— kurz und deutlich wie ihre Antwort gewesen war —— doch schließlich die Oberhand über sie gewinnen ließ.
»O,« sagte er, »Miß Clack ist hier als Ihr Gast in meinem Hause?«
Jetzt war die Reihe an Rachel, ihre Fassung zu verlieren. Sie wurde roth und ihre Augen glänzten vor Zorn. Sie wandte sich gegen den Advocaten und fragte, indem sie auf Herrn Ablewhite deutete, in geringschätzendem Tone: »Was meint er?«
Herr Bruff legte sich zum dritten Mal ins Mittel.
»Sie scheinen zu vergessen,« sagte er gegen Herrn Ablewhite gewandt, »daß Sie dieses Haus als Fräulein Verinder’s Vormund für dieselbe gemiethet haben.«
»Nicht so rasch!« unterbrach ihn Herr Ablewhite.
»Ich habe ein letztes Wort zu sagen, was ich schon früher würde ausgesprochen haben, wenn diese ——« er sah nach mir hinüber, zweifelhaft, mit welchem abscheulichen Namen er mich belegen solle —— »wenn diese schwatzhafte alte Jungfer uns nicht unterbrochen hätte. Ich erkläre Ihnen hiermit, Herr Bruff, daß, wenn mein Sohn nicht gut genug ist, Fräulein Verinders Gatte zu sein, ich nicht glauben kann, daß sein Vater gut genug ist, Fräulein Verinder’s Vormund zu sein. Verstehen Sie wohl, wenn ich bitten darf, daß ich die mir in Lady Verinders Testament angebotene Stellung ablehne. Dies Haus hat nothwendiger Weise in meinem Namen gemiethet werden müssen, wie es mir gefällt. Ich will Fräulein Verinder nicht drängen. Im Gegentheil, ich bitte sie, die Entfernung ihres Gastes und ihres Gepäcks ganz nach ihrer Convenienz zu bewerkstelligen.«
Er machte eine kleine Verbeugung und ging zum Zimmer hinaus.
Das war Herrn Ablewhite’s Rache an Rachel dafür, daß sie seinen Sohn nicht heirathen wollte!
In dem Augenblick, wo sich die Thür hinter ihnen schloß, äußerte sich Tante Ablewhite in einer für uns Alle wunderbar überraschenden Weise. Sie raffte sich energisch dazu auf, durch’s Zimmer zu gehen!
»Liebes Kind« sagte sie, indem sie Rachel’s Hand ergriff. »Ich müßte mich meines Mannes schämen, wenn ich nicht wüßte, daß nur sein Temperament mit Dir gesprochen hat und nicht er selbst. Du,« fuhr Tante Ablewhite zu mir in meiner Ecke gewandt mit einem andern Aufgebot von Energie fort, die sich dieses Mal nicht sowohl in ihren Gliedern als in ihren Blicken äußerte, »Du bist die boshafte Person, die ihn gereizt hat. ich hoffe weder Dich noch Deine Tractate je wiederzusehen.«
Sie ging wieder zu Rachel und küßte sie.
»Ich bitte Dich um Verzeihung, liebes Kind,« sagte sie, »im Namen meines Mannes. Was kann ich für Dich thun?«
Durch und durch verkehrt in allen Dingen, launenhaft und unvernünftig in allen Handlungen des Lebens, zerfloß Rachel in Thränen bei diesen Gemeinplätzen und erwiderte schweigend den Kuß ihrer Tante.
»Wenn Sie mir erlauben wollen, für Fräulein Verinder zu antworten,« sagte Herr Bruff, »darf ich Sie bitten, Mrs. Ablewhite, Penelope mit dem Shawl und dem Hut ihrer Herrin hinunterzuschicken. Lassen Sie uns zehn Minuten allein,« fügte er in einem leiseren Ton hinzu, »und Sie können sich darauf verlassen, daß ich die Sache zu Ihrer und Fräulein Rachel’s Befriedigung in Ordnung bringen werde.«
Das Vertrauen der Familie zu diesem Manne war merkwürdig. Ohne ein Wort weiter zu sagen, verließ Tante Ablewhite das Zimmer.
»Ach!« sagte Herr Bruff ihr nachsehend, »das Herncastle’sche Blut hat seine Fehler. Aber eine gute Erziehung hat doch ihren Werth.«
Nachdem er die rein weltliche Bemerkung gemacht, blickte er scharf nach meiner Ecke, als ob er erwartete, daß ich gehen werde; aber mein Interesse an Rachel —— ein unendlich viel höheres Interesse als das seinige —— fesselte mich an meinen Stuhl.
Herr Bruff gab seinen Versuch, mich von der Stelle zu bringen, auf, gerade wie er ihn damals bei Tante Verinder in Montague Square aufgegeben hatte. Er führte Rachel zu einem Stuhle am Fenster und sprach dort mit ihr.
»Mein liebes Fräuleins« sagte er, Herrn Ablewhite’s Benehmen hat sie natürlich choquirt und sehr überrascht. Wenn es der Mühe werth wäre, mit diesem Manne eine Frage zu erörtern, so würden wir ihm bald zeigen können, daß er nicht alles kann, was er will. Aber es ist nicht der Mühe werth. Sie hatten vollkommen Recht in dem, was Sie vorhin sagten: es ist unter unserer Würde, ihm darauf zu antworten.«
Er hielt inne und blickte sich nach meiner Ecke um. Ich saß dort ganz unbeweglich mit meinen Tractätchen im Arm und mit Miß Jane Ann Stamper auf meinem Schooß.
»Sie wissen,« fing er wieder an, indem er sich zu Rachel wandte, »daß es zu dem edlen Wesen Ihrer armen Mutter gehörte, an den sie umgebenden Leuten immer die guten und nie die schlechten Seiten herauszufinden. Sie ernannte ihren Schwager zum Vormund, weil sie an ihn glaubte und weil sie ihrer Schwester damit etwas Angenehmes zu erweisen dachte. Ich selbst hatte Herrn Ablewhite nie gut leiden können, und ich bewog Ihre Mutter, mich eine Clausel in das Testament aufnehmen zu lassen, vermöge deren ihre Executoren in gewissen Eventualitäten mit mir über die Ernennung eines andern Vormunds berathen sollten. Eine dieser Eventualitäten ist heute eingetreten, und ich befinde mich in der Lage, all dieses trockene Geschäftsdetail durch einen Auftrag meiner Frau, wie ich hoffen darf, in erwünschter Weise zu erledigen. Wollen Sie Mrs. Bruff die Ehre erweisen, ihr Gast zu sein? und wollen Sie unter meinem Dache verweilen und zu meiner Familie gehören, bis wir klugen Leute unsere Köpfe zusammengesteckt und festgestellt haben werden, was weiter geschehen soll?«
Bei diesen Worten erhob ich mich, um dazwischen zu treten.
Herr Bruff hatte genau das gethan, was ich gefürchtet hatte, als er Mrs. Ablewhite um Rachels Hut und Shawl bat. Bevor ich ein Wort einwenden konnte, hatte Rachel seine Einladung in den wärmsten Worten angenommen.
Wenn ich zugab, daß das so zwischen ihnen getroffene Arrangement zur Ausführung gebracht werde; wenn sie einmal die Schwelle von Herrn Bruffs Thür überschritt: so war es mit der Lieblingshoffnung meines Lebens, der Hoffnung mein Lieblingsschaf wieder zu der Heerde zurückzubringen, vorbei! Der bloße Gedanke an ein solches Unglück überwältigte mich. Ich warf die elenden Fesseln weltlicher Rücksichten bei Seite und sprach, wie es der Feuereifer der mich erfüllte, eingab:
»Halt!« sagte ich, »halt! Sie müssen mich hören, Herr Bruff! Sie sind nicht mit ihr verwandt, wie ich. Ich lade Sie ein —— ich fordere die Executoren auf, mich zum Vormund zu machen. Rachel, theuerste Rachel, ich biete Dir mein bescheidenes Hans; komm mit dem nächsten Zuge nach London, liebes Kind, und theile mein Haus mit mir!«
Herr Bruff erwiderte nichts. Rachel blickte mich mit einem grausamen Erstaunen an, das sie zu verbergen keinen Versuch machte.
»Sie sind sehr freundlich, Drusilla,« sagte sie; »ich hoffe Sie besuchen zu können, so oft ich nach London komme. Aber ich habe Herrn Bruff’s Einladung angenommen und ich glaube, es ist für jetzt das Beste, wenn ich unter Herrn Bruff’s Obhut bleibe.«
»O, sage das nicht!« erwiderte ich; ich kann mich nicht von Dir trennen, Rachel, ich kann mich nicht von Dir trennen.«
Ich versuchte es, sie in meine Arme zu schließen. Aber sie wich zurück. Mein Feuereifer hatte sich ihr nicht mitgetheilt; er beunruhigte sie nur.
»Offen gestanden« sagte sie, »scheint mir diese Aufregung hier sehr übel angebracht Ich verstehe sie nicht.«
»Und ich eben so wenig,« sagte Herr Bruff.
Ihre Härte, ihre gehässige, weltliche Härte empörte mich.
»Rachel, Rachel!« brach ich aus. »Bist Du noch nicht inne geworden, daß mein Herz sich danach sehnt, eine Christin aus Dir zu machen? Hat keine innere Stimme Dir gesagt, daß ich für Dich zu thun versuche, was ich eben für Deine theure Mutter zu thun versuchte, als der Tod sie meinen Händen entriß?«
Rachel trat einen Schritt näher und sah mich sehr sonderbar an.
»Ich verstehe Ihre Beziehung auf meine Mutter nicht,« sagte sie. »Miß Clack, wollen Sie die Güte haben, sich zu erklären?«
Noch bevor ich antworten konnte, trat Herr Bruff heran und versuchte, indem er Rachel seinen Arm bot, sie aus dem Zimmer zu führen.
»Sie thäten besser, mein liebes Kind, diesen Gegenstand nicht weiter zu verfolgen,« sagte er; »und Miß Clack thäte besser, sich nicht näher zu erklären.«
Wäre ich ein Stock oder ein Stein gewesen, so hätte doch eine solche Einmischung mich aufreizen müssen, für die Wahrheit zu zeugen. Empört schob ich Herrn Bruff mit eigener Hand bei Seite und legte in feierlicher und angemessener Sprache die Anschauung dar, in welcher eine gesunde Lehre kein Bedenken trägt, dem furchtbaren Unglück eines unvorbereiteten Todes in’s Auge zu sehen.
Rachel fuhr —— ich erröthe, es niederschreiben zu müssen —— mit einem Schrei des Entsetzens zurück.
»Kommen Sie!« rief sie Herrn Bruff zu, »kommen Sie um Gotteswillen, bevor das Weib noch mehr sagen kann! O, denken Sie an das harmlose, nützliche, schöne Leben meiner armen Mutter! Sie haben dem Leichenbegräbnisse beigewohnt, Herr Bruff; Sie haben gesehen, wie Jedermann sie liebte; Sie haben gesehen, wie die Armen an ihrem Grabe über den Verlust ihrer besten Freundin weinten. Und diese elende Person steht hier und will Zweifel in mir daran erwecken, daß meine Mutter die ein Engel auf Erden war, jetzt ein Engel im Himmel ist! Verlieren Sie kein Wort darüber! Kommen Sie! Es erstickt mich, dieselbe Luft mit ihr zu athmen! Es ist mir ein schrecklicher Gedanke, mich in demselben Zimmer mit ihr zu befinden!«
Taub gegen alle Vorstellungen eilte sie der Thür zu.
In demselben Augenblick trat ihre Kammerjungfer mit ihrem Hut und Shawl herein. Sie warf dieselben rasch über und sagte: »Pack’ meine Sachen und bringe sie nach Herrn Bruff’s Haus.« Ich versuchte es, mich ihr zu nähern —— ich war entrüstet und schwer gekränkt, aber ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, nicht beleidigt. ich wünschte ihr nur zu sagen: »Möge sich Dein hartes Herz erweichen! Ich vergebe Dir gern!« Sie zog ihren Schleier über’s Gesicht, entriß ihren Shawl meinen Händen, eilte zur Thür hinaus und warf mir dieselbe vor der Nase zu. Ich ertrug diese Insulte mit meiner gewohnten Seelenstärke. Ich erinnere mich dessen jetzt mit meiner gewohnten Erhabenheit über alle Empfindungen der Beleidigung.
Herr Bruff hatte zum Abschied noch ein höhnendes Wort für mich, bevor auch er zur Thür hinauseilte.
»Sie hätten besser gethan, sich nicht näher zu erklären!« sagte er, verneigte sich und verließ das Zimmer.
Die Person mit den Mützenbändern folgte: »Es ist nicht schwer zu sehen,« sagte sie. »wer sie Alle gegen einander gehetzt hat. Ich bin nur eine arme Dienerin, aber ich schäme mich in Ihre Seele!« Damit ging auch sie hinaus und schlug die Thür hinter sich zu.
Ich blieb allein im Zimmer zurück. Von ihnen Allen verworfen, von ihnen Allen verlassen, blieb ich allein im Zimmer zurück.
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Brauche ich dieser einfachen Darlegung von Thatsachen noch etwas hinzuzufügen, diesem rührenden Gemälde einer von der Welt verfolgten Christin? Nein! Mein Tagebuch erinnert mich, daß hier abermals eines der vielen bunten Capitel meines Lebens endet. Seit jenem Tage habe ich Rachel Verinder nicht wieder gesehen. Ich verzieh ihr in dem Augenblick, wo sie mich insultirte. Ich habe seitdem immer für sie gebetet. Und wenn ich sterbe, werde ich ihr, um das Maß meiner Vergeltung von Bösem mit Gutem voll zu machen, »das Leben, die Briefe und die Arbeiten von Miß Jane Ann Stamper« in meinem Testament vermachen.
Zweite Erzählung.
Von Advokat Mathew Bruff.
Erstes Capitel.
Nachdem meine edle Freundin, Miß Clack, die Feder niedergelegt hat, bestimmen mich zwei Gründe, dieselbe nun meinerseits aufzunehmen.
Erstens befinde ich mich in der Lage, über gewisse Punkte von Interesse, welche bis jetzt dunkel geblieben sind, das nöthige Licht zu verbreiten. Fräulein Verinder hatte ihre besonderen Gründe, ihre Verlobung wieder aufzuheben, und diese Gründe waren mir bekannt. Herr Godfrey Ablewhite seinerseits hatte seine besondern Gründe, sich aller Ansprüche auf die Hand seiner reizenden Cousine zu begeben, und ich entdeckte diese Gründe.
Zweitens war ich, ich weiß nicht, ob ich sagen soll so glücklich oder so unglücklich, mich in der Periode, über die ich jetzt berichte, in das Geheimniß des indischen Diamanten verwickelt zu finden. Ich hatte auf meinem Bureau die Ehre einer Conferenz mit einem orientalischen Fremden von distinguirtem Benehmen, der unzweifelhaft kein Anderer war, als der Anführer der drei Indier.
Nehme man dazu, daß ich den Tag nach dieser Conferenz mit dem berühmten Reisenden Mr. Murthwaite zusammentraf und eine Unterhaltung mit ihm über die Mondstein-Angelegenheit hatte, welche sehr wichtig für das Verständniß späterer Ereignisse ist, so hat man eine vollständige Zusammenfassung meiner Ansprüche auf die Stellung, die ich in den folgenden Blättern einnehme.
Der wahre Hergang bei der Auflösung der Verlobung nimmt der Zeit nach den ersten Platz ein und hat daher auch Anspruch auf die erste Stelle in dieser Erzählung.
Indem ich die Kette der Ereignisse von einem Ende zum andern rückwärts verfolge, finde ich es, so sonderbar es dem Leser scheinen mag, nothwendig, die Scene an dem Bett meines vortrefflichen Freundes und Clienten, des verstorbenen Sir John Verinder, zu eröffnen.
Sir John hatte sein nicht geringes Theil von den harmloseren und liebenswürdigeren Schwächen des menschlichen Geschlechts. Unter diesen muß ich, als für die vorliegende Angelegenheit von Bedeutung, seinen unüberwindlichen Widerwillen, die Verantwortlichkeit einer Feststellung seines letzten Willens über sich zu nehmen, so lange er sich noch bei guter Gesundheit befand, hervorheben.
Lady Verinder bemühte sich, ihren Einfluß auf ihn zur Erweckung eines Pflichtgefühls in dieser Beziehung geltend zu machen, und ich bemühte mich in gleicher Weise. Er gestand die Richtigkeit unserer Auffassung zu —— aber er kam nicht weiter, bis ihn die Krankheit befiel, der er schließlich erlag. Da endlich wurde ich geholt, um die Instructionen meines Clienten in Betreff seines letzten Willens entgegenzunehmen. Es waren die einfachsten Instructionen, die mir im ganzen Verlauf meiner Praxis jemals vorgekommen sind.
Sir John schlummerte, als ich zu ihm in’s Zimmer trat. Bei meinem Anblick raffte er sich auf.
»Wie geht’s Ihnen, Herr Bruff?« fragte er. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten und werde bald wieder schlafen.«
Er schien sich lebhaft dafür zu interessiren, als ich Tinte, Feder und Papier zurechtlegte.
»Sind Sie fertig?« fragte er. Ich verneigte mich, tauchte die Feder ein und harrte meiner Instructionen.
»Alles meiner Frau,« sagte Sir John. »Mehr habe ich nicht zu sagen,« sank in die Kissen zurück, legte den Kopf auf die andere Seite und schien wieder schlafen zu wollen. Ich war genöthigt, ihn noch einmal zu stören.
»Habe ich Sie dahin zu verstehen,« fragte ich, »daß Sie das ganze Eigenthum, von jeder Art und Beschaffenheit, in dessen Besitz Sie sich bei Ihrem Tode befinden, ausschließlich Lady Verinder hinterlassen?«
»Ja,« sagte Sir John; »nur daß ich es kürzer ausdrücke. Warum können Sie es nicht eben so kurz machen und mich wieder schlafen lassen? Alles meiner Frau! Das ist mein letzter Wille."
Sein Eigenthum stand durchaus zu seiner Verfügung und war von zweierlei Art. Eigenthum in Land —— ich enthalte mich absichtlich technischer Ausdrücke —— und Eigenthum in Geld. In den meisten Fällen würde ich es, fürchte ich, für meine Pflicht gegen meinen Clienten gehalten haben, ihn zu einer nochmaligen Erwägung seines letzten Willens aufzufordern. In Sir John’s Fall wußte ich, daß Lady Verinder nicht nur des rückhaltlosen Vertrauens, das ihr Gatte in sie gesetzt hatte, würdig —— alle guten Frauen sind dessen würdig —— sondern daß sie auch im Stande sei, das ihr anvertraute Gut zweckmäßig zu verwalten —— wozu nach meiner Erfahrung von dem schönen Geschlecht nicht Eine unter Tausenden wirklich befähigt ist. In zehn Minuten war Sir John’s Testament aufgesetzt und vollzogen und der gute Sir John konnte wieder schlafen.
Lady Verinder rechtfertigte das Vertrauen, das ihr Gatte in sie gesetzt hatte, vollkommen. In den ersten Tagen ihrer Wittwenschaft schickte sie nach mir und machte ihr Testament. Die Art, wie sie ihre Lage betrachtete, war so durchaus verständig und gesund, daß ich mich der Nothwendigkeit, ihr Rath zu ertheilen, völlig überhoben fand. Meine Thätigkeit hatte sich lediglich darauf zu beschränken, ihre Instructionen in die gehörige gesetzliche Form zu bringen. Sir John war noch nicht vierzehn Tage zu Grabe getragen, als schon in höchst umsichtiger und ausreichender Weise für seine Tochter gesorgt worden war.
Das Testament blieb, ich weiß kaum mehr wie viele Jahre, in einem feuerfesten Kasten auf meinem Bureau aufbewahrt. Erst im Sommer 1848 fand ich unter sehr traurigen Umständen Veranlassung, das Testament wieder einzusehen, an jenem Tage nämlich, wo die Aerzte ihr Urtheil über Lady Verinder gesprochen hatten, welches in der That ein Todesurtheil war. Ich war der Erste, den sie von ihrem Zustand in Kenntniß setzte. Sie wünschte lebhaft, ihr Testament noch einmal mit mir durchzusehen.
Es war unmöglich an den Verfügungen in Betreff ihrer Tochter noch etwas zu verbessern, aber in Betreff verschiedener kleinerer Vermächtnisse an Verwandte hatten ihre Ansichten im Verlauf der Zeit einige Modifikationen erfahren und es erwies sich als nothwendig, dem Testamente drei bis vier Codicille hinzuzufügen. Nachdem ich aus Furcht vor möglicherweise eintretenden Umständen diese Codicille sofort hinzugefügt hatte, erwirkte ich mir die Erlaubniß von Lady Verinder, das Ganze zu einem neuen Testamente zusammenzufassen. Mein Zweck dabei war, gewisse unausbleibliche Confusionen und Wiederholungen, welche jetzt das Original-Document entstellten und, aufrichtig gestanden, meinem berufsmäßigen Sinn für das Exacte gänzlich widerstrebten, zu vermeiden.
Den Act der Vollziehung des zweiten Testaments hat Miß Clack, welche so gütig war als Zeugin dabei zu fungiren, geschildert So weit Rachel Verinder’s pecuniäres Interesse in Betracht kam, enthielt das zweite Testament nur die wörtliche Wiederholung der Verfügungen des ersten. Die einzigen Veränderungen bezogen sich aus die Ernennung eines Vormunds und gewisse, diese Ernennung betreffende, auf meinen Rath ausgesprochene Vorbehalte. Bei Lady Verinder’s Tode wurde das Testament nach bestehendem Rechtsgebrauch meinem Bevollmächtigten übergeben. Ungefähr drei Wochen später, so weit ich mich erinnern kann, erreichte mich zuerst die Kunde, daß etwas Ungewöhnliches vorgehe. Ich sprach zufällig auf dem Bureau meines Freundes und Bevollmächtigten vor und bemerkte, daß mein Erscheinen ein größeres Interesse bei ihm erwecke als gewöhnlich.
»Ich habe eine Neuigkeit für Sie,« sagte er. »Was meinen Sie was ich heute in Doktors Commons gehört habe? Man hat Lady Verinders Testament verlangt und bereits geprüft.«
Das war allerdings eine Neuigkeit. Das Testament enthielt absolut nichts was bestritten werden konnte, und meines Wissens gab es Niemanden, der auch nur das entfernteste Interesse daran haben konnte, es prüfen zu lassen. (Ich werde vielleicht gut thun zum Verständniß erläuternd zu bemerken, daß das Gesetz einem Jeden gestattet, gegen Erlegung eines Shillings in dem Gerichtshof von Doctors Commons von irgend welchem Testamente Einsicht zu nehmen.)
»Haben Sie gehört, wer nach dem Testament verlangt hat,« fragte ich.
»Ja wohl. Der Schreiber hatte kein Bedenken es mir mitzutheilen. Herr Smalley von der Firma Skipp u. Smalley hat danach verlangt. «Das Testament ist noch nicht in die großen Folio-Register eingetragen. So blieb nichts anderes übrig als ihn, abweichend von dem gewöhnlichen Gebrauch, von dem Original Einsicht nehmen zu lassen. Er hat es sorgfältig durchgelesen und eine Notiz in sein Taschenbuch eingetragen. Haben Sie irgend eine Vermuthung was er damit bezweckte?«
«Meine Antwort bestand in einem verneinenden Kopfschütteln und der Bemerkung: »Ich werde es aber heraus haben ehe ich einen Tag älter geworden bin« Damit ging ich ohne Weiteres nach meinem eigenen Bureau zurück.
Wenn irgend eine andere Advocatenfirma diese unerklärliche Prüfung des Testamentes meiner verstorbenen Clientin vorgenommen hätte, so würde ich vielleicht einige Schwierigkeiten bei meiner Entdeckung gefunden haben. Aber mit Skipp u. Smalley stand ich in einer Verbindung, welche mir die Erreichung meines Zwecks verhältnismäßig leicht machte. Einer meiner Schreiber, ein höchst sachkundiger und vortrefflicher Mensch, war der Bruder des Herrn Smalley; und, Dank dieser Art von indirecter Verbindung mit mir, hatten Skipp u. Smalley vor einigen Jahren die Brosamen von meinem Tische in Gestalt von Fällen aufgelesen, mit welchen ich es aus verschiedenen Gründen nicht der Mühe werth hielt, mich zu befassen. Auf diese Weise war meine professionelle Protection von einiger Wichtigkeit. Ich beschloß, sie bei dieser Gelegenheit, wenn es nothwendig werden sollte, an diese Protection zu erinnern.
Ich sprach sofort bei meiner Rückkehr mit meinem Schreiber und schickte ihn, nachdem ich ihm erzählt hatte was vorgefallen, nach dem Bureau seines Bruders mit meinen Empfehlungen und der Bitte, mich wissen zu lassen, aus welchem Grunde die Herren Skipp u. Smalley es für nothwendig gehalten hätten, Lady Verinder’s Testament zu prüfen.
In Folge dieser Botschaft erschien Herr Smalley in Begleitung seines Bruders auf meinem Bureau. Er theilte mir mit, daß er in Gemäßheit der Instructionen eines Clienten gehandelt habe und gab mir dann anheim, zu entscheiden, ob es nicht seinerseits ein Bruch des ihm in seinem Beruf geschenkten Vertrauens sein würde, mehr zu sagen.
Darüber entspann sich zwischen uns ein heftiger Disput Ohne Zweifel war er im Recht und ich im Unrecht. Um die Wahrheit zu gestehen, ich war zornig und argwöhnisch und bestand darauf, mehr zu wissen. Noch schlimmer, ich lehnte es ab irgend welche weitere mir zu machende Mittheilung als ein mir anvertrautes Geheimniß zu betrachten; ich verlangte, den Gebrauch, den ich von dieser Mittheilung zu machen gedachte, völlig meiner Discretion überlassen zu sehen. Und noch schlimmer, ich machte mir meine Stellung in unverantwortlicher Weise zu Nutze. »Wählen Sie«, sagte ich zu Herrn Smalley, »zwischen der Gefahr des Verlustes der Geschäfte Ihres Clienten und der Gefahr, meine Geschäfte zu verlieren.« Eine durchaus nicht zu rechtfertigende Handlungsweise, wie ich zugebe, —— ein reiner Act der Tyrannei. Wie andere Tyrannen erreichte ich meinen Zweck. Herr Smalley traf seine Wahl ohne einen Augenblick zu zaudern. Mit einem resignirten Lächeln theilte er mir den Namen seines Clienten mit: Herr Godfrey Ablewhite.
Das war mir genug, ich verlangte nicht mehr zu wissen.
An diesem Punkte meiner Erzählung angelangt, erscheint es nothwendig für mich, den Leser dieser Zeilen —— soweit Lady Verinders Testament in Betracht kommt —— über meine Wissenschaft in Betreff desselben vollständig aufzuklären.
Ich will daher in gedrängtester Kürze mittheilen, daß Rachel Verinder nur eine lebenslängliche Nutznießung an dem hinterlassenen Vermögen hatte. Das vortreffliche Urtheil ihrer Mutter und meine lange Erfahrung hatten dahin geführt, sie jeder Verantwortlichkeit zu entheben und sie vor jeder Gefahr zu schützen, künftig einmal das Opfer eines bedürftigen und gewissenlosen Mannes zu werden. Weder sie noch ihr Gatte, falls sie sich verheirathete, würde über einen Schilling, weder von dem Eigenthum in Land noch von dem in Gelde disponiren können. Sie würden die Häuser in London und Yorkshire und ein schönes Einkommen, aber weiter nichts zu ihrer Verfügung haben.
Als ich über meine Entdeckung nachdachte, befand ich mich in großer Verlegenheit in Betreff dessen, was ich zunächst thun sollte.
Kaum eine Woche war verflossen, seit ich zu meiner Ueberraschung und Betrübniß von Fräulein Verinder’s beabsichtigter Verheirathung gehört hatte. Ich empfand die aufrichtigste Bewunderung und Neigung für sie und hatte mit unaussprechlichem Bedauern gehört, daß sie im Begriff stehe sich an Herrn Godfrey wegzuwerfen. Und jetzt enthüllte sich dieser Mensch, den ich allezeit für einen glattzüngigen Betrüger gehalten hatte, vor mir in einer Gestalt, die meine schlechte Meinung von ihm vollkommmen rechtfertigte indem sich deutlich zeigte, daß er bei seinem Heirathsproject lediglich gewinnsüchtige Zwecke im Auge gehabt habe! »Und was weiter?« höre ich manche meiner Leser sagen, »die Sache geschieht tagtäglich.« Zugegeben, mein Verehrter, aber würden Sie die Sache eben so leicht beurtheilen, wenn Sie dieselbe z. B. an Ihrer Schwester erlebten?
Die erste Erwägung, die sich mir jetzt naturgemäß aufdrängte, war diese: Würde Herr Godfrey Ablewhite nach der von seinem Advokaten für ihn gemachten Entdeckung noch an seinem Verlöbniß festhalten?
Das hing lediglich von seinen pecuniären Verhältnissen ab, über welche mir nichts bekannt war. Wenn diese Verhältnisse nicht ganz verzweifelte waren, so würde es sich schon allein um ihres Einkommens willen der Mühe gelohnt haben, Fräulein Verinder zu heirathen. Wenn er andererseits einer bedeutenden Summe in gegebener Zeit dringend bedurfte, so lag hier gerade der in Lady Verinders Testament vorgesehene Fall vor, indem die Verfügung desselben ihre Tochter davor schützen würde, einem Schuft in die Hände zu fallen.
In dem letzteren Fall würde ich nicht genöthigt sein, Fräulein Rachel in den ersten Tagen ihrer Trauer um ihre Mutter durch eine sofortige Enthüllung der Wahrheit zu betrüben. In dem ersteren Fall würde ich mich, wenn ich schwiege, der Connivenz gegen eine Heirath schuldig machen, die Fräulein Verinder für ihr ganzes Leben unglücklich machen müßte.
Meine Bedenken endeten mit meinem Besuch in dem Londoner Hotel, in welchem sich, wie ich wußte, Mrs. Ablewhite und Fräulein Verinder aufhielten Sie theilten mir mit, daß sie am nächsten Tage nach Brighton gehen würden und daß eine unerwartete Abhaltung Herrn Godfrey Ablewhite verhindere, sie zu begleiten. Ich erbot mich, sofort seine Stelle zu übernehmen. So lange ich nur an Rachel Verinder gedacht hatte, waren Zweifel für mich möglich gewesen, sobald ich sie von Angesicht zu Angesicht sah, war ich auf der Stelle entschlossen, ihr, möchte daraus entstehen was wollte, die Wahrheit zu sagen.
Ich fand die Gelegenheit dazu, als ich am Tage nach meiner Ankunft in Brighton mit ihr spazieren ging.
»Darf ich mir,« fragte ich sie, »ein Wort in Betreff Ihrer Verlobung erlauben?«
»Ja,« sagte sie gleichgültig, »wenn Sie über nichts Interessanteres zu reden haben.«
»Wollen Sie einem alten Freund und Diener Ihrer Familie vergeben, Fräulein Rachel, wenn ich die Frage wage, ob Ihr Herz an dieser Heirath hängt?«
»Ich heirathe aus Verzweiflung, Herr Bruff, auf die Möglichkeit hin, in eine Art glücklichen Vegetirens zu verfallen, das mich vielleicht mit meinem Leben wieder aussöhnen wird.«
Eine starke Ausdrucksweise, die auf einen Liebesroman, der unter der Oberfläche schlummern mochte, schließen ließ. Aber ich ging gerade auf mein Ziel los und versagte es mir, wie wir Advokaten sagen, die Seitenwege der Frage zu verfolgen.
»Herr Godfrey Ablewhite wird schwerlich Ihre Anschauungsweise theilen,« sagte ich. »Sein Herz muß sehr entschieden an dieser Heirath hängen.«
»So sagt er, und ich muß ihm wohl glauben. Er würde mich nach dem, was ich ihm gestanden habe, wohl kaum heirathen, wenn er mich nicht gern hätte.«
Das arme Kind! Die Idee, daß ein Mann sie lediglich um seiner eigennützigen und, gewinnsüchtigen Zwecke willen heirathen könne, war ihr nie in den Sinn gekommen. Die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, fing an, mir schwerer zu erscheinen, als ich mir gedacht hatte.
»Es klingt,« fuhr ich fort, »sonderbar für meine altmodischen Ohren ——«
»Was klingt sonderbar?« fragte sie.
»Sie von Ihrem künftigen Gatten reden zu hören, als ob Sie der Aufrichtigkeit seiner Neigung nicht völlig gewiß wären. Sind Sie sich irgend eines Grundes bewußt, daran zu zweifeln?«
Ihre wunderbare rasche Auffassungsgabe entdeckte sofort eine Veränderung in meiner Stimme oder in meinem Wesen, als ich diese Frage that, welche sie ahnen ließ, daß ich die ganze Zeit mit einem Hintergedanken zu ihr gesprochen hatte. Sie stand still, nahm ihren Arm aus dem meinigen und blickte mir forschend in’s Auge.
»Herr Bruff,« sagte sie, »Sie haben mir etwas über Godfrey Ablewhite mitzutheilen. Sagen Sie es mir!«
Ich kannte sie gut genug, um sie beim Worte nehmen zu dürfen. Ich sagte es ihr.
Sie legte ihren Arm wieder in den meinigen und ging langsam mit mir weiter. Ich fühlte, wie sich ihre Hand auf meinem Arm krampfhaft zusammenballte, und ich sah sie auf unserem Wege blasser und blasser werden, aber nicht ein Wort kam über ihre Lippen, so lange ich sprach. Als ich geendet hatte, schwieg sie noch immer.
Sie ließ ihren Kopf etwas sinken, sie ging neben mir her, als ob sie meine Gegenwart, als ob sie Alles um sich her vergessen habe; in ihre eigenen Gedanken versenkt —— ich möchte fast sagen —— begraben.
Ich machte keinen Versuch, sie ihrer Betäubung zu entreißen. Meine Kenntniß ihres Wesens lehrte mich, ihr bei dieser wie bei früheren Gelegenheiten Zeit zu lassen.
Die meisten jungen Mädchen pflegen, sobald ihnen etwas sie Interessirendes mitgetheilt wird, eine Masse von Fragen zu thun und dann davon zu laufen und Alles mit einer vertrauten Freundin durchzusprechen. Rachel Verinder dagegen verschloß sich bei ähnlichen Gelegenheiten in sich selbst und ging mit sich allein über die Sache zu Rath. Diese absolute Selbstständigkeit ist eine große Tugend bei Männern. Bei Frauen hat dieselbe die sehr ernste Schattenseite, sie von der überwiegenden Mehrzahl ihres Geschlechts moralisch zu trennen und sie auf diese Weise Mißdeutungen des allgemeinen Urtheils auszusetzen. Ich habe mich selbst sehr stark in Verdacht, über diesen Punkt, außer in dem Falle von Rachel Verinder, ganz wie die übrige Welt zu denken. Die Selbstständigkeit ihres Charakters war nach meinem Urtheil einer ihrer Vorzüge, zum Theil ohne Zweifel, weil ich sie aufrichtig bewunderte und liebte, zum Theil weil die Ansicht, die ich mir von ihrem Antheil an dem Verlust des Mondsteins gebildet hatte, aus meine besondere Kenntniß ihres Wesens gegründet war. Wie sehr auch in der Angelegenheit des Mondsteins der Schein gegen sie sein mochte, so anstößig es ohne Zweifel erscheinen mußte, sie in irgend einem Zusammenhang mit dem Geheimniß eines unentdeckten Diebstahls zu wissen, war ich doch nichtsdestoweniger überzeugt, daß sie nichts ihrer Unwürdiges gethan haben könne, weil ich eben so fest überzeugt war, daß sie keinen Schritt in dieser Angelegenheit gethan haben werde, ohne sich vorher in sich selbst zu verschließen und die Sache auf’s Reiflichste zu erwägen.
Wir mochten wohl eine Viertelstunde weit gegangen sein, bevor Rachel sich wieder aufraffte Sie blickte mich plötzlich mit einem schwachen Wiederschein ihres Lächelns glücklicherer Tage an —— des unwiderstehlichsten Lächelns, das ich jemals auf einem weiblichen Antlitz gesehen habe.
»Ich verdanke Ihrer Güte schon Vieles,« sagte sie, »und ich bin Ihnen dafür in diesem Augenblick tiefer verpf1ichtet, denn jemals. Wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nach London irgend welche Gerüchte über meine Heirath hören, widersprechen Sie denselben auf der Stelle und berufen Sie sich getrost auf mein eigenes Zeugniß.«
»Sind Sie entschlossen, Ihre Verlobung aufzuheben?« fragte ich.
»Können Sie zweifeln?« erwiderte sie stolz, »nach dem, was Sie mir gesagt haben!«
»Mein liebes Fräulein Rachel, Sie sind sehr jung —— und Sie werden es vielleicht schwieriger finden, Ihr jetziges Verhältniß aufzulösen als Sie denken. Haben Sie Niemanden —— ich meine natürlich eine Dame —— mit der Sie über die Sache zu Rathe gehen könnten?«
»Niemanden!« antwortete sie.
Es betrübte mich aufrichtig, sie so reden zu hören. Sie war so jung und stand so allein in der Welt und trug ihr Schicksal so würdig! Der Drang, ihr zu helfen, überwand bei mir alle Bedenken, die mir unter den obwaltenden Umständen sonst wohl meine Person als ungeeignet würden haben erscheinen lassen; und ich sprach meine Gedanken über den Gegenstand aus, wie sie mir der Augenblick eben eingab. Ich habe in meinem Leben einer ungeheuren Anzahl von Clienten Rath ertheilt und habe mit einigen äußerst verwickelten Angelegenheiten zu thun gehabt, aber dies war das erste Mal, daß ich einer jungen Dame Rath darüber zu ertheilen hatte, wie sie es anzufangen habe, sich von einem gegebenen Heirathsversprechen loszumachen.
Mein Vorschlag war kurz folgender: Ich empfahl ihr, Herrn Godfrey Ablewhite, natürlich in einer vertraulichen Besprechung, zu erklären, daß er, wie sie sicher wisse, seine gewinnsüchtigen Absichten errathen habe. Sie sollte dann hinzufügen, daß ihre Heirath mit ihm nach dieser Entdeckung zur Unmöglichkeit geworden sei und solle es ihm anheimstellen, ob er es für gerathener halte, sich ihrer Verschwiegenheit durch Zustimmung zu ihrem Entschluß zu versichern oder sie durch seine Weigerung zu zwingen, das Motiv ihrer Handlungsweise bekannt zu machen. Wenn er den Versuch machen sollte, sich zu vertheidigen oder die Thatsachen zu leugnen, so sollte sie ihn an mich beweisen.
Fräulein Verinder hörte mir aufmerksam zu, bis ich ausgeredet hatte. Dann dankte sie mir sehr freundlich für meinen Rath, erklärte mir aber zugleich, daß es ihr unmöglich sei, denselben zu befolgen.
»Darf ich fragen,« sagte ich, »was Sie gegen die Befolgung meines Raths einzuwenden haben?«
Sie zögerte — und erwiderte dann meine Frage mit einer andern.
»Angenommen,« fing sie an, »Sie würden aufgefordert, Ihre Ansicht über Herrn Ablewhites Benehmen auszusprechen.«
»Ja —— und?«
»Wie würden Sie dasselbe bezeichnen?«
»Ich würde es als das Benehmen eines niedrig gesinnten und falschen Menschen bezeichnen.«
»Herr Bruff! Ich habe an diesen Mann geglaubt. Ich habe diesem Manne das Versprechen gegeben, ihn zu heirathen. Wie kann ich ihm darnach sagen, daß er niedrig gesinnt ist, daß er mich getäuscht hat, wie kann ich ihn darnach in den Augen der Welt herabsetzen. Ich habe mich selbst herabgewürdigt, indem ich dem Gedanken Raum gab, ihn zu meinem Gatten zu machen. Wenn ich ihm das sage, was Sie mir vorschlagen, so muß ich ihm in’s Gesicht bekennen, daß ich mich herabgewürdigt habe. Das kann ich nicht, nach dem, was zwischen uns vorgegangen ist, das kann ich nicht! Die Schande würde ihm nichts ausmachen, mir aber völlig unerträglich sein.«
Hier enthüllte sich mir eine andere hervorragende Eigenthümlichkeit ihres Charakters. Es war ihr feinfühliger Schauder vor der bloßen Berührung mit Allem, was gemein war, der sie gegen jede Rücksicht auf das, was sie sich selbst schuldig war, blind machte, und sie in eine schiefe Position drängte, die sie in der Schätzung aller ihrer Freunde compromittiren konnte. Bis zu diesem Augenblicke war ich selbst gegen die Angemessenheit meines Raths etwas mißtrauisch gewesen. Aber nach dem, was sie mir eben gesagt hatte, konnte ich nicht mehr den geringsten Zweifel haben, daß es der beste Rath war, den man ihr hätte geben können, und ich stand keinen Augenblick an, ihr die Befolgung desselben nochmals dringend an’s Herz zu legen.
Sie schüttelte mit dem Kopfe und wiederholte nur in andern Worten ihre Einwände.
»Er stand auf so vertrautem Fuße mit mir, daß er mich um meine Hand bitten konnte. Er stand hoch genug in meiner Achtung, um mein Jawort zu erhalten, und nach allem diesen kann ich ihm nicht in’s Gesicht sagen, daß er das verächtlichste Geschöpf auf Erden ist.«
»Aber mein liebes Fräulein Rachel,« wandte ich ein, »es ist doch ebenso unmöglich für Sie, ihm ohne jede Angabe von Gründen zu erklären, daß Sie ihr einmal gegebenes Wort zurücknehmen.«
»Ich werde ihm sagen, daß ich mir die Sache überlegt habe und zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß es für uns Beide das Beste sei, unsere Verbindung wieder aufzugeben.«
»Weiter nichts?«
»Weiter nichts!«
»Haben Sie auch bedacht, was er Ihnen vielleicht erwidern wird?«
»Er kann sagen, was er will.«
Es war unmöglich, der Delicatesse ihres Entschlusses die Anerkennung zu versagen, und es war ebenso unmöglich, nicht zu sehen, daß sie sich selbst damit zu nahe trat. Ich bat inständigst, ihre eigene Stellung nicht außer Augen zu lassen, ich machte sie darauf aufmerksam, daß sie sich den gehässigsten Mißdeutungen ihrer Motive aussetzen würde.
»Sie können mit den Gefühlen Ihres Herzens nicht dem allgemeinen Urtheil Trotz bieten.«
»Das kann ich doch,« antwortete sie, »und ich habe es bereits gethan.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie haben den Mondstein vergessen, Herr Bruff, Habe ich nicht in dieser Angelegenheit, auf meine Niemandem außer mir bekannten Gründe gestützt, dem allgemeinen Urtheil Trotz geboten?«
Ihre Antwort brachte mich für den Augenblick zum Schweigen. Es reizte mich, eine Erklärung ihres Benehmens zur Zeit des Verlustes des Mondsteins auf der Spur des sonderbaren Bekenntnisses zu suchen, welches ihr soeben entschlüpft war. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich dieser Versuchung vielleicht nachgegeben, jetzt aber war es mir unmöglich.
Ich versuchte es mit einem letzten Einwand, bevor wir nach Hause zurückgekehrt. Sie ließ sich aber auch dadurch von ihrem Entschluß nicht abbringen. Mein Gemüth befand sich in einem sonderbaren Conflict von Gefühlen, als ich sie an jenem Tage verließ. Sie war eigensinnig, sie war im Unrecht, sie war interessant, sie war bewunderungswürdig, sie verdiente das tiefste Mitleid. Ich ließ mir von ihr das Versprechen geben, mir zu schreiben, sobald sie mir etwas Neues mitzutheilen haben werde, und ich kehrte zu meinen Geschäften nach London in einer sehr unbehaglichen Stimmung zurück.
An dem Abend nach meiner Rückkehr, noch bevor ich den versprochenen Brief möglicher Weise hätte erhalten können, wurde ich durch einen Besuch des älteren Herrn Ablewhite überrascht, der mir mittheilte, daß Herr Godfrey an eben diesem Tage seine Entlassung erhalten und angenommen habe.
Bei der Ansicht, die ich mir bereits von dem Fall gebildet hatte, offenbarte die bloße Thatsache der Annahme die Motive, welche Herrn Godfrey Ablewhite bei seiner Ergebung leiteten, so klar, als ob er sie ausgesprochen hätte. Er bedurfte einer großen Summe Geldes und zwar in einer gegebenen Zeit. Rachel’s Einkommen, das ihm in jeder andern Beziehung genügt haben würde, war dazu nicht ausreichend und Rachel hatte deshalb ihr Wort zurücknehmen können, ohne auf den mindesten ernsthaften Widerstand von seiner Seite zu stoßen. Wenn man mir darauf entgegnet, daß dies eine reine Hypothese sei, so frage ich dagegen, auf welche andere Weise man das Aufgeben einer Heirath von seiner Seite erklären will, welche ihm für den Rest seiner Tage eine glänzende Lebensstellung gegeben haben würde.
Jede freudige Aufwallung, welche diese glückliche Wendung der Dinge vielleicht in mir erregt haben würde, wurde durch den Fortgang meiner Unterhaltung mit dem alten Herrn Ablewhite sofort wieder zurückgedrängt.
Er war, wie er mir sagte, gekommen, um von mir zu erfahren, ob ich im Stande sei, ihm eine Erklärung über das auffallende Benehmen Fräulein Verinders zu geben. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich völlig außer Stande erklärte, ihm den gewünschten Aufschluß zu geben. Die unangenehmen Empfindungen, die ich dadurch bei Herrn Ablewhite erregte und die ihn in einer durch die Unterhaltung mit seinem Sohne schon sehr gereizten Stimmung fanden, brachten ihn völlig außer Fassung. Seine Blicke und sein Benehmen ließen gleich deutlich erkennen, daß Fräulein Verinder am nächsten Tage, wo er zu den Damen nach Brighton gehen wollte, einen erbarmungslosen Mann an ihm finden würde.
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht damit, mir zu überlegen, was ich demnächst zu thun haben werde. Zu welchem Resultat mein Nachdenken führte und wie wohlbegründet mein Mißtrauen gegen den alten Herrn Ablewhite sich erwies, das sind Momente, die, wie ich erfahre, bereits genau und an der richtigen Stelle von der vortrefflichen Miß Clack mitgetheilt worden sind. Zur Vervollständigung ihres Berichts habe ich nur noch hinzuzufügen, daß Fräulein Verinder die Ruhe und Erholung, deren das arme Kind so sehr bedürftig war, in meinem Hause in Hampstead fand. Sie erfreute uns durch einen langen Besuch. Meine Frau und meine Töchter befreundeten sich sehr mit ihr, und als die Executoren ihren Entschluß in Betreff der Ernennung eines neuen Vormunds gefaßt hatten, trennten sich, wie ich mit Stolz und Freude berichten kann, mein Gast und meine Familie wie alte Freunde.
Zweites Capitel.
Das Nächste, was ich mitzutheilen habe, ist die genauere Kunde, welche ich in Betreff der Mondstein-Angelegenheit, oder correcter ausgedrückt in Betreff des indischen Complotts den Diamanten zu stehlen, besitze. Das Wenige, was ich zu sagen habe, ist gleichwohl, wie ich schon bemerkt zu haben glaube, in Betracht seines merkwürdigen Zusammenhangs mit späteren Ereignissen von einiger Wichtigkeit.
Etwa eine Woche oder zehn Tage später, nachdem Fräulein Verinder uns verlassen hatte, trat einer meiner Schreiber in mein Privat-Cabinet auf meinem Bureau mit einer Karte in der Hand und theilte mir mit, daß unten ein Herr sei, der mich zu sprechen wünsche.
Ich warf einen Blick auf die Karte, auf welcher sich ein ausländischer Name befand, der mir entfallen ist. Am Fuße der Karte aber befand sich eine geschriebene Zeile, deren Wortlaut ich mich sehr erinnere: »Empfohlen durch Herrn Septimus Luker.«
Die Frechheit eines Mannes in der Stellung des Herrn Luker, der sich herausnahm mir Jemanden zu empfehlen, brachte mich so völlig außer Fassung, daß ich einen Augenblick schweigend dasaß und mich fragte, ob ich meinen Augen trauen dürfe. Der Schreiber, der meine Ueberraschung bemerkte, kam mir mit dem Ergebniß seiner eigenen Beobachtung des Fremden, der unten wartete, zu Hilfe.
»Es ist ein sonderbar aussehender Mann, Herr Bruff, von so dunkler Hautfarbe, daß wir ihn aus dem Bureau Alle für einen Indier oder etwas Aehnliches halten.«
Indem ich die Schilderung des Schreibers mit der impertinenten Zeile auf der Karte combinirte, erkannte ich auf der Stelle, daß der Mondstein der Schlüssel zu der Empfehlung des Herrn Luker und zu dem Besuch des Fremden auf meinem Bureau sei. Zum Erstaunen meines Schreibers entschloß ich mich sofort, dem unten wartenden Herrn eine Audienz zu gewähren.
Zur Rechtfertigung des höchst unberufsmäßigen Opfers, welches ich aus diese Weise der reinen Neugierde brachte, sei es mir gestattet, jeden Leser dieser Zeilen daran zu erinnern, daß keine, wenigstens gewiß keine in England lebende Person den Anspruch erheben kann, in so genauer Beziehung zu der romantischen Geschichte’ des indischen Diamanten gestanden zu haben, wie ich. Mir waren die Veranstaltungen des Obersten Herncastle, um der Ermordung zu entgehen, anvertraut gewesen. Ich war es, der die Briefe des Obersten empfing, in welchen er in regelmäßig wiederkehrenden Perioden meldete, daß er noch am Leben sei. Ich war es, der sein Testament abfaßte, in welchem er den Mondstein Fräulein Verinder vermachte. Ich war es, der den von ihm ernannten Executor durch die Vorstellung, daß der Edelstein sich vielleicht als eine kostbare Erwerbung für die Familie erweisen werde, zur Uebernahme der Executorschaft vermochte. Und ich war es endlich, welcher Herrn Franklin Blake’s Skrupel bekämpfte und ihn dazu veranlaßte, die Uebermittelung des Diamanten nach Lady Verinder’s Hause auf sich zu nehmen. Wenn irgend Jemand ein unveräußerliches Recht des Interesses an der Mondstein-Angelegenheit und an Allem, was damit zusammenhängt, in Anspruch nehmen kann, so bin ich es unleugbar.
In dem Augenblick, wo mein mysteriöser Client in mein Cabinet geführt wurde, drang sich mir die Ueberzeugung auf, daß einer der drei Indier, wahrscheinlich ihr Anführer, vor mir stehe. Er war sorgfältig in europäische Tracht gekleidet. Aber seine dunkle Hautfarbe, seine lange geschmeidige Gestalt und seine feierliche und gefällige Höflichkeit wäre für jedes kundige Auge hinreichend, um seinen orientalischen Ursprung zu erkennen.
Ich wies ihm einen Stuhl an und bat um die Mitheilung der Veranlassung seines Besuches.
Nachdem er sich zuerst in sehr gewähltem Englisch wegen der Freiheit, die er sich genommen, mich zu stören, entschuldigt hatte, holte der Indier ein kleines Packet hervor, dessen äußere Umhüllung in einem Stück Goldstoff bestand. Nachdem er dasselbe, sowie eine zweite Umhüllung von Seidenstoff entfernt hatte, stellte er einen kleinen mit kostbaren Edelsteinen besetzten, aus Ebenholz gefertigten Kasten auf meinen Tisch.
»Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Bruff,« sagte er, »Sie zu bitten, mir etwas Geld zu leihen, und biete Ihnen dieses Kästchen als Pfand an.«
Ich wies auf seine Karte. »Und Sie wenden sich an mich,« sagte ich, »auf Herrn Luker’s Empfehlung?«
Der Indier verneigte sich.
»Darf ich fragen, wie es kommt, daß Herr Luker Ihnen nicht selbst das von Ihnen gewünschte Geld vorgeschossen hat?«
»Herr Luker hat mir erklärt, Herr Bruff, daß er kein Geld zu verleihen habe.«
»Und hat Ihnen gerathen, sich an mich zu wenden?«
Der Indier wies nun seinerseits auf die Karte und sagte: »Da steht es geschrieben.«
Eine kurze und durchaus bündige Antwort! Wenn der Mondstein sich in meinem Besitz befunden hätte, so würde mich dieser orientalische Herr, wie mir wohl bekannt war, ohne das geringste Bedenken ermordet haben. Dabei aber muß ich anerkennen, daß er, abgesehen von dieser kleinen Unannehmlichkeit, das vollkommene Muster eines Clienten war. Mein Leben würde er nicht respectirt haben, aber er that, was keiner meiner Landsleute, so lange ich in geschäftlicher Beziehung mit ihnen gestanden, jemals gethan hatte —— er respectirte meine Zeit.
»Ich bedauern« sagte ich, »daß Sie sich zu mir bemüht haben. Herr Luker hat Sie durchaus an die falsche Adresse verwiesen. Wie andere Männer meines Berufs befinde ich mich in Besitz von Geldern, die mir zum Zweck der Verleihung anvertraut sind. Aber ich verleihe es niemals an Fremde und niemals auf ein Pfand, wie das von Ihnen angebotene.«
Weit entfernt, wie andere Leute es gethan haben würden, den Versuch zu machen, mich zu einer Abweichung von meinen Grundsätzen zu bewegen, beschränkte sich der Indier darauf, sich zum zweiten Mal zu verneigen und seinen Kasten, ohne mit einem Wort weiter zu insistiren, wieder in seine beiden Umhüllungen zu wickeln. Dieser merkwürdige Mörder erhob sich in demselben Augenblick von seinem Sitz, wo ich ihm meine Antwort gegeben hatte.
»Wollen Sie mir,« sagte er, »bevor ich fortgehe, aus freundlicher Rücksicht für einen Fremde eine Frage erlauben?«
Ich verneigte mich meinerseits. Nur eine Frage beim Abschied! Nach meiner Erfahrung betrug die Durchschnittszahl solcher Fragen sonst fünfzig.
»Angenommen, Herr Bruff,« sagte er, »es wäre für Sie möglich und nützlich gewesen, mir das Geld zu leihen in welchem Zeitraum wäre es für mich möglich und üblich gewesen, es zurückzuzahlen?«
»Nach dem landesüblichen Gebrauch,« antwortete ich, würden Sie berechtigt gewesen sein, das Geld ein Jahr nach dem Tage, wo es Ihnen vorgeschossen wurde, zurückzuzahlen.«
Der Indier verneigte sich zum letzten Mal, Dieses Mal am tiefsten, und ging plötzlich und leise aus dem Zimmer.
Im Nu war er geräuschlos, schleichend, katzenartig zum Zimmer hinaus, was mich, wie ich bekennen muß, etwas betroffen machte. Sobald ich meine Fassung wieder gewonnen hatte, um nachdenken zu können, gelangte ich zu einem ganz bestimmten Schluß in Betreff des sonst unbegreiflichen Fremden, der mich mit seinem Besuch beehrt hatte.
Sein Gesicht, seine Stimme und seine Bewegungen hatte er, so lange er sich in meiner Gesellschaft befand, so vollständig zu beherrschen gewußt, daß sie jeder Erforschung seiner Absichten Hohn sprachen. Aber trotz alledem hatte er mir eine Möglichkeit geboten, durch seine glatte Außenseite hindurch einen Blick in sein Inneres zu thun. Er hatte, bis ich die Zeit nannte, in welcher es üblich sei, einem Schuldner frühestens die Rückzahlung eines Darlehns zu gestatten, nicht den geringsten erkennbaren Versuch gemacht, sich irgend etwas von dem, was ich ihm sagte, einzuprägen. Erst als ich ihm diese Zeit nannte, blickte er mir gerade in’s Gesicht Der Schluß, den ich daraus zog, war, daß er bei dieser Frage einen besonderen Zweck im Auge gehabt habe. Je reiflicher ich das zwischen uns Vorgefallene überdachte, um so stärker drängte sich mir der Verdacht auf, daß dies Angebot des Kästchens und das Gesuch um ein Darlehen ein reiner Vorwand zu dem Zweck gewesen sei, ihm den Weg zu seiner beim Abschied an mich gerichteten Frage zu bahnen.
Ich hielt mich eben von der Richtigkeit dieses Schlusses vollkommen überzeugt und war im Begriff, einen Schritt weiter zu thun und den Motiven des Indiers nachzuforschen, als mir ein Brief überbracht wurde, als dessen Schreiber sich kein Geringerer als Herr Septimus Luker selbst erwies. Er bat mich in Ausdrücken einer widerwärtigen Unterwürfigkeit um Verzeihung und versicherte mich, daß er mir über die fragliche Angelegenheit eine befriedigende Erklärung werde geben können, wenn ich ihm die Ehre einer persönlichen Besprechung erweisen wolle.
Abermals beschloß ich meiner Neugierde zu Liebe etwas von meiner berufsmäßigen Würde zu opfern. Ich erwiderte das Schreiben mit der Anberaumung einer Conferenz auf meinem Bureau für den nächsten Tag.
Herr Luker war ein dem Indier so weit untergeordnetes Wesen, er war so ordinair, so häßlich, so kriechend und so geschwätzig, daß er jeder weiteren Besprechung in diesen Blättern völlig unwürdig ist. Das Wesentliche von dem, was er mir mitzutheilen hatte, kann ich kurz dahin Zusammenfassen:
Einen Tag bevor der Indier mich mit seinem Besuche beehrt hatte, war dieser vollendete Gentleman bei Herrn Luker gewesen. Trotz seiner europäischen Kleidung hatte Herr Luker sofort in ihm den Anführer der drei Indier erkannt, die ihn früher durch ihr Herumlungern vor seinem Hause belästigt und endlich in die Nothwendigkeit versetzt hatten, sich an die Behörde zu wenden.
Diese erschreckende Entdeckung hatte bei ihm sofort zu dem sehr natürlichen Schluß geführt, daß der vor ihm Stehende einer von den drei Männern sein müsse, die ihm die Augen verbunden, ihn geknebelt und ihn des Empfangscheins seines Banquiers beraubt hatten. Die Folge dieses Schlusses war, daß ihn der Schreck völlig lähmte, und daß er sein letztes Stündlein gekommen glaubte.
Der Indier seinerseits benahm sich wie ein vollkommen Fremder. Er producirte das Kästchen mit demselben Anliegen, das er nachher bei mir vorgebracht hatte.
Als das geeignetste Mittel, ihn rasch los zu werden, hatte Herr Luker ohne Weiteres erklärt, er habe kein Geld. Darauf hatte der Indier ihn gebeten, ihm die geeignetste und sicherste Person zu nennen, von der er das gewünschte Darlehn werde erhalten können. Herr Luker hatte geantwortet, daß als die geeignetste und sicherste Person in der Regel ein Solicitor betrachtet werde. Nach einem bestimmten Solicitor gefragt, hatte Herr Luker mich einfach deshalb genannt, weil mein Name der erste war, der ihm in seiner Bestürzung einfiel.
»Die Schweißtropfen flossen mir in Strömen von der Stirn, Herr Bruff,« schloß der widerwärtige Kerl, »ich wußte nicht mehr, was ich sagte und ich hoffe, lieber Herr Bruff, Sie werden es mir verzeihen und Rücksicht nehmen, daß ich wirklich und wahrhaftig vor Angst die Besinnung verloren hatte.«
Ich war bereit genug, dem Patron die erbetene Entschuldigung angedeihen zu lassen. Das war die beste Art, seinen Anblick rasch los zu werden. Ehe ich ihn fortgehen ließ, hielt ich ihn noch einen Augenblick zurück, um noch eine Frage zu thun, nämlich ob der Indier in dem Moment, wo er Herrn Luker’s Haus verlassen, irgend etwas Bemerkenswerthes gesagt habe.
»Ja, der Indier hatte genau dieselbe Frage wie an mich, an Herrn Luker gerichtet, und hatte natürlich auch von ihm dieselbe Antwort erhalten wie von mir.
Was hatte das zu bedeuten?
Herrn Lukers Erklärung förderte mich durchaus nicht in der Lösung des Problems. Ebenso unfähig, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, erwies sich demnächst mein eigener Scharfsinn.
Ich hatte für den Abend eine Einladung zum Diner und ging in einer nicht sehr heitern Stimmung hinauf, ohne zu ahnen, daß der Weg zu meinem Ankleidezimmer auch der erste Schritt zu meiner Entdeckung sein sollte.
Drittes Capitel.
Die hervorragendste Persönlichkeit unter den Gästen der Tischgesellschaft war Herr Murthwaite.
Bei seinem Wiedererscheinen in England nach seinen Erforschungsreisen hatte die Gesellschaft sich lebhaft für ihn als einen Mann interessirt, der viele gefährliche Abenteuer bestanden hatte und von denselben erzählen konnte. Er stand im Begriff auf den Schauplatz seiner Erlebnisse zurückzukehren und in unerforschte Gegenden vorzudringen. Sein großartig gleichmüthiges Vertrauen auf sein bisheriges Glück und sein Entschluß, dasselbe in neuen Gefahren zu erproben, hatte das erlöschende Interesse seiner Verehrer an ihrem Helden neu belebt. Nach aller Erfahrung mußte er dieses Mal seinen Gefahren erliegen. Man trifft nicht alle Tage einen merkwürdigen Mann bei Tische, mit der Aussicht demnächst von seiner Ermordung zu hören.
Als die Herren im Eßzimmer allein zurückblieben, saß ich neben Herrn Murthwaite. Da die anwesenden Gäste Alle Engländer waren, so brauche ich wohl kaum zu sagen, daß sobald die heilsam, durch die Anwesenheit der Damen gebildete Schranke entfernt war, die Unterhaltung sich nothwendiger Weise um Politik drehte.
In Betreff dieses Alles absorbierenden nationalen Themas bin ich zufällig einer der unpatriotischsten Engländer. Im Allgemeinen kenne ich nichts Trübseligeres und Nutzloseres als eine politische Conversation Als ich einen Blick auf Herrn Murthwaite warf, nachdem die Flaschen zum ersten Mal ihren Rundgang um den Tisch gemacht hatten, fand ich, daß er augenscheinlich meiner Ansicht sei. Sehr geschickt und mit aller schuldigen Rücksicht für seinen Wirth richtete er sich auf ein Mittagschläfchen ein. Es reizte mich, den Versuch zu wagen, ob eine geschickte Anspielung auf den Mondstein ihn wach halten werde, und falls dieser Versuch erfolgreich wäre, zu sehen, was er über die neueste Verwicklung der indischen Verschwörung, wie sie sich in den nüchternen Räumen meines Bureaus enthüllt hatte, dachte.
»Wenn ich mich nicht irre, Herr Murthwaite«, fing ich an, »waren Sie mit der verstorbenen Lady Verinder bekannt und Sie haben sich für die sonderbare Kette von Begebenheiten interessirt, welche zu dem Verlust des Mondsteins führten.«
Der berühmte Reisende erwies mir die Ehre sich sofort zu ermuntern und mich zu fragen, wer ich sei.
Ich setzte ihn von meinen geschäftlichen Beziehungen zu der Herncastle’schen Familie in Kenntniß und vergaß dabei nicht der merkwürdigen Stellung Erwähnung zu thun, die ich dem Obersten und seinem Diamanten gegenüber in früherer Zeit eingenommen hatte.
Herr Murthwaite drehte sich in seinem Stuhle um, so daß er der übrigen Gesellschaft, conservativen wie liberalen, den Rücken kehrte und concentrirte seine ganze Aufmerksamkeit auf mich, den einfachen Advocaten Bruff.
»Haben Sie kürzlich etwas von den Indiern gehört?« fragte er.
»Ich habe allen Grund zu glauben,« antwortete ich, »daß ich Einen von ihnen gestern auf meinem Bureau gesprochen habe.«
Herr Murthwaite war nicht der Mann, sich leicht über etwas zu wundern; aber diese meine Antwort machte ihn augenscheinlich betroffen. Ich erzählte ihm, was Herrn Luker und was mir selbst begegnet war, wie ich es oben geschildert habe.
»Offenbar,« fügte ich hinzu, »hatte der Indier bei seiner Abschiedsfrage einen besonderen Zweck im Auge. Denn was konnte er sonst für ein Interesse daran haben, die Zeit zu kennen, innerhalb deren ein Darlehn nach Landesgebrauch zurückerstattet werden kann?«
»Ist Ihnen wirklich seine Absicht dabei nicht klar, Herr Bruff?«
»Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß ich dieselbe wirklich nicht zu durchschauen vermag, Herr Murthwaite.«
Den großen Reisenden schien es zu ergötzen, den Abgrund meiner Dummheit bis in seine tiefsten Tiefen zu sondiren.
»Erlauben Sie mir eine Frage« sagte er. »In welchem Stadium befindet sich augenblicklich die Verschwörung zur Entwendung des Mondsteins?«
»Das vermag ich nicht zu sagen,« erwiderte ich. »Die indische Verschwörung ist mir ein Räthsel.«
»Mein lieber Herr Bruff, die indische Verschwörung kann nur deshalb für Sie ein Räthsel sein, weil Sie sich niemals wirklich bemüht haben, dasselbe zu ergründen. Wollen wir uns die verschiedenen Stadien, welche die Verschwörung von der Zeit an, wo Sie Oberst Herncastles Testament aufsetzten, bis zu dem Moment, wo der Indier aus Ihrem Bureau erschien, durchlaufen hat, einen Augenblick Vergegenwärtigen? In Ihrer Stellung kann es für die Interessen Fräulein Verinder’s von großer Wichtigkeit sein, daß Sie nöthigenfalls einen klaren Ueberblick über diese Angelegenheit haben. Bitte, sagen Sie mir, ob Sie es unter diesen Umständen vorziehen, den Schlüssel zu den Motiven des Indiers selbst zu suchen, oder ob ich Ihnen jedes weitere Nachdenken über die Sache ersparen soll?«
Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich den praktischen Zweck, den er in diesem Moment im Auge hatte, vollkommen zu würdigen wußte und daß ich aus den ersten der beiden mir gemachten Vorschläge einging.
»Nun wohl,« sagte Herr Murthwaite »Fragen wir zuerst nach dem Alter der drei Indier. Ich kann bezeugen, daß sie nach ihrem Aussehen alle Drei von ungefähr gleichem Alter zu sein scheinen, und Sie können selbst darüber urtheilen, ob der Mann, der bei Ihnen war, in der Blüthe der Jahre stand oder nicht. Noch nicht vierzig, nicht wahr? Das glaube ich auch. Also noch nicht vierzig. Nun versetzen Sie sich gefälligst in die Zeit, wo Oberst Herncastle nach England zurückkehrte und wo Sie in das Geheimniß seiner Veranstaltungen zum Schutz seines Lebens gezogen wurden. Sie brauchen die Jahre nicht zu zählen. Ich will nur constatiren, daß diese gegenwärtigen Indier nach ihrem Alter die Nachfolger von drei Indiern sein müssen, welche, — (Alle aus der hohen Kaste der Brahminen, Herr Bruff) seiner Zeit den Obersten hierher verfolgten. Nun wohl. Unsere jetzigen Indier sind ihren Vorgängern gefolgt. Wenn sie sich darauf beschränkt hätten, so würde die Sache keine weitere Nachforschung verdient haben. Aber sie haben mehr gethan. Sie sind in das Complott eingetreten, welches ihre Vorgänger hier in England organisirt hatten. Erschrecken Sie nicht. Das Gewebe des Complotts ist, wie ich fest überzeugt bin, nach unsern Begriffen ein sehr loses. Dasselbe beschränkt sich meiner Meinung nach auf die Mitwissenschaft und die eventuellen Hilfsleistungen jener obscuren Art unserer Landsleute, die in den überwiegend von Ausländern bewohnten Nebengäßchen Londons ihr Quartier aufgeschlagen haben, und auf die geheime Sympathie jener Wenigen ihrer Landsleute und ehemaligen Glaubensgenossen, die ihr Brot in der Befriedigung eines der unzähligen Bedürfnisse der hauptstädtischen Bevölkerung verdienen. Kein sehr furchtbares Comploth wie Sie sehen. Aber immerhin als Ausgangspunkt unserer Betrachtung der Berücksichtigung werth, weil wir im Fortgang derselben vielleicht Veranlassung finden werden, auf diese bescheidene kleine Verschwörung zurückzukommen. Nachdem ich uns so den Weg gebahnt habe, will ich eine Frage an Sie richten, die Sie mir nach Ihren Erfahrungen gewiß werden beantworten können. Welches Ereigniß gab den Indiern die erste Chance, sich des Diamanten zu bemächtigen?«
Ich verstand die Anspielung auf meine Erfahrungen.
»Ihre erste bestimmte Chance,« erwiderte ich, »wurde ihnen durch Oberst Herncastle’s Tod geboten. Ich nehme als selbstverständlich an, daß sie von seinem Tode sofort Kunde erhielten.«
»Ganz gewiß. Und sein Tod bot ihnen, wie Sie sagen, die erste Chance Bis zu jenem Zeitpunkte hatte der Diamant sicher in dem Gewölbe der Bank gelegen. Sie haben das Testament des Obersten verfaßt, in welchem er seiner Nichte den Edelstein vermacht, und die Rechtsgültigkeit des Testaments wurde in gewohnter Weise festgestellt. Als Jurist können Sie keinen Augenblick zweifelhaft über Das sein, was die Indier nach Einholung englischen Raths danach gethan haben werden.«
»Sie werden sich mit einer Copie des Testaments in Doctors Commons versehen haben. sagte ich.
»So ist es. Einer oder der Andere jener obscuren Engländer, von denen ich vorhin sprach, wird ihnen eine solche Copie verschafft haben. Aus dieser Copie ersahen sie, daß der Mondstein der Tochter Lady Verinder’s vermacht sei und daß der ältere Herr Blake oder eine von ihm ernannte Person bestimmt sei, ihn derselben zu überbringen. Sie werden mir zugeben, daß die nöthige Information über Personen in der Stellung Lady Verinder’s und Herrn Blake’s sehr leicht zu erlangen sein mußte. Die einzige Schwierigkeit der Indier konnte nur darin bestehen, daß sie sich zu entscheiden hatten, ob sie den Versuch, sich des Diamanten auf seinem Wege aus dem Gewahrsam der Bank zu bemächtigen, machen, oder ob sie damit warten sollten, bis derselbe nach Lady Verinder’s Hause nach Yorkshire gebracht sein würde. Der zweite Weg mußte offenbar als der sicherere erscheinen und damit haben Sie die Erklärung der Erscheinung der Indier in Frizinghall, wo sie als Jongleurs auftraten und ihre Zeit abwarteten. In London hatten sie selbstverständlich ihre Einrichtungen derart getroffen, daß sie von den sie interessirenden Ereignissen au fait gehalten wurden. Zwei Männer waren beauftragt, der eine, Jedem, der von dem Hause des Herrn Blake nach der Bank ging, zu folgen, und der andere, die niederen männlichen Dienstboten des Hauses mit Bier zu regaliren und sich die Neuigkeiten des Hauses von denselben berichten zu lassen. In Folge dieser sehr einfachen Vorsichtsmaßregeln mußten sie alsbald davon in Kenntniß gesetzt werden, daß Herr Franklin Blake auf der Bank gewesen und daß derselbe die einzige Person im Hause sei, welche Lady Verinder besuchen werde. Was dieser Entdeckung folgte, ist Ihnen ohne Zweifel so gegenwärtig wie mir.«
Ich erinnerte mich, daß Franklin Blake einen der Spione auf der Straße als solchen erkannt, —— daß er in Folge dessen seine Ankunft in Yorkshire um einige Stunden verstirbt, und daß er (Dank dem vortrefflichen Rath des alten Betteredge) den Diamanten in der Bank in Frizinghall niedergelegt hatte, noch ehe die Indier ihn auch nur in der Gegend vermuthet hatten. Alles vollkommen klar bis soweit. Aber wie kam es, daß die Indier, ohne von der letztgedachten Vorsichtsmaßregel Franklin Blake’s unterrichtet zu sein, in dem ganzen Zeitraum bis zu Rachel’s Geburtstag keinen Einbruch in das Haus, von dem sie glauben mußten, daß der Diamant sich darin befinde, versuchten?
Indem ich Herrn Murthwaite diese schwierige Frage vorlegte, fügte ich hinzu, daß ich allerdings von dem kleinen Jungen und der tintenartigen Flüssigkeit und dem übrigen Hokuspokus gehört habe, daß aber eine auf die Annahme eines clairvoyanten Zustandes bei dem Jungen gegründete Erklärung für mich durchaus nichts Ueberzeugendes habe.
»Für mich auch nichts« sagte Herr Murthwaite »Die Clairvoyance ist in diesem Fall nichts als die Entfaltung der Liebhaberei der Indier an übernatürlichen Dingen. Für diese Leute war es eine für uns Engländer völlig unverständliche Belebung und Ermuthigung, ihre mühsamen und gefahrvollen Wanderungen durch dieses Land mit einem gewissen Schimmer des Außerordentlichen und Wunderbaren zu umgeben. Ihr Junge ist unzweifelhaft ein für magnetische Einflüsse empfängliches Subject, und unter diesem Einfluß hat er eben so unzweifelhaft das in dem Geiste der ihn magnetisirenden Person Vorhandene wieder ausgestrahlt. Ich habe die Theorie des Magnetismus geprüft und habe gefunden, daß die Aeußerungen der Magnetisirten niemals die eben angegebene Grenze überschreiten. Die Indier fassen die Sache anders auf; sie glauben ihren Jungen mit der Kraft begabt, Dinge zu sehen, die für ihre Augen unsichtbar sind und, ich wiederhole es, in diesem Wunder finden sie die Quelle eines neuen Interesses an der Verfolgung des Zwecks, der sie vereinigt. Ich erwähne das nur als eine Probe einer merkwürdigen Seite des menschlichen Charakters, die Ihnen völlig neu sein muß. Wir haben bei der uns vor liegenden Untersuchung nichts mit Clairvoyance, Magnetismus oder mit irgend etwas Aehnlichem, an das zu glauben einem praktischen Mann schwer wird, zu thun. Mein Zweck bei der schrittweisen Verfolgung der indischen Verschwörung ist, auf rationellem Wege gewisse Thatsachen auf ganz natürliche Ursachen zurückzuführen. Ist mir das bis jetzt in Ihren Augen gelungen?«
»Vollkommen, Herr Murthwaite! Ich gestehe jedoch, daß ich der rationellen Erklärung der Schwierigkeit, welche ich vorhin die Ehre hatte, Ihnen vorzulegen, mit einiger Ungeduld entgegensehe.«
Herr Murthwaite lächelte. »Das ist,« sagte er, »die von allen Schwierigkeiten am leichtesten zu überwindende. Erlauben Sie mir damit zu beginnen, Ihre Darlegung des Falles als eine vollkommen correcte zu bezeichnen. Die Indier wußten unzweifelhaft nicht, was Herr Franklin mit dem Diamanten gethan hatte, denn wir finden, daß sie den ersten Fehler in der ersten Nacht nach Herrn Blake’s Ankunft in dem Hause seiner Tante begehen.«
»Ihren ersten Fehler?« wiederholte ich.
»Gewiß! Den Fehler, sich bei ihrem Herumlungern vor der Terrasse von Gabriel Betteredge überraschen zu lassen. Indessen hatten sie das Verdienst, ihren Fehler einzusehen, denn, wie Sie wieder richtig bemerken, kamen sie, obgleich sie volle Zeit dazu gehabt hätten, wochenlang nachher nicht wieder nach dem Hause.«
»Und warum, Herr Murthwaite? Das möcht ich eben wissen! Warum?«
»Weil kein Indier sich jemals einer unnöthigen Gefahr aussetzt. Die von Ihnen selbst in Oberst Herncastle’s Testament aufgenommene Clausel belehrte sie, daß der Mondstein an Fräulein Verinder’s Geburtstag in ihr unbeschränktes Eigenthum übergehen solle; nicht wahr? Nun wohl. Sagen Sie selbst, was war der sicherste Weg für Leute in der Lage der Indier? Sollten sie sich des Diamanten zu bemächtigen suchen, so lange sich derselbe unter der Obhut des Herrn Franklin Blake befand, der bereits gezeigt hatte, daß er ihnen auf die Spur zu kommen und sie zu überlisten wußte? Oder sollten sie nicht lieber warten, bis sich der Diamant in den Händen eines jungen Mädchens befände, die ihre unschuldige Freude daran haben würde, den kostbaren Edelstein bei jeder möglichen Gelegenheit zu tragen? Vielleicht verlangen sie einen Beweis der Richtigkeit meiner Behauptung. In dem Benehmen der Indier selbst müssen Sie diesen Beweis finden. Nachdem sie wochenlang gewartet hatten, erschienen sie an Fräulein Verinder’s Geburtstag wieder vor dem Hause, und sie fanden sich für die Präcision ihrer geduldigen Berechnung durch den Anblick des Mondsteins an der Brust von Fräulein Verinder belohnt. Als ich später an jenem Abend die Geschichte des Obersten und des Diamanten erfuhr, war ich so durchdrungen von den Gefahren, in denen Herr Franklin Blake geschwebt hatte —— sie hätten ihn ohne Zweifel angegriffen, wenn er nicht zufälligerweise in Begleitung anderer Leute nach Lady Verinders Hause zurückgeritten wäre —— und so fest überzeugt, daß noch schlimmere Gefahren Fräulein Verinder’s harrten, daß ich den Rath gab, den Plan des Obersten zur Ausführung zu bringen und die Identität des Edelsteins durch Zerschneiden in verschiedene kleine Theile zu vernichten. Wie das merkwürdige Verschwinden desselben in jener Nacht meinen Rath unnütz machte und die indische Verschwörung entscheidend durchkreuzte und wie jede fernere Thätigkeit der Indier am nächsten Tage durch ihre Verhaftung als Vagabunden gelähmt wurde, das Alles wissen sie so gut wie ich. Hier schließt der erste Art der Verschwörung. Bevor wir zu dem zweiten Art übergehen, erlaube ich mir die Frage, ob ich Ihre Schwierigkeit in einer für einen practischen Mann befriedigenden Weise gelöst habe?«
Es war unmöglich zu bestreiten, daß ihm das, Dank seiner überlegenen Kenntniß des indischen Charakters und Dank der Möglichkeit, in der er sich befunden hatte, seit Herncastle’s Tod nicht an hundert andere Testamente denken zu müssen, vollkommen gelungen war.
»So weit wäre also die Sache klar,« fing Herr Murthwaite wieder an. »Die erste Chance, die sich den Indiern dargeboten hatte, sich. des Diamanten zu bemächtigen, war an dem Tage für sie verloren, wo sie in Frizinghall ins Gefängniß gebracht wurden. Wann bot sich ihnen nun eine zweite Chance? Die zweite Chance bot sich ihnen, wie ich zu beweisen im Stande bin, während sie noch im Gefängniß saßen.«
Er zog seine Brieftasche hervor und öffnete dieselbe an einer bestimmten Stelle, bevor er fortfuhr.
»Ich hielt mich zu jener Zeit bei Freunden in Frizinghall auf. Einen oder zwei Tage bevor die Indier ihrer Haft entlassen wurden (ich glaube, es war an einem Montag), kam der Director des Gefängnisses mit einem Briefe zu mir. Derselbe war für die Indier von einer Mrs. Macann abgegeben, bei welcher sie logirt hatten, und war Tags zuvor auf gewöhnlichem Wege durch die Post nach Mrs. Macann Hause befördert worden. Die Gefängnißbeamten hatten bemerkt, daß der Poststempel »Lambeth« lautete und daß die äußere Adresse, wiewohl in correctem Englisch geschrieben, doch eine von der gewöhnlichen Art zu adressiren sonderbar abweichende Gestalt hatte. Beim Eröffnen hatten sie den Brief in einer fremden Sprache geschrieben gefunden, welche sie mit Recht für hindostanisch hielten. An mich wandten sie sich natürlich, um eine Uebersetzung des Briefes von mir zu erbitten. Ich trug eine Abschrift des Originals und meiner Uebersetzung in meine Brieftasche ein und hier haben Sie sie beide.«
Er überreichte mir die offene Brieftasche. Die Copie begann mit der Adresse des Briefes. Sie war in einem fortlaufenden Satze ohne jede Interpunktion geschrieben, wie folgt: »An die drei indischen Männer welche bei der Dame mit Namen Macann in Frizinghall in Yorkshire wohnen.« Darauf folgten indische Lettern und endlich die englische Uebersetzung in folgenden mysteriösen Worten:
»Im Namen des Beherrschers der Nacht, dessen Sitz auf der Antilope ist, dessen Arme die vier Enden der Welt umschlingen.
»Brüder, wendet Euer Antlitz nach Süden und kommt zu mir nach der Straße vielen Geräusches, welche hinabführt zu dem schlammigen Fluß.
»Die Ursache ist folgende:
»Meine eigenen Augen haben ihn
gesehen.«
Damit schloß der Brief, ohne Datum oder Unterzeichnung. Ich gab ihn Herrn Murthwaite zurück und gestand, daß dieses sonderbare Specimen indischer Correspondenz mir einigermaßen unverständlich sei.
»Den ersten Satz kann ich Ihnen erklären,« sagte er; »und die Erklärung des Uebrigen finden Sie in dem weiteren Verhalten der Indier. Der Gott des Monds wird in der indischen Mythologie als eine vierarmige auf einer Antilope sitzende Gottheit dargestellt und einer seiner Titel ist: Beherrscher der Nacht. Hier haben wir also schon etwas, das einer indirecten Bezugnahme auf den Mondstein nicht übel ähnlich sieht. Sehen wir nun zu, was die Indier thaten, nachdem die Gefängnißbeamten ihnen den Brief übergeben hatten. An demselben Tage wo sie freigelassen wurden, gingen sie ohne Weiteres nach der Eisenbahnstation und nahmen dort Plätze für den ersten Zug, der nach London ging. Wir bedauerten es in Frizinghall Alle, daß ihre Schritte nicht im Geheimen beobachtet würden. Aber nachdem Lady Verinder den Beamten, der geheimen Polizei entlassen und jeder ferneren Untersuchung über die Ursache des Verlustes des Diamanten Einhalt gethan hatte, durfte sich Niemand anders anmaßen, in der Sache zu handeln. Den Indiern stand bei ihrer Absicht, nach London zu gehen, nichts im Wege, und so reisten sie dahin. Was war die nächste Nachricht, die wir von ihnen erhielten, Herr Bruff?«
»Sie belästigten Herrn Luker,« erwiderte ich, »durch Herumlungern vor seinem Hause in Lambeth.«
»Haben Sie den Bericht über Herrn Luker’s Erscheinen vor dem Polizeirichter gelesen?«
»Ja.«
»Im Laufe seiner Angaben nahm er, wie Sie sich erinnern werden, auf einen fremden von ihm engagirten Arbeiter Bezug, den er eben auf den Verdacht eines versuchten Diebstahls hin entlassen habe, und von dem er gleichfalls argwöhnte, daß er möglicherweise mit den Indiern, welche ihn belästigt hatten, Unter einer Decke stecke. Der Schluß von diesen Angaben auf den Schreiber des Briefes, der sie eben beschäftigt hat, und auf den Schatz in Herrn Lukers Besitz welchen der Arbeiter zu stehlen versucht hatte, ist leicht genug.«
Der Schluß war, wie ich mich anzuerkennen beeilte, zu klar, um besonders hervorgehoben werden zu müssen. Ich hatte niemals daran gezweifelt, daß der Mondstein zu der Zeit, von welcher Herr Murthwaite sprach, seinen Weg in Herrn Luker’s Hände gefunden habe. Das Einzige, was mir dabei unklar geblieben, war, wie die Indier diesen Umstand erfahren hatten? Auch diese Frage, nach meiner Meinung die schwerst zu beantwortende, hatte jetzt, wie alle übrigen, ihre befriedigende Antwort gefunden. Obgleich Jurist, fing ich an einzusehen, daß ich mich blindlings der Führung des Herrn Murthwaite durch das Labyrinth anvertrauen könne, durch das er mich schon bis hierher geleitet hatte. Ich machte ihm darüber mein Compliment, das er seinerseits sehr graziös aufnahm.
»Sie müssen mir aber auch Ihrerseits mit einer Mittheilung an die Hand gehen, bevor wir fortfahren,« sagte er. Irgend Jemand muß den Mondstein von Yorkshire nach London gebracht haben und Jemand muß Geld darauf geborgt haben oder er würde nie in Herrn Luker’s Besitz gelangt sein. Ist in Betreff dieser Person irgend etwas entdeckt worden.«
»Nichts, daß ich wüßte!«
»Ein Gerücht wollte, wenn ich nicht irre, Herrn Godfrey Ablewhite mit der Sache in Verbindung bringen. Wie ich höre, ist er ein renommierter Philantrop, was zu nächst einmal gegen ihn spricht.«
Ich stimmte Herrn Murthwaite darin von ganzem Herzen bei. Gleichzeitig aber fühlte ich mich verpflichtet, ihm —— ohne wie ich wohl kaum zu sagen brauche, Fräulein Verinder’s Namen zu nennen —— mitzutheilen, daß Herr Godfrey Ablewhite in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise von allem Verdacht gereinigt sei.
»Nun wohl,« sagte Herr Murthwaite ruhig, »überlassen wir es der Zeit, die Sache aufzuklären. Indessen müssen wir wieder zu den Indiern zurückkehren. Ihre Reise nach London schloß einfach damit, daß sie abermals eine Niederlage erlitten, die Vereitelung ihrer zweiten Chance, sich des Diamanten zu bemächtigen, verdankt man, glaub’ ich, vor Allem der schlauen Umsicht des Herrn Luker, —— der nicht umsonst eine hervorragende Persönlichkeit in dem uralten und gedeihlichen Stande der Wucherer ist! Durch die prompte Entlassung des fraglichen Arbeiters beraubte er die Indier des Beistands, welchen ihr Verbündeter ihnen dadurch geleistet hätte, daß er ihnen den Eintritt in’s Haus verschafft haben würde. Durch den raschen Transport des Mondsteins nach dem Gewölbe seines Banquiers überraschte er die Verschwörer, bevor sie sich aus einen neuen Plan zu seiner Beraubung hätten vorbereiten können. Wie die Indier dann zu einer Kunde von diesem Transport gelangten, und was sie unternahmen, um in den Besitz des Empfangscheins des Banquiers zu gelangen, das sind zu kürzlich geschehene Dinge, als daß es nöthig wäre, dabei länger zu verweilen. Es genüge uns, zu constatiren, daß sie jetzt wissen, daß der Mondstein sich, in dem Gewölbe eines Banquiers unter der allgemeinen Bezeichnung eines kostbaren Juwels deponirt, zum zweiten Mal an einer für sie unerreichbaren Stelle befinde. Und jetzt, Herr Bruff, wo ist die dritte Chance der Indien sich des Diamanten zu bemächtigen, und wann wird dieselbe eintreten?«
In dem Augenblick, wo er diese Frage aussprach, ward mir endlich der Zweck des Besuchs des Indiers auf meinem Bureau klar!
»Ich habe es!« rief ich aus, »die Indier nehmen es für ausgemacht an, wie wir es auch thun, daß der Mondstein verpfändet ist, und suchen nun ohne Zweifel zu erfahren, wann das Pfand frühestens wieder ausgelöst werden kann, weil dieser Zeitpunkt auch der früheste ist, in welchem der Diamant aus dem sichern Gewahrsam der Bank wieder entfernt werden kann.«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, Herr Bruff, daß Sie es selbst herausfinden würden, wenn ich Sie auf die rechte Spur führte. In einem Jahre, von dem Tage an, wo der Mondstein verpfändet worden ist, werden die Indier ihre dritte Chance auszubeuten versuchen. Aus Herrn Luker’s eigenem Munde haben sie erfahren, wie lange sie noch warten müssen, und Ihre Autorität ist ihnen Gewähr dafür, daß Herr Luker ihnen die Wahrheit gesagt hat. Wie sollen wir, nach einer wahren Annahme, die ungefähre Zeit bestimmen, wo der Diamant seinen Weg in die Hände des Geldverleihers fand?«
»Soweit ich sehe, gegen Ende des verflossenen Juni,« antwortete ich.
»Und jetzt schreiben wir 1848. Nun wohl. Wenn die unbekannte Person, welche den Mondstein verpfändet hat, ihn nach Verlauf eines Jahres wieder auslösen kann, so wird der Edelstein gegen Ende Juni 1849 sich wieder im Besitz dieser Person befinden. Ich werde um jene Zeit Tausende von Meilen von England und englischen Nachrichten entfernt sein. Aber für Sie möchte es sich der Mühe lohnen, sich dieses Datum zu merken und sich so einzurichten, daß Sie um jene Zeit in London sind.«
»Glauben Sie denn, daß sich dann etwas Entscheidendes ereignen wird?« sagte ich.
»Ich kann Ihnen nur sagen,« antwortete er, »daß ich mich unter den wildesten Fanatikern Central-Asiens für sicherer halten werde, als ich es nach meiner Ueberzeugung wäre, wenn ich mit dem Mondstein in der Tasche aus der Bank träte. Die Indier sind zweimal überlistet worden, Herr Bruff Ich glaube ganz gewiß, daß sie sich nicht zum dritten Mal werden überlisten lassen.«
Das waren die letzten Worte, die er über diesen Gegenstand sprach. Der Kaffee wurde serviert und die Tafel aufgehoben, die Gäste zerstreuten sich im Zimmer und wir Beiden gingen zu den Damen hinauf.
Ich notierte mir das Datum und es ist vielleicht nicht überflüssig meine Erzählung hier mit der Wiederholung dieser Notiz zu schließen:
»Juni 1849. Gegen Ende des Monats Nachrichten von den Indiern erwarten.«
Nachdem ich das gethan habe, überreiche ich die Feder, welche ich zu führen keinen weiteren Anspruch habe, dem mir zunächst folgenden Berichterstatter.
Dritte Erzählung.
Von Franklin Blake.
Erstes Capitel.
Im Frühjahr 1849 war ich auf einer Reise im Orient begriffen und hatte grade meine Reisepläne, wie ich sie einige Monate vorher gefaßt und meinem Advocaten und meinem Banquier in London mitgetheilt hatte, geändert.
Diese Veränderung nöthigte mich, einen meiner Diener abzusenden, um meine Rimessen bei dem englischen Consul in einer gewissen Stadt, welche nach meinem neuen Reiseplan nicht mehr zu einer meiner Stationen gehörte, in Empfang zu nehmen. Der Mann sollte mich in einem bestimmten Zeitpunkt an einem verabredeten Platz treffen.
Ein Unfall, an dem er unschuldig war, nöthigte ihn zu einem Aufschub seiner Rückreise. Eine Woche lang warteten ich und meine Leute in einem Lager am Rande einer Wüste. Nach Verlauf dieser Zeit trat der vermißte Mann mit dem Gelde und Briefen in mein Zelt.
»Ich fürchte, ich bringe Ihnen schlimme Nachrichten Herr,« sagte er, indem er auf einen Brief mit einem Trauerrande deutete, dessen Adresse von der Hand des Herrn Bruff herrührte.
Ich kenne in solchen Fällen nichts Unerträglicheres als Ungewißheit. Der Brief mit dem Trauerrand war der erste, den ich öffnete.
Derselbe benachrichtigte mich, daß mein Vater gestorben und daß ich der Erbe seines großen Vermögens sei. Der Reichthum, welcher mir so in den Schooß gefallen war, brachte seine Verantwortlichkeit mit sich und Herr Bruff bat mich dringend, ohne Zeitverlust nach England zurückzukehren.
Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch war ich auf dem Heimwege nach meinem Vaterlande.
Das von meinem alten Freund Betteredge zur Zeit meiner Abreise von England von mir entworfene Bild ist, glaube ich, etwas karikirt. Er hat in seiner komischen Weise eine von den vielen satyrischen Aeußerungen seiner jungen Herrin über meine ausländische Erziehung ernsthaft genommen und hat sich selbst glauben gemacht, daß er jene verschiedenen Seiten meines Charakters, die französische, englische und deutsche, über deren Entdeckung meine geistreiche Cousine zu scherzen pflegte und die außer in der Phantasie unsers guten Betteredge gar nicht existirten, auch wirklich beobachtet habe.
Aber abgesehen davon muß ich gestehen, daß er nur die Wahrheit gesagt hat, indem er mich als durch Rachel’s Behandlung in’s Herz getroffen darstellte und erzählte, daß ich England in dem ersten furchtbaren Schmerz über die bitterste Enttäuschung meines Lebens verlassen habe.
Ich ging mit dem Entschluß auf Reisen, sie, wenn Veränderung und Abwesenheit mir helfen könnten, zu vergessen. Nach meiner Ueberzeugung beruht die Behauptung, daß Veränderung und Abwesenheit einem Menschen unter diesen Umständen nicht helfen, auf einer falschen Auffassung der menschlichen Natur; sie zwingen ihn, seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen als den ausschließlichen Betrachtungen seines eigenen Kummers zuzuwenden. Ich habe Rachel nie vergessen, aber der Schmerz der Erinnerung verlor nach und nach seinen bittersten Stachel in dem Verhältniß, wie Zeit, Entfernung und neue Eindrücke immer wirksamer zwischen Rachel und mich traten.
Von dem Augenblick aber, wo ich meine Schritte wieder der Heimath zu lenkte, fing das Heilmittel, das bis dahin so energisch gewirkt hatte, an, seine Kraft zu verlieren. Je mehr ich mich dem von ihr bewohnten Lande und der Aussicht näherte, sie wiederzusehen, desto unwiderstehlicher fing ihr Einfluß auf mich sich wieder geltend zu machen an. Als ich England verließ, war sie die letzte Person, deren Namen ich mich entschlossen haben würde, über die Lippen zu bringen. Bei meiner Rückkehr nach England war sie die Erste, nach welcher ich mich erkundigte, als ich Herrn Bruff wieder sah.
Er setzte mich natürlich von allem Dem, was während meiner Abwesenheit vorgefallen war, mit andern Worten von Allem in Kenntniß, was hier in Fortsetzung von Betteredge’s Erzählung berichtet worden ist, mit Ausnahme eines einzigen Umstandes. Herr Bruff hielt sich zu jener Zeit nicht für berechtigt, mir die Motive mitzutheilen, unter deren geheimer, Einfluß Rachel und Godfrey Ablewhite beiderseits ihr einander gegebenes Heirathsversprechen zurückgenommen hatten. Ich belästigte ihn nicht mit Fragen über diesen delicaten Gegenstand. Es war mir Trost genug, nachdem anfänglich meine Eifersucht durch die Nachricht erweckt worden war, daß sie daran gedacht habe, Godfrey’s Weib zu werden, zu hören, daß sie sich durch weiteres Nachdenken von der jähen Raschheit ihres Entschlusses überzeugt und sich selbst wieder von dieser Verbindung losgemacht hatte.
Nachdem ich von dem Vergangenen unterrichtet war, bezogen sich meine nächsten Erkundigungen nach Rachel natürlich auf die Gegenwart. Unter wessen Obhut war sie gestellt worden, nachdem sie Herrn Bruffs Haus verlassen hatte, und wo lebte sie jetzt?
Sie lebte unter der Obhut einer verwittweten Schwester des verstorbenen Sir Verinder, einer Miß Merridew, welche die Executoren ihrer Mutter ersucht hatten, als Vormünderin zu fungieren und welche dieses Amt übernommen hatte. Nach den mir gemachten Mittheilungen kamen sie vortrefflich mit einander aus und wohnten jetzt, während der Saison, in Mrs. Merridews Haus auf Portland-Place.
Eine halbe Stunde nach Empfang dieser Nachricht war ich aus dem Wege nach Portland-Place, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, Herrn Bruff meine Absicht mitzutheilen!
Der Diener, welcher mir die Thür öffnete, war nicht sicher ob Fräulein Verinder zu Hause sei oder nicht. ich schickte ihn mit meiner Karte, als dem geeignetsten Mittel Gewißheit zu erlangen, hinauf. Der Diener kam zurück und meldete mir mit einem undurchdringlichen Ausdruck des Gesichts, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei.
Bei anderen Menschen würde ich vielleicht eine absichtliche Verleugnung geargwöhnt haben, aber bei Rachel war es unmöglich. Ich hinterließ die Bestellung, daß ich um 6 Uhr Abends meinen Besuch wiederholen würde.
Um 6 Uhr wurde mir zum zweiten Mal die Antwort, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei. Hatte sie irgend eine Bestellung für mich zurückgelassen? Nein. Hatte Fräulein Verinder meine Karte nicht bekommen? Allerdings.
Jetzt drängte sich der Schluß, daß Rachel mich nicht sehen wolle, zu entschieden auf, als daß ich ihn hätte zurückdrängen können.
Meinerseits konnte ich mich nicht entschließen, mich auf diese Weise behandeln zu lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen die Ursache dieses Benehmens zu entdecken. Ich schickte zu Mrs. Merridew hinauf und ließ sie um die Gefälligkeit bitten, mich zu irgend einer ihr convenirenden Zeit empfangen zu wollen.
Mrs. Merridew erklärte sich sofort bereit, meinen Wunsch zu gewähren. Ich wurde in ein behagliches kleines Wohnzimmer geführt und befand mich einer behaglichen kleinen ältlichen Dame gegenüber. Sie war freundlich genug, mir ihr großes Bedauern und ihre Ueberraschung über die mir von Rachel widerfahrene Behandlung auszusprechen. Gleichwohl war sie nicht in der Lage, mir irgend eine Erklärung zu geben oder eine Pression auf Rachel in einer Angelegenheit zu üben, welche mit einer Frage ganz persönlicher Gefühle zusammenzuhängen scheine, das sagte sie mit einer unermüdlich höflichen Geduld immer und immer wieder und das war Alles, was ich von Mrs.Merridews zu erlangen vermochte.
Meine letzte Chance war, Rachel zu schreiben. Am nächsten Tage brachte ihr mein Diener einen Brief mit der strikten Ordre, auf Antwort zu warten.
Die Antwort kam und bestand buchstäblich in einer Zeile.
»Fräulein Verinder bedauert, jede Correspondenz mit Herrn Franklin Blake ablehnen zu müssen.«
Je inniger ich sie liebte, mit desto tieferer Entrüstung fühlte ich die mir in dieser Antwort angethane Insulte. Noch ehe ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, trat Herr Bruff zu mir ins Zimmer, um mit mir über Geschäfte zu reden. Ich lehnte die geschäftliche Besprechung sofort ab und legte ihm den ganzen Fall vor. Er zeigte sich eben so unfähig mir einen Aufschluß zu geben, wie Mrs. Merridew. Ich fragte ihn, ob etwa verläumderische Gerüchte über mich Rachel zu Ohren gekommen seien; ob sie, so lange sie unter Herrn Bruff’s Dach gewohnt hätte, je von mir gesprochen habe? Niemals. Ob sie sich während meiner langen Abwesenheit nicht einmal erkundigt habe, ob ich noch am Leben oder todt sei? Niemals war eine derartige Frage über ihre Lippen gekommen.
Ich zog den Brief aus meiner Brieftasche, welchen die arme Lady Verinder mir von Frizinghall aus an dem Tage geschrieben hatte, an welchem ich ihr Haus in Yorkshire verließ, und lenkte Herrn Bruffs Aufmerksamkeit auf die folgenden beiden Sätze in demselben:
»Der schätzbare Beistand, den Du bei der Untersuchung nach dem verlorenen Edelstein geleistet hast, erscheint Rachel in ihrem gegenwärtigen furchtbaren Gemüthszustand noch als eine unverzeihliche Beleidigung. Durch Dein ungestümes Vorgehen in dieser Angelegenheit hast Du die Last der Angst, die sie zu tragen gehabt, vermehrt, indem Du durch Deine Thätigkeit ihr Geheimniß mit einer Entdeckung bedroht hast.« ——
»Ist es möglich,« fragte ich, »daß die hier geschilderten Gefühle gegen mich noch jetzt in ihrer ganzen Bitterkeit fortdauern?«
Herr Bruff sah unabsichtlich zerstreut aus.
»Wenn Sie auf eine Antwort bestehen,« sagte er, »so muß ich bekennen, daß ich Ihnen keine andere Erklärung von Fräulein Rachel’s Benehmen zu geben weiß.«
Ich klingelte und beorderte meinen Diener, meinen Koffer zu packen und mir ein Coursbuch zu verschaffen Herr Bruff fragte mich erstaunt, was ich wolle.
»Ich will mit dem nächsten Zuge nach Yorkshire,« antwortete ich.
»Und zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?«
»Herr Bruff, der Beistand, den ich unschuldiger Weise bei der Untersuchung über den Verlust des Diamanten geleistet habe, war vor ungefähr einem Jahre in Rachel’s Augen eine unverzeihliche Beleidigung und erscheint ihr noch heute so. Das ist eine für mich unerträgliche Lage! Ich bin entschlossen, das Geheimnis, ihres gegen ihre Mutter beobachteten Schweigens und ihrer Feindschaft gegen mich aufzuklären. Wenn es mit Zeit, Mühe und Geld zu bewerkstelligen ist, so will ich den Dieb des Mondsteins herausbringen.«
«Der würdige alte Herr versuchte Einwendungen zu machen, mich zur Vernunft zu bringen, kurz seine Pflicht gegen mich zu thun. Ich war taub gegen alle seine Vorstellungen. Keine Gewalt auf Erden würde in jenem Augenblick meinen Entschluß haben erschüttern können.
»Ich werde,« fuhr ich fort, »die Untersuchung an dem Punkte wieder aufnehmen, wo ich sie habe fallen lassen; und ich werde sie Schritt für Schritt weiter verfolgen, bis ich an die Gegenwart gelange. In der Beweiskette, wie sie bei meiner Abreise vorlag, fehlen Glieder, welche Gabriel Betteredge liefern kann. Und zu ihm will ich gehen!«
Gegen Sonnen-Untergang stand ich an jenem Abend wieder auf der wohlbekannten Terrasse und blickte auf das friedliche alte Landhaus. Der Erste, der mir an dem verödeten Platze begegnete, war der Gärtner. Er hatte Betteredge vor einer Stunde verlassen, wo er sich in gewohnter Weise auf dem Hofe hinter dem Hause gesonnt hatte. Der Ort war mir wohlbekannt und ich erklärte, ihn selbst dort aufsuchen zu wollen.
Ich ging auf den altbekannten Wegen um das Haus und blickte durch das offene Thor auf den Hof.
Da saß er, der liebe alte Freund jener glücklichen Tage, die nie wiederkehren sollten, in dem alten Winke! in dem alten Lehnstuhl, seine Pfeife im Munde, seinen Robinson Crusoe auf dem Schooße, mit seinen beiden Hunden, die zu seinen beiden Seiten schlummerten!
So wie ich stand warfen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne meinen Schatten gerade vor mich hin. Sei es, daß die Hunde denselben erkannten, oder daß ihr scharfer Geruch sie meine Nähe spüren ließ: sie sprangen knurrend auf. Auch der Alte wurde aufmerksam, beruhigte die Thiere mit einem Wort und hielt dann die Hand vor seine schwachgewordenen Augen und blickte forschend nach der Gestalt am Thor.
Meine eigenen Augen waren voll Thränen ich mußte einen Augenblick warten, bevor ich es wagen konnte, mit ihm zu reden.
Zweites Capitel.
»Betteredge!« rief ich, indem ich auf das wohlbekannte Buch auf seinen Knieen hinwies, »hat Robinson Crusoe Ihnen diesen Abend vorausgesagt, daß Sie Franklin Blake zu erwarten hätten?«
»Bei dem Allmächtigem Herr Franklin!« rief der alte Mann, »gewiß und wahrhaftig hat Robinson Cruso das gethan!«
Mit meiner Hilfe stand er auf und blickte einen Augenblick abwechselnd aus mich und auf Robinson Crusoe, ersichtlich ungewiß darüber, wer von uns Beiden ihn am meisten überrascht habe. Seine Entscheidung fiel endlich zu Gunsten des Buches aus. Mit beiden Händen hielt er es offen vor sich in die Höhe und betrachtete das wundervolle Buch mit dem Ausdruck einer großen Erwartung, als ob er darauf gefaßt sei, Robinson Crusoe selbst aus den Seiten hervor und leibhaftig zwischen uns treten zu sehen.
»Da steht es, Herr Franklin!« sagte er, sobald er seine Sprache wiedergewonnen hatte. »So wahr ich lebe, Herr Franklin, hier steht die Stelle, die ich, einen Augenblick, ehe Sie hereinkamen, gelesen habe! Seite 156 wie folgt: »Ich stand wie vom Blitz gerührt oder als ob ich eine Erscheinung gesehen habe.« Wenn das nicht so viel heißt, als auf die plötzliche Erscheinung des Herrn Franklin Blake vorbereiten, so hat die englische Sprache gar keinen Sinn mehr,« sagte Betteredge, indem er das Buch zuschlug und endlich eine seiner Hände frei bekam, um damit meine dargebotene Rechte zu ergreifen.
Ich war natürlich unter den obwaltenden Umständen darauf gefaßt gewesen, von ihm mit Fragen überhäuft zu werden. Aber der mächtigste Antrieb bei dem alten Diener war doch der der alten Gastlichkeit, sobald ein Mitglied der Familie (gleichviel in welcher Veranlassung) als Besucher in dem Hause erschien.
»Treten Sie näher, Herr Franklin,« sagte er, indem er die Thür hinter sich mit einer sonderbaren altmodischen Verbeugung öffnete. »Was Sie herführt, sollen Sie mir später» erzählen, vor allen Dingen muß ich es Ihnen bequem machen. Die Dinge haben sich traurig verändert, seit Sie abgereist sind. Das Haus ist zugeschlossen und die Dienstboten sind fort. Aber einerlei! Ich will Ihnen Ihr Mittagessen. kochen; und die Gärtnersfrau wird Ihnen Ihr Zimmer in Ordnung halten —— und wenn noch eine Flasche von unserm famosen Latour im Keller liegt, so sollen Sie sie ausstechen, Herr Franklin. Ich heiße Sie willkommen Herr Franklin, herzlich willkommen!« sagte der gute Alte, der mannhaft darnach rang, den trüben Geist des verlassenen Hauses keine Gewalt über sich gewinnen zu lassen und mich mit der verbindlichen und gastfreien Ausnahme vergangener Tage zu empfangen.
Es that mir leid, ihm nicht zu Willen sein zu können, aber das Haus gehörte jetzt Rachel. Durfte ich nach dem, was in London vorgefallen war, darin essen oder schlafen? Das einfachste Gefühl der Selbstachtung machte es mir absolut unmöglich, die Schwelle zu betreten.
Ich ergriff Betteredge’s Arm und führte ihn in den Garten. Es half nichts, ich mußte ihm die Wahrheit sagen. Die Wendung der Dinge rief einen schweren Conflict zwischen seiner Anhänglichkeit für Rachel und seiner Anhänglichkeit für mich hervor. Seine Meinung sprach er dann in seiner gewöhnlichen geraden Weise aus, sie athmete den Geist der positivsten mir bekannten Philosophie — der Philosophie der Betteredge’sschen Schule.
»Fräulein Rachel hat ihre Fehler, das habe ich nie geleugnet,«« fing er an, »und einer ihrer Fehler besteht darin, daß sie sich zuweilen zu sehr auf’s hohe Pferd setzt. Sie hat es versucht, Sie zu überreiten, und Sie haben es sich gefallen lassen. Mein Gott, Herr Franklin, kennen Sie die Frauen noch nicht besser? Sie haben mich doch von meiner Seligen reden hören?«
Ich hatte ihn oft genug von seiner verstorbenen Frau reden hören, immer als von seinem mustergültigen Vorbild der eingeborenen Schwachheit und Verderbtheit des andern Geschlechts. In dieser Eigenschaft führte Er sie auch jetzt vor.
»Nun wohl, Herr Franklin, hören Sie mich! Verschiedene Frauenzimmer haben verschiedene Arten, sich auf’s hohe Pferd zu setzen. Meine Selig; pflegte dieses Lieblingsthier der Frauen zu reiten, so oft ich ihr irgend etwas versagt hatte, woran ihr Herz hing. So oft ich an diesen Tagen von meiner Arbeit nach Hause zurück kehrte, rief mir meine Frau von der Küche aus zu, daß sie nach der brutalen Behandlung, die ich ihr habe widerfahren lassen, nicht im Stande gewesen sei, mir mein Mittagessen zu kochen. Ich ertrug das eine Zeitlang, gerade wie Sie es jetzt von Fräulein Rachel ertragen. Endlich war meine Geduld erschöpft. Ich ging hinunter, nahm meine Frau, natürlich ganz freundschaftlich, auf den Arm, trug sie ohne Weiteres in das beste Zimmer, wo sie ihre Gesellschaften zu empfangen pflegte, und sagte: »Hier ist der rechte Platz für Dich, liebes Kind!« und ging dann in die Küche zurück, schloß mich dort ein, zog meinen Rock aus, krempelte meine Hemdsärmel auf und kochte mir selbst mein Mittagessen.
Als es fertig war, servirte ich es mir so gut ich es verstand und genoß es von ganzem Herzen. Dann steckte ich mir meine Pfeife an und trank mein Glas Grog; und dann räumte ich den Tisch wieder ab, wusch das Geschirr, reinigte Messer und Gabeln, legte die Sachen weg Und fegte den Heerd. Als die Sachen dann wieder so rein und glänzend waren, wie sie es nur sein konnten, öffnete ich die Thür und ließ Mrs. Betteredge wieder ein.
»Jetzt habe ich zu Mittag gegessen, liebes Kind,« sagte ich, »und ich hoffe, Du wirst zugeben, daß ich die Küche dabei so rein gehalten habe, wie Du es nur irgend wünschen kannst.« Darnach brauchte ich, so lange meine Frau lebte, mein Mittagessen nicht wieder selbst zu kochen, Herr Franklin. Moral: Sie haben« sich Fräulein Rachel in London gefügt, fügen Sie sich ihr nicht auch in Yorkshire Kommen Sie wieder in’s Haus!«
Vergebens! Ich konnte meinen alten Freund nur versichern, daß selbst seine Ueberredungskunst an mir in diesem Falle verloren sei.
»Es ist ein schöner Abend,« sagte ich, »ich werde nach Frizinghall gehen und dort im Hotel absteigen und Sie müssen morgen früh zu mir kommen und mit mir frühstücken. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Betteredge schüttelte bedenklich den Kopf.
»Das thut mir herzlich leid,« sagte er, »ich hatte gehofft, zu hören, das Alles zwischen Ihnen und Fräulein Rachel wieder in schönster Ordnung sei. Wenn Sie durchaus Ihren Willen haben müssen,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »so brauchen Sie eines Bettes wegen heute Abend nicht nach Frizinghall zu gehen, das können Sie näher haben. Kaum zwei Meilen von hier ist die Hotherstone’sche Meierei. Gegen dieses Haus können Sie, in Rücksicht auf Fräulein Rachel, kaum etwas einzuwenden haben,« fügte der Alte schlau hinzu. »Hotherstone wohnt auf seinem eigenen Grund und Boden.«
Ich erinnerte mich des Hauses sofort. Es stand in einem geschützten Thal, an den Ufern des hübschesten Flusses in jenen Theilen Yorkshire’s, und der Eigenthümer hatte ein Fremden-Schlaf- und Wohnzimmer, welche er an Künstler, Angler und sonstige Touristen zu vermiethen pflegte. Eine angenehmere Wohnung während meines Aufenthalts in der Gegend hätte ich mir nicht wünschen können.
»Sind die Zimmer frei?« fragte ich.
»Mrs. Hotherstone selbst,« sagte er," »hat mich noch gestern gebeten, ihr Haus zu empfehlen.«
»Ich nehme die Zimmer mit dem größten Vergnügen, Betteredge.«
Wir gingen wieder nach dem Hof zurück, wo ich meinen Reisesack gelassen hatte. Nachdem er einen Stock durch den Griff gesteckt und den Sack über die Schulter genommen hatte, schien Betteredge wieder in das fassungslose Erstaunen zu verfallen, welches mein plötzliches Erscheinen, als ich ihn im Lehrstuhle überraschte, hervorgerufen hatte. Er blickte mit dem Ausdruck noch größerer Ungläubigkeit nach mir.
»Ich habe eine gute Anzahl Jahre in der Welt gelebt,« sagte dieser beste und theuerste aller alten Diener, »aber was ich jetzt erlebe, hofften meine Augen nie zu sehen. Da steht das Haus und hier steht Herr Franklin Blake —— hol mich der Teufel! —— kehrt der eine dem andern den Rücken und geht in eine gemiethete Wohnung!«
Er ging kopfschüttelnd und bedeutungsvoll murrend voran.
»Nun kann nur noch eine wunderbarere Sache passiren,« sagte er, indem er den Kopf über die Schulter umdrehte. »Das Nächste, was Sie thun werden, Herr Franklin, wird sein, daß Sie mir die 7 Shillinge 6 Pence zurückzahlen, die Sie als Knabe von mir geborgt haben.«
Dieser sarkastische Hieb brachte ihn in bessere Laune gegen sich selbst und gegen mich. Wir verließen das Haus und gingen am Pförtnerhause vorbei zum Gitter hinaus. Nachdem er Haus und Garten verschlossen hatte, legten die Pflichten der Gastfreundschaft Betteredge keinen Zwang mehr auf und konnte er seiner Neugierde freien Lauf lassen.
Er stand einen Augenblick still, bis ich neben ihm ging. »Schöner Abend für einen Spaziergang, Herr Franklin,« sagte er, als ob wir uns in diesem Augenblick zufällig begegnet wären, »angenommen, Sie wären nach dem Hotel in Frizinghall gegangen.«
»Ja?«
»So hätte ich die Ehre gehabt, morgen mit Ihnen zu frühstücken.«
»Nun, so frühstücken Sie jetzt mit mir in Hotherstone’s Meierei.«
»Sehr verbunden, Herr Franklin, für Ihre Güte. Aber es war nicht grade das Frühstück, worauf es mir ankam. Ich meine, Sie hätten vorhin bemerkt, daß Sie mir etwas zu sagen haben. Wenn es kein Geheimniß ist,« sagte Betteredge, indem er plötzlich den krummen Weg verließ und den graden betrat, »ich brenne vor Begierde, zu erfahren, was Sie so unvermuthet hierher geführt hat.«
»Was hat mich denn früher hierher geführt?« fragte ich.
»Der Mondstein, Herr Franklin Aber was führt Sie jetzt hierher?«
»Wieder der Mondstein, Betteredge.«
Der alte Mann stand plötzlich still und sah mich in dem grauen Dämmerlicht an, als ob er s« seinen eigenen Augen nicht traue.
»Wenn das ein Scherz sein soll,« sagte er, »so fürchte ich, ich bin auf meine alten Tage ein wenig stumpf geworden. Ich verstehe ihn nicht.«
»Es ist kein Scherz« antwortete ich; »ich bin hergekommen, um die Untersuchung wieder aufzunehmen, die man fallen gelassen hatte, als ich England verließ. Ich bin hergekommen, zu thun, was vor mir noch Keiner gethan hat —— herauszufinden, wer den Diamanten gestohlen hat.«
»Lassen Sie es mit dem Diamanten gut sein, Herr Franklin! Folgen Sie meinem Rath! Lassen Sie es damit gut sein! Dieser verwünschte indische Edelstein hat noch Jedermann, der ihm nahe gekommen ist, irre geleitet. Verschwenden Sie nicht Ihr Geld und Ihre Laune in Ihrer besten Lebenszeit damit, sich mit dem Mondstein zu befassen. Welchen Erfolg können Sie sich versprechen, wenn —— mit aller Achtung vor Ihrer Person sei es gesagt —— Sergeant Cuff selbst daran gescheitert ist? Sergeant Cuff!« wiederholte Betteredge, indem er den Zeigefinger bedeutungsvoll vor mir erhob, »der größte Polizei-Beamte in England!«
»Mein Entschluß ist gefaßt, mein alter Freund; selbst Sergeant Cuff kann mich nicht abschrecken Beiläufig, ich kann früher oder später in den Fall kommen, ihn sprechen zu müssen. Haben Sie kürzlich irgend etwas von ihm gehört?«
»Der Sergeant wird Ihnen zu nichts helfen, Herr Franklin.«
»Warum nichts«
»Seit Ihrer Abreise hat sich in der polizeilichen Welt etwas Merkwürdiges zugetragen. Der große Cuff hat sich von den Geschäften zurückgezogen Er hat sich ein kleines Landhaus in Dorking gekauft und lebt nur für die Rosenzucht. Das weiß ich von ihm selbst, Herr Franklin. Er hat die weiße Moosrose gezogen, ohne sie auf die wilde Rose zu pfropfen. Und der Gärtner Begbie soll nach Dorking kommen und sich endlich von dem Sergeanten für überwunden erklären.«
»Es kommt nicht viel darauf an,« sagte ich, »ich muß mich dann ohne Sergeant Cuff’s Beistand behelfen und damit beginnen, mich Ihnen anzuvertrauen.«
Vermuthlich hatte ich diese Worte etwas sorglos hingeworfen. Gewiß ist, daß Betteredge von der Antwort, die ich ihm eben gegeben hatte, etwas unangenehm berührt war.
»Sie könnten sich schlimmeren Leuten anvertrauen, Herr Franklin —— das kann ich Sie versichern,« sagte er etwas scharf.
Der Ton, in dem er dieses sprach, und eine gewisse Unsicherheit, die sich dabei in seinen Zügen malte, brachten mich dabei aus den Gedanken, daß er im Besitz einer Kunde sei, welche er mir mitzutheilen zaudere.
»Ich erwarte« sagte ich, »daß Sie mir behilflich sein werden, die Bruchstücke von Beweisen, welche Sergeant Cuff zurückgelassen hat, zusammenzulesen ich weiß, daß Sie das können. Können Sie nicht noch mehr thun?«
»Was können Sie noch mehr von mir erwarten?« fragte Betteredge mit dem Anschein der demüthigsten Ergebenheit.
»Ich halte mich durch das, was Sie eben selbst gesagt haben, zu mehr berechtigt.«
»Reine Renommage, Herr Franklin,« erwiderte der Alte eigensinnig »Manche Leute sind geborne Prahler und bleiben es bis an ihr Ende. Und so einer bin ich.«
Es gab nur ein Mittel, ihm beizukommen. ich appellirte an sein Interesse für Rachel und für mich.
»Betteredge, würde es Sie freuen zu hören, daß Rachel und ich wieder gute Freunde geworden seien?«
»Meine Dienste müssen Ihrer Familie von sehr geringem Nutzen gewesen sein, wenn Sie daran zweifeln können.«
»Erinnern Sie sich, wie Rachel mich behandelte, ehe ich England verließ?«
»So gut, als ob es gestern gewesen wäre.« Mylady, selbst schrieb Ihnen einen Brief darüber, und Sie hatten die Güte, mir den Brief zu zeigen. Er besagte, daß Fräulein Rachel sich durch den Antheil, welchen Sie an dem Versuch genommen, ihren Diamanten wieder ausfindig zu machen, tödtlich von Ihnen beleidigt glaube. Und weder Mylady noch Sie, noch sonst Jemand wußte, dieses Räthsel zu lösen.«
»Vollkommen richtig, Betteredge! Und nun kehre ich von meinen Reisen zurück und finde sie noch immer ebenso gegen mich gesonnen. Ich wußte im vorigen Jahr, daß der Diamant die Ursache dieses Grolls sei, und ich weiß, daß der Diamant auch jetzt noch die Ursache des fortdauernden Grolls ist. Ich habe versucht sie zu sprechen, aber sie will mich nicht sehen. Ich habe versucht ihr zu schreiben, aber sie will mir nicht antworten. Wie in aller Welt soll ich eine Aufklärung in dieser Angelegenheit erlangen? Die einzige Möglichkeit dazu, die Rachel selbst mir gelassen hat, ist, dem Verlust des Mondsteins weiter nachzuforschen.«
Mit diesen Worten hatte ich ihm augenscheinlich eine Ansicht über den Fall eröffnet, die ihm bis jetzt verschlossen gewesen war. Er that eine Frage, die mich überzeugt, daß ich nicht umsonst gesprochen hatte.
»Sie tragen keinen Groll mehr gegen Fräulein Rachel im Herzen, Herr Franklin?«
»Ich war etwas aufgebracht,« antwortete ich, »als ich London verließ. Aber das ist jetzt völlig vorüber. Alles, was ich jetzt wünsche, ist, zu einer Verständigung mit Rachel zu gelangen.«
»Sie fürchten auch nichts, Herr Franklin, von etwaigen Entdeckungen, die Sie in Betreff Fräulein Rachel’s machen könnten?«
Ich verstand den gegen jeden Zweifel eifersüchtigen Glauben an seine junge Herrin, welcher ihm diese Worte eingab.
»Ich habe einen so festen Glauben an Rachel, wie Sie,« antwortete ich. »Die vollste Enthüllung ihres Geheimnisses kann nichts an den Tag bringen, was ihren Platz in Ihrer oder meiner Achtung verrücken könnte.«
Bei diesen Worten verschwanden Betteredges letzte Scrupel.
»Wenn ich Unrecht thue, Ihnen zu helfen, Herr Franklin,« erklärte er sich, »so ist Alles, was ich zu meiner Rechtfertigung sagen kann, daß ich in der Erkenntniß dieses Unrechts so unschuldig wie ein neugebornes Kind bin. Ich kann Sie auf die Bahn der Entdeckung bringen, wenn Sie dann nur allein aus derselben weiter gehen können. Sie erinnern sich des armen Mädchens, das bei uns im Hause war, Rosanna Spearman?«
»Gewiß!«
»Sie glaubten immer, sie trage sich mit einem Bekenntniß über die Mondstein-Angelegenheit, das sie Ihnen habe ablegen wollen?«
»Ich wußte mir wenigstens ihr sonderbares Benehmen nicht anders zu erklären.«
»Diesen Zweifel können Sie heben, Herr Franklin, sobald Sie wollen.«
Jetzt war es an mir, stillzustehen Vergebens versuchte ich es, in der einbrechenden Dämmerung in seinen Zügen zu lesen. In meiner Ueberraschung fragte ich etwas ungeduldig, was er damit meine.
»Nur ruhig, Herr Franklin!« erwiderte Betteredge. »Ich meine, was ich sage. Rosanna Spearman hat einen versiegelten, an Sie adressirten Brief hinterlassen.«
»Wo ist der Brief?«
»In den Händen einer Freundin von ihr in Cobb’s Hole. Sie müssen bei Ihrem letzten Aufenthalt von der hinkenden Lucis, einem lahmen Mädchen mit einer Krücke, gehört haben.«
»Der Tochter des Fischers?«
»Eben der, Herr Franklin.«
»Warum wurde mir der Brief nicht nachgeschickt?«
»Die hinkende Lucy hat ihren eigenen Kopf, Herr Franklin, Sie wollte den Brief nur Ihnen selbst übergeben, und Sie hatten England verlassen, bevor ich Ihnen deshalb schreiben konnte.«
»Lassen Sie uns umkehren, Betteredge, und gleich den Brief holen!«
»Heute Abend ist es zu spät, Herr Franklin. Die Leute an unserer Küste sind sehr sparsam mit dem Verbrauch von Licht und in Cobb’s Hole gehen sie früh zu Bette.«
»Dummes Zeug! In einer halben Stunde können wir da sein!«
»Vielleicht aber würden Sie, wenn Sie hinkämen, die Thür verschlossen finden. Dabei deutete er auf ein unter uns flimmerndes Licht, und in demselben Augenblick hörte ich durch die Stille der Nacht das Murmeln eines Baches.
»Hier ist die Meierei, Herr Franklin! Machen Sie es sich für die Nacht bequem und kommen Sie gefälligst morgen früh zu mir.«
»Wollen Sie dann mit mir nach der Fischerhütte gehen?«
»Ja, Herr Franklin.«
»Und recht früh?«
»So früh Sie wollen.«
Wir stiegen den Pfad hinab, der zu der Meierei führte.
Drittes Capitel.
Von meinem Aufenthalt in der Hotherstone’schen Meierei habe ich nur eine höchst unbestimmte Vorstellung.
Ich erinnere mich nur noch eines herzlichen Willkommens; eines opulenten Abendessens welches zur Ernährung eines ganzen orientalischen Dorfes hingereicht haben würde; eines allerliebsten sauberen Schlafzimmers in welchem nichts vom Uebel war, als jenes abscheuliche Ueberbleibsel der Thorheit unserer Vorfahren, ein Federbett; einer schlaflosen Nacht mit starkem Verbrauch von Zündhölzern und häufigem Anzünden einer einzigen kleinen Kerze, und eines Gefühls außerordentlicher Erleichterung, als die Sonne aufging und sich die Aussicht eröffnete, bald aufstehen zu können.
Ich hatte, wie erwähnt, am Abend mit Betteredge verabredet, daß ich ihn nach Cobb’s Hole abholen solle, so früh ich wolle, was für meine Ungeduld, in den Besitz des Briefes zu gelangen, so viel sagen wollte wie so früh ich könne.
Ohne das Frühstück in der Meierei abzuwarten, steckte ich ein Stück Brot in die Tasche und machte mich auf den Weg, obgleich ich mir nicht verhehlen konnte, daß ich den vortrefflichen Betteredge vielleicht noch im Bette finden würde. Zu meinem großen Trost fand ich ihn in Betreff des bevorstehenden Ereignisses ebenso aufgeregt, wie ich selbst es war. Ich fand ihn fertig und mit einem Stock in der Hand auf mich wartend.
»Wie geht s Ihnen, Betteredge?«
»Schlecht, Herr Franklin.«
»Thut mir sehr leid. Was fehlt Ihnen?«
»Ich laborire an einer neuen Krankheit, Herr Franklin, die ich selbst erfunden habe. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber Sie bekommen sicher dieselbe Krankheit noch ehe der Morgen vorüber ist.«
»Hol’ Sie der Teufel!«
»Fühlen Sie nicht eine unbehagliche Wärme im Magen, Herr Franklin, und ein fatales Klopfen im Kopf? Wie, noch nicht? Dann bekommen Sie es in Cobb’s Hole, Herr Franklin. Ich nenne die Krankheit das Entdeckungsfieber; ich bin zum ersten Mal in Sergeant Cuff’s Gesellschaft davon befallen worden.«
»Ho, ho! und das Heilmittel wird in diesem Fall wohl in dem Eröffnen von Rosanna Spearman’s Brief bestehen. Kommen Sie mit und lassen Sie uns ihn holen.«
Trotz der frühen Morgenstunde fanden wir doch die Fischerfrau schon in ihrer Küche beschäftigt. Nachdem mich Betteredge vorgestellt hatte, erwies mir die gute Frau Yolland die Ehre einer Höflichkeit, die, wie ich später erfuhr, nur für Fremde von Distinction bestimmt war. Sie setzte eine Flasche Genever und ein Paar reine Pfeifen auf den Tisch und eröffnete die Ueberraschung mit der Frage:
»Was giebt es Neues von London, Herr?«
Bevor ich noch eine Antwort auf diese viel umfassende Frage finden konnte, trat aus einem dunkeln Winkel der Küche eine Gestalt auf mich zu. Ein bleiches, hageres, verwegen aussehendes Mädchen mit auffallend schönem Haar und mit einem kühnen, wilden Blick im Auge hinkte an einer Krücke an den Tisch heran, an dem ich saß, und sah mich an, als ob ich für sie ein Gegenstand des Interesses und des Schauders zugleich sei, bei dessen Anblick sie wie von einem Zauber gebannt schien.
»Herr Betteredge,« sagte sie, ohne ihre Augen von mir abzuwenden, »sagen Sie, bitte, noch einmal seinen Namen.«
»Der Name dieses Herrn,« sagte Betteredge mit einer starken Betonung des »Herrn,« »ist Herr Franklin Blake.«
Bei diesen Worten kehrte mir das Mädchen den Rücken zu und verließ plötzlich das Zimmer. Die gute Frau Yolland brachte, glaub’ ich, einige Entschuldigungen über das sonderbare Benehmen ihrer Tochter vor und Betteredge übersetzte dieselben vermuthlich in höfliches Englisch. Ich weiß darüber nichts Bestimmtes mehr. Meine Aufmerksamkeit war durch das Aufhorchen nach dem Klang der Krücke des Mädchens ganz absorbiert. Bum, bum, die hölzerne Treppe hinauf; bum, bum, durch das Zimmer über unsern Köpfen; bum, bum, die Treppe wieder hinab —— da stand wieder Die Gestalt an der offenen Thür, einen Brief in der Hand, mich zu sich hinauswinkend.
Ich ließ die Entschuldigungen der Alten im Stich und folgte dem sonderbaren Geschöpf, das rasch und rascher vor mir herhinkte, an den Strand hinab. Sie führte mich hinter einige Böte, wo wir von den wenigen Menschen im Fischerdorf ungesehen und ungehört blieben, stand still und sah mir zum ersten Mal in’s Gesicht.
»Stehen Sie still,« sagte sie, »ich muß Sie ansehen.«
Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht zu mißdeuten. Ich flößte ihr die tiefste Abneigung und den furchtbarsten Widerwillen ein. Es würde zu eitel klingen, wenn ich sagen wollte, daß mich noch nie in meinem Leben ein weibliches Wesen so angesehen hat. Ich will mich lieber bescheidener so ausdrücken, daß noch nie ein weibliches Wesen es mich hatte merken lassen. Die Dauer, während deren ein Mann es ertragen kann, sich unter gewissen Umständen betrachten zu lassen, hat ihre Grenzen. Ich versuchte es, die Aufmerksamkeit der hinkenden Lucy auf einen weniger widerwärtigen Gegenstand zu lenken, als mein Gesicht es für sie zu sein schien.
»Ich glaube, Sie haben mir einen Brief zu übergeben,« fing ich an, »ist es der Brief, den Sie da in der Hand haben?«
»Sagen Sie das noch einmal,« war die einzige Antwort, die ich erhielt.
Ich wiederholte die Worte wie ein artiges Kind, das seine Lection lernt.
»Nein,« sagte das Mädchen mit sich selbst redend, aber die Augen noch immer unbarmherzig auf mich gerichtet. »Ich begreife nicht, was sie in seinem Gesicht gefunden hat.« Auf einmal wandte sie den Blick von mir ab und stützte den Kopf matt auf den Griff ihrer Krücke »O, mein armes Kind« sagte sie zum ersten Mal, seit ich ihre Stimme gehört hatte, in einem sanfteren Ton. »O, mein geliebter Engel! Was hast Du an diesem Mann gefunden?« Sie erhob ihren Kopf wieder wild und sah mich an. »Können Sie essen und trinken?« fragte sie.
Ich gab mir die größte Mühe, ernsthaft zu bleiben und antwortete »Ja!«
»Können Sie schlafen?«
»Ja«
»Fühlen Sie keine Gewissensbisse, wenn Sie ein armes Dienstmädchen sehen?«
»Durchaus nicht! Warum sollte ich?«
Plötzlich warf sie mir den Brief in’s Gesicht.
»Da, nimm ihn!« rief sie wüthend. »In meinem Leben habe ich Dich nicht gesehen; Gott der Allmächtige behüte mich davor, daß ich Dich je wieder zu sehen bekomme.«
Mit diesen Abschiedsworten hinkte sie, so rasch sie konnte, fort. Die einzige Erklärung, die ihr Betragen für mich zuließ, hat sich jeder Leser ohne Zweifel bereits selbst gegeben. Ich konnte nur annehmen, daß sie verrückt sei.
Nachdem ich zu diesem unvermeidlichen Schluß gelangt war, wandte ich mich dem interessanteren Gegenstand der Erforschung zu, der sich nun in Rosanna Spearman’s Brief darbot. Die Adresse lautete wie folgt: »Für Herrn Franklin Blake. Ihm eigenhändig zu übergeben (und Niemandem andern anzuvertrauen) von Lucy Yolland.«
Ich erbrach das Siegel. Das Couvert enthielt einen Brief und dieser enthielt wieder einen Streifen Papier.
Ich las zuerst den Brief:
»Mein Herr! Wenn Sie mein Betragen gegen Sie, während Ihres Aufenthaltes in dem Hause meiner Herrin, Lady Verinder, verstehen wollen, so thun Sie, was Ihnen in dem einliegenden Memorandum zu thun geheißen wird und thun Sie es, ohne daß irgend Jemand dabei wäre, der Ihnen zusehen könnte. Ihre ergebene Dienerin Rosanna Spearman.«
Jetzt nahm ich den Papierstreifen in die Hand. Der Inhalt desselben lautet wörtlich wie folgt:
»Memorandum: Bei Eintritt der Fluth nach dem Zitterstrand gehen. Auf die Südspitze hinausgehen, bis ich an den.Punkt gelange, wo der Südspitzen-Leuchtthurm und die Flaggenstange aus der Küstenwacht-Station über Cobb’s Hole eine Linie bilden. Einen Stock oder irgend etwas Grades auf die Felsen legen, um meine Hand genau in der Richtung des Leuchtthurms und der Flaggenstange zu leiten. Dabei darauf achten, daß das eine Ende des Stocks sich an der scharfen Kante der Felsen an der Seite derselben befinde, welche den Zitterstrand überhängt. In der Richtung dieses Stocks, von dem Ende desselben her, welches dem Leuchtthurm zugekehrt ist, durch das Seegras hindurch nach der Kette fühlen. Mit der Hand, sobald ich die Kette gesunden habe, dieselbe verfolgen, bis ich an das Stück derselben gelange, welches über die Kante des Felsens in den Zitterstrand hinabgeht. Dann an der Kette ziehen.«
Äls ich eben die letzten im Original unterstrichenen Worte gelesen hatte, hörte ich Betteredge’s Stimme hinter mir. Der Erfinder des Entdeckungsfiebers war einmal wieder dieser Krankheit widerstandslos in die Hände gefallen.
»Ich kann es nicht länger aushalten, Herr Franklin Was steht in dem Brief? Um Gottes willen, sagen Sie uns, was steht in dem Brief?«
Ich überreichte ihm den Brief und das Memorandum. Den Ersteren las er anscheinend ohne besonderes Interesse. Einen umso größeren Eindruck brachte das Memorandum auf ihn hervor.
»Sergeant Cuff hat es vorausgesagt,« rief Betteredge. »Von Anfang an hat er behauptet, daß sie ein Memorandum über den Ort des Verstecks habe. Und hier haben wir es. So wahr mir Gott helfe, hier haben Sie den Schlüssel zu dem Räthsel in Händen, an dessen Lösung wir uns Alle, von dem großen Cuff an, vergebens abgearbeitet haben.«
»Wir haben eben jetzt Ebbe, wie Sie sehen. Wie lange wird es dauern, bis die Fluth wieder kommt?«
Er blickte um sich und sah in einiger Entfernung von uns einen Burschen mit dem Flicken eines Netzes beschäftigt sitzen: »Tommy Bright!« rief er so laut er konnte.
»Zu Befehl, Herr,« rief Tommy zurück.
»Wann kommt die Fluth?«
»In einer Stunde!«
Wir sahen Beide auf unsere Uhren.
»Wir können den Strand entlang nach dem Zittersand gehen, Herr Franklin,« sagte Betteredge, »und haben noch Zeit genug. Was meinen Sie dazu?«
»Kommen Sie.«
Auf unserem Wege nach dem Zitterstrand ließ ich mir von Betteredge mein Gedächtniß in Betreff der Umstände, welche sich auf Rosanna Spearman’s Verhalten bei der Untersuchung von Sergeant Cuff bezogen, auffrischen. Mit dem Beistand meines alten Freundes gelangte ich bald wieder zu einem völlig klaren Ueberblicke der Ereignisse in ihrer Folge: Rosanna’s Reise nach Frizinghall, als das ganze Haus sie krank auf ihrem Zimmer glaubte —— Rosanna’s mysteriöse Benutzung der Nachtzeit bei verschlossenen Thüren und dem während der ganzen Nacht brennenden Licht. Rosanna’s verdächtiger Kauf der lackierten Zinnbüchsen und der beiden Hundeketten von Frau Yolland. Die feste Ueberzeugung des Sergeanten, daß Rosanna etwas im Zittersand versteckt habe und die vollständige Ungewißheit des Sergeanten über die Natur des versteckten Gegenstandes —— alle diese sonderbaren Ergebnisse der verfehlten Nachforschung nach dem Verbleib des Mondsteins standen mir wieder vollkommen klar vor Augen, als wir den Zitterstrand erreichten und auf den die Südspitze genannten Felsriffen zusammen ins Meer hinaus gingen.
Mit Betteredge’s Hilfe stand ich bald so, wie es das Memorandum verlangte, daß ich den Leuchtthurm und die Flaggenstange auf der Küstenwacht-Station in einer Linie sah. Nach weiterer Anleitung des Memorandums gaben wir dann meinem Stock, so genau es der unebene Felsboden irgend zuließ, die rechte Richtung, und sahen dann wieder auf unsere Uhr.
Es waren noch ungefähr zwanzig Minuten. bis zum Eintritt der Fluth. Ich schlug vor, diese Zeit lieber am Strande, als auf dem schlüpfrigen Felsboden abzuwarten.
Am Strande angelangt, wollte ich mich eben niedersetzen, als Betteredge sich zu meiner großen Ueberraschung anschickte, mich zu verlassen.
»Warum wollen Sie fortgehen?« fragte ich.
»Sehen Sie sich den Brief noch einmal an, Herr Franklin,« sagte er, »und Sie werden wissen warum.«
Ein Blick in den Brief erinnerte mich, daß ich darin beauftragt wurde, meine Entdeckung ohne Zeugen vorzunehmen.
»Es wird mir schwer genug, Sie, Herr Franklin, in einem solchen Augenblick zu verlassen,« sagte Betteredge. »Aber das arme Mädchen ist eines schrecklichen Todes gestorben, und ich betrachte es als eine Art heiliger Pflicht, ihr darin zu Willen zu sein. Ueberdies,« fügte er vertraulich hinzu, »verbietet Ihnen der Brief ja nicht, das Geheimniß später mitzutheilen. Ich will da oben im Tannenholz warten, bis Sie mir nachkommen. Halten Sie sich bitte, nicht länger auf, als nöthig. Das Entdeckungsfieber ist bei Gott kein leichtes Uebel unter solchen Umständen.«
Mit dieser Abschiedsmahnung verließ er mich.
Die Frist der Erwartung, so kurz wie sie sich auch nach dem Zeitmaaß berechnete, erschien mir doch, nach dem Maaße aufregender Ungewißheit gemessen, von ungeheurer Dauer. Das war eine der Gelegenheiten, bei welchen sich die unschätzbare Gewohnheit des Rauchens als besonders werthvoll und tröstlich erwies. Ich steckte mir eine Cigarre an und setzte mich am Abhang des Strandes nieder.
Alle Gegenstände glänzten im klarsten Sonnenlicht. Die köstliche Reinheit der Luft machte das bloße Dasein und Athmen zum Genuß. Selbst die einsame kleine Bucht begrüßte den Morgen mit heiterem Antlitz und sogar die nackte, nasse Oberfläche des Zitterstrandes erglänzte in goldigem Schimmer und verbarg die Schrecken ihres falschen fahlen Angesichts unter einem vorübergehenden Lächeln.
Es war der schönste Tag, den ich seit meiner Rückkehr nach England erlebt hatte.
Die Fluth kam heran, bevor meine Cigarre aufgeraucht war. Ich sah, wie sich der Sand zu heben anfing und dann schauerlich erzitterte, als ob in der bodenlosen Tiefe desselben ein Geist des Schreckens lebe und sich schaudernd rege. Ich warf meine Cigarre fort und kehrte wieder nach den Felsen zurück.
Meine Vorschriften in dem Memorandum wiesen mich an, der durch den Stock gebildeten Linie entlang, von der Seite her, die dem Leuchtthurm zunächst lag, zu fühlen.
Ich ging in dieser Weise bis über die Hälfte des Stockes vor, ohne aus irgend etwas, als aus die Felskanten zu stoßen. »Ein oder »zwei Zoll weiter hin jedoch wurde endlich meine Geduld belohnt. In einer engen kleinen, meinem Zeigefinger erreichbaren Spalte fühlte ich die Kette. Bei dem Versuch, der Kette zunächst in der Richtung des Zittersandes nachzufühlen, wurde meine Hand durch einen dicken Büschel Seegras aufgehalten, der sich ohne Zweifel in der, seit dem Verstecken Rosanna’s verflossenen Zeit in die Spalte eingeklemmt hatte.
Es war mir ebenso unmöglich, das Seegras auszureißen, wie mit der Hand durch dasselbe hindurchzudringen. Nachdem ich die durch das Ende des Stocks angedeutete Stelle, welche dem Zittersand zunächst lag, markirt hatte, beschloß ich die fernere Hervorholung der Kette nach meinem eigenen Plan zu bewerkstelligen. Meine Idee war, die Stelle unmittelbar unter den Felsen in der Hoffnung zu sondiren, die verlorne Spur der Kette an der Stelle wiederzufinden, wo sie in den Sand hinab hing.
Ich nahm den Stock auf und kniete am Rande der Südspitze nieder.
In dieser Stellung befand sich mein Gesicht nur einige Fuß von der Oberfläche des Zittersandes entfernt. Der Anblick desselben, der noch von Zeit zu Zeit in schauerlicher Weise erzitterte, aus so großer Nähe, wirkte für einen Augenblick furchtbar aufregend auf meine Nerven. Eine schreckliche Vorstellung, daß das todte Weib auf dem Schauplatz ihres Selbstmordes erscheinen möchte, um mir bei meiner Nachsuchung behilflich zu sein, eine unaussprechliche Angst, sie aus der zitternden Oberfläche des Sandes hervortauchen und auf die Stelle hinweisen zu sehen, bemächtigte sich meiner Einbildungskraft und machte mich in dem warmen Sonnenschein starr vor Kälte. Ich gestehe, daß ich die Augen in dem Moment schließen mußte, wo die Spitze des Stocks den Zittersand zuerst berührte.
Ich nächsten Moment aber, bevor sich noch der Stock mehr als einige Zoll gesenkt haben konnte, war ich das Schreckbild meiner eigenen Vorstellungen wieder los und zitterte vor ungeduldiger Aufregung. Mein unternommener Versuch hatte auf’s Gerathewohl mich auf die rechte Fährte geführt! Der Stock stieß auf die Kette.
Indem ich die Seegraswurzeln fest mit meiner Linken packte, legte ich mich platt auf den Rand des Felsens und fühlte mit der Rechten unter die überhängenden Felskanten. Und meine Rechte faßte die Kette.
Ich zog sie ohne die mindeste Schwierigkeit in die Höhe, bis die an ihrem Ende befestigte lackierte Zinnbüchse zum Vorschein kam.
Die Wirkung des Wassers hatte die Kette derartig mit Rost bedeckt, daß es« mir unmöglich war, sie aus dem Haken, durch den sie an der Büchse befestigt war, loszumachen. Ich nahm die Büchse zwischen die Knie und gelangte mit dem Aufgebot meiner ganzen Kraft dahin, den Deckel zu öffnen. Das Innere war ganz mit einem weißen Stoff angefüllt Ich nahm ihn in die Hand und fand, daß es Leinen war.
Beim Herausziehen des Leinens zog ich auch einen mit demselben zusammengewickelten Brief hervor. Nachdem sich die Adresse angesehen und gefunden hatte, daß sie meinen Namen trug, steckte ich den Brief in die Tasche und nahm das Leinen völlig heraus. Es bildete eine dicke Rolle, die natürlich die Gestalt der Büchse angenommen hatte, in welcher sie so lange aufbewahrt, vor jeder Beschädigung durch Seewasser geschützt gewesen war. Ich trug das Leinen nach dem trocknen Sande des Strandes hin, rollte es hier auseinander und glättete es. Es war unzweifelhaft ein Kleidungsstück, ein Nachthemd. Der obere Theil zeigte beim Ausbreiten unzählige Falten und krause Stellen, weiter nichts. Ich untersuchte dann den untern Theil und entdeckte auf der Stelle den Farbenfleck von der Malerei an der Thür von Rachel’s Boudoir.
Meine Augen blieben wie gebannt aus den Fleck geheftet und mein Geist versetzte mich im Fluge in die vergangenen Tage zurück.
Die Worte Sergeant Cuffs traten mir wieder vor die Seele, als ob der Mann wieder neben mir gestanden und aus den unwidersprechlichen Schluß hingewiesen hätte, den er aus dem Fleck an der Thür gezogen hatte.
»Finden Sie heraus, ob sich irgend ein Kleidungsstück mit dem Farbenfleck hier im Hause befindet; finden Sie heraus, wem dieses Kleidungsstück gehört; finden Sie heraus, wie diese Person sich dafür verantworten kann, daß sie zwischen Mitternacht und drei Uhr Morgens hier im Zimmer gewesen ist und den Farbenfleck verursacht; wenn die Person sich nicht genügend verantworten kann, so haben Sie nicht weit nach der Hand zu suchen, die den Diamanten genommen hat.«
Eines nach dem andern traten mir diese Worte wieder vor die Seele und erklangen, wie ermüdend mechanisch wiederholt, immer und immer wieder in mir. Aus einer Ekstase, in der ich stundenlang verharrt zu haben glaubte, die aber in der That unzweifelhaft nur wenige Augenblicke gedauert hatte, wurde ich durch eine mich rufende Stimme aufgeschreckt Ich blickte auf und sah, daß Betteredge endlich die Geduld verloren hatte. Er stand zwischen den Sandhügeln, die sich am Strand herabziehen. Der Anblick des alten Mannes brachte mich wieder zu mir und erinnerte mich, daß die so weit von mir verfolgte Untersuchung noch unvollständig war. Ich hatte den Farbenfleck auf dem Nachthemd entdeckt. Aber wem gehörte das Nachthemd?
Mein erster Antrieb war, in dem Brief nachzusehen, den ich in der Büchse gefunden und in die Tasche gesteckt hatte.
Als ich aber eben die Hand ausstrecken wollte, um den Brief aus der Tasche zu nehmen, erinnerte ich mich, daß es noch einen kürzern Weg der Entdeckung gebe.
Das Nachthemd selbst mußte die Wahrheit offenbaren, denn aller Wahrscheinlichkeit nach trug doch dieses Nachthemd das Namenszeichen seines Eigenthümers.
Ich hob dasselbe vom Sande auf und sah nach dem Namen.
Ich fand denselben und las —— Meinen eigenen Namen.
Da standen die bekannten Buchstaben, welche mir sagten, daß das Nachthemd mir gehöre. Ich blickte wieder auf. Da stand die Sonne; da lag die Bucht mit ihren leuchtenden Fluthen, da war der alte Betteredge, der näher und näher auf mich zukam. Ich blickte wieder auf die Buchstaben. Mein eigener Name! Mir unabweislich vor die Augen gestellt —— mein eigener Name.
»Wenn Zeit, Muhe und Geld es bewerkstelligen können, so will ich den Dieb, der den Mondstein genommen hat, herausfinden.« Mit diesen Worten auf den Lippen hatte ich London verlassen. Ich hatte das Geheimniß enthüllt, welches der Zittersand vor jedem andern Wesen verborgen gehalten hatte. Und, nach dem unwiderleglichen Beweise des Farbenflecks, hatte ich mich selbst als den Dieb entdeckt.
Viertes Capitel.
Ich brauche über meine eigenen Empfindungen kein Wort zu verlieren.
Ich habe den Eindruck daß meine Erschütterung meine Fähigkeit zu denken und zu fühlen, völlig aufhob. Ich wußte nichts mehr von mir, als Betteredge zu mir trat, denn wie er mich versichert hat, lachte ich, als er mich fragte, wie es stehe, und forderte ihn, indem ich ihm das Nachthemd überreichte, auf, die Lösung des Räthsels selbst zu lesen.
Von dem was wir am Strande mit einander sprachen, habe ich nicht mehr die leiseste Erinnerung. Die erste Stelle, an welcher ich mich wieder deutlich sehe, ist die Tannenanpflanzung. Betteredge und ich gehen zusammen nach dem Hause zurück und Betteredge sagt mir, daß wir beide im Stande sein werden, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wenn wir ein Glas Grog getrunken haben werden.
Die Scene verwandelt sich aus der Tannenanpflanzung in Betteredge’s kleines Wohnzimmer. Mein Entschluß, Rachel’s Haus nicht zu betreten, ist vergessen. Ich empfinde dankbar die schattige Kühle und die Ruhe des Zimmers. Ich trinke den Grog, —— einen zu dieser Tageszeit unbekannter Luxus für mich, —— den mein guter alter Freund mit eiskaltem Quellwasser mischt. Unter anderen Umständen würde das Getränk mich einfach dumm gemacht haben. Unter den obwaltenden Umständen aber stählt es meine Nerven. Ich fange an, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wie Betteredge es vorausgesagt hat, und Betteredge seinerseits kommt gleichfalls wieder zur Besinnung.
Das Bild, welches ich hier von mir selbst entwerfe, muß, wie ich fürchte, gelinde gesagt, sonderbar erscheinen. Was ist mein erster Schritt in meiner Situation, die glaube ich, als ohne Gleichen bezeichnet werden kann? Schließe ich mich von jeder menschlichen Gesellschaft ab? Richte ich meine ganze Geistesthätigkeit darauf, die schauderhafte Unmöglichkeit zu analysiren, welche mir gleichwohl als eine unabweisliche Thatsache gegenüber steht? Eile ich mit dem ersten Zuge nach London zurück, um die ersten Autoritäten zu consultiren und auf der Stelle eine Untersuchung in’s Werk zu setzen? Nein. Ich nehme den Schutz eines Hauses an, durch dessen Betretung mich nie wieder herabzuwürdigen ich fest entschlossen war; und sitze da, in Gesellschaft eines alten Dieners, Morgens um zehn Uhr Cognac und Wasser schlürfend. Ist das das Benehmen, das man von einem Manne in meiner furchtbaren Situation erwarten durfte? Ich kann nur antworten, daß der Anblick der befreundeten Züge des alten Betteredge ein unaussprechlicher Trost für mich war und daß das Trinken des Grog’s des alten Betteredge’s mir in der vollständigen körperlichen und geistigen Abspannung in die ich verfallen war, half, wie mir wahrlich nichts anderes geholfen haben würde. Ich habe keine andere Entschuldigung für mich anzuführen und ich kann die nie versagende Beobachtung der eigenen Würde und die strenge Logik des Verhaltens, welche alle männlichen und weiblichen Leser dieser Zeilen in der Lage ihres Lebens auszeichnet, nur bewundern.
»Eines ist auf jeden Fall gewiß, Herr Franklin,« sagte der alte Betteredge, indem er das Nachthemd zwischen uns auf den Tisch warf und auf dasselbe hinwies, als ob es ein lebendes Wesen sei, das ihn hören könne, »vor allen Dingen, es lügt.«
Diese tröstliche Ansicht von der Sache vermochte ich nicht zu theilen.
»Ich bin mir,« sagte ich, »so wenig wie Sie bewußt, den Diamanten genommen zu haben. Aber dieser Zeuge spricht gegen mich! Der Farbenfleck auf dem Nachthemd und der Name auf dem Nachthemd sind Thatsachen.«
Betteredge nahm mein Glas und drückte es mir mit einer Bewegung des Zuredens in die Hand.
»Thatsachen?« wiederholte er. »Trinken Sie noch einen Schluck Grog, Herr Franklin, und Sie werden die Schwachheit, an Thatsachen zu glauben, überwinden! Dahinter steckt ein schlechter Streich, Herr Franklin,« fuhr er fort, die Stimme vertraulich senkend. »So erkläre ich mir das Räthsel. Ein schlechter Streich, und Sie und ich müssen herausfinden, wer Ihnen denselben gespielt hat. Haben Sie weiter nichts in der Zinnbüchse gefunden?«
Die Frage erinnerte mich sofort an den Brief in meiner Tasche. Ich zog ihn hervor und öffnete ihn. Es war ein seitenlanger, eng geschriebener Brief. Ich blickte ungeduldig nach der Unterschrift am Schluß: »Rosanna Spearman.«
Als ich den Namen las, fuhr mir plötzlich eine Erinnerung durch den Kopf und erleuchtete mich mit einem neuen Verdacht.
»Halt!« rief ich aus, »war nicht Rosanna Spearman aus einem Besserungshause zu meiner Tante gekommen? War nicht Rosanna Spearman früher eine Diebin gewesen?«
»Ohne Frage, Herr Franklin. Aber was folgt daraus, wenn ich fragen darf?«
»Was daraus folgt? Wie können wir wissen, ob sie nicht doch am Ende den Diamanten gestohlen? Ob sie nicht mein Nachthemd absichtlich mit dem Farbenfleck beschmiert hat?«
Betteredge legte seine Hand auf meinen Arm und hielt mich zurück, ehe ich ein Wort weiter sagen konnte.
»Sie werden sich ohne Zweifel von jedem Verdachte reinigen können, aber nicht auf diese Weise, wie ich hoffe. Sehen Sie zu, was in dem Brief steht. Im Namen der Gerechtigkeit für das Andenken des Mädchens! Sehen Sie zu, was in dem Brief steht.«
Ich empfand den Ernst seiner Worte fast wie einen Vorwurf gegen mich. »Sie sollen sich selbst auf Grund dieses Briefes Ihr Urtheil bilden,« sagte ich. »Ich will ihn Ihnen vorlesen.«
Ich fing an und las wie folgt:
»Mein Herr! Ich habe Ihnen etwas zu bekennen. Ein Bekenntniß tiefen Elends kann oft in wenigen Worten abgelegt werden. Mein Bekenntniß bedarf nur dreier Worte: Ich liebe Sie.«
Der Brief entsank meinen Händen. Ich blickte auf Betteredge »Ja des Himmels Namen,« sagte ich, »was soll das heißen?«
Er schien vor einer Beantwortung der Frage zurückzuschrecken.
»Sie sind diesen Morgen mit der hinkenden Lucy allein gewesen,« sagte er. »Hat sie Ihnen nichts über Rosanna Spearman gesagt?«
»Sie hat nicht einmal den Namen Rosanna’s genannt.«
»Bitte, lesen Sie weiter, Herr Franklin Ich gestehe Ihnen offen, ich kann es nicht über’s Herz bringen, Sie zu betrüben, nach dem, was Sie bereits haben ertragen müssen. Lassen Sie das Mädchen selbst reden und trinken Sie noch einmal! Um Ihrer» selbst willen trinken Sie noch einen Schluck Grog.«
Ich fuhr fort, den Brief zu lesen:
»Es würde mir schlecht anstehen, Ihnen dieses zu gestehen, wenn ich in dem Augenblick, wo Sie es lesen werden, noch am Leben wäre; aber ich werde nicht mehr sein, wenn Sie meinen Brief finden. Das giebt mir Muth. Nicht einmal die Stätte, wo ich begraben sein werde, wird von mir zeugen. Ich kann es wagen die Wahrheit zu sagen, denn der Zittersand wird mich in seinem Schoße bergen, wenn ich diese Worte geschrieben habe.
»Außerdem werden Sie in meinem Versteck Ihr Nachthemd mit dem Farbenfleck darauf finden; und Sie werden wissen wollen, wie ich dazu gekommen bin, dasselbe zu verstecken? und warum ich Ihnen bei meinen Lebzeiten nichts davon gesagt habe? Dafür habe ich nur einen Grund. Ich that diese sonderbaren Dinge, weil ich Sie liebte.
»Ich möchte Sie nicht mit langen Mittheilungen über mich selbst oder mein Leben, bevor ich in Mylady’s Haus kam, behelligen. Lady Verinder nahm mich aus einem Besserungshause zu sich. Vor dem Besserungshause war ich im Gefängniß gewesen. In’s Gefängniß kam ich weil ich eine Diebin war. Eine Diebin war ich, weil meine Mutter auf den Gassen umherzog, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Meine Mutter zog auf den Gassen umher weil der Herr, der mein Vater war, sie verlassen hatte. Ich brauche eine so gewöhnliche Geschichte wie diese nicht ausführlicher zu erzählen. Sie ist oft genug in den Zeitungen zu lesen.
»Lady Verinder war sehr gut gegen mich und auch Herr Betteredge war sehr gut gegen mich. Diese Beiden und die Hausmutter im Besserungshause sind die einzigen guten Menschen denen ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Ich hätte es vielleicht in meiner Stelle aushalten können, ohne glücklich zu sein, aber doch aushalten können, wenn —— Sie nicht gekommen wären. Ich tadle Sie nicht, mein Herr. Es ist meine Schuld —— Alles meine Schuld!
»Erinnern Sie sich jenes Morgens, an welchem Sie über die Sandhügel, nach Herr Betteredge suchend, zu uns herunterkamen? Sie erschienen mir wie ein Prinz in einem Feenmärchen, wie ein Geliebter im Traum. Sie waren für mich das anbetungswürdigste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. In dem Augenblick wo ich meine Augen zu Ihnen aufschlug, leuchtete etwas in mir auf, das mich berührte wie das glückliche Leben, das ich noch nie gelebt hatte. Verlachen Sie mich nicht. O, wenn ich Ihnen nur begreiflich machen könnte, wie ernst ich es damit meine!
»Ich ging in’s Haus zurück und kritzelte Ihren und meinen Namen in meinen Arbeitskasten und malte ein flammendes Herz darunter. Dann flüsterte mir ein Teufel —— nein, ich sollte sagen, ein guter Engel —— zu: »Geh und betrachte Dich im Spiegel!« Der Spiegel sagte mir —— gleichviel was. Ich war zu thöricht, dem Spiegel zu glauben. Immer stärker wurde meine Liebe zu Ihnen, grade als ob ich Ihres Gleichen und das reizendste Geschöpf gewesen wäre, das Sie je gesehen hätten. Ich bot Alles auf, o, was versuchte ich nicht, um Sie dahin zu bringen, mich anzusehen. Wenn Sie gewußt hätten, wie ich Nächtelang vor Schmerz und Unmuth darüber, daß Sie nicht die geringste Notiz von mir nahmen, Thränen vergoß, so hätten Sie vielleicht Mitleid mit mir gehabt und mir von Zeit zu Zeit einen Blick gegönnt, an dem ich hätte zehren können.
»Freilich wäre der Blick wohl kein sehr freundlicher gewesen, wenn Sie gewußt hätten, wie ich Fräulein Rachel haßte. Ich hatte es, glaube ich, schon herausgefunden, daß Sie sie liebten, noch ehe Sie selbst es wußten. Sie pflegte Ihnen Rosen zu geben, um sie ins Knopfloch zu tragen. Ach, Herr Franklin, öfter als Sie und Fräulein Rachel es ahnten, waren diese Rosen die Meinigen.
»Meinen einzigen Trost fand ich darin, im Geheimen meine Rose an die Stelle der Ihnen von Fräulein Rachel gegebenen in Ihr Glas Wasser zu setzen und jene wegzuwerfen.
»Wenn Sie wirklich so hübsch gewesen wäre, wie Sie sie fanden, so hätte ich die Sache vielleicht besser ertragen. Nein, ich glaube, ich würde sie noch mehr gehaßt haben. Denken Sie sich Fräulein Rachel ohne ihren Putz und in Dienstmädchenkleidern! Aber wozu schreibe ich das. Sie hatte doch gewiß einen schlechten Wuchs, sie war zu mager. Aber wer kann sagen, was Männern gefällt. Und junge Damen können sich ein Betragen erlauben, das einem Dienstmädchen seine Stelle kosten würde, doch das geht mich nichts an. Ich kann nicht erwarten, daß Sie diesen Brief zu Ende lesen, wenn ich solches Zeug schreibe. Aber es verdrießt Einen, Fräulein Rachel immer hübsch nennen zu hören, wenn man weiß, daß sie dieses Lob nur ihrer Toilette und ihrem Selbstvertrauen verdankt.
»Worauf es mir aber ankommt, daß Sie es wissen, ist Folgendes:
»Ich hatte kein schweres Leben, so lange ich eine Diebin war. Erst als sie mich in der Besserungs-Anstalt gelehrt hatten, mir meiner Selbsterniederung bewußt zu werden und an meiner Besserung zu arbeiten, wurden mir die Tage lang und mühselig. Jetzt fingen sich mir Gedanken an meine Zukunft aufzudrängen an.
»Ich fühlte den schrecklichen Vorwurf, der in dem bloßen Dasein rechtschaffener Menschen, selbst der gütigsten unter ihnen für mich lag. Ein herzbrechendes Gefühl der Vereinsamung verfolgte mich überall, bei jeder Beschäftigung, in der Gesellschaft aller Menschen. Ich wußte, daß es meine Pflicht sei, mit meinen Mitdienstboten freundlich zu verkehren, aber es wollte mir nicht gelingen; sie sahen mich an oder schienen mich wenigstens anzusehen, als kannten sie meine Vergangenheit. Ich bin weit davon entfernt, zu bereuen, daß ich gebessert worden bin, aber Gott weiß es, es war ein schweres Leben. In dieses Leben traten Sie plötzlich ein wie ein Sonnenstrahl; aber auch meine Hoffnung auf Sie erwies sich als eitel. Ich war unsinnig genug, Sie zu lieben und konnte nicht einmal Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Das war ein großer Jammer, wahrlich ein großer Jammer für mich.
»Jetzt komme ich aber zu dem, was ich Ihnen sagen wollte. In jenen traurigen Tagen ging ich zwei oder dreimal, wenn die Reihe auszugehen an mir war, nach meinem Lieblingsplatze, dem Strande bei dem Zittersand und sagte mir, ich hoffe hier wird es enden. Wenn ich es nicht länger aushalten kann, so wird es hier enden. Sie müssen wissen, Herr Franklin, daß der Platz schon ehe Sie herkamen eine Art von Zauber auf mich ausübte. Es war mir immer wie eine Ahnung gewesen, daß mir bei dem Zittersand etwas begegnen werde. Aber niemals war es mir in den Sinn gekommen, daß ich an dieser Stätte einmal meinen Leiden selbst ein Ende machen könnte, bis die Zeit kam, von der ich jetzt rede. Jetzt fing ich an zu denken, daß hier eine Stelle sei, die in einem Augenblick alle meine Leiden enden und mich für immer verborgen halten würde.
»Das ist Alles, was ich Ihnen für die Zeit von dem Morgen an, wo ich Sie zuerst sah, bis zu jenem Morgen, wo sich die Kunde im Hause verbreitete, daß der Diamant verloren sei, in Betreff meiner Person zu sagen habe.
»Ich war so aufgebracht über das thörichte Gerede unter den weiblichen Dienstboten, die sich Alle daraus spitzten, auf wen wohl der Verdacht zuerst fallen würde, und so zornig gegen Sie (weil ich es damals nicht besser verstand) wegen Ihrer Bemühungen, dem Diamanten nachzuspüren und die Polizei herbeizuholen, daß ich mich so viel wie möglich für mich allein hielt, bis im Laufe des Tages der Beamte von Frizinghall erschien.
»Herr Seegrave fing, wie Sie sich vielleicht erinnern, damit an, eine Wache vor die Schlafzimmer der weiblichen Dienstboten zu stellen und diese stürzten ihm Alle wüthend nach, um ihn zu fragen, was diese beleidigende Maßregel bedeuten solle. Ich ging mit den übrigen, weil, wenn ich das nicht gethan hätte, Herr Seegrave sofort gegen mich Verdacht geschöpft haben würde. Wir fanden Herrn Seegrave in Fräulein Rachel’s Zimmer. Er sagte, er wolle keine Weiber da haben und wies auf den Farbenfleck an der gemalten Thür und sagte, wir hätten das mit unsern Kleidern angerichtet und wir sollten wieder hinunter gehen.
»Nachdem ich Fräulein Rachel’s Zimmer verlassen hatte, blieb ich auf einem Treppenabsatz einen Augenblick allein stehen, um nachzusehen, ob sich der Farbenfleck zufällig an meinem Kleide befände Penelope Betteredge, die einzige unter den weiblichen Dienstboten, mit der ich auf freundlichem Fuße stand, ging gerade an mir vorüber und sah, was ich that.
»Darauf brauchst Du nicht zusehen, Rosanna,« sagte sie, »die Malerei an Fräulein Rachel’s Thür ist schon seit vielen Stunden trocken. Hätte Herr Seegrave nicht eine Wache vor unserem Schlafzimmer aufgestellt, so hätte ich ihm das auch wohl gesagt. Ich weiß nicht, wie Du darüber denkst, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so empörende Behandlung erfahren.«
»Penelope war eine leicht aufbrausende Natur. Ich beruhigte sie und brachte das Gespräch wieder auf die Malerei an der Thür, von der Penelope eben behauptet hatte, daß sie schon so lange trocken sei.
»Woher weißt Du das?« fragte ich sie.
»Ich habe gestern Morgen dabei gestanden und die Farben gemischt, als Herr Franklin und Fräulein Rachel zuletzt bei der Thür beschäftigt waren,« antwortete Penelope. »Ich hörte, wie Fräulein Rachel fragte, ob die Malerei bis zum Abend zeitig genug trocken sein werde, um von der Geburtstags-Gesellschaft in Augenschein genommen zu werden, worauf Herr Franklin den Kopf schüttelte und sagte, die Thür werde nicht eher als in zwölf Stunden trocken sein. Es war lange nach dem zweiten Frühstück, es war drei Uhr bis sie fertig waren. Was folgerst Du daraus, Rosanna? Ich berechne, daß die Thür heute Morgen um drei Uhr trocken war.«
»Sind von den Damen welche gestern Abend hinaufgegangen, um die Malerei zu sehen?« fragte ich. »Ich meine, ich hätte gehört, wie Fräulein Rachel die Damen warnte, sich vor der Thür in Acht zu nehmen.«
»Von den Damen hat keine den Fleck gemacht,« erwiderte Penelope. »Ich verließ Fräulein Rachel um Mitternacht im Bett und sah beim Fortgehen, daß die Malerei an der Thür noch völlig unberührt war.«
»Mußtest Du das nicht Herrn Seegrave mittheilen, Penelope?«
»Nicht für Alles in der Welt würde ich diesem Menschen mit einem Wort auf die Spur helfen.«
»Dann gingen wir Beide an unsere Arbeit.
»Meine Arbeit bestand darin, Ihr Bett zu machen und Ihr Zimmer in Ordnung zu halten. Das war meine glücklichste Stunde am ganzen Tage. Ich pflegte einen Kuß auf das Kissen zu drücken, auf dem Sie die ganze Nacht geruht hatten. Wer es auch seitdem gethan haben mag, niemals hat Jemand Ihr Bett so sorgfältig gemacht wie ich. Auf keinem der vielen Dosen und Flaschen auf Ihrem Toilettentisch duldete ich auch nur das kleinste Fleckchen. Aber davon nahmen Sie so wenig Notiz, wie von mir selbst. Verzeihen Sie mir, daß ich mich so vergesse, ich will mich beeilen, zur Sache zu kommen.
»Ich ging also an jenem Morgen, meine Arbeit in Ihrem Zimmer zu thun. Da lag Ihr Nachthemd quer über dem Bett, wie Sie es beim Ausziehen hingeworfen hatten. Ich nahm es auf, um es zusammenzulegen, und fand darauf —— den Farbenfleck von der Malerei an Rachel’s Thür!
»Diese Entdeckung machte mich so bestürzt, daß ich mit dem Nachthemd in der Hand aus dem Zimmer und die Hintertreppe hinauf nach meiner Kammer lief und mich dort einschloß, um die Sache an einem Ort, wo mich Niemand überraschen oder unterbrechen konnte, näher zu untersuchen.
»Sobald ich wieder zu Athem gekommen war, erinnerte ich mich meiner Unterhaltung mit Penelope und mußte mir sagen: Hier ist der klare Beweis, daß er zwischen Mitternacht und drei Uhr Morgens in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer gewesen ist.
»Ich werde Ihnen nicht sagen, welchen Verdacht ich im ersten Augenblick nach dieser Entdeckung hegte. Das würde Sie nur erzürnen und vielleicht veranlassen, meinen Brief zu zerreißen und nicht weiter zu lesen.
»Erlauben Sie mir nur noch das Folgende zu sagen. Nachdem ich mir die Sache so reiflich wie ich konnte überlegt hatte, kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Sache nicht wahrscheinlich sei und zwar aus einem Grunde, den ich Ihnen sagen will. Wenn Sie mit Fräulein Rachel’s Wissen zu jener Nachtzeit aus ihrem Zimmer und thöricht genug gewesen wären, nicht an die nasse Thür zu denken, so würde sie selbst Sie gewarnt und nicht zugegeben haben, daß Sie ein solches redendes Zeugniß gegen sie mit sich fortnahmen, wie es eben vor mir lag! Aber doch muß ich bekennen, befriedigte mich dieser Gegenbeweis nicht völlig. Sie werden sich erinnern, daß ich Fräulein Rachel haßte und dieser Haß war bei allen jenen Ueberlegungen im Spiele. Sie endeten damit, daß ich beschloß, das Nachthemd zu behalten und meine Gelegenheit abzuwarten, wo und wie ich es gebrauchen könnte. Vergessen Sie, bitte, nicht, daß ich damals noch nicht den leisesten Verdacht hatte, daß Sie den Diamanten gestohlen haben konnten«
Hier unterbrach ich mich zum zweiten Male in der Lectüre des Briefes.
Ich hatte die Parthien der Bekenntnisse des unglücklichen Mädchens, die sich auf mich bezogen, mit unverstellter Ueberraschung, und wie ich ehrlich hinzufügen kann, mit aufrichtigem Bedauern gelesen. Ich hatte bereut, ernsthaft bereut, daß ich ihr Andenken gedankenlos befleckt habe, noch ehe ich eine Zeile ihres Briefes gelesen hatte. Als ich aber den Brief so weit wie vorstehend angegeben, gelesen hatte, war ich, offen gestanden, beim Lesen immer bitterer und bitterer gegen Rosanna Spearman geworden.
»Lesen Sie den Rest allein,« sagte ich, indem ich Betteredge den Brief über den Tisch hinüberreichte »Wenn Sie irgend etwas finden, was mir zu wissen nöthig ist, so können Sie es ja sagen.«
»Ich verstehe Sie, Herr Franklin,« antwortete er; »Ihre Empfindung ist höchst natürlich, und Gott steh’ mir bei,« fügte er leiser hinzu, »die Empfindung des Mädchens ist es nicht weniger.«
Ich schreibe hier den Rest des Briefes aus dem in meinem Besitz befindlichen Original ab.
»Nachdem ich so beschlossen hatte, das Nachthemd zu behalten und abzuwarten, welchen Gebrauch meine Lieb oder meine Rache künftig davon würde machen können, mußte mein nächstes Absehen darauf gerichtet sein, wie ich es behalten könnte ohne das; man mir auf die Spur käme.
»Dazu gab es nur ein sicheres Mittel, ein anderes dem Ihrigen ganz gleiches Nachthemd noch vor Sonnabend anzufertigen, wo die Waschfrau die reine Wäsche wiederbringen würde.
»Ich fand es gefährlich, die Sache bis zum nächsten Tage, Freitag, zu verschieben, denn ich besorgte, daß sich in der Zwischenzeit etwas ereignen könnte, und beschloß das neue Nachthemd noch an demselben Tage, dem Donnerstage, wo ich wenn ich die Sache richtig anfing, darauf rechnen konnte meine Zeit für mich zu haben, anzufertigen. Das Erste was ich that, nachdem ich Ihr Nachthemd in meine Commode verschlossen hatte, war, daß ich wieder in Ihr Schlafzimmer ging, nicht sowohl um es fertig zu machen, das würde Penelope wohl für mich gethan haben wenn ich sie gebeten hätte, als um nachzusehen, ob Sie mit dem Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd etwa auch Ihr Bett oder irgend ein Möbel im Zimmer befleckt hätten.
»Ich untersuchte Alles ganz genau und fand endlich ein paar schwache Farbenstreifen an der innern Seite Ihres Schlafrocks nicht des leinenen, den Sie gewöhnlich Sommer trugen, sondern eines wollenen, den Sie nich bei sich hatten. Ich vermuthe, Sie waren durch das in und Hergehen im Nachthemd kalt geworden und zogen dann das wärmste Kleidungsstück an, das Sie finden konnten. Gewiß ist, daß an der inneren Seite dieses Schlafrocks Farbenstreifen sichtbar waren. Ich konnte dieselben Farben leicht durch Reihen beseitigen. Und nun war also der einzige gegen Sie vorhandene Beweis das in meiner Commode verschlossene Nachthemd.
»Ich war eben mit Ihrem Zimmer fertig geworden, als ich gerufen wurde, um mit den übrigen Dienstboten vernommen zu werden. Dann folgte die Durchsuchung aller unserer Effecten und dann kam das für mich merkwürdigste Ereigniß dieses Tages, nachdem ich den Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd gefunden hatte. Dasselbe ergab sich bei der zweiten Vernehmung Penelope Betteredge’s durch den Oberbeamten Seegrave.
»Penelope kam, ganz außer sich vor Wuth über die Art, wie Herr Seegrave sie behandelt hatte, wieder zu uns. Er hatte in ganz unzweideutiger Weise zu verstehen gegeben, daß er sie in Verdacht habe die Diebin zu sein. Wir waren darüber Alle so erstaunt wie sie selbst und fragten. Alle, was ihn dazu bewogen habe.
»Weil der Diamant sich in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer befunden hatte,« entgegnete Penelope, »und weil ich die Letzte war, die das Zimmer gestern Abend betreten hat.
»Kaum hatte Penelope diese Worte ausgesprochen, als ich mich erinnerte, daß später als Penelope noch eine andere Person in Fräulein Rachel’s Zimmer gewesen sei, und diese Person waren Sie. Bei diesem Gedanken drehte sich Alles mit mir herum und mein Kopf war in der schrecklichsten Verwirrung. Dabei flüsterte mir eine geheime Stimme zu, da? der Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd wohl eine ganz andere Bedeutung haben könne, als die ich ihm bis dahin beigelegt hatte.
»Wenn die letzte Person die im Zimmer war die ist, welche der Verdacht trifft, so dachte ich bei mir, so ist nicht Penelope, sondern Herr Franklin Blake der Dieb.«
»Bei jedem andern Herrn würde ich mich, glaube ich, in dem Augenblick wo der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, auch schon geschämt haben, ihn eines Diebstahls für fähig zu halten.
»Aber der bloße Gedanke, daß Sie, Herr, mit diesem Diebstahl zu mir herabgestiegen seien und daß ich durch den Besitz Ihres Nachthemds auch das Mittel in Händen habe, Sie vor einer Entdeckung und einer ewigen Schmach zu schützen, —— dieser bloße Gedanke, sage ich, eröffnete mir eine solche Aussicht, Ihre Gunst zu gewinnen, daß ich mich so zu sagen blindlings von Verdacht zu festem Glauben hinreißen ließ. Ich hielt mich ohne Weiteres überzeugt, daß Sie sich nur deshalb am Beflissensten von allen Personen im Hause gezeigt hätten, die Polizei herbei zu holen, um uns Alle irre zu führen, und daß die Hand, welche Fräulein Rachel’s Edelstein genommen habe, keine andere sein könne, als die Ihrige.
»Die durch diese neue Entdeckung bei mir hervorgerufene Aufregung brachte mich, glaube ich, eine Zeitlang ganz außer mir. Ich fühlte ein so verzehrendes Verlangen, Sie zu sehen, Sie mit ein paar Worten in Betreff des Diamanten auf die Probe zu stellen und Sie auf diese Weise zu veranlassen, mich anzusehen und mit mir zu reden, daß ich mein Haar ordnete und mich so nett wie möglich machte und geradeswegs zu Ihnen in die Bibliothek ging, wo Sie, wie ich wußte, am Schreibtisch saßen.
»Sie hatten einen Ihrer Ringe oben im Zimmer liegen gelassen und mir damit einen so guten Vorwand für mein Erscheinen in der Bibliothek gegeben, wie ich ihn nur wünschen konnte. Aber, o Herr, wenn Sie je geliebt haben, so werden Sie verstehen, wie es kam, daß mir, als ich ins Zimmer trat und Ihnen gegenüber stand, der Muth völlig sank. Und dann sahen Sie mich so kalt an und dankten mir in einer so gleichgültigen Weise für Ihren Ring, daß mir die Kniee zu zittern anfingen und mir zu Muthe ward, als müßte ich mich Ihnen zu Füßen werfen. Als Sie mir gedankt hatten, fuhren Sie, wie Sie sich erinnern werden, fort zu schreiben. Dieses Benehmen kränkte mich so tief, daß ich mir ein Herz faßte und Sie anredete. Ich sagte: »Das ist eine sonderbare Geschichte mit dem Diamanten, Herr!« Und Sie sahen mich wieder an und antworteten: »Ja, eine sonderbare Geschichte!« Sie sprachen diese Worte, wie ich nicht anders sagen kann, in einem höflichen, aber doch in einem grausam abwehrenden Ton. In dem Glauben, daß Sie, während Sie mit mir sprachen, den verlorenen Diamanten bei sich verborgen hielten, reizte mich Ihre Kälte so sehr, daß ich in der Aufregung des Augenblicks kühn genug wurde, Ihnen einen Wink zu geben. Ich sagte: »Sie werden den Diamanten nie finden, Herr, nicht wahr? Nein, weder den Diamanten noch die Person, die ihn genommen hat, dafür möchte ich einstehen.« Ich nickte und lächelte Ihnen dabei zu, als wollte ich sagen: »Ich weiß Bescheid.« Dieses Mal sahen Sie mich mit einem Ausdruck von Interesse im Blick an, und ich fühlte, daß es nur noch weniger Worte zwischen uns bedürfen würde, um die Wahrheit herauszubringen. Aber gerade in diesem Augenblick verdarb mir Herr Betteredge das ganze Spiel, indem er sich vor der Thür hören ließ. Ich kannte seinen Tritt und wußte, daß es gegen die von ihm aufrecht erhaltene Hausordnung verstoße, daß ich um diese Tageszeit in der Bibliothek war —— gar nicht davon zu reden, daß ich dort mit Ihnen allein war. Ich hatte noch eben Zeit, aus freien Stücken hinauszugehen, bevor er herein kommen und mich fortgehen heißen konnte Ich war zornig und enttäuscht, aber bei alledem nicht ohne Hoffnung. Das Eis war, wie Sie sehen, zwischen uns gebrochen und ich nahm mir vor, das nächste Mal Acht zu geben, daß Herr Betteredge mir nicht im Wege sei.
»Als ich in das Domestikenzimmer zurückkam, wurde eben zum Mittagessen für uns geläutet. Schon Nachmittag und ich hatte noch nichts zur Anfertigung des neuen Nachthemds besorgt! Es gab nur eine Möglichkeit, mir die Zeit zu verschaffen, die nöthigen Dinge zu kaufen. Ich mußte mich bei Tische unwohl stellen, um bis zur Theestunde ungestört zu bleiben.
»Was ich that, während das Haus mich in meinem Zimmer krank zu Bette liegend glaubte, und wie ich die Nacht zubrachte nachdem ich mich beim Thee wieder unwohl gestellt hatte und auf mein Zimmer geschickt worden war, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sergeant Cuff hat, wenn nicht mehr, doch das wenigstens vollkommen richtig herausgefunden. Und ich kann mir auch sehr wohl denken wie. Ich wurde, obgleich ich meinen Schleier herabgelassen hatte, im Laden des Leinenhändlers in Frizinghall erkannt. Hinter dem Ladentisch, wo ich das Zeug kaufte, befand sich mir gegenüber ein Spiegel, und in diesem Spiegel sah ich wie einer der Ladendiener auf meine Schulter deutete und dabei einem andern etwas zuflüsterte. Und in der Nacht, wo ich in meinem Zimmer eingeschlossen, im Geheimen bei meiner Arbeit saß, hörte ich vor meiner Thür das Athmen der Mädchen, die mich belauerten.
»Es war mir schon damals einerlei und ist mir auch jetzt einerlei. Am Freitag Morgen, viele Stunden ehe Sergeant Cuff das Haus betrat, war das neue Nachthemd, das die Stelle des von mir fortgenommenen vertreten sollte, gewaschen, getrocknet, geplättet, gezeichnet und gefaltet, wie die Waschfrau alle übrigen zu falten pflegte, sicher in Ihrem Schrank. Ich brauchte nicht zu fürchten, daß, wenn die Wäsche im Hause untersucht würde, mich die Neuheit des Zeuges verrathen konnte. Alle Ihre Wäsche war, als Sie vermuthlich unmittelbar nach Ihren Reisen in’s Ausland zu uns in’s Haus kamen, neu angeschafft gewesen.
»Das nächste Ereigniß war die Ankunft des Sergeanten Cuff, und die nächste große Ueberraschung war die Ankündigung dessen, was er als seine Ansicht über den Farbenfleck an der Thür kundgegeben hatte.
»Ich hatte Sie, wie ich eben gestanden habe, für schuldig gehalten, mehr, weil ich wünschte, daß Sie schuldig sein möchten, als aus irgend einem andern Grunde. Und nun war der Sergeant auf einem ganz andern Wege zu demselben Schlusse gelangt, wie ich! Und ich war im Besitz des Kleidungsstückes welches den einzigen Beweis gegen Sie bildete, ohne daß ein Mensch, Sie selbst mit einbegriffen, eine Ahnung davon hatte! Ich scheue mich, Ihnen zu sagen, was ich empfand, als ich mir diese Umstände vergegenwärtigte —— Sie würden meinem Andenken später für immer fluchen!«
Bei dieser Stelle blickte Betteredge von dem Briefe auf.
»Nicht der kleinste Lichtschimmer bis jetzt, Herr Franklin,« sagte der alte Mann, indem er seine schwere Schildpatt-Brille abnahm und Rosanna Spearmann’s Bekenntniß mit der Hand ein wenig wegschob. »Haben Sie sich, während ich gelesen habe, irgend eine Ansicht gebildet, Herr Franklin?«
»Lesen Sie erst zu Ende, Betteredge, vielleicht kommt noch etwas, was uns auf die rechte Spur leiten kann Nachher werde ich Ihnen ein paar Worte zu sagen haben.«
»Sehr wohl, Herr Franklin Ich will nur meinen Augen einen Augenblick Ruhe gönnen und dann fortfahren. Inzwischen, Herr Franklin —— ich möchte Sie nicht drängen ——, aber haben Sie ein Bedenken, mir mit einem Wort zu sagen, ob Sie schon einen Ausweg aus diesem schrecklichen Wirrsal sehen?«
»Ich sehe meinen Rückweg nach London,« sagte ich, »um Herrn Bruff zu consultircn. Wenn der mir nicht helfen kann ——«
»Nun, dann?«
»Und wenn der Sergeant nicht aus seiner Zurückgezogenheit aus Dorking hervortreten will ——«
»Das will er nicht, Herr Franklin.«
»Dann, Betteredge, bin ich, so weit ich bis jetzt sehe, mit meinem Latein zu Ende. Außer Herrn Bruff und dem Sergeanten weiß ich kein lebendes Wesen, daß mir bei dieser Sache von dem geringsten Nutzen sein könnte.«
Als ich eben diese Worte gesprochen hatte, klopfte Jemand von außen an die Thür des Zimmers.
»Herein!« rief Betteredge verdrießlich, »wer es auch sein mag!«
Die Thür öffnete sich und herein trat geräuschlos der wunderlichst aussehende Mensch, den ich je gesehen habe. Nach seiner Gestalt und seinen Bewegungen zu schließen, war er noch jung. Nach seinem Gesicht schien er, verglichen mit Betteredge, der ältere zu sein. Seine Hautfarbe war von zigeunerhafter Dunkelheit, seine fleischlosen Backen bildeten tiefe Löcher, welche die Backenknochen wie ein Wetterdach überragten. Seine Nase war von der typisch feinen Art, wie sie so oft bei den alten Völkern des Orients und so selten bei den neueren westlichen Racen gefunden wird; seine Stirn erhob sich hoch und gerade über die Augenbrauen; sein Gesicht war mit unzähligen Runzeln bedeckt. Aus diesem sonderbaren Gesicht blickten Einen noch sonderbarere Augen vom sanftesten Braun, träumerisch und traurig, tief aus der Augenhöhle an und fesselten gebieterisch unsere Aufmerksamkeit. Dazu nehme man dickes, gelocktes Haar, welches durch ein eigenthümliches Spiel der Natur seine Farbe in der auffallendsten Weise an einigen Stellen verloren hatte. Oben auf dem Kopf war es noch von dem tiefen Schwarz welches seine natürliche Farbe zu sein schien, an den Seiten des Kopfes aber war es, ohne den leisesten, den außerordentlichen Contrast vermittelnden Uebergang, vollkommen weiß. Zwischen beiden Farben fand sich keine bestimmte Grenzlinie; an einigen Stellen verlor sich das weiße Haar in das schwarze, an andern das schwarze in das weiße. Ich sah den Mann mit einer Neugierde an, die ich —— ich schäme mich, es zu gestehen —— zu beherrschen ganz unfähig war. Seine sanften braunen Augen erwiderten milde meinen Blick und er begegnete der unfreiwilligen Indiscretion, mit der ich ihn anstarrte, mit einem Ausdruck gütiger Nachsicht, den ich nicht verdient zu haben mir vollkommen bewußt war.
»Ich bitte um Vergebung,« sagte er, »ich wußte nicht, daß Herr Betteredge beschäftigt sei.« Er nahm einen Streifen Papier aus der Tasche und überreichte ihn Betteredge. »Die Liste für nächste Woche,« sagte er. Seine Augen ruhten wieder auf mir und er verließ das Zimmer so ruhig wieder, als er es betreten hatte.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Herrn Candy’s Assistent,« sagte Betteredge »Beiläufig, Herr Franklin, es wird Ihnen leid sein zu hören, daß der kleine Doctor sich von der Erkältung, die er sich bei dem Geburtstagsdiner zugezogen, nie wieder erholt hat. Es geht ihm soweit ganz gut, aber er hat im Fieber sein Gedächtniß verloren und nur die dürftigsten Reste davon übrig behalten. Sein Assistent hat die ganze Praxis zu versehen; aber es giebt jetzt, außer bei den Armen, eben nicht viel zu thun Die armen Leute, wissen Sie, haben keine Wahl, sie müssen sich den Mann mit dem scheckigen Haar und der Zigeunerhaut gefallen lassen oder jeder ärztlichen Hilfe entbehren.«
»Sie scheinen den Mann nicht zu mögen, Betteredge?«
»Kein Mensch mag ihn leiden, Herr Franklin.«
»Und warum?«
»Sehen Sie, Herr Franklin, schon sein Aussehen spricht gegen ihn. Und dann erzählen die Leute, daß er einen sehr zweifelhaften Ruf hatte, als er zu Herrn Candy kam. Kein Mensch weiß, wer er ist, und er hat keinen Freund in der ganzen Gegend. Wie kann man ihn da mögen?«
»Natürlich ganz unmöglich! Darf ich fragen, was er von Ihnen wollte, als er Ihnen das Stück Papier gab?«
»Mir nur die Wochenliste der Kranken hier in der Gegend bringen, die etwas Wein brauchen. Mylady hatte immer die Gewohnheit, guten alten Portwein und Sherry unter die kranken Armen vertheilen zu lassen, und Fräulein Rachel wünscht, daß diese Gewohnheit beibehalten werde. Die Zeiten haben sich geändert. Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert! Ich erinnere mich der Zeit, wo Herr Candy meiner Herrin selbst die Liste brachte. Jetzt bringt mir Herrn Candy’s Assistent die Liste. Und nun will ich den Brief weiter lesen, wenn? Ihnen recht ist, Herr Franklin,« sagte Betteredge indem er Rosanna Spearmann’s Bekenntnisse wieder in die Hand nahm. »Er ist wahrhaftig nicht leicht zu lesen, aber er hält mir die trüben Gedanken an die Vergangenheit vom Leibe.« Betteredge setzte seine Brille wieder auf und schüttelte traurig mit dem Kopf. »Es hat seinen Grund, daß wir uns so ungebärdig gegen unsere Mütter betragen, wenn sie uns in die Welt setzen. Alle kommen wir mehr oder weniger ungern auf die Welt und wir haben Alle Recht.«
Herrn Candy’s Assistent hatte einen zu starken Eindruck auf mich hervorgebracht, als daß ich den Gedanken an ihn sogleich wieder hätte loswerden können. Ich ließ die letzte unwiderlegliche Aeußerung der Betteredge’schen Philosophie auf sich beruhen und brachte das Gespräch noch einmal auf den Mann mit dem scheckigen Haar.
»Wie heißt der Mann?« fragte ich.
»Sein Name ist so häßlich wie möglich,« antwortete Betteredge kurz. »Ezra Jennings!«
Fünftes Capitel.
Nachdem er mir den Namen von Herrn Candy’s Assistenten genannt hatte, schien Betteredge zu finden, daß er Zeit genug auf einen so uninteressanten Gegenstand verschwendet habe und schickte sich an, Rosanna Spearman’s Brief weiter zu lesen.
Ich saß am Fenster und wollte ruhig warten, bis er zu Ende sei. Nach und nach schwand der Eindruck, den Ezra Jennings auf mich hervorgebracht hatte —— es schien überhaupt unbegreiflich, daß in meiner Lage irgend ein menschliches Wesen einen Eindruck auf mich hervorbringen konnte —— schwand, sage ich, dieser Eindruck wieder. Meine Gedanken lenkten wieder auf ihre frühere Bahn zurück. Noch einmal zwang ich mich, meiner unglaublichen Situation gerade ins Gesicht zu sehen. Noch einmal überblickte ich im Geiste das in Zukunft von mir einzuschlagende Verfahren, über das mir klar zu werden ich endlich Fassung genug erlangte.
Noch an demselbe Tage nach London zurückkehren; den ganzen Fall Herrn Cuff vorlegen, und endlich das Wichtigste (gleichviel auf welche Weise oder mit welchen Opfern) eine Zusammenkunft mit Rachel erwirken —— das war mein Plan, so weit ich in jenem Augenblick im Stande war einen zu fassen. Ich hatte noch vor Abgang des Zuges über eine Stunde Zeit. Und ich hatte noch die Chance, daß Betteredge in dem noch ungelesenen Theil von Rosanna Spearmans Brief etwas finden möchte, was mir zu wissen nützlich sein könnte, bevor ich das Haus, in welchem der Diamant verloren gegangen war, wieder verließ. Diese Chance wollte ich jetzt noch wahrnehmen.
Der Schluß des Briefes lautete wie folgt:
»Sie brauchen nicht böse auf mich zu sein, Herr Franklin, selbst wenn ich einen kleinen Triumph bei dem Gedanken empfand, daß ich Ihr ganzes Schicksal in meinen Händen hielt. Bald überkam mich wieder Angst und Furcht. Bei der Ansicht, welche Sergeant Cuff sich über den Verlust des Diamanten gebildet hatte, mußte er schließlich nothwendig dazu schreiten, unsere Wäsche und unsere Kleider zu untersuchen. Es gab keine Stelle in meinem Zimmer, keine im Hause, welche ich vor ihm sicher glauben konnte. Wie sollte ich das Nachthemd verstecken, so daß selbst der Sergeant es nicht finden konnte? und wie sollte ich das anfangen, ohne einen einzigen Augenblick der kostbaren Zeit zu verlieren? Das waren nicht leicht zu beantwortende Fragen. Mein Schwanken endete mit dem Ergreifen eines Auskunftsmitte1s, das Sie vielleicht lachen machen wird. Ich entkleidete mich und zog das Nachthemd selbst an. Sie hatten es getragen und es gewährte mir abermals eine kleine Freude, es nach Ihnen zu tragen.
»Die nächste Nachricht, die in das Domestikenzimmer zu uns gelangte, zeigte mir, daß ich das Nachthemd nicht einen Augenblick zu früh in Sicherheit gebracht hatte. Sergeant Cuff verlangte das Wäschebuch zu sehen.
»Ich holte es und brachte es nach Mylady’s Wohnzimmer. Der Sergeant und ich waren uns in früheren Tagen schon mehr als einmal begegnet. Ich war sicher, daß er mich wiedererkennen würde und ich war nicht sicher, was er thun würde, wenn er mich als Dienstmädchen in einem Hause fände, in welchem ein kostbarer Edelstein verloren gegangen war. In dieser Ungewißheit fühlte ich, es würde eine Beruhigung für mich sein, wenn er mich erst einmal gesehen hätte und ich das Schlimmste, was daraus entstehen konnte, wüßte.
»Er sah mich an, als ob ich eine Fremde für ihn sei, als ich ihm das Wäschebuch übergab und er war besonders höflich, als er mir dafür dankte. Ich hielt Beides für schlimme Zeichen. Ich konnte nicht wissen, was er hinter meinem Rücken vielleicht von mir sagen würde; ich konnte nicht wissen, wie bald ich mich vielleicht als verdächtig in Haft befinden und an meinem Körper durchsucht finden würde. Es war gerade Zeit, daß Sie von der Eisenbahn, wohin Sie Herrn Godfrey Ablewhite begleitet hatten, zurückkommen mußten, und ich ging nach Ihrem Lieblingsspaziergang im Gebüsch, um noch einmal zu versuchen, ob ich Sie nicht sprechen könne; es war, so viel ich sehen konnte, die letzte Chance für mich.
»Sie kamen nicht; und, was noch schlimmer war, Herr Betteredge und Sergeant Cuff gingen an dem Platz, wo ich mich versteckt hatte, vorüber —— und der Sergeant sah mich.
»Danach hatte ich keine andere Wahl mehr als an meinen gewöhnlichen Aufenthaltsort und an meine gewöhnliche Arbeit zurückzukehren, bevor mir Schlimmes begegnen könnte. Als ich eben über den Weg gehen wollte, kamen Sie von der Eisenbahn zurück. Sie gingen gerade auf das Gebüsch los als Sie mich sahen und wandten sich von mir ab, als wenn ich die Pest hätte, und gingen in’s Haus.[Anmerkung von Franklin Blake. —— Das arme Mädchen ist vollständig im Irrthum. Ich hatte sie gar nicht bemerkt. Meine Absicht war gewiß, durch das Gebüsch zu gehen. Da ich mich aber in demselben Augenblick erinnerte, daß meine Tante mich vielleicht zu sehen wünschen werde, nachdem ich von der Eisenbahn zurückgekommen war, änderte ich meinen Sinn und ging in’s Haus.]
»Ich kehrte so rasch wie möglich durch den Eingang für die Domestiken in’s Haus zurück. Im Wäschezimmer war aber Niemand und ich setzte mich dort allein hin. Ich habe Ihnen schon gesagt, welche Gedanken bei mir der Zittersand erweckt hatte. Diese Gedanken bestürmten mich jetzt auf’s Neue. Ich fragte mich, was wohl besser sein möchte, wenn die Dinge so weiter gingen, Herrn Franklin Blakes Gleichgültigkeit gegen mich zu ertragen oder in den Zittersand zu springen und der Sache so für immer ein Ende zu machen?
»Vergebens versuchte ich es, mich vor mir selbst wegen meines damaligen Betragens zu verantworten; ich versuche es, aber ich verstehe mich selbst nicht.
»Warum trat ich Ihnen nicht entgegen, als Sie mir aus diese grausame Art aus dem Wege gingen? Warum rief ich Ihnen nicht zu: »Herr Franklin ich habe Ihnen etwas zu sagen; es betrifft Sie selbst und Sie müssen und sollen es hören?« Ich hatte Sie in Händen. Und mehr als das, ich besaß das Mittel, Ihnen —— wenn ich Sie nur dahin bringen konnte, mir zu vertrauen —— in Zukunft nützlich zu werden. Natürlich glaubte ich nie, daß ein Herr wie Sie den Diamanten nur um des Vergnügens am Diebstahl willen gestohlen habe. Nein, Penelope hatte Fräulein Rachel und ich hatte Herrn Betteredge von Ihrem extravaganten Leben und Ihren Schulden reden hören. Es war mir ganz klar, daß Sie den Diamanten genommen hatten, um ihn zu verkaufen oder zu verpfänden und sich so das Geld zu verschaffen, dessen Sie bedurften. Nun gut! Ich hätte Ihnen einen Mann in London nennen können, der Ihnen auf den Edelstein eine ordentliche Summe vorgestreckt haben und Ihnen dabei keine unbequeme Fragen über denselben vorgelegt haben würde.
»Warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen! warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen!
»Ich frage mich, ob etwa die Gefahren und Schwierigkeiten der Aufbewahrung des Nachthemds das Maß dessen, was ich zu ertragen vermochte, voll gemacht hatten, so daß ich andern Gefahren und Schwierigkeiten nicht mehr die Stirn zu bieten im Stande war. Das hätte vielleicht bei anderen Frauen der Fall sein können. aber unmöglich bei mir. In den Tagen, wo ich eine Diebin gewesen, war ich fünfzigmal größere Gefahren gelaufen und hatte mich unter Schwierigkeiten zurecht gefunden, gegen welche die hier vorliegende ein reines Kinderspiel war. Ich hatte so zu sagen eine Schule von Betrügereien und Täuschungen durchgemacht, von denen einige so großartig angelegt und so geschickt durchgeführt waren, daß sie als berühmte Fälle in den Zeitungen besprochen wurden. War es denkbar, daß eine Kleinigkeit, wie die Aufbewahrung eines Nachthemds, mein Gemüth belastete und mich den Muth verlieren ließ mit Ihnen zu reden? Wie thöricht, nur danach zu fragen; es war unmöglich!
»Aber wozu Verweile ich bei meiner eigenen Thorheit? Die einfache Wahrheit liegt ja klar genug am Tage. Hinter Ihrem Rücken liebte ich Sie von ganzem Herzen, und von ganzer Seele; vor Ihrem Angesicht fürchtete ich mich vor Ihnen, fürchtete ich mich, Sie böse auf mich zu machen, fürchtete ich mich vor dem, was Sie —— obgleich Sie den Diamanten genommen hatten —— sagen möchten, wenn ich mir herausnähme, Ihnen zu erklären, daß ich Ihren Diebstahl entdeckt habe. Ich war der Sache so nahe gekommen, wieich konnte, als ich in der Bibliothek mit Ihnen gesprochen hatte. Damals hatten Sie mir nicht den Rücken zugekehrt, waren Sie mir nicht ausgewichen, als ob ich die Pest hätte. Ich versuchte es, mich gegen Sie zu Erbittern und mir auf diese Weise Muth zu machen. Aber nein! ich vermochte keine anderen Gefühle darüber in mir rege werden zu lassen als die des Elends und der Kränkung. »Du bist ein häßliches Mädchen, Du hast eine verwachsene Schulter, Du bist nur ein Dienstmädchen, —— was fällt Dir ein, daß Du es wagst, mit mir zu reden?« Niemals haben Sie ein ähnliches Wort gegen mich ausgesprochen, Herr Franklin; und doch haben Sie das Alles zu mir gesagt! Kann man eine solche Tollheit erklären? Nein, man kann nichts dabei thun. als sie bekennen und auf sich beruhen lassen.
»Ich bitte Sie noch einmal wegen dieser Abirrung meiner Feder um Verzeihung. Fürchten Sie nicht, daß es noch länger dauert. Ich nähere mich dein Schluß.
»Die erste Person, die mich störte, indem sie das bis dahin leere Zimmer betrat, war Penelope Sie hatte mein Geheimnis; längst aufgefunden und hatte mit Freundlichkeit ihr Bestes gethan, mich wieder zur Besinnung zu bringen.
»O!« sagte sie, »ich weiß, warum Du hier sitzest und Dich in Gram verzehrest. Das Beste was Dir passiren könnte, Rosanna, wäre, daß Herrn Franklins Besuch hier bald zu Ende ginge. Ich glaube nicht, daß er noch lange hier bleibt.«
»Bei allen meinen Gedanken an Sie war es mir nicht eingefallen, daß Sie fortgehen könnten. Ich konnte Penelopen auf ihre Worte nichts antworten, ich konnte sie nur ansehen.
»Ich komme eben von Fräulein Rachel,« fuhr Penelope fort, »und es war keine leichte Sache, mit ihr auszukommen. Sie sagt, das Haus sei ihr unerträglich, so lange Polizei darin ist, und sie ist entschlossen, Mylady noch heute Abend zu erklären, daß sie morgen zu ihrer Tante Ablewhite gehen will. Wenn sie das thut, so wird es nicht lange dauern, bis auch Herr Franklin eine Veranlassung findet, fortzugehen. Darauf kannst Du Dich verlassen.«
»Bei diesen Worten fand ich meine Sprache wieder. »Meinst Du, daß Herr Franklin mit ihr fortgehen wird fragte ich.
»Nur zu gern, wenn sie ihn nur lassen wollte; aber sie will nicht. Sie hat ihn ihre Laune fühlen lassen; und er ist sehr schlecht bei ihr angeschrieben und das, nachdem er Alles gethan hat, ihr zu helfen, der arme Mensch! Nein, nein! Wenn sie sich nicht bis morgen wieder versöhnen, so wirst Du sehen, daß Fräulein Rachel links und Herr Franklin rechts geht. Wohin er seine Schritte wenden wird, kann ich nicht sagen. Aber hier bleibt er nicht, wenn Fräulein Rachel fortgeht.«
»Ich wußte die Verzweiflung, die sich meiner bei der Aussicht, Sie fortgehen zu sehen, bemächtigte, zu bemeistern. Die Wahrheit zu gestehen, erblickte ich einen schwachen Hoffnungsstrahl für mich in dem Vorhandensein einer ernsten Veruneinigung zwischen Fräulein Rachel und Ihnen.«
»Weißt Du,« fragte ich, »worüber sie in Streit gerathen sind?«
»Fräulein Rachel hat allein Schuld« sagte Penelope, »und so viel ich sehen kann, rührt Alles von ihrem Temperament her. Es thut mir schrecklich leid, Dich betrüben zu müssen, Rosanna, aber setze Dir nicht in den Kopf, daß Herr Franklin je auf sie böse sein wird. Dazu liebt er sie viel zu sehr.«
»Sie hatte eben diese grausamen Worte ausgesprochen, als wir von Herrn Betteredge gerufen wurden. Alle Domestiken im Hause sollten sich in der Halle versammeln und dann sollten wir, einer nach dem andern, nach Herrn Betteredge’s Zimmer gehen und daselbst von dem Sergeanten Cuff vernommen werden.
»Die Reihe kam an mich, hineinzugehen, nachdem Mylady’s Kammermädchen und das erste Hausmädchen zuerst vernommen waren. Aus Sergeant Cuffs Fragen merkte ich —— so schlau sie auch gestellt waren —— bald genug, daß jene beide Mädchen (meine bittersten Feindinnen im Hause) mich an meiner Thür sowohl am Donnerstag-Nachmittag als auch in der Donnerstag-Nacht belauscht hatten. Sie hatten dem Sergeanten genug erzählt, um ihn wenigstens theilweise die Wahrheit erkennen zu lassen. Er vermuthete mit Recht, daß ich im Geheimen ein neues Nachthemd gemacht habe, aber er vermuthete mit Unrecht, daß das farbenbefleckte Nachthemd mir gehöre. Aus dem, was er sagte, ging für mich noch etwas Anderes deutlich hervor, dem ich gern aus den Grund gekommen wäre. Er hatte mich natürlich im Verdacht, bei dem Verschwinden des Diamanten die Hand im Spiele zu haben. Zu gleicher Zeit aber ließ er mich, wie mir schien, absichtlich merken, daß er nicht mich als die für den Verlust des Edelsteins hauptsächlich verantwortliche Person betrachte, sondern daß er glaube, ich habe auf Antrieb einer andern Person gehandelt. Wen er aber mit dieser Person meinte, daß vermag ich jetzt so wenig wie damals zu errathen.
Bei dieser Ungewißheit war nur eines klar, daß Sergeant Cuff noch Meilen weit von der vollen Wahrheit entfernt war. Sie waren sicher, so lange das Nachthemd in einem sicheren Versteck war, aber nicht einen Augenblick länger.
»Ich verzweifele daran, Ihnen die ganze Tiefe des Jammers und des Schreckens begreiflich zu machen, die mich jetzt bedrängten. Es war unmöglich für mich, es noch länger zu wagen, Ihr Nachthemd am Leibe zu tragen. Ich mußte jeden Augenblick darauf gefaßt sein, mich nach dem Polizeigericht in Frizinghall abgeführt zu sehen, um dort auf dringenden Verdacht hin durchsucht zu werden. So lange mich Sergeant Cuff noch frei ließ, mußte ich mich und zwar unverzüglich entscheiden, ob ich das Nachthemd vernichten oder es an einer sicheren Stelle, in einer sicheren Entfernung vom Hause verstecken wolle.
»Wenn ich Sie nur ein» klein wenig weniger geliebt hätte, so würde ich das Nachthemd, glaube ich, zerstört haben. Aber, ach! Wie konnte ich die einzige in meinem Besitz befindliche Sache vernichten, welche den Beweis lieferte, daß ich Sie vor einer Entdeckung bewahrt hatte? Wenn es zu einer Erklärung zwischen uns kommen sollte und wenn Sie dann den Verdacht, daß ich Sie aus unreinen Motiven beschuldige, gegen mich aussprechen oder Ihre That ganz ableugnen würden: wie sollte ich mir Ihr Vertrauen erzwingen, wenn ich nicht im Besitz des Nachthemdes war.
»That ich Ihnen Unrecht, wenn ich glaubte und glaube, daß Sie vielleicht ungern ein armes Mädchen wie mich in Ihr Geheimniß eingeweiht sehen und als Ihre Mitschuldige bei dem Diebstahl betrachten würden, den zu begehen Ihre Geldverlegenheiten Sie veranlaßt hatten? Denken Sie an Ihr kaltes Benehmen gegen mich, Herr, und Sie werden sich kaum über meine Ungeneigtheit wundern können, den einzigen glücklicherweise in meinem Besitz befindlichen Gegenstand zu vernichten, der mir einen Anspruch auf Ihr Vertrauen und Ihre Dankbarkeit gewähren konnte.
»Ich beschloß, denselben zu verstecken; und zwar an dem mir wohlbekanntesten Ort, dem Zitterstrande.
»Sobald ich meinen Beschluß gefaßt hatte, erbat ich mir unter dem ersten besten Vorwand Erlaubniß, ein wenig auszugehen. Ich ging geradeswegs nach Cobb’s Hole, nach Yollands Fischerhütte. Seine Frau und seine Tochter waren meine besten Freundinnen. Aber denken Sie nicht, daß ich denselben Ihr Geheimniß anvertraut hätte —— kein Mensch hat es von mir erfahren. Alles, was ich wollte, war, die Möglichkeit, Ihnen diesen Brief zu schreiben und eine sichere Gelegenheit, mich des Nachthemds zu entledigen. Verdächtig wie ich war, konnte ich keines von beiden mit irgend welcher Sicherheit in unserm Hause thun.
»Und jetzt bin ich mit meinem langen Briefe beinahe zu Ende, den ich hier in Lucy Yollands Schlafzimmer schreibe. Wenn ich ihn geschlossen habe, werde ich mit dem ausgerollten und unter meinem Mantel versteckten Nachthemd hinuntergehen. Ich werde das Mittel, es sicher und trocken in seinem Versteck aufzubewahren, unter dem alten Gerümpel in Yollands Küche finden. Und dann werde ich nach dem Zittersande gehen —— fürchten Sie nicht, daß meine Fußtritte mich verrathen werden! —— und das Nachthemd im Sande verbergen, aus dem kein lebendes Wesen es wieder hervorholen kann, wenn es nicht zuvor von mir in das Geheimniß eingeweiht worden ist.
»Und nachdem ich das gethan haben werde, was dann?
»Dann, Herr Franklin, werde ich aus zwei Gründen noch einen Versuch machen, Ihnen die Worte zu sagen, die ich bis jetzt noch nicht« habe aussprechen können. Wenn Sie das Haus demnächst verlassen, wie Penelope vermuthet, ohne daß ich vorher mit Ihnen gesprochen habe, so werde ich die Gelegenheit dazu für immer verloren haben. Das ist der eine Grund. Und dann habe ich das tröstende Bewußtsein, daß, wenn meine Worte Sie erzürnen sollten, ich das Nachthemd in Bereitschaft habe, um meine Sache so gut zu vertreten, wie nichts anderes aus der Welt es vermöchte. Das ist mein zweiter Grund. Wenn diese beiden Gründe zusammen genommen nicht im Stande find, mein Herz gegen die Kälte, welche dasselbe bisher so eisig berührt hat (ich meine die Kälte Ihres Benehmens gegen mich), zu bewaffnen, so wird es mit meinen Versuchen und mit meinem Leben zu Ende sein.
»Ja. Wenn ich mir die nächste Gelegenheit wieder entgehen lasse; wenn Sie mir wieder so grausam entgegentreten wie bisher, und wenn diese Kälte wieder wie bisher auf mich wirkt: so sage ich der Welt lebewohl, welche mir das Glück, das sie Anderen gewährt, mißgönnt hat; sage ich dem Leben valet, welches nichts als ein wenig Freundlichkeit von Ihnen je wieder erfreulich für mich machen kann. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr, wenn die Sache solches Ende nimmt. Aber versuchen Sie es, etwas wie vergebendes Bedauern für mich zu empfinden! Ich werde Vorsorge treffen, daß Sie erfahren, was ich für Sie gethan habe, wenn ich es Ihnen selbst nicht mehr werde sagen können. Werden Sie dann ein freundliches Wort für mich haben und es in jenem milden Tone sprechen, den Ihre Stimme hat, wenn Sie mit Fräulein Rachel reden? Wenn Sie das thun und wenn es wahr ist daß die Geister der Verstorbenen fortleben, so wird mein Geist es gewiß hören und vor Freude darüber erbeben.
Es ist Zeit, daß ich den Brief schließe, ich reize mich unöthiger Weise selbst zum Weinen. Wie soll ich meinen Weg nach dem Ort des Verstecks finden, wenn ich diesen unnützen Thränen gestatte, meinen Blick zu trüben.
»Ueberdies, warum soll ich die Sache von der schlimmsten Seite ansehen? Warum soll ich nicht, so lange ich kann, glauben, daß Alles doch noch ein gutes Ende nehmen wird? Vielleicht finde ich Sie heute Abend in guter Laune, oder —— wenn nicht, vielleicht gelingt es mir noch Morgen früh. Der Gram würde doch mein armes häßliches Gesicht nicht verschönern —— nicht wahr? Wer weiß, vielleicht habe ich diesen langen, langweiligen Brief ganz umsonst geschrieben. Aber der Sicherheit wegen soll er, wenn auch aus keinem andern Grunde, jetzt zusammen mit dem Nachthemd in sein Versteck wandern. Es war ein saures Stück Arbeit ihn zu schreiben. O! wenn es mir nur noch gelingt, mich mit Ihnen zu verständigen, wie gern will ich ihn zerreißen!
»Ich verbleibe Ihre Sie innig liebende ergebene Dienerin
Rosanna Spearman.«
Betteredge hatte den Brief für sich zu Ende gelesen. Nachdem er ihn sorgfältig wieder in’s Couvert gesteckt hatte, saß er gesenkten Hauptes, die Augen zu Boden geheftet, nachdenklich da.
»Betteredge«,« sagte ich, »enthält der Schluß des Briefes irgend etwas, was uns auf die rechte Spur führen könnte?«
Er blickte mit einem tiefen Seufzer langsam zu mir auf.
»Nichts, Herr Franklin!« antwortete er. »Wenn Sie meinem Rathe folgen, so lassen Sie den Brief jetzt in seinem Couvert, bis die angstvolle Aufregung, die Sie gegenwärtig bedrängt, vorüber ist. Der Brief wird Sie, wann Sie ihn auch lesen, tief betrüben. Lesen Sie ihn jetzt nicht!«
Ich legte den Brief in meine Brieftasche.
Ein Rückblick auf das 16. und 17. Capitel von Betteredge’s Erzählung wird dem Leser zeigen, daß in der That Grund genug vorhanden war, mich in dieser Weise in einem Augenblick zu schonen, wo meine Seelenstärke bereits auf eine so grausame Probe gestellt worden war. Noch zwei Mal hatte das unglückliche Mädchen noch einen letzten Versuch gemacht, mit mir zu reden; und beide Male hatte ich —— Gott weiß, wie unschuldigerweise —— das Mißgeschick gehabt, sie abzuschrecken. Am Freitag Abend hatte sie mich, wie Betteredge es treulich berichtet, allein am Billard gefunden. Ihr Benehmen und ihre Sprache hatten bei mir, wie sie es unter den obwaltenden Umständen bei jedem Andern gethan haben würden, die Vermuthung hervorgerufen, daß sie im Begriffe stehe, ein Schuldbekenntniß in Betreff des Verschwindens des Diamanten abzulegen. Um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich kein besonderes Interesse für sie an den Tag gelegt; um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich nur auf die Billardbälle geblickt, anstatt sie anzusehen; und was war die Folge gewesen? Sie war bis ins Herz getroffen von mir gegangen! Und endlich am Sonnabend —— an dem Tage, wo sie nach dem, was ihr Penelope gesagt hatte, meine Abreise als bevorstehend betrachten mußte —— verfolgte uns dasselbe Verhängniß. Noch einmal hatte sie es versucht, mich auf dem Wege im Gebüsch zu treffen und hatte mich dort in Gesellschaft von Betteredge und Sergeant Cuff gefunden. Sergeant Cuff hatte, seinen eigenen Nebenzweck im Auge, —— so laut, daß sie es hören konnte —— an mein Interesse für Rosanna Spearman appellirt. Abermals um des armen Geschöpfes selbst willen hatte ich die Frage des Polizeibeamten entschieden verneint und hatte —— so laut, daß sie auch meine Worte sollte hören können —— erklärt, daß ich nicht das geringste Interesse an Rosanna Spearman nehme. Bei diesen Worten, die lediglich dazu bestimmt waren, sie vor dem Versuch zu warum, mich zu ihrem Vertrauten Zu machen, war sie fortgegangen; auf die ihrer harrende Gefahr aufmerksam gemacht, wie ich damals glaubte —— entschlossen, sich selbst den Tod zu geben, wie ich jetzt weiß. Die aus jenen Moment folgenden Ereignisse habe ich bereits bis zu der merkwürdigen Entdeckung auf dem Zittersand fortgeführt Dem Leser ist jetzt ein vollständig zusammenhängender Rückblick möglich. Ich kann die unglückliche Geschichte Rosanna Spearman’s, an die ich auch jetzt noch nach so langer Zeit nicht ohne tiefe Betrübniß zurückdenken kann, hier in der Ueberzeugung abschließen, daß sich alles das, was hier absichtlich ungesagt geblieben ist, aus derselben von selbst ergeben wird.
Ich darf also wohl von diesem Selbstmord am Zittersand mit seinem sonderbaren und schrecklichen Einfluß auf meine gegenwärtige Lage und meine Aussichten für die Zukunft, zu Interessen, welche die lebenden Personen dieser Erzählung betreffen, und zu Ereignissen übergehen, welche mir bereits den Weg für meine langsame und mühselige Wanderung von Nacht zu Licht gebahnt hatten.
Sechstes Capitel.
Ich ging, wie ich wohl kaum zu sagen brauche, in Betteredge’s Begleitung nach der Eisenbahnstation. Ich hatte den Brief in meinem Taschenbuch und das Nachthemd in einem kleinen Sack bei mir, beide Gegenstände zu dem Zweck, um sie noch an diesem Abend, bevor ich mich zur Ruhe begab, dem forschenden Scharfsinn des Herrn Bruff vorzulegen.
Wir verließen das Haus schweigend. Zum ersten Male so lange ich denken konnte, befand ich mich in der Gesellschaft des alten Betteredge, ohne daß er mir ein Wort zu sagen gewußt hätte. Da ich aber ihm etwas zu sagen hatte, so fing ich eine Unterhaltung an, sobald wir aus dem Bereich der Pförtnerwohnung waren.
»Ehe ich nach London gehe,« begann ich, »habe ich zwei Fragen an Sie zu richten. Sie betreffen mich selbst und werden Sie, glaube ich, überraschen.«
»Wenn sie mir nur den Brief des armen Geschöpfes aus dem Sinn bringen, Herr Franklin, so mögen Sie übrigens mit mir thun, was Sie wollen. Bitte, fangen Sie nur an mich zu überraschen, so rasch Sie können.«
»Meine erste Frage, Betteredge, ist diese. War ich an dem Abend von Rachel’s Geburtstag betrunken?«
»Sie betrunken?« rief der Alte aus. »Es ist ja gerade ein großer Fehler an Ihnen, Herr Franklin, daß Sie nur bei Tische trinken und nach dem Mittagessen keinen Tropfen Flüssigkeit zu sich nehmen!«
»Aber der Geburtstag war eine besondere Gelegenheit. Ich hätte an jenem Abend vielleicht ausnahmsweise einmal von meiner Gewohnheit abweichen können.«
Betteredge dachte einen Augenblick nach.
»Sie sind von Ihrer Gewohnheit abgewichen,« sagte er, »und ich will Ihnen auch sagen, wieso. Sie sahen sehr elend aus und wir überredeten Sie, einen Schluck Cognac und Wasser zu trinken, um Ihre Lebensgeister ein wenig aufzufrischen.«
»Ich bin das Getränk nicht gewöhnt und es ist sehr möglich . . .«
»Warten Sie einen Augenblick, Herr Franklin. Ich wußte, daß Sie nicht daran gewöhnt seien. Ich goß Ihnen ein halbes Weinglas voll von unserm 50jährigen Cognac ein und —— zu meiner noch größeren Schande sei es gesagt! —— ertränkte diese edle Flüssigkeit nahezu in einem großen Glase Wasser. Das hätte ein Kind nicht betrunken machen können, geschweige denn einen erwachsenen Mann.«
Ich wußte, daß ich mich in einer derartigen Angelegenheit auf sein Gedächtniß vollkommen verlassen konnte. Es war rein unmöglich, daß mich jenes Getränk berauscht haben konnte. Ich ging zu meiner zweiten Frage über.
»Ehe ich auf Reisen geschickt wurde, Betteredge, hatten Sie mich als Knaben sehr gut gekannt. Nun sagen Sie mir, bitte, grade heraus, erinnern Sie sich je, nachdem ich Abends zu Bett gegangen war, irgend etwas Sonderbares an mir beobachtet zu haben? Haben Sie mich je nachtwandeln gesehen?«
Betteredge stand still, sah mich einen Augenblick an nickte mit dem Kopf und ging wieder weiter.
»Ich sehe, wo Sie hinauswollen, Herr Franklin,« sagte er, »Sie suchen nach einer Erklärung dafür, wie Sie zu dem Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd gekommen sind, ohne etwas davon zu wissen. Aber das geht nicht. Sie sind noch meilenweit von der Wahrheit entfernt, Sie nachtwandeln? In Ihrem Leben haben Sie nichts dergleichen gethan.«
Abermals mußte ich mich überzeugt halten, daß Betteredge Recht habe. Weder im Ausland noch zu Hause hatte ich je ein einsames Leben geführt. Wenn ich ein Nachtwandler war, so gab es hunderte und aber hunderte von Leuten, die mich beobachten, mich warnen und Vorsichtsmaßregeln gegen die Folgen meiner Gewohnheit hätten ergreifen müssen.
Aber obgleich ich das Alles zugeben mußte, so klammerte ich mich doch mit einem Eigensinn der unter den obwaltenden Umständen gewiß natürlich und entschuldbar war, an eine oder die andere dieser beiden einzigen Erklärungen, welche, soweit ich sehen konnte, einen Aufschluß über die unerträgliche Lage, in der ich mich befand, zu geben im Stande waren. Als Betteredge bemerkte, daß ich noch nicht völlig überzeugt sei, spielte er schlau auf gewisse spätere Ereignisse in der Geschichte des Mondsteins an und erschütterte damit sofort und für immer meine beiden Hypothesen.
»Lassen Sie uns einen andern Weg versuchen,« sagte er. »Behalten Sie Ihre Ansicht für sich und sehen Sie zu, wie weit Sie damit auf dem Wege der Entdeckung der Wahrheit gelangen werden. Wenn wir dem Nachthemd glauben müssen —— was ich für meine Person nicht thue —— so haben Sie nicht blos die Malerei an der Thür übergewischt, ohne es zu wissen, sondern auch den Diamanten genommen, ohne etwas davon zu wissen. Ist das soweit richtig?«
»Vollkommen richtig. Fahren Sie fort!«
»Nun wohl, Herr Franklin "Wir wollen annehmen, Sie seien betrunken oder ein Nachtwandler gewesen, als Sie den Edelstein nahmen. Damit ließen sich allenfalls die Vorgänge in der Nacht und am Morgen nach dem Geburtstage erklären: aber wie wollen Sie damit erklären, was seitdem geschehen ist? Der Diamant ist seitdem nach London gewandert, der Diamant ist seitdem an Herrn Luker verpfändet worden. Haben Sie diese beiden Dinge auch gethan, ohne etwas davon zu wissen? Waren Sie auch betrunken, als Sie an jenem Abend in der Ponychaise fortfahren? Und sind Sie auch zu Herrn Luker hin genachtwandelt, als Sie mit der Eisenbahn am Ziel ihrer Reise ankamen? Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr Franklin, aber diese Geschichte hat Sie außer Fassung gebracht, daß Sie noch nicht im Stande sind, selbst zu urtheilen. Je eher Sie Ihren Kopf mit Herrn Bruff's Kopf zusammenstecken, desto eher werden Sie aus der Sackgasse, in die Sie sich jetzt verrannt haben, wieder herausfinden.«
Wir kamen nur eine oder zwei Minuten zu früh an der Station an.
Ich konnte Betteredge nur noch rasch meine Adresse in London geben, damit er mir nöthigenfalls schreiben könne und» ihm meinerseits versprechen, ihn Neuigkeiten, die ich etwa mitzutheilen haben könnte, wissen zu lassen. Als ich das gethan hatte und ihm eben noch Lebewohl sagte, warf ich zufällig einen Blick auf den Buch und Zeitungsladen an der Station. Da stand der wunderlich aussehende Assistent des Herrn Candy wieder im Gespräch mit dem Inhaber des Ladens. Unsere Blicke begegneten sich. Ezra Jennings nahm seinen Hut vor mir ab. Ich erwiderte seinen Gruß und hatte noch eben Zeit in einen Wagen zu steigen, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Es war vielleicht eine tröstliche Ablenkung meiner Gedanken, mich mit irgend einem Gedanken zu beschäftigen, der anscheinend keinerlei persönliches Interesse für mich hatte. Ich fing die wichtige Reise die mich zu Herrn Bruff zurückführen sollte, damit an, mich darüber zu wundern, daß ich den Mann mit dem scheckigen Haar zweimal an einem Tage gesehen hatte!
Die Stunde meiner Ankunft in London ließ den Versuch, Herrn Bruff noch auf seinem Bureau zu treffen, ganz hoffnungslos erscheinen. Ich fuhr von der Eisenbahn direct nach seiner Privatwohnung in Hampstead und störte den alten, Advocaten bei seinem einsamen Mittagsschläfchen, daß er, seinen Lieblingsmops auf dem Schooß und seine Flasche Wein vor sich in seinem Eßzimmer hielt.
Ich kann den Eindruck, den meine Geschichte auf Herrn Bruff’s Gemüth hervorbrachte, nicht besser schildern, als wenn ich erzähle was er vornahm, nachdem er sie zu Ende gehört hatte. Er beorderte Licht und starken Thee in sein Arbeitszimmer und ließ seinen Damen sagen, sie möchten uns unter keinem denkbaren Vorwand stören. Nach Erledigung dieser einleitenden Maßregeln prüfte er zuerst das Nachthemd und las dann Rosanna Spearman’s Brief.
Nach beendigter Lectüre redete mich Herr Bruff zum ersten Mal, seit wir uns in sein Zimmer eingeschlossen hatten, an.
»Franklin Blake,« sagte der alte Herr, das ist eine sehr ernste Geschichte in mehr als einer Beziehung. Nach meiner Ansicht geht sie Rachel ganz so nahe an, wie Sie. Ihr auffallendes Benehmen hat jetzt nichts Geheimnisvolles mehr, sie glaubt, daß Sie den Diamanten gestohlen haben.«
Ich war bis jetzt vor diesem naheliegenden Schluß zurückgeschreckt, aber er hatte sich nichtsdestoweniger auch mir bereits aufgedrängt. Mein Entschluß, eine persönliche Besprechung mit Rachel zu erlangen, beruhte gerade auf dem eben von Herrn Bruff angegebenen Grunde.
»Der erste Schritt, den wir bei unsern Nachforschungen zu thun haben,« fuhr der Advocat fort, »ist, uns an Rachel zu wenden. Sie hat diese ganze Zeit her aus Gründen geschwiegen, welche ich, der ich ihren Charakter kenne, sehr gut begreife. Jetzt aber ist es, nach dem was geschehen ist, unmöglich, sich noch länger in dieses Schweigen zu ergeben. Sie muß überredet oder nöthigenfalls gezwungen werden, uns zu sagen, worauf sich der Glaube, daß Sie den Diamanten gestohlen haben, stützt. Unsere Hoffnung beruht darauf, daß diese ganze Angelegenheit, ernst wie sie jetzt noch erscheint, in Nichts zerfallen wird, wenn wir nur Rachel’s eingewurzelte Zurückhaltung durchbrechen und sie bewegen können sich auszusprechen.«
»Das ist eine für mich sehr tröstliche Ansicht,« sagte ich, »ich gestehe, ich möchte wissen ——«.
»Sie möchten wissen, wie ich dieselbe begründen kann,« unterbrach mich Herr Bruff »Ich kann Ihnen das in zwei Minuten sagen. Vergegenwärtigen Sie sich zunächst, daß ich diese Angelegenheit von einem advokatischen Standpunkt aus betrachte. Für mich ist es eine Beweisfrage. Nun wohl! Der Beweis aber fällt sofort in einem bedeutenden Punkt zusammen.«
»In welchem Punkt?«
»Das sollen Sie hören. Ich gebe zu, daß das Namenszeichen beweist, daß das Nachthemd das Ihrige ist, ich gebe zu, daß der Farbenfleck beweist, daß das Nachthemd den Fleck an Rachel’s Thür verursacht hat, aber wo ist der Beweis für Sie oder für mich, daß Sie die Person sind, die das Nachthemd getragen hat?«
Dieser Einwand electrisirte mich. Das war mir bis jetzt nie in den Sinn gekommen!
»Was den Brief da betrifft,« fuhr der Advokat fort, indem er Rosanna Spearman’s Bekenntnisse in die Hand nahm, so begreife ich, daß sein Inhalt Sie betrübt. Ich begreife, daß Sie Anstand nehmen, denselben von einem ganz unpartheiischen Standpunkt aus zu analysiren. Aber Ihre Rücksichten sind nicht bindend für mich. Ich darf meine berufsmäßige Erfahrung bei diesem Document so gut zur Anwendung bringen, wie ich es bei jedem andern thun würde. Ohne die Vergangenheit des Mädchens, als einer Diebin, weiter in Betracht zu ziehen, will ich nur darauf aufmerksam machen, daß sie sich nach ihrem eigenen Brief als eine in alle Künste der Täuschung eingeweihte Person ausweist und ich folgere daraus meine Berechtigung zu dem Verdacht, daß sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Ich will für jetzt keine Vermuthungen über das aussprechen, was sie gethan oder nicht gethan haben kann. Ich will nur soviel sagen, wenn Rachel’s Verdacht sich nur auf den Beweis des Nachthemd gründet, so ist die Wahrscheinlichkeit neunundneunzig zu eins, daß Rosanna Spearman die Person war, die ihr das Nachthemd gezeigt hat. Dafür spricht in dem Brief das Bekenntniß des Mädchens daß sie eifersüchtig auf Rachel war, daß sie die Rosen vertauschte, daß sie einen Hoffnungsstrahl für sich in der Aussicht auf einen Zwist zwischen Rachel und Ihnen erblickte. Ich halte mich nicht bei der Frage auf, wer den Mondstein genommen hat (Rosanna Spearman würde, um einen bestimmten Zweck damit zu erreichen, fünfzig Mondsteine genommen haben), —— ich sage nur, daß das Verschwinden des Edelsteins dieser gebesserten Diebin, welche in Sie verliebt war, Gelegenheit gab, Sie und Rache! auf immer zu veruneinigen, und —— vergessen Sie nicht, daß sie damals noch nicht entschlossen war sich das Leben zu nehmen, —— ich behaupte fest, daß es ihrer Stellung und ihrem Charakter entsprach, die sich darbietende Gelegenheit zu ergreifen. Was sagen Sie dazu?«
»Ich selbst,« antwortete ich, »konnte mich eines ähnlichen Verdachtes nicht erwehren, sobald ich den Brief eröffnet hatte.«
»Da haben wir’s! Und als Sie den Brief zu Ende gelesen hatten, empfunden Sie Mitleid mit dem armen Geschöpf und konnten es nicht über sich gewinnen, sie zu verdächtigen. Gereicht Ihnen zur Ehre, mein lieber Herr, nur zur Ehre!«
»Aber angenommen, es ergäbe sich, daß ich doch das Nachthemd getragen habe, was dann?«
»Ich vermag nicht einzusehen, wie eine solche Thatsache zu beweisen sein soll,« sagte Herr Bruff, »aber angenommen der Beweis wäre möglich, so würde allerdings die Einbringung Ihrer Unschuld keine leichte Sache sein. Lassen Sie uns darauf jetzt nicht näher eingehen. Lassen Sie uns warten und zusehen, ob Rachel ihren Verdacht gegen Sie lediglich auf den Beweis des Nachthemds gegründet hat.«
»Guter Gott, wie kühl Sie von Rachel’s Verdacht gegen mich reden!« brach ich aus. »Welches Recht hatte sie, auf irgend welchen Beweis hin mich im Verdacht eines Diebstahls zu haben?«
»Eine sehr verständige Frage, mein lieber Freund. Etwas hitzig aufgeworfen, aber nichtsdestoweniger der Erwägung werth. Was Sie intriguirt, intriguirt mich auch. Besinnen Sie sich recht und sagen Sie mir: Ist während Ihres Aufenthalts im Hause irgend etwas vorgekommen, was geeignet gewesen wäre —— nicht, Rachel’s Glauben an Ihre Ehre, davon kann keine Rede sein ——, sondern sagen wir, einerlei mit wie großem Recht, ihren Glauben an Ihre Grundsätze im Allgemeinen zu erschüttern?«
Ich sprang, ganz außer mir vor Aufregung, auf. Die Frage des Advokaten erinnerte mich, zum ersten mal, seit ich England verlassen hatte, daß allerdings etwas der Art vorgekommen war.
In dem achten Capitel von Betteredge’s Erzählung wird man die kurze Erwähnung der Ankunft eines unbekannten Ausländers im Hause meiner Tante finden, welcher mich in Geschäften sprechen wollte. Die fragliche geschäftliche Angelegenheit war folgende:
Ich war thöricht genug gewesen, —— in einem Augenblick, wo ich mich, wie oft, in bedrängten finanziellen Umständen befand, —— ein Darlehn von dem Inhaber einer kleinen Restauration in Paris anzunehmen, dem ich als regelmäßiger Besucher seines Etablissements wohl bekannt war. Ich hatte eine bestimmte Frist für die Rückzahlung des Geldes mit ihm verabredet, und als die Frist abgelaufen war, fand ich es, wie es tausend andere ehrliche Leute in ähnlichen Lagen auch gefunden haben, unmöglich, meiner Verpflichtung nachzukommen Ich schickte dem Mann einen Wechsel. Mein Name war unglücklicherweise nur zu oft auf solchen Documenten gesehen worden: er konnte den Wechsel nicht begeben. Seine Verhältnisse waren, seit ich das Geld von ihm geborgt hatte, in Unordnung gerathen; er war dem Bankrott nahe, und ein Verwandter von ihm, ein französischer Advokat, kam nach England, um mich aufzusuchen und auf die Bezahlung meiner Schuld zu bestehen. Der Mann war sehr leidenschaftlicher Natur und schlug den verkehrten Weg bei mir ein. Es kam zu heftigen Worten auf beiden Seiten, und meine Tante, die mit Rachel unglücklicherweise in einem anstoßenden Zimmer war, wo sie uns hörten, kam herein und bestand darauf, zu erfahren, um was es sich handele. Der Franzose producirte seine Vollmacht und erklärte mich verantwortlich für den Ruin eines armen Mannes, der meiner Ehrenhaftigkeit vertraut habe. Meine Tante bezahlte ihm auf der Stelle das Geld und schickte ihn fort. Sie kannte mich natürlich zu gut, um die Auffassung des Franzosen über die Sache zu theilen. Aber sie war betroffen über meinen Leichtsinn und mit Recht auf mich erzürnt, daß ich mich in eine Lage gebracht habe, welche, wenn sie sich nicht in’s Mittel gelegt hätte, sehr unangenehm für mich hätte werden können. Ob Rachel von ihrer Mutter erfuhr oder selbst hörte, was im Nebenzimmer vorging, weiß ich nicht, aber sie faßte die Sache in ihrer romantisch hochfliegenden Weise auf. Ich war »herzlos«, ich war »unehrenhaft«, ich hatte »keine Grundsätze«, man könne nicht wissen, »was ich noch thun werde« —— kurz, sie sagte mir die stärksten Dinge, die ich jemals von den Lippen eines jungen Mädchens gehört hatte. Der Bruch zwischen uns dauerte den ganzen nächsten Tag. Schon am Abend dieses Tages aber gelang es mir, mich wieder mit ihr auszusöhnen, und ich dachte nicht mehr an die Sache. Hatte Rachel sich dieses unglücklichen Vorfalls in dem kritischen Augenblick erinnert, wo meine Stellung in ihrer Achtung abermals und zwar dieses Mal viel ernsthafter gefährdet war? Herr Bruff beantwortete diese Frage, als ich ihm die Umstände erzählt hatte, sofort bejahend.
»Ohne Zweifel hat ihr das einen tiefen Eindruck gemacht,« sagte er ernst, »und ich wünschte um Ihretwillen, die Sache wäre nicht passirt. Indessen haben wir doch damit die Gewißheit erlangt, daß eine ungünstige Voreingenommenheit gegen Sie vorhanden war und auf jeden Fall haben wir damit eine Ungewißheit aus dem Wege geräumt. Ich sehe nicht, was wir im Augenblick noch mehr thun könnten. Unser nächster Schritt in dieser Untersuchung muß der sein, der uns zu Rachel führt.«
Er erhob sich und fing an, nachdenklich im Zimmer aus und ab zu gehen. Zweimal stand ich auf dem Punkte ihm zu sagen, daß ich entschlossen sei, Rachel selbst zu sprechen, und zweimal zauderte ich mit Rücksicht auf sein Alter und seinen Charakter, ihn in einem ungünstigen Augenblick zu überraschen.
»Die große Schwierigkeit,« fing er wieder an, »besteht darin, Rachel dahin zu bringen, sich in dieser Angelegenheit rückhaltlos auszusprechen. Wissen Sie etwas vorzuschlagen?«
»Ich bin zu dem Entschluß gekommen, selbst mit Rachel zu reden, Herr Bruff.«
»Sie?« Er stand plötzlich still und sah mich an, als fürchte er, ich sei verrückt geworden. »Von allen Menschen in der Welt wären Sie ——« hier hielt er plötzlich inne und fing wieder an, im Zimmer und ab zu gehen. »Doch halt,« sagte er, »in so außerordentlichen Fällen sind rasche Entschlüsse oft die besten.« Er betrachtete die Sache einen Augenblick unter diesem neuen Gesichtspunkt und entschied sich dann kühn für meinen Vorschlag. »Wer wagt, gewinnt,« fing der alte Herr wieder an. »Zu Ihren Gunsten spricht etwas, dessen ich mich nicht rühmen kann —— und so mögen Sie den Versuch wagen.«
»Etwas zu meinen Gunsten?« wiederholte ich höchst überrascht.
Zum ersten Male zeigte sich ein Lächeln auf Herrn Bruff’s Antlitz.
»Die Sache steht so,« sagte er, »ich gestehe Ihnen offen, ich habe kein großes Vertrauen weder zu Ihrer Discretion, noch zu Ihrem Temperament. Aber ich rechne darauf, daß, Rachel in einem verborgenen Winkel ihres Herzens noch eine unvertilgbare Neigung für Sie bewahrt. Verstehen Sie es, diese Seite anzuschlagen und Sie sind sicher, weiblichen Lippen die umfassendsten Bekenntnisse zu entlocken. Es fragt sich nur, wie wollen Sie zu einer Besprechung mit ihr gelangen?«
»Sie ist längere Zeit Ihr Gast gewesen,« antwortete ich, »darf ich den Vorschlag machen, daß ich sie —— vorausgesetzt, daß sie vorher nichts von mir erfährt —— hier treffe?«
»Ein kühner Vorschlag.« Mit diesem einzigen Ausruf auf meine Erwiderung setzte er seine Wanderung durchs Zimmer fort.
»Mit andern Worten,« sagte er, »ich soll mein Haus zu einer Falle für Rachel hergeben und als Köder soll eine Einladung meiner Frau und meiner Töchter dienen. Wenn Sie nicht Franklin Blake wären und wenn diese Angelegenheit nicht eine so sehr ernste wäre, so würde ich Ihnen Ihre Bitte rund abschlagen. Wie die Sachen aber stehen, so glaube ich fest, daß Rachel es mir ihr Leben lang danken wird, wenn ich in meinen alten Tagen zum Verräther an ihr werde. Betrachten Sie mich als Ihren Complicen wir wollen Rachel einladen, einen Tag bei uns zuzubringen, und Sie sollen rechtzeitig davon in Kenntniß gesetzt werden!«
»Wann! morgen?«
»Bis morgen würden wir ihre Antwort nicht haben können, sagen wir übermorgen.«
»Wie, wollen Sie mich es wissen lassen?«
»Bleiben Sie den ganzen Vormittag zu Hause und erwarten Sie meinen Besuch.«
Ich dankte ihm von ganzem Herzen für den unschätzbaren Beistand, den er mir zu leisten bereit war und kehrte, indem ich seine gastliche Aufforderung, bei ihm zu übernachten, ablehnte, nach meiner Wohnung in London zurück.
Von dem folgenden Tage habe ich weiter nichts zu sagen, als daß es der längste meines Lebens war. So unschuldig ich mich fühlte, so gewiß ich war, daß der abscheuliche Verdacht, der auf mir ruhte, sich früher oder später aufklären müsse, war mein Gemüth doch in einer Weise belastet, die mich instinctiv abgeneigt machte, meine Freunde zu sehen. Wir hören oft (freilich meist von oberflächlichen Beobachtern) sagen, daß Schuld wie Unschuld aussehen kann, ich halte es für einen unendlich viel wahreren Satz, daß Unschuld wie Schuld ansehen kann. Ich ließ mich den ganzen Tag über vor allen Besuchern verleugnen und wagte mich erst nach Dunkelwerden auf die Straße.
Am nächsten Morgen überraschte mich Herr Bruff beim Frühstück. Er überreichte mir einen großen Schlüssel und erklärte, daß er sich zum ersten Mal in seinem Leben vor sich selbst schäme.
»Komm sie?«
»Sie kommt heute zum zweiten Frühstück und bleibt den Nachmittag bei uns.«
»Sind Ihre Damen eingeweiht?«
»Das wäre nicht zu vermeiden. Und Frauen haben, wie Sie wissen werden, keine Grundsätze meine Frauenzimmer fühlen nicht die Spur von der Gewissensangst, die mich bedrängt. Da es sich um den Zweck handelt, Sie und Rachel wieder zusammen zu bringen, setzen sich meine Frau und meine Töchter über die Mittel, diesen Zweck zu erreichen, mit einer Leichtigkeit hinweg, als ob sie Jesuiten wären.«
»Ich bin ihnen unendlich dankbar! Wozu ist dieser Schlüssel?«
»Es ist der Schlüssel zur Pforte meines Hintergartens. Stellen Sie sich heute Nachmittag um 3 Uhr ein. Gehen Sie durch den Garten und treten Sie durch die Treibhausthür in’s Haus. Gehen Sie durch das kleine Wohnzimmer und öffnen Sie die dem Eingang gegenüber befindliche Thüre, welche in das Musikzimmer führt. Da werden Sie Rachel allein finden«
»Wie soll ich Ihnen danken!«
»Das will ich Ihnen sagen: Indem Sie mich nicht für das verantwortlich machen, was daraus entstehen kann.«
Mit diesen Worten verließ er mich. Viele lange Stunden lagen noch vor mir. Um mir die Zeit zu vertreiben, sah ich die für mich eingetroffenen Briefe durch. Unter ihnen befand sich einer von Betteredge. Ich öffnete denselben hastig. Zu meiner Ueberraschung und Enttäuschung fing derselbe mit der entschuldigenden Ankündigung, daß er keine Nachrichten von Wichtigkeit enthalten werde, an. Im nächsten Satz erschien wieder der ewige Ezra Jennings! Er hatte Betteredge beim Verlassen der Station angehalten und ihn gefragt, wer ich sei. Darüber unterrichtet, hatte er seinem Prinzipal, Herrn Candy, erzählt, daß er mich gesehen habe. Auf diese Mittheilung war Herr Candy selbst zu Betteredge hinübergefahren, um sein Bedauern darüber auszudrücken, daß wir uns verfehlt hätten. Er habe aus einem besonderen Grunde gewünscht, mich zu sprechen und bat, ich möge das nächste Mal, wo ich in die Nähe von Frizinghall käme, es ihn wissen lassen. Abgesehen von ein Paar charakteristischen Aeußerungen der Betteredge’schen Philosophie, war die vorstehende Mittheilung die Quintessenz des Briefes. Der gutherzige, treue Alte gestand, daß er hauptsächlich nur um des Vergnügens willen, das ihm das Schreiben an mich gewähre, geschrieben habe.
ich steckte den Brief zerknittert in die Tasche und vergaß ihn im nächsten Augenblick über meiner Alles absorbierenden Spannung auf die bevorstehende Zusammenkunft mit Rachel. In dem Moment, wo die Uhr an der Kirche von Hampstead Drei schlug, steckte ich Herrn Bruff’s Schlüssel in das Schlüsselloch der Gartenpforte. Als ich den ersten Schritt in den Garten that und die Thür an der inneren Seite wieder verschloß, überkam mich, wie ich bekennen muß, ein gewisses Gefühl von schuldbewußter Unsicherheit, in Betreff dessen, was mir die nächste Stunde bringen werde. Ich ließ meine Blicke verstohlen nach rechts und links hinschweifen, in der Furcht irgendwo in einem unbekannten Winkel des Gartens einen unerwarteten Zeugen zu erblicken. Es zeigte sich nichts, was meine Besorgniß gerechtfertigt hätte. Die Gänge des Gartens standen leer und die Vögel und Bienen waren meine einzigen Zeugen.
Ich durchschritt den Garten, trat in das Treibhaus und ging durch das kleine Wohnzimmer. Als ich meine Hand auf den Drücker der gegenüberliegenden Thür legte, tönten mir ein Paar auf dem Clavier angeschlagene klagende Töne aus dem Musikzimmer entgegen. Oft hatte sie in dieser Weise aus dem Instrument phantasirt, als ich zum Besuch im Hause ihrer Mutter war. Ich mußte einen Augenblick warten, um mich zu fassen. Vergangenheit und Gegenwart traten mir in diesem entscheidenden Augenblick mit einem Schlage vor die Seele und drängten mir das Bewußtsein eines ungeheuren Contrastes auf.
Nach Verlauf einiger Minuten ermannte ich mich und öffnete die Thür.
Siebentes Capitel.
In dem Augenblick, wo ich in der Thür erschien, stand Rachel vom Clavier auf. Ich schloß die Thür hinter mir. Wir standen uns an den beiden entgegengesetzten Seiten des Zimmers schweigend gegenüber. Mein Anblick schien wie erstarrend auf sie zu wirken. Mich überkam die Besorgniß daß ich zu plötzlich erschienen sei. Ich trat einige Schritte ihr entgegen und sagte in sanftem Tone: »Rachel!«
Der Ton meiner Stimme schien ihre Glieder wieder zu beleben und ihre Wangen wieder zu färben. Sie trat ihrerseits vor, noch ohne zu reden. Langsam, als ob sie unter einem von ihrem Willen unabhängigen Einfluß handle, trat sie näher und näher auf mich zu mit tief gerötheten Wangen, und mit Blicken aus denen jeden Augenblick das Licht des wieder erwachten geistigen Bewußtseins aufleuchtete. Ich vergaß den Zweck, der mich zu ihr geführt hatte; ich vergaß den niedrigen Verdacht, der auf meinem guten Namen ruhte, —— ich vergaß jede auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezügliche Erwägung, der ich hätte eingedenk sein sollen. Ich sah nichts, als daß das Weib, das ich liebte, näher und näher auf mich zukam. Sie zitterte und stand unentschlossen da.
Ich konnte nicht länger widerstehen, —— ich umschlang sie mit meinen Armen und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
Einen Augenblick glaubte ich, sie erwiedere meine Küsse, einen Augenblick schien es mir, auch sie habe Alles vergessen. Aber noch ehe ich diesen Gedanken recht zu fassen vermochte, ließ mich ihre erste bewußte Handlung fühlen, daß sie sich des Vergangenen noch erinnere. Mit einem Schrei, der wie ein Schrei des Entsetzens klang, mit einer Kraft, der ich schwerlich Widerstand zu leisten im Stande gewesen wäre, auch wenn ich es versucht hätte —— stieß sie mich von sich. Aus ihren Augen leuchtete erbarmungsloser Zorn; erbarmungslose Verachtung schwebte auf ihren Lippen. Sie musterte mich mit ihren Blicken vom Kopfe bis zu den Füßen, wie sie einen Fremden gemustert haben würde, der sie insultirt hätte.
»Du Feigling!« rief sie aus, »Du gemeiner, elender, herzloser Feigling!«
Das waren die ersten Worte. Der unerträglichste Vorwurf, den ein Weib einem Manne machen kann, war es, den sie mir entgegenschleuderte.
»Ich erinnere mich der Zeit, Rachel,« sagte ich, »wo Du mir in würdigeren Worten gesagt haben würdest, daß ich Dich beleidigt habe. Ich bitte Dich um Verzeihung.«
Der Ton meiner Stimme mochte etwas von der Bitterkeit, die ich empfand, verrathen haben. Bei den ersten Worten meiner Erwiederung blickten ihre Augen, die sich noch eben von mir abgewandt hatten, unwillkürlich wieder zu mir hin. Sie antwortete in leisem Ton mit dem Ausdruck einer matten Ergebung ihres ganzen Wesens, der mir an ihr ganz neu war:
»Vielleicht giebt es eine Entschuldigung für mich. Nach dem, was Du gethan hast, kommt es mir wie eine gemeine Handlung von Dir vor, daß Du Dich so bei mir einschleichst, wie eine gemeine Handlung daß Du versuchst, meine alte Neigung für Dich auch jetzt noch anzudeuten, mich durch Ueberrumpelung zu verleiten, Dich zu küssen. Aber das ist nur eine weibliche Auffassung. Ich hätte wissen sollen, daß Du die Sache anders, ansehen mußt. Ich hätte besser gethan, mich zu beherrschen und nichts zu sagen.«
Die Entschuldigung war mir noch unerträglicher als die Insulte. Ein noch so tief gesunkener Mensch hätte sich dadurch gedemüthigt fühlen müssen.
»Wenn meine Ehre nicht in Deinen Händen läge,« sagte ich, »so würde ich Dich in diesem Augenblick verlassen, um Dich nie wiederzusehen. Du hast von Dem gesprochen, was ich gethan habe. Was habe ich gethan?«
»Was Du gethan hast! Das fragst Du mich?«
»Das frage ich!«
»Ich, habe Deine Schande geheim gehalten,« antwortete sie, »und habe die Folgen dieser Geheimhaltung getragen. Kann ich nicht verlangen, mit der insultirenden Frage, was Du gethan hast, von Dir verschont zu werden? Ist jedes Gefühl der Dankbarkeit in Dir erstorben? Einst warst Du meiner Mutter theuer und mir noch theurer ——«
Ihre Stimme versagte ihr; sie sank in einen Sessel, wandte ihr Gesicht von mir ab und bedeckte es mit ihren Händen.
Ich wartete einige Augenblicke, bevor ich es wagte wieder das Wort zu ergreifen. Ich wüßte nicht zu sagen, was ich in diesen Augenblicken des Schweigens schmerzlicher empfand —— den Stich ins Herz, den ihre Verachtung mir versetzt hatte, oder die stolze Zurückweisung jedes Antheils an ihrem Kummer.
»Wenn Du nicht zuerst reden willst,« sagte ich, »so muß ich es thun. Ich bin hergekommen, um Dir ein ernstes Wort zu sagen. Willst Du mir die einfache Gerechtigkeit widerfahren lassen, zuzuhören, während ich rede?«
Sie gab keine Antwort und regte sich nicht. Ich versuchte es nicht zum zweiten Mal mit einem Appell an ihre Gefühle. Ich trat ihrem Sessel um keinen Zoll näher. Mit einem Stolz, der nicht weniger eigensinnig war als der ihrige, erzählte ich ihr meine Entdeckung am Zitterstrand und Alles was zu derselben geführt hatte. Die Erzählung nahm natürlich einige Zeit in Anspruch, aber während dieser ganzen Zeit blickte sie nicht zu mir auf, sprach sie keine Silbe.
Ich beherrschte mich. Meine ganze Zukunft hing aller Wahrscheinlichkeit nach davon ab, daß ich in diesem Augenblick nicht die Herrschaft über mich verlor. Der Moment war gekommen, Herrn Bruff’s Theorie auf die Probe zu stellen. In der furchtbaren Aufregung, in die mich dieses Unternehmen versetzte, trat ich dicht vor sie hin.
»Ich habe Dir eine Frage zu thun,« sagte ich, »die mich zwingt, wieder auf einen peinlichen Gegenstand zurückzukommen. Hat Rosanna Spearman Dir das Nachthemd gezeigt? Ja oder nein?«
Sie sprang auf und trat gerade auf mich zu. Ihre Augen blickten mir forschend in’s Gesicht, als ob sie etwas darin lesen wollten, was sie noch nie darin gesehen hätten.
»Bist Du verrückt?« fragte sie.
Ich nahm mich noch immer zusammen und sagte ruhig: »Rachel, willst Du mir meine Frage nicht beantworten?«
Ohne die geringste Notiz von meiner Frage zu nehmen, fuhr sie fort:
»Hast Du einen mir unbekannten Zweck im Auge, eine niedrige Furcht vor der Zukunft? Man sagt, der Tod Deines Vaters habe Dich zum reichen Mann gemacht. Bist Du hergekommen mich für den Verlust meines Diamanten zu entschädigen? Und hast Du noch das Herz, Dich dieses Zweckes zu schämen? Ist das das Geheimniß Deiner vorgeblichen Unschuld und Deiner Geschichte von Rosanna Spearman? Steckt hinter all’ Deiner Falschheit dieses Mal ein Rest von Scham?«
Hier fiel ich ihr in’s Wort. Meine Selbstbeherrschung hatte ihr Ende erreicht.
»Du hast mir schmähliches Unrecht gethan,« brach ich leidenschaftlich aus, »Du hast mich in Verdacht Deinen Diamanten gestohlen zu haben. Ich habe ein Recht, nach dem Grunde Deines Verdachts zu fragen, und ich will ihn wissen!«
»Im Verdacht?« rief sie in wachsendem Zorn aus.
»Nichtswürdiger, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Du den Diamanten genommen hast!«
Die Enthüllung, welche mich in diesen Worten traf, welche die ganze Auffassung des Falles, auf die Herr Bruff seine Hoffnungen gebaut hatte, über den Hausen warfen, schlug mich hilflos zu Boden. unschuldig wie ich war, blieb ich schweigend vor ihr stehen. In ihren Augen, in Jedermanns Augen mußte ich wie ein Mensch aussehen, der durch die Entdeckung seiner eigenen Schuld überwältigt ist.
Sie wandte dem Schauspiel meiner Demüthigung und ihres Triumphs den Rücken. Mein plötzliches Verstummen schien sie zu erschrecken. »Ich habe Dich damals geschont,« sagte sie, »und ich hätte Dich jetzt geschont, wenn Du mich nicht zum Reden gezwungen hättest.« Sie entfernte sich von mir, als wolle sie das Zimmer verlassen, aber bevor sie die Thür erreichte stand sie wieder still und fragte: »Warum bist Du hergekommen, Dich selbst zu demüthigen, mich zu demüthigen?« Dann ging sie wieder einige Schritte weiter und stand abermals still. »Um Gottes willen, sage etwas!« rief sie leidenschaftlich aus. »Wenn Du noch einen Funken Erbarmen für mich hast, laß mich nicht weiter erniedrigen! Sage etwas, das mich zum Zimmer hinaus treibt!«
Ich trat, meiner Sinne kaum mehr mächtig, auf sie zu. Vielleicht hatte ich den unklaren Gedanken, sie zurückzuhalten, bis sie noch mehr gesagt haben würde. Von dem Augenblick an, wo ich wußte, daß der Beweis, auf den sich Rachel’s Berurtheilung meiner stützte der Augenschein war, stand mir nichts mehr, selbst nicht die Ueberzeugung von meiner eigenen Unschuld fest. Ich ergriff ihre Hand und versuchte es, bestimmt und zur Sache zu reden, aber Alles, was ich herausbringen konnte, war: »Rachel, Du hast mich einst geliebt.«
Sie schauderte und wandte ihre Blicke von mir weg. Ihre Hand lag kraftlos und zitternd in der Meinigen.
»Laß mich los!« sagte sie matt.
Die Berührung meiner Hand schien ebenso auf sie gewirkt zu haben, wie der Ton meiner Stimme, als ich zuerst in’s Zimmer getreten war. Sie hatte mich einen Feigling genannt, sie hatte ausgesprochen, was mich als einen Dieb brandmarkte, —— und doch, so lange ihre Hand noch in der meinigen lag, beherrschte ich sie!
Ich zog sie sanft nach der Mitte des Zimmers zurück. Ich ließ sie neben mir nieder sitzen.
»Rachel,« sagte ich, »ich kann den Widerspruch, der in dem liegt, was ich Dir sagen will, nicht erklären. Ich kann nur die Wahrheit sagen, wie Du sie gesagt hast. Du hast mich mit Deinen eigenen Augen gesehen, Du hast gesehen, wie ich den Diamanten genommen habe. Bei den Allmächtigen, der uns hört, erkläre ich, daß ich bis zu diesem Augenblick keine Ahnung davon gehabt habe, daß ich es gewesen bin, der den Diamanten genommen hat! Zweifelst Du noch an der Wahrheit meiner Worte?«
Was ich that und sagte, ging unbemerkt an ihr vorüber.
»Laß meine Hand los!« wiederholte sie schwach.
Das war ihre einzige Antwort. Ihr Kopf sank auf meine Schulter und ihre Hand drückte unbewußt die meinige in demselben Augenblick wo sie mich bat, sie loszulassen.
Ich unterließ es, mit meiner Frage in sie zu dringen. Aber damit hatte auch meine Geduld ihr Ende erreicht. Die Möglichkeit, je wieder unter rechtschaffenen Männern meinen Kopf hochhalten zu können, hing davon ab, daß ich Rachel vermochte, ihre Enthüllung vollständig zu machen. Die einzige mir noch übrige Hoffnung bestand darin, daß sie in ihrer Beweiskette etwas übersehen haben könnte —— vielleicht eine Kleinigkeit, die sich nichtsdestoweniger bei sorgfältiger Nachforschung als das Mittel ergeben könnte, schließlich doch meine Unschuld darzuthun. Ich ließ ihre Hand in der Meinigen. Ich sprach zu ihr mit aller Macht der Beredsamkeit, welche mir die Erinnerung an ihr Vertrauen und ihre Sympathie in vergangenen Tagen verlieh.
»Ich möchte Dich um etwas bitten,« sagte ich. »Erzähle mir jeden Umstand, der sich von dem Augenblick an, wo wir uns gute Nacht wünschten, bis zu jenem ereignete, wo Du mich den Diamanten nehmen sahst.«
Sie erhob ihr Haupt von meiner Schulter und versuchte es, ihre Hand loszumachen »O! warum Das wiederholen,« sagte sie, »warum Das wiederholen!«
»Das will ich Dir sagen, Rachel, Du und ich, wir sind Beide die Opfer einer ungeheuerlichen Vorspiegelung, die sich in die Maske der Wahrheit zu kleiden gewußt hat. Wenn wir uns zusammen wieder in’s Gedächtniß rufen, was an dem Abende Deines Geburtstages geschah, so können wir uns doch vielleicht noch verständigen.«
Ihr Haupt sank auf meine Schulter. Thränen rollten ihr langsam über die Wangen herab. »O!« sagte sie, »habe ich denn nicht auch einmal diese Hoffnung genährt? Habe ich denn nicht versucht, die Sache so anzusehen, wie Du es jetzt versuchst?«
»Du hast es allein versucht,« antwortete ich, »Du hast es noch nicht mit mir zusammen versucht.«
Diese Worte schienen etwas von der Hoffnung in ihr zu erwecken, die ich selbst empfand, indem ich sie aussprach. Sie beantwortete meine Fragen nicht nur willig, sie strengte ihren Verstand an, sie öffnete mir bereitwillig ihr ganzes Gemüth.
»Laß uns,« sagte ich. »Mit Dem anfangen, was zuerst geschah, nachdem wir einander gute Nacht gewünscht hatten. Gingst Du zu Bett oder bliebst Du noch auf?«
»Ich ging zu Bett«
»Erinnerst Du Dich der Zeit? war es spät?«
»Nicht sehr. Ungefähr Mitternacht, glaube ich.
»Schliefst Du sofort ein?«
»Nein, ich konnte in jener Nacht gar nicht schlafen.
»Warst Du unruhig?«
»Ich dachte an Dich.«
Die Antwort brachte mich fast um meine Fassung. Etwas in ihrem Ton, noch mehr als in ihren Worten, traf mich in’s tiefste Herz. Erst nach einer kleinen Pause konnte ich fortfahren.
»Hattest Du Licht in Deinem Zimmer» fragte ich.
»Nein, nicht eher, bis ich wieder aufstand und mir ein Licht anzündete.«
Wie lange war das, nachdem Du zu Bett gegangen warst?«
»Ungefähr eine Stunde, vielleicht um 1 Uhr.«
»Verließest Du Dein Schlafzimmer?
»Ich war im Begriff, es zu verlassen. Ich hatte meinen Schlafrock angezogen und wollte in mein Wohnzimmer gehen, um mir ein Buch zu holen.«
»Hattest Du Deine Schlafstubenthür geöffnet?
»Ich hatte sie eben geöffnet.«
»Aber Du warst noch nicht in’s Wohnzimmer gegangen?«
»Nein. Ich wurde in dem Augenblick, wo ich hineingehen wollte, zurückgehalten.«
»Was hielt Dich zurück?«
»Ich sah ein Licht durch die Spalte der äußeren Thür schimmern und hörte Fußtritt, die sich derselben näherten.
»Erschrakst Du?«
»Da noch nicht. Ich wußte, daß meine arme Mutter schlecht zu schlafen pflegte und ich erinnerte mich, daß sie mich am Abend zuvor sehr gern hatte überreden wollen, ihr die Aufbewahrung des Diamanten zu überlassen Sie war, wie mir schien, übertrieben ängstlich in Betreff desselben, und ich dachte, sie käme zu sehen, ob ich zu Bette sei, um wieder über den Diamanten mit mir zu reden, wenn sie mich wach fände.«
»Was thatest Du?«
»Ich blies mein Licht aus, um sie glauben zu machen, ich schlafe. Ich war eigensinnig, ich war entschlossen, meinen Diamanten aufzubewahren, wie es mir gut dünkte.«
»Gingst Du, nachdem Du Dein Licht ausgelöscht hattest, wieder zu Bett?«
»Ich hatte keine Zeit dazu. In dem Augenblick, wo ich das Licht auslöschte, öffnete sich die Thür des Wohnzimmers und ich sah ——«
»Du sahst?«
»Dich!«
»Gekleidet wie gewöhnlich?«
»Nein«
»In meinem Nachthemd?«
»In Deinem Nachthemd mit Deinem Bettleuchter in Deiner Hand.«
»Allein?«
»Allein.«
»Konntest Du mein Gesicht sehen?«
»Ja.«
»Deutlich?«
»Ganz deutlich. Das Licht in Deiner Hand beleuchtete es.«
»Waren meine Augen geöffnet?«
»Ja.«
»Bemerktest Du irgend etwas Auffallendes an ihnen? Etwas wie ein Starren in’s Leere?«
»Nichts derart. Deine Augen glänzten, glänzten mehr als gewöhnlich. Du sahst Dich im Zimmer um, als ob Du wußtest, daß Du an einem verbotenen Ort seist und als ob Du fürchtetest, entdeckt zu werden.«
»Beachtetest Du bei meinem Eintritt in’s Zimmer die Art meines Ganges?«
»Du gingst wie gewöhnlich. Du gingst bis in die Mitte des Zimmers und dann standest Du still und sahest Dich um.«
»Was thatest Du, als Du mich zuerst sahst?«
»Ich konnte nichts thun; ich war wie versteinert, ich konnte nicht reden; ich konnte nicht rufen; ich konnte mich nicht rühren, um meine Thür zu schließen.«
»Konnte ich Dich sehn, wo Du standst?«
»Du hättest mich gewiß sehen können, aber Du blicktest nie in der Richtung nach mir hin. Wozu diese Frage? Ich bin gewiß, daß Du mich nicht gesehen hast.«
»Wieso bist Du gewiß?«
»Würdest Du den Diamanten genommen haben? würdest Du nachher gehandelt haben, wie Du es gethan hast? würdest Du jetzt hier sein, wenn Du gesehen hättest daß ich wachte und Dich ansah? Laß mich nicht davon reden! Ich möchte Dir ruhig antworten. Hilf mir, so gelassen wie möglich zu bleiben. Komm zu etwas Anderem.«
Sie hatte Recht, in jeder Weise Recht. Ich ging zu andern Fragen über.
»Was that ich, nachdem ich bis in die Mitte des Zimmers gelangt und dort stehen geblieben war?«
»Du wandest Dich seitwärts und gingst gerade auf die Ecke neben dem Fenster los, wo mein indisches Schränkchen steht.«
»Als ich vor dem Schränkchen stand, muß ich Dir den Rücken zugekehrt haben. Wie konntest Du sehen, was ich that?« »Ich änderte gleichzeitig mit Dir meine »Stellung.«
So daß Du sehen konntest, was meine Hände thaten?«
»In meinem Wohnzimmer sind drei Spiegel. Als Du da standest, konnte ich in einem derselben Alles beobachten, was Du thatest.«
»Und was sahst Du?«
Du setztest Dein Licht auf das Schränkchen Du öffnetest und schlossest eine Schublade nach der andern bis Du an die kamst, in die ich meinen Diamanten gelegt hatte. Du sahst einen Augenblick in die offene Schublade und dann griffst Du mit der Hand hinein und nahmst den Diamanten heraus.«
»Woher weißt Du, daß ich den Diamanten herausnahm?«
»Ich sah Deine Hand in die Schublade greifen und sah den Glanz des Steins zwischen Deinem Zeigefinger und Deinem Daumen, als Du die Hand herausnahmst.«
»Näherte sich meine Hand der Schublade wieder, um sie zu schließen?«
»Nein. Du hieltest den Diamanten mit Deiner rechten Hand und ergriffst das Licht auf dem Schränkchen mit Deiner linken.«
»Sah ich mich danach noch wieder um?«
»Nein.«
»Verließ ich das Zimmer sofort?«
»Nein. Du standest ganz still, lange Zeit, wie mir schien. Ich konnte Dein Gesicht von der Seite im Spiegel sehen. Du sahst aus wie ein Mensch, der nachdenkt und mit seinen eigenen Gedanken unzufrieden ist.«
»Was geschah dann?«
»Du ermanntest Dich plötzlich und gingst ohne Weiteres zum Zimmer hinaus.«
»Schloß ich die Thür hinter mir?«
»Nein, Du tratest rasch auf den Vorplatz hinaus und ließest die Thür offen.«
»Und dann?«
»Dann verschwand Dein Licht, verklangen Deine Tritte und ich blieb allein im Dunkeln.«
»Ereignete sich nichts von diesem Augenblick bis zu jenem, wo das ganze Haus erfuhr, daß der Diamant verloren sei?«
»Nichts.«
»Bist Du dessen gewiß? Könntest Du nicht einen Theil der Zeit geschlafen haben?«
»Ich habe nicht wieder geschlafen, ich ging nicht wieder ins Bett. Es geschah nichts, bis Penelope zu der gewohnten Stunde Morgens zu mir hineinkam.«
Ich ließ ihre Hand los, stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. Jede von mir gestellte Frage hatte sie beantwortet. Jede Einzelheit, die ich zu wissen wünschen konnte, hatte sie mir mitgetheilt Ich hatte sogar wieder auf die Möglichkeit, daß ich damals im Schlafe gewandelt habe oder berauscht gewesen sei, angespielt und abermals war die Unhaltbarkeit bei der Annahme, und zwar dieses Mal durch die Aussage eines Augenzeugen, erwiesen. Was sollte ich jetzt sagen, was sollte ich thun?
Aus dem undurchdringlichen Dunkel, das sonst Alles umhüllte, starrte mir als das einzig Faßbare die fürchterliche Thatsache des Diebstahls entgegen. Kein Lichtstrahl hatte dieses Dunkel für mich erhellt, als ich am Zitterstrand in den Besitz von Rosanna Spearmans Geheimniß gelangt war, und kein Lichtstrahl erhellte es jetzt, nachdem ich an Rachel selbst appellirt und die grausige Erzählung des Vorganges in jener Nacht aus ihrem eigenen Munde vernommen hatte.
Dieses Mal war sie es, die das Schweigen zuerst brach.
»Nun,« sagte sie, »Du hast gefragt und ich habe geantwortet. Du hast durch Deine Hoffnung, daß sich aus allem Diesem ein Aufschluß ergeben möchte, auch in mir Hoffnungen erregt. Was hast Du jetzt zu sagen?«
Der Ton, in dem sie diese Worte sprach, mahnte mich, daß ich meine Gewalt über sie wieder verloren habe.
»Wir wollten uns,« fuhr sie fort, »die Vorgänge der auf meinen Geburtstag folgenden Nacht in der Hoffnung Vergegenwärtigen, dadurch zu einer Verständigung zu gelangen. Ist uns das gelungen?«
Sie schwieg wieder und wartete erbarmungslos aus meine Antwort. Diese Antwort war ein verhängnisvoller Fehler. Die verzweifelte Hilflosigkeit meiner Lage gewann die Oberhand über meine Selbstbeherrschung.
unbesonnener Weise warf ich ihr vor, daß sie mich bis zu diesem Augenblick über die Wahrheit völlig im Dunkeln gelassen habe.
»Wenn Du geredet hättest, wie Du es hättest müssen,« fing ich an, »wenn Du, wie die einfache Gerechtigkeit es gebietet, Dich erklärt hättest ——«
Sie unterbrach mich mit einem Wuthschrei. Die wenigen Worte, die ich gesprochen hatte, schienen sie in eine Raserei der Leidenschaft versetzt zu haben.
»Mich erklären?« wiederholte sie, »das konntest nur Du sagen. Ich schone Dich mit brechendem Herzen, ich schütze Dich, wo mein Ruf auf dem Spiele steht, und Du, von allen Menschen auf der Welt der letzte, der ein Recht dazu hätte, wirfst mir jetzt vor, ich hätte mich früher erklären sollen. Ich habe an Dich geglaubt, ich habe Dich geliebt, ich habe den Tag über an Dich gedacht und Nächte hindurch von Dir geträumt —— und Du wunderst Dich, daß ich Dir nicht das erste Mal, wo wir uns wiedersahen, Deine Schande vorhielt und Dir sagte: »Mein Engel, Du bist ein Dieb!« Ich hätte Dir sagen sollen: »Mein Held, den ich liebe und ehre. Du hast Dich nächtlicher Weile in mein Zimmer geschlichen und hast mir meinen Diamanten gestohlen!« Du Henker, Du nichtswürdiger, gemeiner Schuft, ich hätte lieber fünfzig Diamanten verlieren mögen, als es erleben müssen, daß Du mir so schamlos in’s Gesicht lügst!«
Ich nahm meinen Hut in die Hand, ging, in Wahrheit nur aus Schonung für sie, ohne ein Wort zu sagen auf die Thür zu, durch welche ich eingetreten war, und öffnete sie. Sie folgte mir, riß mir den Griff der Thür aus der Hand, schloß dieselbe wieder und wies auf den Platz hin, den ich eben verlassen hatte.
»Nein!« sagte sie, »noch nicht! Es scheint, daß ich Dir eine Rechtfertigung meines Benehmens schuldig bin. Du mußt bleiben und sie hören, wenn Du nicht das Maß Deiner Schmach voll machen und Dir den Ausweg erzwingen willst.«
Es zerriß mir das Herz, sie zu sehen. Ich gab durch ein Zeichen zu erkennen, daß ich mich ihrem Willen unterwerfen wolle.
Die glühende Zornesröthe wich wieder von ihrem Antlitz, als ich umkehrte und mich schweigend niedersetzte. Sie wartete eine kleine Weile, um sich zu fassen. Als sie wieder zu reden anfing, verriethen sich ihre Empfindungen in ihrem Aeußern nur dadurch, daß sie sprach ohne mich anzusehen, ihre Augen fest auf den Boden heftete und ihre Hände krampfhaft zusammengeballt auf dem Schoße hielt. »Ich hätte Dir die einfache Gerechtigkeit widerfahren lassen sollen, mich zu erklären,« sagte sie, meine eigenen Worte wiederholend. »Du sollst sehen, ob ich es versucht habe, Dir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, oder nicht. Ich habe Dir vorhin schon gesagt, daß ich, nachdem Du in jener Nacht mein Wohnzimmer verlassen hattest, nicht wieder zu Bette ging, und keinen Schlaf mehr fand. Es ist unnöthig, Dich mit dem zu behelligen, was zunächst meine Gedanken beschäftigte —— Du würdest es nicht verstehen —— ich will Dich nur von dem unterhalten, was ich that, nachdem ich mich so weit wieder erholt hatte, daß ich überhaupt etwas zu thun im Stande war. Ich konnte mich nicht entschließen, das Haus zu alarmiren und Jedermann mitzutheilen, was geschehen war, wie ich es hätte thun sollen. Trotzdem was meine Augen gesehen hatten, liebte ich Dich so sehr, daß ich lieber an Gott weiß welche Unmöglichkeit glauben als mir selbst zugestehen wollte, daß Du mit Bewußtsein einen Diebstahl begangen habest. Ich sann und sann und gelangte endlich zu dem Entschluß, Dir zu schreiben.«
»Ich habe niemals einen Brief von Dir erhalten.«
»Ich weiß, daß Du ihn niemals erhalten hast. Gedulde Dich ein wenig und Du wirst hören, warum. Mein Brief würde Dir nichts unumwunden gesagt, er würde Dich nicht ruinirt haben, wenn er einem Dritten in die Hände gefallen wäre; er würde Dir nur in einer Weise die Du unmöglich hättest mißdeuten können, zu verstehen gegeben haben, daß es mir bekannt sei, daß Du Schulden habest und daß Du in Betreff der Mittel, Dir Geld zu verschaffen, weder sehr heikel noch sehr gewissenhaft seist. Du würdest Dich dabei des Besuchs des französischen Advokaten erinnert und gewußt haben, worauf ich anspiele. Wenn Du dann weiter gelesen hättest, würdest Du gefunden haben, daß ich Dir das Anerbieten einer so großen Summe Geldes mache, wie ich sie mir verschaffen könnte, ohne daß von diesem Anerbieten je zwischen uns die Rede sein sollte. Und ich würde mir die Summe zu verschaffen gewußt haben!« rief sie, mit gerötheten Wangen wieder zu mir aufblickend. »Ich würde den Diamanten selbst verpfändet haben, wenn ich mir das Geld nicht anders hätte verschaffen können. In diesem Sinne schrieb ich Dir. Ja, ich that noch mehr als das. Ich verabredete mit Penelope, daß sie Dir den Brief übergeben solle, wenn Niemand in der Nähe sei. Ich nahm mir vor, mich in meinem Schlafzimmer einzuschließen und mein Wohnzimmer den ganzen Vormittag leer und offen zu lassen und hoffte, hoffte von ganzer Seele und ganzem Herzen, daß Du die Gelegenheit ergreifen und den Diamanten unbemerkt wieder in seine Schublade legen würdest.«
Ich versuchte zu reden. Aber sie wehrte mir mit einer ungeduldigen Handbewegung. In dem rapiden Wechsel ihrer Stimmungen fing der Zorn wieder an sich ihrer zu bemächtigen. Sie stand von ihrem Sitze auf und trat mir näher.
»Ich weiß, was Du sagen willst,« fuhr sie fort. »Du willst mich wieder daran erinnern, daß Du meinen Brief nie erhalten« hast. Ich kann Dir auch sagen warum. Ich zerriß ihn.«
»Und warum das?« fragte ich.
»Aus dem triftigsten Grunde. Ich wollte ihn lieber zerreißen, als ihn an einen solchen Menschen wegwerfen! Denn was war die erste Kunde, die am Morgen zu mir gelangte? Was kam mir gerade in dem Augenblick, als mein kleiner Plan fertig war, zu Ohren? Ich hörte, daß Du —— Du!! —— Dich von allen Personen im Hause am beflissensten gezeigt habest, die Polizei herbeizuholen. Du warst der Leiter, Du warst die Seele alles Dessen, was zur Wiederlangung des Edelsteins in’s Werk gesetzt wurde. Du gingst in Deiner Frechheit sogar so weit, mit mir über den Verlust des Diamanten reden zu wollen, des Diamanten, den Du selbst gestohlen hattest, der sich während der ganzen Zeit in Deinen Händen befand! Nach diesem Beweis Deiner abscheulichen Falschheit und Verstellung zerriß ich meinen Brief. Aber selbst da noch selbst als mich schon die Fragen und Nachforschungen des Polizeibeamten, den Du herbeigeholt hattest, toll gemacht hatten, selbst da war ich noch thöricht.genug, Dich nicht ganz fallen zu lassen. Ich sagte mir: »Er hat seine elende Farce vor allen andern Hausgenossen gespielt, ich will doch sehen, ob er sie auch vor mir zu spielen wagt.« Jemand hatte mir gesagt, daß Du auf der Terrasse seiest. Ich ging auf die Terrasse hinunter. Ich zwang mich, Dich anzusehen; ich zwang mich, mit Dir zu reden. Hast Du vergessen, was ich zu Dir sagte?«
»Ich hätte antworten können, daß ich mich jedes Wortes erinnere. Aber was hätte die Antwort in diesem Augenblick nützen können?
Wie konnte ich ihr sagen, daß ihre Worte mich damals erstaunt, betrübt, und Besorgniß in mir erweckt hätten, daß sie sich in einem Zustand gefährlicher Nervenaufregung befinde; ja, daß diese Worte sogar einen Augenblick den Zweifel, ob der Verlust des Edelsteins für sie in demselben Grade wie für uns Uebrige ein Geheimniß sei, bei mir erregt, —— aber auch nicht die leiseste Ahnung der Wahrheit in mir hätten aufdämmen lassen? Wie konnte ich, ohne den Schatten eines Beweises für meine Unschuld, hoffen sie zu überreden, daß der wahre Sinn der Worte, die sie auf der Terrasse mit mir gesprochen, für mich nicht deutlicher gewesen sei, als er es für den entferntesten Fremden hätte sein können?
»Es mag Dir conveniren, zu vergessen, mir convenirt es, mich zu erinnern,« fuhrt sie fort, »ich weiß, was ich damals sagte, denn ich hatte meine Wortes wohl erwogen, bevor ich sie sprach. Ich gab Dir eine Gelegenheit nach der andern, die Wahrheit zu bekennen. Ich ließ nichts ungesagt, was ich sagen konnte, bis auf das eine Wort, daß ich wisse daß Du den Diebstahl begangen habest. Und alles was Du darauf zu erwidern hattest, war der Ausdruck eines elend erheuchelten Erstaunens und der falsche Blick der Unschuld, mit dem Du mich auch heute angesehen hast, mit dem Du mich noch in diesem Augenblick ansiehst! Als ich an jenem Morgen mit Dir gesprochen, hatte ich Dich endlich als den erkannt, der Du warst und der Du bist —— als den jämmerlichsten Wicht, der je das Licht der Welt erblickt hat.«
»Wenn Du Dich zu jener Zeit ausgesprochen hättest, Rachel, so hätte ich wissen können, daß Du einem unschuldigen Mann das grausamste Unrecht anthatest.«
»Wenn ich mich vor Andern ausgesprochen hätte,« entgegnete sie mit einem neuen Ausbruch der Entrüstung »so wärst Du für Deine Lebenszeit gebrandmarkt gewesen! Wenn ich mich nur gegen Dich allein ausgesprochen hätte, so würdest Du es geleugnet haben, wie Du es jetzt leugnest! Meinst Du, ich hätte Dir geglaubt? Würde ein Mann vor einer Lüge zurückschrecken, der gethan was ich Dich thun gesehen, und der sich nachher so wie Du benommen hätte? Ich sage es Dir noch einmal, ich schreckte vor dem Greuel zurück, Dich lügen zuhören, nachdem ich Dich hatte stehlen sehen. Du sprichst, als ob hier ein Mißverständniß vorliege, über welches wenige Worte eine Verständigung hätten herbeiführen können. Nun! das Mißverständniß hat nun ein Ende. Ist die Verständigung erreicht? Nein, wir sind nicht um einen Schritt weiter gekommen. Ich glaube Dir auch jetz auch nicht! Ich glaube nicht, daß Du das Nachthemd gefunden hast, ich glaube nicht an Rosanna Spearman's Brief, ich glaube kein Wort von alle dem was Du mir gesagt hast. Ich habe gesehen wie Du den Diamanten gestohlen hast. Ich habe gehört wie Du Dich beflissen stelltest, der Polizei behilflich zu sein. Ich bin fest überzeugt, daß Du den Diamanten an den Geldverleiher in London verpfändet hast. Du konntest —— Dank meinem erbärmlichen Schweigen! —— den Verdacht auf einen unschuldigen Menschen wälzen. Am nächsten Tage flohst Du mit Deinem Raub nach dem Continent! Nach all’ dieser Jämmerlichkeit blieb Dir nur noch Eines übrig: mit einer letzten Lüge auf den Lippen hierher zurückzukehren und mir zu sagen, daß ich Dir Unrecht gethan habe!«
Wäre ich noch einen Augenblick länger geblieben, so weiß ich nicht, was für Ausdrücke mir vielleicht entschlüpft wären, die ich nachher zu spät bedauert und bereut haben würde. Ich ging an ihr vorüber und öffnete die Thür zum zweiten Male. Aber zum zweiten Male ergriff sie mit der wahnsinnigen Hartnäckigkeit eines wüthenden Weibes meinen Arm und versperrte mir den Ausweg.
»Laß mich gehen, Rachel,« sagte ich. »Es ist besser für uns Beide. Laß mich gehen!«
Die Leidenschaft schwellte ihren Busen, sie athmete hörbar mit krampfhafter Geschwindigkeit, als sie mich an der Thür zurückhielt.
»Wozu bist Du hergekommen?« rief sie mit verzweifelter Beharrlichkeit. »Ich frage Dich noch einmal: wozu bist Du hergekommen? Fürchtest Du, ich möchte Dich verrathen? Fürchtest Du, daß ich jetzt, wo Du ein reicher Mann geworden bist, wo Du eine Stellung in der Welt erlangt hast, wo Du das erste Mädchen im Lande heirathen kannst, zu irgend Jemand das Wort sagen könnte, das ich noch zu Niemandem außer Dir gesagt habe? Ich kann das Wort nicht sagen. ich kann Dich nicht verrathen! Ich bin wo möglich noch schlechter als Du selbst« Bei diesen Worten brach sie in Thränen aus. Sie rang wild mit diesen Thränen; sie hielt mich fester und fester. »Ich kann Dich nicht aus meinem Herzen reißen,« sagte sie, selbst jetzt nicht. Du kannst Dich auf diese schmachvolle Schwachheit verlassen, die nicht anders als so mit Dir zu reden weißt!« Plötzlich ließ sie mich los, sie rang ihre Hände wie wahnsinnig in der Luft. »Jedes andere lebende Weib würde davor zurückschrecken, ihn zu berühren!« rief sie aus. »O Gott, ich verachte mich selbst noch tiefer, als ihn!«
Auch ich vermochte meine Thränen nicht mehr zu wehren, ich konnte das Furchtbare meiner Lage nicht länger ertragen.
»Du sollst erfahren, daß Du mir dennoch Unrecht gethan hast,« sagte ich, »oder Du sollst mich niemals wiedersehen!«
Mit diesen Worten verließ ich sie. Sie sprang von dem Stuhl auf, auf den sie einen Augenblick vorher niedergesunken war und folgte mit einem großmüthigen Antrieb durch das anstoßende Zimmer, um mir noch ein barmherziges Abschiedswort nachzurufen
»Franklin!« sagte sie, »ich vergebe Dir! O, Franklin, Franklin, wir werden uns nie wiedersehen. Sag’, daß Du auch mir vergiebst!«
Ich wandte mich nach ihr um, damit sie an meinem Gesicht erkennen möge, daß ich nicht reden könne —— ich wandte mich um, winkte mit der Hand, und sah sie durch den Schleier von Thränen, die mich endlich überwältigt hatten, hindurch, verschwommen wie eine Vision.
Im nächsten Augenblick hatte ich die Bitterkeit meiner Empfindungen überwunden. Ich war wieder im Garten. Ich sah und hörte sie nicht mehr.
Achtes Capitel.
Noch spät am Abend wurde ich in meiner Wohnung durch einen Besuch des Herrn Bruff überrascht.
Das Benehmen des Advocaten war merklich verändert. Seine gewöhnliche zutrauliche Lebhaftigkeit war verschwunden. Zum ersten Male in seinem Leben gab er mir schweigend die Hand.
»Gehen Sie jetzt nach Hampstead hinaus?« fragte ich, um nur etwas zu sagen.
»Ich komme eben von Hampstead her,« antwortete er. »Ich weiß, Herr Franklin, daß Sie endlich die Wahrheit erfahren haben. Aber, ich sage Ihnen gradeheraus, daß ich, wenn ich den Preis hätte voraussehen können, um den Sie diese Kunde würden zu erkaufen haben, es vorgezogen haben würde, Sie im Dunkeln zu lassen.«
»Haben Sie Rachel gesehen?«
»Ich habe sie eben nach Portland-Place zurückbegleitet; es war unmöglich, sie allein in ihrem Wagen nach Hause fahren zu lassen. Ich kann Sie, wenn ich bedenke, daß Sie sie in meinem Hause und mit meiner Erlaubniß gesehen haben, für die Erschwerung, welche diese unglückliche Zusammenkunft bei ihr bewirkt hat, kaum verantwortlich machen. Alles was ich thun kann, ist, einer Wiederholung dieses Unheils vorzubeugen. Sie ist jung, sie hat einen entschlossenen Geist, sie wird es mit Hilfe der Zeit überwinden. Ich möchte mich aber überzeugt halten können, daß Sie nichts thun werden, ihre Wiederherstellung zu verzögern. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie ohne meine Genehmigung keinen zweiten Versuch machen werden, sie zu sehen?«
»Nach dem was sie gelitten hat und was ich gelitten habe,« sagte ich, »können Sie sich darauf verlassen.«
»Sie geben mir Ihr Wort?«
»Ich gebe es Ihnen.«
Herr Bruff schien sich durch diese Auseinandersetzung erleichtert zu fühlen. Er stellte seinen Hut bei Seite und rückte seinen Stuhl näher zu mir heran.
»Das wäre abgemacht!« sagte er. »Reden wir jetzt von der Zukunft, von Ihrer Zukunft meine ich. Nach meiner Ansicht muß die Folge der unerwarteten Wendung, welche die Angelegenheit jetzt genommen hat, kurz die sein. Vor allen Dingen sind wir sicher, daß Rachel Ihnen, so vollständig wie es in Worten geschehen kann, die volle Wahrheit gesagt hat. Zweitens können wir, obgleich wir wissen, daß irgend ein schreckliches Mißverständniß hier obwalten muß, doch Rachel kaum tadeln, daß sie Sie auf das Zeugniß ihrer eigenen Augen hin für schuldig hält, um so mehr als dieses Zeugniß durch Umstände unterstützt wird, welche Sie auf den ersten Blick unbedingt zu verurtheilen scheinen.«
Hier unterbrach ich Herrn Bruff.
»Ich tadle Rachel nicht,« sagte ich. »Ich bedauere nur, daß sie es nicht über sich vermocht hat, sich seiner Zeit deutlicher gegen mich auszusprechen.«
»Sie könnten eben so gut bedauern, daß Rachel nicht eine andere Person ist,« erwiderte Herr Bruff. »Und selbst dann —— ich zweifle, ob irgend ein Mädchen von einigem Zartgefühl, das Sie geliebt und Ihnen gern die Hand gereicht hätte, es über sich vermocht haben würde, Sie in Ihr Angesicht des Diebstahls zu beschuldigen. Wie dem aber auch sei, für Rachel war es vermöge ihrer Natur unmöglich, das zu thun. In einer von der Ihrigen sehr verschiedenen Angelegenheit, welche Rachel gleichwohl in eine Lage brachte, die ihrer Lage Ihnen gegenüber nicht ganz unähnlich war, ließ sie sich, wie ich zufällig erfahren habe, von einem ähnlichen Motiv leiten, wie das ist, welches ihr Benehmen gegen Sie bestimmt hat. Ueberdies würde sie, wie sie mir diesen Abend auf unserem Wege in die Stadt selbst gesagt hat, auch wenn sie sich früher gegen Sie ausgesprochen hätte, Ihrem Leugnen damals nicht mehr Glauben geschenkt haben, als sie es jetzt thut. Was können Sie darauf erwiedern? Es giebt keine Antwort darauf. Sehen Sie lieber Freund, meine Ansicht von dem Fall hat sich zwar, wie ich zugeben muß, als durchaus falsch erwiesen, aber wie die Dinge stehen, kann Ihnen mein Rath, glaube ich, trotzdem von Nutzen sein. Ich sage Ihnen gerade heraus, wir vergeuden unsere Zeit und zerbrechen uns unnützerweise den Kopf, wenn wir den Versuch, diese schreckliche Complication zu entwirren, wiederholen wollen. Lassen Sie uns entschlossen allem Dem, was im vorigen Jahr in Lady Verinder’s Landhaus vorgefallen ist, den Rücken kehren; und anstatt in der Vergangenheit nach dem zu forschen, was wir nicht aufhellen können, sehen, was für Entdeckungen wir etwa dem Schoß der Zukunft entlocken können.«
»Aber Sie vergessen« sagte ich, »daß die ganze Angelegenheit, soweit sie mich betrifft, wesentlich in der Vergangenheit wurzelt.«
»Beantworten Sie mir folgende Frage,« entgegnete Herr Bruff. »Ist der Mondstein die Wurzel alles Unheils oder nicht?«
»Gewiß ist er es!«
»Nun wohl! Was ist nach unserer Ansicht mit dem Mondstein geschehen, als er nach London gebracht wurde?«
»Er ist an Herrn Luker verpfändet worden.«
»Wir wissen, daß Sie nicht die Person gewesen sind, die ihn verpfändet hat. Aber wissen wir, wer diese Person war?«
»Nein«
»Wo, glauben wir, daß sich der Mondstein jetzt befindet?«
»Wir glauben ihn in dem Gewölbe des Bankiers Herrn Luker deponiert.«
»Vollkommen richtig. Nun geben Sie Acht! Wir sind bereits im Monat Juni. Gegen Ende des Monats, —— ich vermag den Tag nicht genau anzugeben, —— wird ein Jahr seit der Zeit verflossen sein, zu welcher nach unserer Annahme der Edelstein verpfändet worden ist. Es ist also mindestens eine Aussicht vorhanden, daß die Person, welche den Diamanten verpfändete, die Absicht hat, ihn nach Verlauf eines Jahres wieder auszulösen. Wenn das geschieht, so muß Herr Luker, den von ihm selbst getroffenen Bestimmungen gemäß, in eigener Person den Diamanten aus den Händen seines Bankiers wieder entgegennehmen. Unter diesen Umständen mache ich den Vorschlag, gegen Ende dieses Monats eine Wache vor der Bank aufzustellen und so zu erfahren, wer die Person ist, welcher Herr Luker den Mondstein wieder einhändigen wird. Verstehen Sie mich jetzt?«
Ich mußte, wenn auch etwas widerwillig, zugeben, daß die Idee auf alle Fälle neu sei.
»An dieser Idee hat Herr Murthwaite einen ganz so großen Antheil, wie ich,« sagte Herr Bruff. »Vielleicht wäre ich nie darauf verfallen, wenn ich nicht vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt hätte, mich mit dem genannten Herrn zu unterhalten. Wenn Herr Murthwaite Recht hat, so werden wahrscheinlich auch die Indier gegen Ende des Monats vor der Bank Posto fassen und die Sache kann eine ernste Wendung nehmen. Was aber auch daraus entstehen mag, Ihnen und mir kann es einerlei sein, wenn es uns nur gelingt der mysteriösen Person dabei habhaft zu werden, welche den Diamanten verpfändet hat. Und ich behaupte fest, wenn ich auch den Zusammenhang der Sache nicht zu durchschauen vermag, daß diese Person für Ihre augenblickliche Lage verantwortlich ist und daß die Auffindung dieser Person allein Ihnen Rachel’s Achtung wiederverschaffen kann.«
»Ich kann nicht leugnen,« sagte ich, »daß Ihr Plan sehr kühn, sehr sinnreich und sehr neu ist. Aber ——«
»Aber Sie haben doch etwas dagegen einzuwenden?«
»Ja. Mein Einwand ist der, daß Ihr Vorschlag uns zu warten zwingt.«
»Zugegeben. Aber nach meiner Rechnung haben Sie ungefähr vierzehn Tage zu warten. Ist das so lang?«
»Für Jemand, der sich in meiner Lage befindet, eine Ewigkeit, Herr Bruff. Mein Dasein wird mir vollkommen unerträglich sein, wenn ich nicht auf der Stelle etwas unternehmen kann, meinen Ruf zu reinigen.«
»Das kann ich Ihnen wohl nachfühlen Aber haben Sie schon etwas erdacht, was Sie thun könnten?«
»Ich habe daran gedacht, Sergeant Cuff zu consultiren.«
»Er hat sich von seinen Berufsgeschäften ganz zurückgezogen. Es wäre daher vergeblich, auf die Unterstützung des Sergeanten zu rechnen.«
»Ich weiß ihn zu finden und es gilt doch immer einen Versuch.«
»Versuchen Sie es,« sagte Herr Bruff, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Der Fall hat sich seit der Zeit, wo Sergeant Cuff sich mit demselben befaßte, so merkwürdig gestaltet, daß es Ihnen vielleicht gelingt, sein Interesse an der Untersuchung wieder zu erwecken. Versuchen Sie es und lassen Sie mich das Resultat erfahren. Wollen Sie mich inzwischen,« fuhr er aufstehend fort, »wenn Sie bis zu Ende des Monats zu keiner Entdeckung gelangen, autorisiren, meinerseits zu versuchen, was mit der Aufstellung einer Wache vor der Bank zu erreichen ist?«
»Gewiß,« antwortete ich, »wenn es mir nicht in der Zwischenzeit gelingt, Sie der Notwendigkeit, das Experiment zu machen, ganz zu überheben.«
Herr Bruff lächelte und nahm seinen Hut.
»Sagen Sie Sergeant Cuff,« erwiderte er, »daß ich behaupte, die Entdeckung der Wahrheit hänge von der Entdeckung der Person ab, welche den Diamanten verpfändet hat. Und lassen Sie mich wissen, was Sergeant Cuff mit seiner reichen Erfahrung dazu sagt.«
So trennten wir uns an diesem Abend.
In der Frühe des nächsten Tages machte ich mich nach der kleinen Stadt Dorking aus den Weg, wohin sich, nach Betteredge’s Mittheilung, Segeant Cuff zurückgezogen hatte.
Auf meine Erkundigung im Hotel wurde mir das Landhaus des Sergeanten genau bezeichnet. Es lag in einer kleinen Entfernung von der Stadt, in der Nähe eines einsamen Feldweges freundlich inmitten eines Gartens, welcher von hinten und an den Seiten von einer Backsteinmauer und vorn von einer lebendigen Hecke um geben war. Die Pforte, deren oberen Theil sauber bemaltes Gitterwerk verzierte, war verschlossen. Nachdem ich geklingelt hatte blickte ich durch das Gitterwerk und sah die Lieblingsblume des großen Cuff überall; Rosen blühten in seinem Garten, hingen über seiner Thür, rankten sich an seinen Fenstern empor. Entfernt von den Verbrechen und den Mysterien der großen Stadt, verlebte der berühmte Diebsfänger seine letzten Lebensjahre in einer stillen sybaritischen Zurückgezogenheit, auf Rosen gebettet!
Eine anständig gekleidete ältliche Frau öffnete mir die Pforte und vernichtete sofort alle meine Hoffnungen, mir Sergeant Cuff’s Beistand zu sichern. Gerade Tags zuvor war er nach Irland abgereist.
»Ist Herr Cuff in Geschäften dahin gereist?« fragte ich.
Die Frau lächelte. »Er kennt nur noch ein Geschäft, Herr,« sagte sie, »und das sind die Rosen. Der Gärtner eines großen Herrn in Irland hat eine neue Erfindung in Betreff der Rosenzucht gemacht und Herr Cuff ist nach Irland gereist, um steh näher darnach zu erkundigen.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«
»Das ist ganz ungewiß, Herr. Herr Cuff sagte, die Dauer seiner Abwesenheit werde ganz von dem Werth der neuen Erfindung abhängen. Wenn sie ihm irgend eine Bestellung zu machen haben, so werde ich sie sicher ausrichten.«
Ich gab ihr meine Karte, nachdem ich mit Bleistift Folgendes auf dieselbe geschrieben hatte: »Ich habe Ihnen etwas in Betreff des Mondsteins mitzutheilen. Lassen Sie mich von Ihnen hören, sobald Sie zurückgekehrt sind.« Darnach war für mich weiter nichts zu thun, als mithin das Unvermeidliche zu ergeben und nach London zurückzukehren.
In der reizbaren Stimmung, in der ich mich zu jener Zeit befand, war das Fehlschlagen meiner Reise nach dem Landsitze des Sergeanten nur dazu geeignet, den ruhelosen Trieb, irgend etwas zu thun, in mir zu steigern. Noch an demselben Tage, wo ich von Dorking zurückkehrte, beschloß ich, schon am nächsten Morgen einen Versuch zu wagen, mir durch alle Hindernisse hindurch einen Weg aus dem Dunkel zum Licht zu bahnen.
Aber worin sollte dieser Versuch bestehen?
Wenn der vortreffliche Betteredge bei mir und in das Geheimniß meiner Gedanken eingeweiht gewesen wäre, als ich diese Frage erwog, so würde er ohne Zweifel erklärt haben, daß die deutsche Seite meines Charakters einmal wieder die Oberhand bei mir gewonnen habe. Im Ernst, vielleicht trug meine deutsche Erziehung theilweise die Schuld an dem Labyrinth unnützer Speculationen, in dem ich jetzt umherirrte. Den größeren Theil der Nacht saß ich rauchend auf und sann über Lösungen des Problems nach, von denen eine immer unwahrscheinlicher war als die andere. Als ich endlich einschlief, verfolgten mich meine Hirngespinste im Traum. Als ich am andern Morgen aufstand, war ich in einer unentwirrten Verknüpfung des Objectiv-Subjcctiven und Subjectiv-Objectiven begriffen, und ich fing den Tag, der Zeuge meines nächsten Versuchs irgend einer Art von praktischem Handeln sein sollte, damit an, zu zweifeln, ob ich von einem rein philosophischen Standpunkte aus ein Recht habe, irgend etwas, den Diamanten mit einbegriffen, als überhaupt existent zu betrachten.
Wie lange ich in dem Nebel dieser metaphysischen Betrachtungen verharrt haben würde, wenn ich mir selbst überlassen geblieben wäre, vermag ich nicht zu sagen. Glücklicher Weise erlöste mich der Zufall. Ich trug an jenem Morgen gerade denselben Rock, den ich an dem Tage meiner Zusammenkunft mit Rachel getragen hatte. Indem ich in einer der Taschen nach etwas suchte, stieß ich auf ein zerknittertes Stück Papier und fand, als ich näher zusah, Betteredge’s vergessenen Brief in meiner Hand.
Es schien mir hart, meinen guten alten Freund ohne Antwort zu lassen. Ich ging an meinen Schreibtisch und überlas seinen Brief noch einmal. Ein ganz unwichtiger Brief ist oft nicht ganz leicht zu beantworten.
Betteredge’s Brief an mich gehörte in diese Kategorie. Herrn Candy’s Assistent, alias Ezra Jennings, hatte seinem Principal erzählt, daß er mich gesehen habe, und Herr Candy seinerseits wünschte mich zu sehen und mir etwas mitzutheilen, sobald ich wieder in die Nähe von Frizinghall kommen würde. Was sollte ich darauf antworten, was auch nur das Papier werth gewesen wäre? Müßig dasitzend, zeichnete ich aus dem Gedächtnis; Portraits des merkwürdig aussehenden Assistenten des Herrn Candy auf das Blatt Papier, welches der Correspondenz mit Betteredge gewidmet sein sollte, bis mir endlich einfiel, daß sich mir hier wieder der unvermeidliche Ezra Jennings in den Weg dränge! Ich warf gewiß ein Dutzend Potraits des Mannes mit dem scheckigen Haar, an deren jedem wenigstens das Haar außerordentlich ähnlich war, in den Papierkorb und schrieb dann sofort meine Antwort an Betteredge Es war ein ganz gewöhnlicher Brief, der aber in einer Beziehung eine vortreffliche Wirkung aus mich übte. Die Anstrengung, die es erforderte, ein paar klare Sätze niederzuschreiben, befreite meinen Geist vollständig von dem trüben Unsinn, mit dem derselbe seit dem vorhergehenden Tage angefüllt gewesen war.
Indem ich mich aufs Neue mit der Lösung des undurchdringlichen Räthsels beschäftigte, welches meine eigne Lage für mich darbot, versuchte ich es jetzt, der Sache durch eine Betrachtung von einem rein praktischen Gesichtspunkte aus näher zu kommen. Da die Ereignisse der merkwürdigen Nacht mir noch immer unerklärlich waren, ging ich noch etwas weiter in der Zeit zurück und durchstöberte meine Erinnerungen an die früheren Stunden des Geburtstages nach irgend einem Umstande, der mir bei der Lösung des Räthsels behilflich sein könnte.
War irgend etwas Bemerkenswerthes vorgefallen, während Rachel und ich die Malerei an der Thür beendeten? oder später, als ich nach Frizinghall hinüberritt? oder noch später, als ich mit Godfrey Ablewhite und seinen Schwestern zurückkam? oder wieder später, als ich den Mondstein in Rachel’s Hand legte? oder noch später endlich, als die Gesellschaft sich versammelte und wir uns Alle zu Tisch setzten? Mein Gedächtniß wußte mir alle diese Fragen noch klar genug zu beantworten, bis ich an die letzte kam. Bei meinem Rückblick auf das Geburtstags-Diner befand ich mich meiner eigenen Frage gegenüber in Verlegenheit. Ich konnte mich nicht einmal der Zahl der Gäste, die an demselben Tisch mit mir gesessen hatten, genau mehr erinnern.
Mich hier von meinem Gedächtniß verlassen finden und daraus den Schluß ziehen, daß der Hergang dieses Diners eine besonders genaue Untersuchung verdiene, war das Werk eines Augenblicks für meinen geschäftig arbeitenden Geist. Wenn die Verfolgung unserer Zwecke uns selbst zu Gegenständen unserer Untersuchung macht, so sind wir mit Recht mißtrauisch gegen unsere eigenen Beobachtungen. Ich beschloß, nachdem ich mir zuerst die Namen der bei dem Diner anwesenden Personen wieder verschafft haben würde, um die Lücken meines eigenen Gedächtnisses zn ergänzen, an das Gedächtniß der übrigen Gäste mit der Bitte zu appelliren, alle ihre Erinnerungen der Hergänge in der Geburtstagsgesellschaft niederzuschreiben: und das Ergebniß dieser Auszeichnungen in dem Licht der Vorgänge nach dem Auseinandergehen der Gesellschaft zu prüfen.
Dieses letzte und neueste meiner vielen in Aussicht genommenen Experimente in der Kunst der Untersuchung, welche Betteredge vermuthlich der klaren oder französischen Seite meines Wesens, die augenblicklich in mir überwog, zugeschrieben haben würde, hat wohl Anspruch daraus, seines inneren Werthes wegen hier erwähnt zu werden. So unglaublich er scheinen mag, hier hatte ich endlich tappend den Weg gefunden, der Sache aus den Grund zu kommen. Alles was ich noch brauchte, war ein Wink, um mir die rechte Richtung auf meinem Wege an die Hand zu geben. Und, ehe noch ein weiterer Tag vergangen war, erhielt ich diesen Wink von einem Mitgliede der Gesellschaft, die zur Feier des Geburtstags versammelt gewesen war!
Für meinen jetzigen Plan mußte ich mich vor allen Dingen in den Besitz der Liste der Gäste setzen. Diese Liste konnte ich leicht von Gabriel Betteredge erhalten. Ich beschloß, noch selbigen Tages nach Yorkshire zurückzugehen und am nächsten Morgen mit meiner Nachforschung zu beginnen.
Die Abgangszeit des Vormittagszuges war eben vorüber. Ich hatte also fast drei Stunden auf den Abgang des nächsten Zuges zu warten. Konnte ich diese Zeit in London noch mit irgend etwas Nützlichem ausfüllen?
Meine Gedanken wandten sich hartnäckig wieder dem Geburtstags-Diner zu. Obgleich ich die Zahl und vielfach die Namen der Gäste vergessen hatte, erinnerte ich mich doch deutlich genug, daß weitaus die meisten derselben von Frizinghall oder dessen Umgebung gekommen waren. Aber nicht Alle. Einige Wenige gehörten zu den Bewohnern der Grafschaft. Zu diesen Letzteren zählten, außer mir selbst, Herr Murthwaite und Herr Ablewhite. Herr Bruff, —— nein. Ich erinnerte mich, daß Geschäfte diesen daran verhindert hatten, von der Partie zu sein. Waren Damen zugegen gewesen, die gewöhnlich in London wohnten? Als zu diesen gehörig wollte mir nur Miß Clack einfallen. Jedenfalls waren aber hier doch drei von den damaligen Gästen, die, bevor ich London verließ, aufzusuchen mir unbedingt räthlich erscheinen mußte. Ich fuhr auf der Stelle nach Herrn Bruff’s Bureau, da mir die Adressen der Personen, die ich aufsuchen wollte, nicht bekannt waren und da ich es für wahrscheinlich hielt, daß er mir dieselben würde nachweisen können.
Herr Bruff war zu beschäftigt, um mir mehr als eine Minute seiner kostbaren Zeit schenken zu können. Diese eine Minute war jedoch hinreichend für ihn, mir auf alle an ihn gerichteten Fragen die entmuthigendsten Antworten zu geben.
Vor allen Dingen betrachtete er meine neu entdeckte Methode, einen Schlüssel zu dem Räthsel zu finden, als etwas zu haltlos Phantastisches als daß man es nur einer ernsten Erwägung werth halten könne. Zweitens, drittens und viertens war Herr Murthwaite bereits wieder auf dem Wege nach dem Schauplatz seiner früheren Abenteuer; war Miß Clack in Folge von Geldverlusten nach Frankreich übergesiedelt; und war endlich Herr Godfrey Ablewhite vielleicht in London aufzufinden, vielleicht aber auch nicht. Ob ich nicht in seinem Club nachfragen und Herrn Bruff entschuldigen wolle, wenn er wieder zu seinen Geschäften zurückkehre und mir »Guten Morgen« wünsche?
Da das Feld meiner Nachforschungen in London nunmehr so eingeengt war, daß sich seine Ausbeute auf die Nothwendigkeit beschränkte, Godfrey’s Adresse aufzufinden, folgte ich der Weisung des Advokaten und fuhr nach seinem Club
In der Vorhalle begegnete ich einem der Mitglieder des Clubs, der ein alter Freund meines Vaters und auch ein Bekannter von mir war. Nachdem dieser Herr mir Godfrey’s Adresse mitgetheilt, erfuhr ich von ihm von zwei neuerlichen nicht uninteressanten Ereignissen in dem Leben desselben, von denen ich noch nichts gehört hatte.
Einmal erzählte man, daß Godfrey, weit entfernt, durch die Aufhebung seiner Verlobung mit Rache! entmuthigt zu sein, bald nachher einer andern jungen Dame, die für eine reiche Erbin galt, den Hof gemacht habe.
Seine Werbung war erfolgreich gewesen und die Heirath galt bereits für eine abgemachte Sache. Aber wiederum war die Verlobung unerwarteter Weise plötzlich aufgehoben worden, und zwar dieses Mal, wie es hieß, in Veranlassung einer ernsten Differenz zwischen dem Bräutigam und dem Vater des Mädchens über pecuniäre Fragen.
Für dieses abermalige Scheitern eines Heirathsprojects hatte Godfrey bald nachher einen Ersatz in einem Vermächtniß von einer seiner vielen Anbeterinnen gefunden. »Eine reiche alte Dame, die bei dem »mütterlichen Hosenverein« in hohem Ansehen stand und eine große Freundin von Miß Clack war (der sie aber nichts hinterlassen hatte, als einen Trauring), hatte dem bewundernswerthen und verdienstvollen Godfrey ein Legat von 5000 Lstr. vermacht.
Nachdem er in den Besitz dieser Vermehrung seiner eigenen bescheidenen Hilfsquellen gelangt war, hatte man ihn sagen hören, daß er das Bedürfniß einer kleinen Erholung von seinem anstrengenden mildthätigen Wirken fühle und daß sein Arzt ihm eine Reise nach dem Continent als sehr wünschenswerth für seine Gesundheit verordnet habe. Wenn ich ihn daher zu sehen wünsche, so dürfe ich keine Zeit verlieren.
Ich ging auf der Stelle, ihm meinen Besuch abzustatten, aber dasselbe Verhängniß, welches mich gerade einen Tag zu spät bei Sergeant Cuff hatte eintreffen lassen, ließ mich auch meinen Besuch bei Godfrey einen Tag zu spät machen.
Er hatte London Tags zuvor mit dem nach Dover gehenden Frühzug verlassen. Von hier wollte er nach Ostende und, wie sein Diener glaubte, weiter nach Brüssel gehen. Die Zeit seiner Rückkehr sei nicht ganz bestimmt, aber seine Abwesenheit werde mindestens drei Monate dauern.
Ich kehrte etwas desappointirt in meine Wohnung zurück. Drei von den Gästen bei dem Geburtstagsdiner und zwar alle drei besonders intelligente Leute, waren unerreichbar für mich gerade in dem Augenblick wo es von der höchsten Wichtigkeit für mich gewesen wäre, mit ihnen zu verkehren. Meine letzten Hoffnungen beruhten jetzt auf Betteredge und auf den Freunden der verstorbenen Lady Verinder, die ich etwa noch in der Nähe von Rachel’s Landhaus lebend antreffen möchte.
Ich reiste daher direct nach Frizinghall, das jetzt der Centralpunkt meines Erforschungsgebietes war. Ich kam zu spät am Abend an, um mich noch mit Betteredge in Verbindung setzen zu können. Am nächsten Morgen schickte ich einen Boten mit einem Billet an ihn ab, in welchem ich ihn bat, mich so bald als möglich im Hotel zu besuchen.
Da ich, theils um Zeit zu sparen, theils zu Betteredge’s Bequemlichkeit meinen Boten in einem Einspänner abgesandt hatte, so durfte ich, wenn nichts Besonderes dazwischen kam, den Alten in zwei Stunden erwarten.
Während dieser Zeit schickte ich mich an, meine beabsichtigte Nachforschung bei den Geburtstagsgästen, die mir persönlich bekannt und leicht erreichbar waren zu eröffnen.
Dies waren meine Verwandten, die Ablewhite’s, und Herr Candy. Der Doctor hatte, wie erwähnt, den besonderen Wunsch ausgesprochen, mich zu sehen, und da ich in der nächsten Straße wohnte, so ging ich zuerst zu ihm.
Nach dem, was Betteredge mir erzählt hatte, mußte ich erwarten, in dem Aussehen des Doctors Spuren der schweren Krankheit zu finden, an der er gelitten hatte; aber ich war durchaus nicht auf eine Veränderung seines ganzen Wesens gefaßt, wie sie mir entgegentrat, als er in’s Zimmer kam und mir die Hand gab. Seine Augen waren trübe, seine Haare ganz grau geworden, sein Gesicht war voll Runzeln, seine Gestalt zusammengeschrumpft. Ich betrachtete den einst so lebendigen, geschwätzigem gut gelaunten kleinen Docter, der in meiner Erinnerung mit der unverbesserlichen Vollführung gesellschaftlicher Indiscretionen und unzähliger knabenhafter Scherze unzertrennlich verknüpft war, und ich fand von dem Mann, wie er in meiner Vorstellung lebte, nichts mehr übrig als die alte Neigung zu einer geschmacklos barocken Toilette. Der Mann war eine Ruine; aber seine Kleider und sein Schmuck an Ringen, Tuchnadeln und Ketten waren so bunt und glänzend wie immer und erschienen wie eine grausame Ironie aus die mit ihm vorgegangene Veränderung.
»Ich habe oft an Sie gedacht, Herr Blake,« sagte er, »und ich freue mich herzlich, Sie endlich einmal wieder zu sehen. Wenn ich irgend etwas für Sie thun kann, bitte, disponiren Sie über mich —— disponiren Sie ganz über mich!«
Er sagte diese höflichen Redensarten mit einer ganz unmotivirten Eile und Beflissenheit und mit einem Ausdruck der Neugierde, zu erfahren, was mich nach Yorkshire geführt habe, die er zu verbergen vollkommen unfähig war.
Bei dem Zweck, den ich verfolgte, hatte ich natürlich die Nothwendigkeit vorausgesehen, eine Art persönlicher Erklärung voran zuschicken, bevor ich Leute, die meistentheils Freunde für mich waren, für eine eifrige Unterstützung meiner Untersuchung würde gewinnen können. Auf meiner Reise nach Frizinghall hatte ich mich auf eine solche Erklärung vorbereitet und ergriff die sich mir darbietende Gelegenheit, ihre Wirkung an Herrn Candy zu erproben.
»Es ist eine ziemlich romantische Geschichte,« sagte ich, »die mich kürzlich nach Yorksfhire geführt hat und die mich jetzt wieder herführt. Es ist eine Angelegenheit, Herr Candy, für die sich alle Freunde der verstorbenen Lady Verinder interessiren. Erinnern Sie sich des geheimnißvollen Verschwindens des indischen Diamanten vor ungefähr einem Jahr? Gewisse neuerdings eingetretene Umstände berechtigen zu der Hoffnung, daß derselbe noch wiedergefunden werten könnte, und ich interessire mich als Mitglied der Familie für die Wiederauffindung. Unter den Schwierigkeiten, die sieh mir bei meinen Bemühungen zu diesem Zweck entgegenstellen, besteht eine darin, daß ich mir nothwendiger Weise alle ihrer Zeit angesammelten Zeugenaussagen verschaffen muß. Gewisse Umstände machen es mir wünschenswerth meine Erinnerungen an alles Das, was an dem Abend von Fräulein Verinder’s Geburtstage vorging, wieder aufzufrischen, und ich wage es nun, mich an die damals anwesenden Freunde der verstorbenen Lady Verinder mit der Bitte zu wenden, mir dabei mit ihrem Gedächtniß behilflich zu sein.«
Soweit war ich mit der Probe meiner erklärenden Phrasen gekommen, als ich bei einem Blick auf Herrn Candy plötzlich inne ward, däß mein Experiment bei ihm total fehlgeschlagen war.
Der kleine Doctor saß, während ich sprach, unruhig und fortwährend an seinen Nägeln kauend da. Seine trüben wässerigen Augen heftete er mit einem starren fragenden Ausdruck, der sehr peinlich anzusehen war, auf mich. Woran er dachte, war unmöglich zu errathen. Nur so viel war klar ersichtlich, daß ich nach den ersten zwei oder drei Worten seine Aufmerksamkeit nicht mehr zu concentriren vermocht hatte. Die einzige Möglichkeit, ihn wieder zur Besinnung zu bringen, schien in einer Veränderung des Gegenstandes der Unterhaltung zu liegen. Ich versuchte es sofort damit.
»Soviel,« sagte ich leichthin, »von dem was mich nach Frizinghall führt! Jetzt aber ist die Reihe an Ihnen, Herr Candy. Sie haben mir durch Gabriel Betteredge etwas bestellen lassen ——«
Auf einmal ließ er seine Nägel los und wurde wieder aufmerksam.
»Ja! ja! ja!« rief er eifrig aus. »Jawohl! ich habe Ihnen etwas bestellen lassen!«
»Und Betteredge hat es mir pflichtschuldigst brieflich mitgetheilt,« fuhr ich fort, »Sie wünschten mich zu sprechen, sobald ich wieder in Ihre Nähe käme. Nun, Herr Candy, da bin ich!«
»Da sind Sie!« sprach mir der Doctor nach, »und Betteredge hatte ganz recht, ich« wünschte Sie zu sprechen, das war meine Bestellung Betteredge ist ein merkwürdiger Mann! Dieses Gedächtniß in seinem Alter!«
Er verstummte wieder und fing wieder an, an seinen Nägeln zu kauen. Ich erinnerte mich dessen, was ich von Betteredge über die Wirkung des Fiebers auf das Gedächtniß des Doctors gehört hatte und fuhr daher in der Hoffnung, seine Erinnerungen wieder allmälig auffrischen zu können, in der Unterhaltung fort.
»Es ist lange her, daß wir uns nicht gesehen haben,« sagte ich. »Das letzte Mal war bei dem letzten Geburtstagsdiner, das meiner armen Tante zu geben beschieden sein sollte.«
»Richtig« rief Herr Candy aus, »das Geburtstagsdiner!«
Er sprang unwillkürlich auf und sah mich an. Ein tiefes Roth überflog plötzlich sein blasses Gesicht und er setzte sich rasch wieder nieder, als ob er sich bewußt war, eine Schwäche verrathen zu haben, die er gern verbergen wollte. »Es war klar, zum Erbarmen klar, daß er seine eigene Gedächtnißschwäche wohl kannte und daß er sich bemühte, diesen Mangel der Beobachtung seiner Freunde zu entziehen.
Bisher hatte er nur mein Mitleid rege gemacht. Aber die wenigen Worte, die er eben ausgesprochen, reizten meine Neugierde auf’s Höchste. Das Geburtstagsdiner war bereits für mich das einzige Ereigniß der Vergangenheit geworden, aus welches ich mit einer eigenthümlichen Mischung von Hoffnung und Mißtrauen zurückblickte. Und jetzt gab sich dieses Diner unzweideutiger Weise als den Gegenstand kund. in Betreff dessen Herr Candy mir etwas Wichtiges zu sagen hatte!«
Ich versuchte es, seinem Gedächtniß noch einmal aufzuhelfen. Aber dieses Mal war meine mitleidige Theilnahme der Ausfluß meines eigenen Interesses, das mich für den Zweck, den ich im Auge hatte, etwas zu rasch vorgehen ließ.
»Es ist fast ein Jahr her,« sagte ich,« »daß wir bei jenem heiteren Mittagsmahl versammelt waren. Haben Sie sich in Ihrem Tagebuch oder sonst über das, was Sie mir sagen wollten, irgend eine Notiz gemacht?«
Herr Candy verstand diese Andeutung und zeigte mir, daß er sie als eine Insulte auffasse.
»Ich bedarf keiner Notizen,« sagte er in sehr scharfem Ton. »Ich bin noch nicht so alt und kann mich, Gott sei Dank, durchaus auf mein Gedächtniß verlassen.«
Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich stellte, als ob ich seine Empfindlichkeit nicht sehe.
»Ich wollte, ich könnte dasselbe von meinem Gedächtnisse sagen,« antwortete ich. »Wenn ich an Dinge zurückdenke, die vor einem Jahre geschehen sind, so finde ich meine Erinnerungen selten so frisch, wie ich es möchte. So geht es mir zum Beispiel mit dem Diner bei Lady Verinder.«
Diese Anspielung heiterte Herrn Candy sofort wieder auf.
»Ja, das Diner —— das Diner bei Lady Verinder!« rief er noch eifriger als vorher aus. »Ich habe Ihnen in Betreff desselben etwas zu sagen.«
Seine Augen sahen mich wieder mit dem starren, suchenden Ausdruck an, der mir so peinlich war. Er bemühte sich offenbar eifrigst, aber vergebens, die verlorene Erinnerung wieder zu finden. »Es war ein sehr heiteres Diner,« brach er plötzlich mit einer Miene aus, als ob es das sei, was er habe sagen wollen. »Ein sehr heiteres Diner, Herr Blake, nicht wahr? Das arme Männchen nickte und lächelte und schien zu glauben, daß es ihm durch eine rechtzeitige Anstrengung seines Geistes gelungen sei, das gänzliche Versagen seines Gedächtnisses zu verbergen.
Die Sache war so betrübend, daß ich trotz meines lebhaften Interesses, seine Erinnerungen wieder wach werden zu sehen, die Unterhaltung sofort auf Gegenstände von localem Interesse brachte.
Hier ging es ganz gut. Elende kleine Scandalgeschichten und Zänkereien in der Stadt, von denen einige schon Wochen alt waren, schienen ihm rasch genug wieder einzufallen. Er plauderte mit einem Rest der fließenden Geschwätzigkeit früherer Tage. Aber selbst mitten in diesem Strom seiner plappernden Beredtsamkeit gab es Momente, wo er plötzlich stockte und mich wieder mit dem starren Ausdruck des Suchens ansah, sich dann wieder zusammennahm und fortfuhr. Ich ergab mich geduldig in mein Märtyrerthum, —— denn so darf man es wohl nennen, wenn ein Mann von kosmopolitischen Interessen sich dazu verurtheilt sieht, sich in schweigender Resignation die Neuigkeiten einer Landstadt erzählen zu lassen ——, bis die Uhr auf dem Kamin mir zeigte, daß mein Besuch schon über eine halbe Stunde gedauert habe. Jetzt durfte ich mein Opfer als vollendet betrachten und stand auf, um mich zu verabschieden. Als ich ihm die Hand reichte, spielte Herr Candy unaufgefordert wieder auf das Geburtstagsfest an.
»Es freut mich sehr, daß wir uns wieder gesehen haben,« sagte er, »es lag mir am Herzen, es lag mir wirklich am Herzen, Herr Blake, Sie zu sprechen. Ueber das Diner bei Lady Verinder, wissen Sie! Ein heiteres Diner! Wirklich, ein sehr heiteres Diner! Nicht wahr?«
Bei der Wiederholung dieser Frage schien er jetzt nicht mehr so ganz sicher, daß es ihm gelungen sei, seine Gedächtnißschwäche vor mir zu verbergen, wie er es vorher gewesen war. Der starre Blick umwölkte sein Auge wieder, und, nachdem er anfänglich anscheinend beabsichtigt hatte, mich bis an die Hausthür zu begleiten, änderte er plötzlich seinen Sinn, klingelte nach dem Diener und blieb im Wohnzimmer zurück.
Ich ging die Treppe des Doctors in der peinlichen Ueberzeugung langsam hinunter, daß er mir wirklich etwas von für mich entscheidender Wichtigkeit zu sagen habe, und daß er unfähig sei, es auszusprechen. Die Anstrengung der Erinnerung an die Thatsache, daß er mir etwas zu sagen habe, war nur zu ersichtlich die einzige Anstrengung, deren sein geschwächtes Gedächtniß noch fähig war.
Gerade als ich am Fuß der Treppe angelangt und eben um die Ecke gebogen war, um in den äußeren Vorplatz zu treten, öffnete sich leise eine Thür zur ebenen Erde, aus der eine sanfte Stimme hinter mir hervorklang und die Worte sprach:
»Ich fürchte, mein Herr, Sie haben Herrn Candy traurig verändert gefunden?«
Ich drehte mich um und fand mich von Angesicht zu Angesicht Ezra Jennings gegenüber.
Neuntes Capitel.
Des Doktors niedliches Hausmädchen stand, die offene Hausthür in der Hand, auf mich wartend da. Die Morgensonne beleuchtete das Gesicht von Herrn Candy’s Assisstenten hell, als ich mich umdrehte und ihn ansah.
Es war unmöglich, Betteredge’s Behauptung zu bestreiten, daß die Erscheinung Ezra Jennings für das Auge der Menge gegen ihn sprechen mußte. Seine zigeunerhafte Hautfarbe, seine eingefallenen Wangen, seine dürren Backenknochen, seine träumerischen Augen, sein wunderbar doppelfarbiges Haar, der merkwürdige Widerspruch zwischen seinem Gesichte und seiner Gestalt, der ihn zu gleicher Zeit alt und jung aussehen machte, das Alles war dazu angethan, auf einen Fremden einen ungünstigen Eindruck hervorzubringen. Und doch! —— obgleich ich mich dieses Eindrucks nicht zu Erwehren vermochte —— kann ich nicht leugnen, daß Ezra Jennings ein unwiderstehliches Gefühl der Sympathie in mir erweckte. Während meine Welterfahrung mich mahnte, seine Frage bejahend zu beantworten und dann meines Weges zu gehen —— hielt mich doch mein Interesse für Ezra Jennings zurück und gab ihm die Gelegenheit, vertraulich mit mir über seinen Prinzipal zu reden, auf den er augenscheinlich gewartet hatte.
»Gehen Sie desselben Weges mit mir, Herr Jennings?« sagte ich, da ich bemerkte, daß er seinen Hut in der Hand hielt, »ich will meiner Tante Ablewhite einen Besuch machen.«
Ezra Jennings erwiderte, daß er einen Patienten zu besuchen habe und daß er denselben Weg gehe.
Wir verließen das Haus zusammen. Es fiel mir auf, daß das hübsche Dienstmädchen, das ganz Lächeln und Liebenswürdigkeit war, als ich ihr beim Hinausgehen »guten Morgen« wünschte, eine kleine einfache Bestellung von Ezra Jennings, die sich auf die wahrscheinliche Zeit seiner Rückkehr bezog, mit zusammengekniffenen Lippen und mit Augen entgegennahm, die kein Hehl daraus machten, daß sie alles Andere lieber ansehen wollten, als sein Gesicht. Der arme Kerl war offenbar im Hause nicht beliebt. Außer dem Hause war er, wie ich von Betteredge wußte, überall unpopulär.
Ezra Jennings schien entschlossen, nachdem er seinerseits einmal auf Herrn Candy’s Krankheit angespielt hatte, es mir zu überlassen, den Gegenstand wieder aufzunehmen. Sein bedeutungsvolles Schweigen sagte mir: »Jetzt ist die Reihe an Ihnen!« Ich hatte meine Gründe, auf die Krankheit des Doctors zurückzukommen, und übernahm bereitwillig die Verantwortlichkeit, zuerst wieder das Wort zu ergreifen.
»Nach der Veränderung zu schließen, die ich an Herrn Candy beobachtet habe,« fing ich an, muß seine Krankheit viel ernster gewesen sein, als ich vermuthet hatte.«
»Es ist beinahe ein Wunden« sagte Ezra Jennings, »daß er es überlebt hat.«
»Ist sein Gedächtniß nie besser, als ich es heute gefunden habe? Er hat es versucht, mit mir über etwas zu reden ——«
»Das in die Zeit vor seiner Krankheit fällt?« fragte der Assistent, als er bemerkte, daß ich zauderte, den Satz zu vollenden.
»Ja.«
»Seine Erinnerungen an Ereignisse jener Zeit sind hoffnungslos geschwächt,« sagte Ezra Jennings »Man möchte fast die dürftigen Ueberreste beklagen, die dem armen Mann noch davon verblieben sind. Er erinnert sich dann und wann dunkel gewisser Pläne, gewisser Dinge, die er vor seiner Krankheit sagen oder thun wollte, —— aber er ist vollkommen unfähig, sich diese Absichten oder diese Dinge wieder in’s Gedächtniß zu rufen. Er ist sich seiner Schwäche schmerzlich bewußt und wie Sie bemerkt haben werden, peinlich bemüht, dieselbe der Beachtung Anderer zu entziehen. Wenn er in einen Zustand völliger Vergessenheit des Vergangenen hätte verfallen können, so würde er glücklicher sein. Vielleicht wären wir Alle glücklicher,« fügte er mit einem trüben Lächeln hinzu, »wenn wir die Vergangenheit völlig vergessen könnten«
»Aber doch trägt jeder Mensch Erinnerungen aus seinem Leben mit sich,« erwiderte ich, »die er ungern entbehren würde.«
»Das trifft gewiß für die meisten Menschen zu, Herr Blake, aber ich fürchte, nicht für Alle. Haben Sie irgendwelchen Grund anzunehmen, daß die Erinnerung, welche Herr Candy, während Sie sich eben mit ihm unterhielten, wieder in sich wach zu rufen bemüht war, von Wichtigkeit für Sie sein würde?«
Mit diesen Worten hatte er unaufgefordert den Punkt berührt, über den ich ihn um Rath zu fragen lebhaft wünschte. Das Interesse, welches mir dieser sonderbare Mann einflößte, war für mich der erste Antrieb gewesen, ihm eine Gelegenheit zu geben mit mir zu reden. Indem ich mit dem, was ich meinerseits über seinen Prinzipal zu sagen haben möchte, zurückhielt, bis ich mich zuvor überzeugt haben würde, daß er ein Mann sei, auf dessen Delicatesse und Discretion ich mich verlassen könne, war ich schon nach dem Wenigen, was er bis jetzt gesagt hatte, sicher, daß ich mit einem Gentleman zu thun habe. Er hatte, was ich als eine zur zweiten Natur gewordene Selbstbeherrschung bezeichnen möchte, die nicht nur in England, sondern überall in der civilisirten Welt das Zeichen einer guten Erziehung ist. Was er auch bei seiner eben an mich gerichteten Frage für einen Zweck im Auge gehabt haben mochte, so trug ich doch schon jetzt kein Bedenken, ihm seine Frage rückhaltlos zu beantworten.
»Ich glaube, ich habe ein sehr dringendes Interesse,« sagte ich, »die Spur der verlorenen Erinnerung, welche Herr Candy nicht wieder aufzufrischen im Stande ist, zu verfolgen. Darf ich mir die Frage erlauben; ob Sie mir irgend ein Mittel, seinem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen, an die Hand geben können?«
Ezra Jennings blickte mich mit einem plötzlich aufblitzenden Interesse in seinen träumerisch - braunen Augen an.
»Dem Gedächtnis; des Herrn Candy,« sagte er, »ist auf keine Weise aufzuhelfen. Ich habe seit seiner Wiederherstellung oft genug vergebliche Versuche dieser Art gemacht und kann mich über diesen Punkt ganz positiv aussprechen.
Diese Bemerkung desappointirte mich und ich hatte daraus kein Hehl.
»Ich gestehe« sagte ich, »daß Sie die Hoffnung auf eine weniger entmuthigende Antwort in mir rege gemacht hatten.«
Ezra Jennings lächelte. »Vielleicht ist es nicht mein letztes Wort, Herr Blake, vielleicht ist es möglich, die Spur der verlorenen Erinnerung des Herrn Candy zu verfolgen, ohne an Herrn Candy selbst appelliren zu müssen.«
»Wirklich? Ist es nicht indiscret, zu fragen, wie das möglich wäre?«
Durchaus nicht. Die einzige Schwierigkeit bei Beantwortung Ihrer Frage besteht für mich in der Schwierigkeit, mich zu erklären. Wird es keine zu harte Geduldsprobe für Sie sein, wenn ich noch einmal auf Herrn Candy’s Krankheit zurückkomme und wenn ich Ihnen dabei dieses Mal einige technische Details nicht erspare?«
»Bitte, fahren Sie fort. Sie haben mich schon auf diese Details begierig gemacht« Mein Eifer schien ihn zu ergötzen Er lächelte wieder. Wir hatten eben die letzten Häuser der Stadt hinter uns gelassen. Ezra Jennings stand einen Augenblick still und pflückte einige wildwachsende Blumen von der Hecke am Wege. »Wie schön die Blumen sind,« sagte er, indem er mir sein kleines Bouquet zeigte. »Und wie wenige Leute in England den rechten Sinn für die Schönheit solcher Blumen haben!«
»Sie sind kein geborener Engländer?« fragte ich.
»Nein. Ich bin in einer unserer Colonien geboren und theilweise erzogen. Mein Vater war ein Engländer, aber meine Mutter . . . Aber wir kommen von unserem Gegenstande ab, Herr Blake, und zwar durch meine Schuld. Ich habe ein eigenes Verhältniß zu diesen bescheidenen kleinen Blumen. Aber lassen wir das; wir sprachen von Herrn Candy, kommen wir aus ihn zurück.«
Indem ich die wenigen Worte über ihn selbst, die ihm so widerwillig entschlüpft waren, mit der melancholischen Weltanschauung welche ihn das menschliche Glück in einem vollständigen Vergessen der Vergangenheit finden ließ, in Verbindung brachte, gewann ich die Ueberzeugung, daß die Geschichte, welche ich in seinem Gesicht zu lesen glaubte, in zwei Punkten wenigstens der Wahrheit entsprach. Er hatte gelitten wie wenige Menschen und sein englisches Blut war mit dem einer fremden Race gemischt.
»Sie haben vermuthlich von der ursprünglichen Veranlassung von Herrn Candy’s Krankheit gehört?« fing er wieder an. »An dem Abend nach Lady Verinder’s Mittags-Gesellschaft regnete es heftig. Mein Principal fuhr in seinem offenen Wägelchen im Regen nach Hause und wurde bis aus die Haut durchnäßt.
In seiner Wohnung fand er eine dringende Bestellung eines Patienten vor, der ihn sehnsüchtig erwartete und fuhr unvernünftiger Weise sofort zu diesem Kranken, ohne sich die Zeit zu lassen, seine Kleider zu wechseln. Ich selbst war an jenem Abend durch einen Fall in einiger Entfernung von Frizinghall in Anspruch genommen.
Als ich am nächsten Morgen zurückkehrte, fand ich Herrn Candy’s Diener in großer Unruhe auf mich wartend, um mich nach dem Zimmer seines Herrn zu führen. Das Unheil war bereits geschehen. Die Krankheit war ausgebrochen.«
»Ich habe bis jetzt nur in ganz allgemeinen Ausdrücken von der Krankheit als von einem Fieber reden hören,« sagte ich.
»Ich kann nichts zur genaueren Bezeichnung hinzufügen,« antwortete Ezra Jennings. »Vom ersten bis zum letzten Augenblick nahm das Fieber keine spezifische Form an. Ich schickte auf der Stelle zu zwei von Herrn Candy’s Collegen in die Stadt, mit der Bitte, mich bei diesem Fall mit ihrem Rath zu unterstützen. Sie stimmten mit mir darin überein, daß die Sache sehr ernst sei, wichen aber Beide in Betreff der anzuwendenden Behandlung wesentlich von meiner Ansicht ab. Wir waren ganz verschiedener Meinung über die Schlüsse, die aus dem Pulsschlag des Patienten zu ziehen seien. Die beiden Doctoren folgerten aus der Raschheit des Pulsschlags, daß eine herabstimmende Behandlung die einzig angezeigte sei, während ich meinerseits zwar die Raschheit des Pulsschlags zugab, aber gleichzeitig in der beunruhigenden Schwäche desselben ein Symptom der Erschöpfung des ganzen Systems erblickte, welches die Anwendung von stimulirenden Mitteln gebieterisch fordere. Die beiden Doktoren wollten ihn auf eine Diät von Limonade, Hafer und Gerstenschleim u. s. w. setzen. Ich hingegen erklärte mich dafür, ihm Champagner oder Cognac, und Chinin zu geben. Eine sehr ernste Meinungsverschiedenheit, wie Sie sehen, zwischen zwei selbstständig etablirten Aerzten von bewährtem localen Ruf auf der einen und einem Fremden, der nur der Assistent des Patienten war, auf der anderen Seite. In den ersten paar Tagen hatte ich keine Wahl, als den älteren und angeseheneren Männern nachzugeben. Als aber die Kräfte des Patienten fortwährend abnahmen, machte ich einen zweiten Versuch, die unwiderleglich klare Beweiskraft des Pulses für mich anzurufen. Seine Raschheit war dieselbe und seine Schwäche hatte zugenommen.
Die beiden Doctoren nahmen meine eigensinnige Beharrlichkeit übel und sagten mir: »Herr Jennings, wir behandeln diesen Fall oder Sie behandeln ihn! Wählen Sie!«" worauf ich erwiderte: »Meine Herren, lassen Sie mir fünf Minuten Zeit zur Ueberlegung und ich will Ihnen auf Ihre entschiedene Frage eine entschiedene Antwort geben. Nach Verlauf der erbetenen Bedenkzeit hatte ich meine Antwort bereit. Ich sagte: »Weigern Sie sich positiv, es mit einer stimulirenden Behandlung zu versuchen?« Sie sprachen diese Weigerung in der positivsten Weise aus. »Dann werde ich diese Behandlung auf meine eigene Hand versuchen, meine Herren.« —— »Versuchen Sie es, Herr Jennings, und wir räumen Ihnen das Feld.« —— Ich ließ eine Flasche Champagner aus dem Keller holen und gab dem Patienten mit eigener Hand ein halbes Wasserglas voll zu trinken. Die beiden Aerzte setzten schweigend ihre Hüte auf und verließen das Haus.
»Sie hatten damit eine sehr ernste Verantwortlichkeit auf sich genommen,« sagte ich. »Ich an Ihrer Stelle würde, fürchte ich, davor zurückgeschreckt sein.«
»An meiner Stelle würden Sie sich erinnert haben, daß Herr Candy Sie unter Umständen engagirt habe, die Sie für Ihre Lebenszeit zu seinem Schuldner machten. An meiner Stelle würden Sie gesehen haben wie er stündlich schwächer wurde, und würden lieber Alles gewagt haben, als den einzigen Menschen, der sich Ihnen freundlich erwiesen hatte, vor Ihren Augen sterben zu lassen. Denken Sie nicht, daß ich für das Schreckliche der Lage, in die ich mich selber gebracht hatte, unempfindlich gewesen wäre! Es gab Momente, in denen ich das ganze Elend meiner Freudlosigkeit, die ganze Gefahr meiner furchtbaren Verantwortlichkeit fühlte.
Wenn ich ein glücklicher Mensch gewesen wäre, wenn ich ein heiteres Leben hinter mir gehabt hätte, so würde ich, glaube ich, der Last der Ausgabe, die ich mir selbst aufgebürdet hatte, unterlegen sein. Aber für mich gab es keine vergangenen glücklichen Tage auf die ich hätte zurückblicken können; ich hatte nie den Seelenfrieden gekannt, dessen Contrast mit meiner gegenwärtigen Angst und Ungewißheit sich mir hätte aufdrängen können und ich ließ mich in meinem Entschluß durch nichts irre machen. Nur in den Tagesstunden, in denen sich mein Patient am erträglichsten befand, gönnte ich mir etwas Ruhe, den übrigen Theil der vierundzwanzig Stunden des Tages wich ich, so lange sein Leben in Gefahr war, nicht von seinem Bette. Gegen Sonnenuntergang trat, wie gewöhnlich in solchen Fällen, das Delirium, das mit dem Fieber verbunden zu sein pflegt, ein. Dasselbe dauerte mehr oder weniger die ganze Nacht hindurch und ließ dann in jener schrecklichen Zeit zwischen 2 und 5 Uhr, wo die Lebensgeister selbst der Gesündesten unter uns am tiefsten gesunken sind, nach. Das ist die Zeit, wo der Tod seine reichste Ernte unter den Menschen hält. In diesen Stunden bestand ich am Krankenbette einen furchtbaren Kampf mit dem Tode, dem ich seine Beute abzuringen suchte. Keinen Augenblick wurde ich an dem Spiel irre, das ich mit meiner Behandlungsart gewagt hatte. Wenn der Wein seine Dienste versagte, versuchte ich es mit Cognac. Wenn alle Stimulanzen ihre Wirkung verfehlten, verdoppelte ich die Dosis. Nach einer Zeit schrecklicher Ungewißheit, —— deren gleichen ich Gott bitte, mich nicht wieder erleben zu lassen, —— kam ein Tag, wo die Rapidität des Pulsschlags unbedeutend aber doch merklich abnahm und, was noch besser war, auch die Art des Pulsschlags sich in ganz unzweideutiger Weise veränderte und der Puls fester und stärker wurde. Da wußte ich, daß ich ihn gerettet hatte und da brach ich zusammen. Ich legte die abgezehrte Hand des armen Mannes wieder aufs Bett und brach in Thränen aus. Eine Erleichterung durch hysterische Thränen, Herr Blake, weiter nichts! Die Physiologie behauptet, und zwar mit Recht, daß es weiblich organisirte Männer giebt —— und zu diesen gehöre ich!«
Er sprach diese bittere ärztliche Entschuldigung für seine Thränen in derselben ruhigen und schmucklosen Weise aus, in der er auch alles Vorhergehende gesagt hatte. In seinem Ton und ganzen Wesen äußerte sieh von Anfang bis zu Ende eine ängstliche, fast krankhafte Beflissenheit, sich mir gegenüber nicht interessant zu machen.
»Sie werden mich gewiß fragen,« fuhr er fort, »Warum ich Sie mit diesem ermüdenden Detail behelligt habe. Aber ich weiß keine andere Art, Herr Blake, Sie passend auf das vorzubereiten, was ich Ihnen demnächst zu sagen habe. Sie kennen jetzt genau meine Lage zur Zeit von Herrn Candrys Krankheit, um so eher werden Sie es begreifen, daß ich ein schmerzliches Bedürfniß empfand, mir von Zeit zu Zeit eine Erleichterung der auf meinem Gemüth lastenden Sorge zu verschaffen. Seit einigen Jahren habe ich meine Mußestunden mit dem Versuch ausgefüllt, ein den Mitgliedern meines Berufs gewidmetes Buch über den intricaten und delicaten Gegenstand des Gehirns und der Nerven zu schreiben. Meine Arbeit wird wahrscheinlich nie vollendet und gewiß nie veröffentlicht werden. Nichtsdestoweniger ist sie mir in mancher einsamen Stunde ein Freund gewesen und hat mir geholfen, die angstvollen Stunden ungewissen Wartens an Herrn Candy’s Bett zu überstehen. Ich habe Ihnen, glaube ich, schon gesagt, daß er heftig phantasirte und auch die Stunden genannt, wo dieses Delirium einzutreten pflegte, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun hatte ich gerade zu jener Zeit einen Abschnitt meines Buches beendet, welcher diese Frage des Deliriums berührte. Ich will Sie mit meiner Theorie über den Gegenstand nicht aufhalten. Ich will mich vielmehr darauf beschränken, Ihnen nur das davon mitzutheilen, was Sie in diesem Augenblick interessiren kann. Es ist mir im Laufe meiner ärztlichen Praxis oft ein Zweifel darüber aufgestiegen, ob wir in Fällen des Deliriums aus dem Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu reden, mit Recht auf den Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu denken, als eine nothwendige Folge schließen dürfen. Die Krankheit des armen Herrn Candy gab mir eine Gelegenheit, die Berechtigung meines Zweifels zu erproben. Ich bin des Stenographirens kundig und konnte vermöge dieser Fertigkeit die irren Reden des Kranken wörtlich wie er sie aussprach, zu Papier bringen. —— Sehen Sie nun endlich, Herr Blake, wo ich hinaus will?«
Ich sah es vollkommen deutlich und horchte mit gespanntester Aufmerksamkeit athemlos auf.
»Gelegentlich, wie sich die Zeit dazu fand,« fuhr Ezra Jennings fort, »übertrug ich dann meine stenogrophischen Aufzeichnungen in gewöhnliche Schrift, indem ich zwischen den abgebrochenen Sätzen und selbst zwischen den einzelnen Worten, wie sie Herrn Candy zusammenhangslos entfallen waren, leere Stellen ließ. Ich behandelte dann das so erlangte Resultat nach einer ähnlichen Methode, wie man sie bei der Zusammensetzung eines Geduldspiels für Kinder anzuwenden pflegt. Anfänglich erscheint Alles Verwirrung, aber wenn man nur den rechten Schlüssel dazu findet, kann man Alles in seine gehörige Ordnung bringen. Ich wandte dieses Verfahren an, indem ich die leeren Stellen auf dem Papier mit dem ausfüllte, was mir die Sätze und Worte an beiden Enden des leeren Raums als die wirkliche Meinung des Sprechenden an die Hand gaben, indem ich dabei fort und fort änderte, bis meine Zusätze sich den vorangehenden Worten natürlich anzuschließen und die folgenden Worte einzuleiten schienen. Das Ergebniß war, daß ich mir in dieser Weise nicht nur über viele angstvolle und müßige Stunden hinweghalf, sondern daß ich zu etwas gelangte, was mir eine Bestätigung meiner Theorie zu sein schien. Deutlicher gesprochen, nachdem ich die abgebrochenen Sätze zusammengefügt hatte, fand ich, daß das höhere Vermögen, mehr oder weniger zusammenhängend zu denken, in dem Geiste meines Patienten fortwirke, während das niedrigere Vermögen des Ausdrucks sich in einem Zustande fast völliger Unfähigkeit und Verwirrung befand.«
»Ein Wort!« unterbrach ich eifrig, »Kam in seinen irren Reden je mein Name vor?«
»Das sollen Sie gleich hören, Herr Blake. Unter den schriftlichen Beweisen meiner eben aufgestellten Behauptung oder richtiger, unter den schriftlichen Experimenten, welche ich zu dem Zweck angestellt habe, um meine Behauptung zu beweisen, befindet sich eines, in welchem Ihr Name vorkommt. Fast während einer ganzen Nacht war Herrn Candy’s Geist mit etwas beschäftigt, was zwischen ihm und Ihnen vorgegangen war. Ich habe seine abgebrochenen Worte, wie sie ihm entfuhren, auf einem Blatt Papier und die von mir aufgefundenen Ringe, welche zwischen jenen Worten eine Kette herzustellen bestimmt sind, auf einem andern Blatt Papier. Das Product, wie man in der Arithmetik sagt, ist die verständliche Angabe erstens: von etwas in der Vergangenheit wirklich Geschehenem, und zweitens von etwas, was Herr Candy künftig zu thun beabsichtigte, und an dessen Ausführung ihn seine Krankheit vermuthlich verhindert hat. Die Frage ist nun, ob das die verlorene Erinnerung ist, welche wieder aufzufrischen er sich diesen Morgen bei Ihrem Besuch vergeblich abmühte oder nicht.«
»Ganz unzweifelhaft« antwortete ich. »Lassen Sie uns auf der Stelle umkehren und die Papiere in Augenschein nehmen!«
»Das ist unmöglich, Herr Blake!«
»Warum?«
»Versetzen Sie sich einen Augenblick in meine Lage,« entgegnete Ezra Jennings. »Würden Sie einer andern Person das, was Ihrem leidenden Patienten und hilflosen Freunde in bewußtlosem Zustande entfahren ist, enthüllen, wenn Sie sich nicht vorher vergewissert hätten, daß Ihre Mittheilung durch eine dringende Nothwendigkeit gerechtfertigt erscheine?
Ich fühlte sehr wohl, daß darauf nichts zu erwidern sei, versuchte es aber nichtsdestoweniger, die Frage mit ihm zu discutiren.
»Mein Benehmen in einer so delicaten Situation, wie Sie sie bezeichnen,« erwiderte ich, »würde größtentheils davon abhängen, ob die Enthüllung geeignet wäre, einen Freund zu compromittiren oder nicht.«
»Ich habe diese Seite der Frage bereits seit langer Zeit erwogen,« sagte Ezra Jennings. »Wo immer meine Aufzeichnungen irgend etwas enthielten, wovon ich annehmen mußte, daß Herr Candy dasselbe geheim zu halten gewünscht haben würde, habe ich diese Aufzeichnungen vernichtet. Die von mir an dem Krankenbette meines Freundes angestellten schriftlichen Experimente enthalten jetzt nichts mehr, was er Anstand genommen haben würde, Andern mitzutheilen, wenn er den Gebrauch seines Gedächtnisses wieder erlangt hätte. In Ihrem Fall habe ich sogar Ursache zu glauben, daß meine Aufzeichnungen Etwas enthalten, was er Ihnen selbst mitzutheilen wünschte.«
»Und doch nehmen Sie Anstand?«
»Und doch nehme ich Anstand. Vergegenwärtigen Sie sich die Umstände, unter welchen ich die Kunde, in deren Besitz ich mich befinde, erlangt habe. So harmlos deren Besitz an und für sich ist, so kann ich es doch nicht über mich gewinnen, Ihnen dieselbe mitzutheilen, bevor Sie mich nicht überzeugt haben, daß dazu ein besonderer Grund vorliegt. Er war so entsetzlich krank, Herr Blake, und so hilflos in meiner Gewalt, —— können Sie es mir unter diesen Umständen verdenken, wenn ich Sie nur um eine Andeutung darüber bitte, worin Ihr Interesse an jener entschwundenen Erinnerung besteht, oder was Sie für den Inhalt jener entschwundenen Erinnerung halten?
Um ihm mit der Offenheit zu antworten, auf welche seine Sprache und sein Wesen ihm beide einen gleich berechtigten Anspruch gaben, würde ich mich zu dem Geständniß haben herbeilassen müssen, daß der Verdacht des Diebstahls des Diamanten auf mir laste. So sehr sich auch mein erstes impulsives Interesse an Ezra Jenning’s Person im Verlaufe unserer Unterhaltung gesteigert hatte, so hatte er doch meine unüberwindliche Abneigung, mich über meine entwürdigende Situation auszusprechen, nicht ganz beseitigen können. Ich nahm abermals zu den erklärenden Phrasen meine Zuflucht, mit welchen ich mich gegen die Neugierde Fremder gewaffnet hatte.
Dieses Mal hatte ich mich nicht über Mangel an Aufmerksamkeit von Seiten der Person, an die ich mich wandte, zu beklagen. Ezra Jennings hörte geduldig, ja ängstlich aufmerksam zu, bis ich geendet hatte.
»Ich bedaure, Herr Blake,« sagte er, »daß ich Ihre Erwartungen gespannt habe, nur um Sie enttäuschen zu müssen. Während der ganzen Dauer der Krankheit des Herrn Candy vom ersten bis zum letzten Augenblick ist ihm kein Wort über den Diamanten entfahren Die Angelegenheit, im Zusammenhang mit welcher ich ihn Ihren Namen habe aussprechen hören, steht, wie ich Sie versichern kann, in keiner noch so entfernten Beziehung zu dem Verlust oder der Wiederauffindung von Fräulein Verinder’s Juwel.«
Als er diese Worte sagte, waren wir gerade an einer Stelle der Landstraße angelangt, wo sich dieselbe in zwei Wege theilte. Der eine derselben führte nach dem Hause meines Onke1s Ablewhite und der andere nach einem zwei bis drei Meilen entfernten Dorfe in der Haide. Ezra Jennings stand hier still.
»Mein Weg führt dorthin,« sagte er, nach der Richtung des Dorfes hindeutend. »Es thut mir herzlich leid, Herr Blake, daß ich Ihnen nicht habe dienen können.«
Der Ton seiner Stimme bürgte für die Aufrichtigkeit seiner Worte. Seine sanften braunen Augen ruhten einen Augenblick mit einem Ausdruck melancholischen Interesses auf mir. Er verneigte sich gegen mich und ging, ohne ein Wort weiter zu sagen, seines Weges nach dem Dorfe hin. Eine Zeit lang blieb ich stehen und sah ihm nach, während er sich weiter und weiter von mir entfernte und weiter und weiter Das mit sich forttrug, was nach meiner festen Ueberzeugung der Schlüssel war, den ich suchte. Nachdem er eine Strecke Weges gegangen war, sah er sich wieder nach mir um. Als er sah, daß ich noch an der Stelle, an der wir uns getrennt hatten, stillstand, blieb auch er stehen, als ob er vermuthe, daß ich ihn vielleicht noch ein Mal zu sprechen wünsche Ich hatte keine Zeit, meine Situation zu überdenken, keine Zeit, mich zu erinnern, daß ich im Begriff stehe, mir die Gelegenheit, vielleicht eine entscheidende Wendung meines Lebens herbei zu führen, entschlüpfen zu lassen, und das nur, um meiner eitlen Selbstachtung zu schmeicheln. Ich hatte nur Zeit ihn zurückzurufen. Ich rief ihn zurück und sagte mir dann: »Jetzt hilft nichts mehr, ich muß ihm die Wahrheit sagen.«
Er kehrte auf der Stelle um und ich ich ging ihm eine längere Strecke entgegen. »Herr Jennings,« sagte ich, »ich bin nicht ganz offen gegen Sie zu Werke gegangen. Das Interesse, welches ich habe, die Spur der verlorenen Erinnerung des Herrn Candy zu verfolgen, ist nicht das Interesse an der Wiederauffindung des Mondsteins, sondern meinem Besuch in Yorkshire liegt ein sehr ernstes persönliches Motiv zu Grunde. Ich habe nur eine Entschuldigung dafür, daß ich in dieser Angelegenheit nicht offener gegen Sie gewesen bin. Es ist mir peinlicher, als ich es sagen kann, mich gegen irgend Jemanden über meine wirkliche Situation rückhaltlos auszusprechen.«
Ezra Jennings sah mich mit einem Ausdruck anscheinender Verlegenheit an, den ich bisher noch nicht an ihm beobachtet hatte.
»Herr Blake,« sagte er, »ich habe weder das Recht, noch den Wunsch, mich in Ihre Privat-Angelegenheiten zu mischen. Erlauben Sie, daß ich Sie meinerseits um Verzeihung bitte, wenn ich Sie höchst unabsichtlich veranlaßt habe, ein Ihnen peinliches Geständniß zu machen.«
»Sie haben das vollste Recht,« erwiderte ich, »die Bedingungen zu« bestimmen, unter welchen allein Sie sich für berechtigt halten, mir mitzutheilen, was Sie an Herrn Candy’s Krankenlager gehört haben. Ich begreife und achte das Zartgefühl, welches Sie in dieser Angelegenheit leitet. Welchen Anspruch auf Ihr Vertrauen kann ich geltend machen, wenn ich Ihnen nicht zuvor das meinige schenke? Sie müssen und sollen wissen, welches Interesse ich daran habe, zu erfahren, was mir Herr Candy sagen wollte. Wenn es sich ergeben sollte, daß ich von einer irrigen Voraussetzung ausgehe und daß Sie, nachdem Sie mein wirkliches Interesse an der Sache kennen gelernt haben werden, mir doch nicht helfen können, so werde ich in Ihrer Ehre eine Gewähr für die Bewahrung meines Geheimnisses finden und mich, wie mir eine innere Stimme sagt, in meinem Vertrauen nicht getäuscht finden.«
»Halt, Herr Blake, Bevor Sie fortfahren, muß ich Ihnen ein Wort sagen.«
Ich sah ihn erstaunt an. Eine furchtbare Aufregung schien sich seiner bemächtigt zu haben und ihn auf’s Tiefste zu erschüttern. Seine zigeunerhafte Hautfarbe hatte sich in ein fahles blasses Grau verwandelt, seine Augen erglänzten plötzlich von wilder Gluth, seine Stimme hatte einen leisen, finsteren, entschlossenen Ton angenommen, den ich noch nicht bei ihm gehört hatte. Die in der Seele dieses Mannes schlummernden Kräfte —— ob guter oder böser Natur war in diesem Augenblick schwer zu sagen leuchteten mir auf einmal mit der Plötzlichkeit eines Blitzstrahls entgegen.
»Bevor Sie mir Ihr Vertrauen schenken,« fuhr er fort, »müssen und sollen Sie erfahren, unter welchen Umständen ich in dem Hause des Herrn Candy Aufnahme gefunden habe. Es bedarf dazu nicht vieler Worte. Meine Geschichte wird Niemand von mir erfahren, Herr Blake, meine Geschichte wird mit mir begraben werden. Alles, was ich mir von Ihnen erbitte, ist die Erlaubniß, Ihnen zu erzählen, was ich Herrn Candy erzählt habe. Wenn Sie, nachdem Sie das gehört haben werden, bei Ihrem Entschluß beharren, mir Ihre beabsichtigte Mittheilung zu machen, so werde ich Ihnen meine ganze Aufmerksamkeit und meine Dienste zur Verfügung stellen. Sollen wir weiter gehen?«
Der Ausdruck eines gewaltsam niedergehaltenen Jammers in seinem Gesicht machte mich stumm. Ich bejahte seine Frage durch ein Zeichen und wir gingen weiter.
Nachdem wir einige hundert Schritte gegangen waren, blieb Ezra Jennings vor einer Oeffnung in der Felswand stehen, welche sich an dieser Stelle des Weges aus dem Haideboden erhob.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier ein wenig ausruhen?« fragte er. »Ich bin nicht mehr der Alte und gewisse Dinge erschüttern mich.«
Ich willigte natürlich ein. Er führte mich durch die Oeffnung zu einem Rasenfleck auf dem Haideboden, der nach der Seite der Landstraße hin durch Gebüsch und verkrüppelte Bäume geschützt war und nach der andern Seite hin eine trostlose Aussicht über die weite braune Oede der Haide gewährte. Schwere Wolken hatten sich seit einer halben Stunde am Himmel zusammengeballt. Die Beleuchtung war matt, die Aussicht getrübt. Das liebliche Antlitz der Natur blickte uns sanft und ruhig, aber farblos und ohne Lächeln an. Wir setzten uns schweigend nieder. Ezra Jennings legte seinen Hut bei Seite und fuhr sich mit der Hand matt über die Stirn und durch sein wunderlich weiß und schwarzes Haar. Er warf sein kleines Bouquet von wildwachsenden Blumen weg, als ob ihm die Erinnerungen, die dasselbe in ihm wachgerufen, jetzt peinlich seien.
»Herr Blake!« sagte er plötzlich. »Sie sind in schlechter Gesellschaft. Eine furchtbare Anklage hat Jahre lang auf mir gelastet. Ich sage Ihnen gleich das Schlimmste, ich bin ein Mann, dessen Leben ein Wrack und dessen guter Ruf verloren ist.«
Ich versuchte zu reden, aber er wehrte mir.
»Nein,« sagte er, »verzeihen Sie mir noch nicht. Lassen Sie sich nicht zu Ausdrücken der Theilnahme hinreißen, die Sie später vielleicht bereuen würden. Ich sprach von einer Anklage, die Jahre lang auf mir gelastet hat Gewisse Umstände sprechen bei dieser Anklage sehr entschieden gegen mich. Ich kann mich nicht entschließen, Ihnen den Gegenstand derselben mitzutheilen, da ich völlig außer Stande bin, meine Unschuld zu erweisen, ich kann dieselbe vielmehr nur betheuern und ich betheuere sie, Herr Franklin, auf meinen Eid als Christ, —— mich auf meine Ehre als Mann zu berufen, steht mir nicht zu.«
Er hielt wieder inne. Ich sah ihn an, während er unausgesetzt seine Blicke von mir abwandte. Sein ganzes Wesen schien in dem Schmerz der Erinnerung und in das peinliche Ringen nach Worten auszugehen.
»Ich könnte,« begann er wieder, »viel über die mir von meiner eigenen Familie widerfahrene erbarmungslose Behandlung und die erbarmungslose Feindschaft, der ich zum Opfer gefallen bin, sagen. Aber das Uebel ist einmal geschehen, das Unrecht kann nicht wieder gut gemacht werden, und ich will Sie nicht unnöthiger Weise langweilen oder betrüben. Gleich beim Betreten meiner Laufbahn in diesem Lande trat mir die niedrige Verleumdung, von der ich gesprochen habe, sofort vernichtend entgegen. Ich verzichtete darauf, es in meinem Beruf zu etwas zu bringen, dunkle Zurückgezogenheit war das Einzige, was mir zu wählen übrig blieb. Ich trennte mich von dem Weibe, das ich liebte, wie konnte ich sie dazu verdammen, meine Schande zu theilen. In einem Winkel Englands bot sich mir die Stelle eines ärztlichen Assistenten, ich nahm sie an. Ich hoffte in derselben Ruhe und Verborgenheit zu finden, ich täuschte mich. Böse Nachrede weiß langsam und sicher überall hin ihren Weg zu finden. Die Anklage, vor der ich geflohen war, verfolgte mich. Ich wurde vor ihrem Herannahen gewarnt. Ich konnte noch rechtzeitig meine Stelle mit guten Zeugnissen über mein Verhalten freiwillig verlassen. Dieselben verschafften mir eine andere Stelle in einer andern noch entfernteren Gegend. Wieder verging die Zeit und wieder wußte mich die Verleumdung, die meinem Rufe so verderblich war, zu finden; dieses Mal traf sie mich unvorbereitet. Mein Principal erklärte mir eines Tages: Herr Jennings, ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen, aber Sie müssen sich rechtfertigen oder mich verlassen. Ich hatte keine andere Wahl als meine Stelle aufzugeben. Ich will nicht bei dem verweilen, was ich damals litt. Ich bin erst vierzig Jahr alt! und sehen Sie mein Gesicht an, Sie werden in demselben die Geschichte jammervoller Jahre lesen. Endlich kam ich hierher und lernte Herrn Candy kennen. Er brauchte gerade einen Assistenten. In Betreff meiner Fähigkeit verwies ich ihn an meinen letzten Principal, blieb noch die nöthige Auskunft über meinen Charakter übrig. Ich theilte ihm das, was ich Ihnen erzählt habe, und noch mehr mit. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß selbst wenn er meinem Bericht Glauben schenke, Unannehmlichkeiten nicht ausbleiben würden. Hier wie überall sagte ich ihm, verschmähe ich die schuldbewußte Ausflucht, einen fremden Namen anzunehmen. Ich bin in Frizinghall nicht sicherer vor der Wolke, die mich aus allen meinen Wegen verfolgt als anderswo.« Er antwortete mir: »Ich Pflege nichts halb zu thun, ich glaube Ihnen und ich beklage Sie; wenn Sie die möglichen Gefahren Ihrer Lage nicht scheuen, so will auch ich mich denselben aussetzen. Der Allmächtige lohne es ihm. Er hat mir Obdach, Beschäftigung, Gemüthsruhe wieder gegeben und seit einigen Monaten habe ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß er keine Ursache mehr haben wird es zu bereuen.«
»Hat die Verleumdung nachgelassen?« fragte ich.
»Die Verleumdung ist so thätig wie immer, aber bis sie mich hier erreicht, wird es zu spät sein.«
»Wollen Sie von hier fort?«
»Nein, Herr Blake, ich werde todt sein. Seit zehn Jahren leide ich an einem unheilbaren inneren Uebel. Ich mache kein Hehl vor Ihnen daraus, daß ich mich schon lange an diesem Uebel würde haben sterben lassen, wenn mich nicht noch ein einziges Interesse, das mir das Leben noch von Werth erscheinen läßt, an das Dasein fesselte. Ich muß noch für ein mir theures Wesen sorgen, das ich niemals wiedersehen werde. Mein eigenes kleines Vermögen dürfte kaum hinreichen, je unabhängig von der Welt zu machen. Die Hoffnung, dieses Vermögen durch längeres Leben zu vermehren, ist der Antrieb für mich gewesen, mein Leiden mit allen mir zu Gebote stehenden Palliativen zu bekämpfen. Das einzige wirksame Palliativ in meinem Fall ist —— Opium. Dieser allmächtigen und allbarmherzigen Arznei verdanke ich eine jahrelange Frist bis zur Ausführung des über mich verhängten Todes-Urtheils. Aber selbst die Wirkung des Opiums hat ihre Grenzen. Der Fortschritt des Leidens hat mich allmälig genöthigt, den Gebrauch des Opiums in einen Mißbrauch desselben zu verwandeln. Ich fange an die Folgen zu verspüren. Mein Nervensystem ist erschüttert; ich verlebe schreckliche Nächte. Das Ende kann nicht mehr fern sein. Mag es kommen. ich habe nicht umsonst gelebt und gearbeitet. Ich habe die mir nöthige kleine Summe fast beisammen und ich würde sie zu vervollständigen wissen, wenn meine letzten Lebenskräfte mir früher versagen sollten, als ich es erwarte. Ich weiß kaum wie ich dazu gekommen bin, Ihnen alles Das mitzuteilen; ich glaube nicht, daß mich das niedrige Motiv, Ihr Mitleid zu erregen, dabei geleitet hat. Vielleicht war es unbewußt der Wunsch, Sie bereiter zu finden, mir Glauben zu schenken, wenn Sie wüßten, daß ich zu Ihnen als ein Sterbender rede. Ich mache kein Hehl daraus, Herr Blake, daß ich mich für Sie interessire. Ich habe es versucht, die Gedächtnißschwäche meines armen Freundes zu einer Annäherung an Sie zu benutzen. Ich habe darauf speculirt, daß Sie ein vorübergehendes Interesse an Dem, was er Ihnen zu sagen wünschte, und an meiner Fähigkeit, Ihnen darüber Auskunft zu ertheilen, nehmen würden. Vielleicht läßt es sich entschuldigen, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ein Mann der erlebt hat, was ich erlebt habe, hat bitttere Momente, in denen er über das menschliche Schicksal brütet. Sie haben Jugend, Gesundheit, Reichthum, eine Stellung, —— die ganze Welt steht Ihnen offen. Sie und Ihresgleichen zeigen mir die sonnige Seite des Lebens und versöhnen mich mit der Welt, die ich verlassen im Begriff stehe. Wozu auch diese unsere Unterhaltung führen mag, ich werde nie vergessen, daß Sie mir durch Ihre Gegenwart wohlgethan haben. Es steht jetzt bei Ihnen, Herr Blake, auszusprechen, was Sie mir zu sagen beabsichtigen oder von dannen zu gehen.«
Ich hatte nur eine Antwort auf diese Worte» Ohne mich einen Augenblick zu bedenken, erzählte ich ihm die Wahrheit so rückhaltlos, wie ich sie in diesen Blättern verzeichnet habe.
Er sprang auf und sah mich mit athemloser Spannung an, als ich mich der Erzählung des entscheidenden Vorgangs meiner Geschichte näherte.
»Es ist unzweifelhaft, daß ich das Zimmer betrat,« sagte ich, »es ist unzweifelhaft, daß ich den Diamanten fortnahm. Ich kann diesen beiden unbestreitbaren Thatsachen nichts entgegensetzen, als die Versicherung, daß ich, was ich auch gethan haben mag, ohne Bewußtsein gethan habe. Sie werden glauben, daß ich die Wahrheit gesagt habe.«
Ezra Jennings ergriff in großer Aufregung meinen Arm.
»Halt!« sagte er. »Sie haben mir mehr gesagt, als Sie selbst vermuthen. Haben Sie je die Gewohnheit gehabt, Opium zu nehmen?«
»In meinem ganzen Leben habe ich es nicht gekostet.«
»Waren Ihre Nerven im vorigen Jahr angegriffen? Waren Sie ungewöhnlich unruhig und reizbar?«
»Ja.«
»Schliefen Sie schlecht?«
»Seht schlecht. Viele Nächte verbrachte ich wachend.«
»War es in der auf den Geburtstag folgenden Nacht anders? Suchen Sie doch sich zu erinnern. Schliefen Sie in jener Nacht ausnahmsweise gut?«
»Ich kann mich sehr wohl erinnern, —— ich erfreute mich in jener Nacht eines sehr festen Schlafe.«
Er ließ meinen Arm eben so plötzlich wieder los, wie er ihn ergriffen hatte, und sah mich an wie Jemand, der sich von einem letzten auf seinem Gemüth lastenden Zweifel befreit sieht.
»Dies ist ein merkwürdiger Tag in Ihrem wie in meinem Leben,« sagte er feierlich; »ich bin jetzt Einer Sache völlig gewiß, Herr Blake. Meine Aufzeichnungen enthalten, was Herr Candy Ihnen diesen Morgen sagen wollte. Warten Sie! das ist noch nicht Alles. Ich bin fest überzeugt, daß ich beweisen kann, daß Sie kein Bewußtsein von dem hatten, was Sie thaten, als Sie das Zimmer betraten und den Diamanten fortnahmen. Lassen Sie mir Zeit, nachzudenken und Sie zu befragen. Ich glaube den Beweis Ihrer Unschuld in meinen Händen zu haben.«
»«Erklären Sie sich näher! Um Gotteswillen, was wollen Sie damit sagen?«
In der Aufregung unseres Gesprächs hatten wir einige Schritte vorwärts über das Gestrüpp hinaus gethan, welche uns bis jetzt den Augen Vorübergehender entzogen hatte.
Noch ehe Ezra Jennings mir antworten konnte, wurde er von der Landstraße her von einem Manne angerufen, der ersichtlich in großer Aufregung war und offenbar nach ihm ausgeschaut hatte.
»Ich komme schon,« rief er zurück, »ich komme, so rasch ich kann!«
Er wandte sich wieder zu mir.
»In dem Dorfe da drüben wartet ein Schwerkranker auf mich; ich hätte schon vor einer halben Stunde dort sein sollen, ich muß jetzt sofort hingeben. », Lassen Sie mir zwei Stunden Zeit und kommen Sie dann wieder nach Herrn Candy’s Hause, und ich verspreche Ihnen, für Sie bereit zu sein.«
»Wie soll ich es ertragen, so lange zu warten!« rief ich ungeduldig aus. Können Sie mein Gemüth nicht durch Wort der Erklärung beruhigen, bevor wir uns trennen?«
»Unsere Angelegenheit ist viel zu ernst, als daß sie eine eilige Erklärung irgend zuließe, Herr Blake. Ich stelle wahrlich Ihre Geduld nicht muthwillig aus die Probe, aber ich würde Ihre Ungewißheit nur vermehren, wenn ich es versuchen wollte, dieselbe durch ein eiliges Wort zu heben. Also aus Wiedersehen in zwei Stunden in Frizinghall!«
Der Mann aus der Landstraße rief wieder nach ihm, er eilte fort und ließ mich allein.
Zehntes Capitel.
Wie die mehrstündige Ungewißheit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt sah, auf andere Menschen in meiner Lage gewirkt haben würde, vermag ich nicht zu sagen. Die Wirkung dieser Prüfung auf mein Temperament war folgende: Ich fühlte mich physisch unfähig an irgend einer Stelle auszuharren, und moralisch unfähig mit irgend einem menschlichen Wesen zu reden, bis ich Alles gehört haben würde, was Ezra Jennings mir zu sagen hatte.
In dieser Gemüthsfassung gab ich nicht nur meinen beabsichtigten Besuch bei meiner Tante Ablewhite auf, sondern suchte sogar einer Begegnung mit Gabriel Betteredge aus dem Wege zu gehen.
Ich kehrte nach meinem Hotel in Frizinghall zurück und verließ dasselbe wieder unter Zurücklassung eines Billets an Betteredge, in welchem ich ihm sagte, ich sei unerwarteter Weise aus einige Stunden abgerufen worden, er könne mich aber gegen drei Uhr Nachmittags mit Sicherheit zurück erwarten. Ich bat ihn, inzwischen zu seiner gewohnten Stunde im Hotel zu speisen und sich so gut er könne die Zeit zu vertreiben. Er hatte, wie ich wußte. eine Menge Freunde in Frizinghall und konnte um die Ausfüllung seiner Zeit bis zu meiner Rückkehr nicht verlegen sein.
Dann ging ich wieder zur Stadt hinaus und durchstreifte das einsame Haideland, welches Frizinghall umgiebt, bis meine Uhr mich belehrte, daß endlich die Zeit meiner verabredeten Rückkehr nach Herrn Candy’s Hause gekommen sei.
Ich fand Ezra Jennings bereit und meiner wartend. Er saß allein in einem dürftig möblirten kleinen Zimmer, welches durch eine Glasthür mit dem Laboratorium in Verbindung stand. Widerliche Abbildungen von den Verwüstungen widerlicher Krankheiten bedeckten die häßlich braun bemalten Wände; ein mit verräucherten medicinischen Werken gefüllter Bücherschrank, auf dem statt der gebräuchlichen Büste ein Todtenkopf stand; ein großer hölzerner, von Tintenflecken starrender Tisch; hölzerne Stühle, wie man sie sonst nur in Küchen und Bauerhütten findet; ein fadenscheiniges Stück groben Teppichs, das nur die Mitte des Fußbodens bedeckte, und ein roh in die Wand eingelassener Handguß mit Becken und Ablauf, der die widerlichsten Vorstellungen an seinen Gebrauch bei chirurgischen Operationen erweckte, machten das ganze Mobiliar des Zimmers aus. Die Bienen summten um ein Paar vor dem Fenster stehende Blumentöpfe herum; die Vögel sangen im Garten und von Zeit zu Zeit vernahm man das schwache Geklimper aus einem abgenutzten Clavier in einem Nachbarhause. An jedem andern Orte würden diese alltäglichen Klänge vielleicht gut zu der alltäglichen Außenwelt gestimmt haben. Hier erklangen sie wie Eindringlinge in eine Stille, die zu unterbrechen nur menschliche Leiden das Recht zu haben schienen. Mein Blick fiel auf den Mahagoni-Kasten mit chirurgischen Instrumenten und die große Rolle Charpie, die ihren eignen Platz auf den Bücherbrettern hatten, und ich schauderte innerlich bei dem Gedanken an die Laute, die in Ezra Jennings’ Zimmer die gewohnten und alltäglichen waren.
»Ich entschuldige mich nicht wegen des Orts, an dem ich Sie empfange, Herr Blake,« sagte er; »es ist das einzige Zimmer des Hauses, in welchem wir zu dieser Tageszeit sicher sein können, ungestört zu bleiben. Hier habe ich meine Aufzeichnungen für Sie bereit und hier sind zwei Bücher, in welchen wir vielleicht nachzuschlagen Veranlassung haben werden, bevor wir mit unserm Geschäft zu Ende sind. Rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch und wir werden mit einander arbeiten können.«
Ich setzte mich an den Tisch und Ezra Jennings überreichte mir seine Aufzeichnungen. Sie bestanden aus zwei großen Foliobogen. Der eine derselben war nur an einzelnen Stellen, der andere aber mit rother und schwarzer Tinte von oben bis unten dicht beschrieben. In meinem durch die gespannteste Neugierde aufgeregten Zustand legte ich das zweite Blatt verzweifelt wieder aus der Hand.
»Haben Sie Erbarmen mit mir!« sagte ich. »Sagen Sie mir, was ich zu erwarten habe, bevor ich es es versuche, dies zu lesen.«
»Gern, Herr Blake! Aber darf ich noch ein Paar Fragen an Sie richten?«
»Fragen Sie, was Sie wollen!«
Er sah mich mit einem trüben Lächeln auf den Lippen und dem Ausdruck einer freundlichen Theilnahme in seinen sanften braunen Augen an.
»Sie haben mir bereits gesagt,« fing er an, »daß Sie, Ihres Wissens, noch nie in Ihrem Leben Opium gekostet haben.«
»Meines Wissens?« wiederholte ich.
»Sie werden sogleich verstehen, warum ich mich dieses Vorbehalts bediene. Lassen Sie uns weiter gehen. Sie wissen nicht, daß Sie jemals Opium genommen haben. Im vorigen Jahr um diese Zeit litten Sie an nervöser Aufregung und hatten sehr schlechte Nächte. Die Nacht nach dem Geburtstage bildete aber eine Ausnahme von der Regel —— Sie schliefen gut. Verhält sich das so?«
»Vollkommen!«
»Sind Sie sich irgend einer Ursache Ihrer nervösen Leiden und Ihrer Schlaflosigkeit bewußt?«
»Ich bin mir keiner solchen Ursache bewußt. Ich erinnere mich nur, daß der alte Betteredge eine Ursache gefunden zu haben glaubte, doch die verdient wohl kaum eine Erwähnung.«
»Um Vergebung. Alles verdient Erwähnung in einem Fall wie dieser. Worin glaubte Betteredge die Ursache Ihrer Schlaflosigkeit gefunden zu haben?«
»Darin, daß ich das Rauchen ausgegeben hatte.«
»Waren Sie gewohnt gewesen, regelmäßig zu rauchen?«
»Ja.«
»Gaben Sie die Gewohnheit plötzlich auf?«
»So hatte Betteredge vollkommen Recht, Herr Blake. Wer zu rauchen gewöhnt ist, muß eine ungewöhnlich starke Constitution haben, wenn er es plötzlich aufgeben kann, ohne davon zeitweilig unangenehme Folgen für sein Nervensystem zu verspüren. Ihre schlaflosen Nächte sind also für mich erklärt. Meine nächste Frage betrifft Herrn Candy. Erinnern Sie sich, an dem Geburtstag oder später mit ihm eine Art von Disput über seinen Beruf gehabt zu haben?«
Die Frage erweckte in mir auf der Stelle eine meiner schlummernden Erinnerungen an das Geburtstagsfest. Man wird die Schilderung meiner kindischen Zänkerei mit Herrn Candy bei jenem Diner viel ausführlicher, als sie es verdient, im zehnten Capitel von Betteredge’s Erzählung finden. Die Einzelheiten des Disputs wie sie dort berichtet sind, waren mir gänzlich entfallen, —— so wenig hatte ich später wieder daran gedacht. Alles, dessen ich mich jetzt erinnern, und Alles, was ich Ezra Jennings mittheilen konnte, war, daß ich die ärztliche Kunst bei Tische so hartnäckig und so heftig angegriffen habe, daß selbst Herr Candy für den Augenblick darüber seinen Gleichmuth verloren habe. Ich erinnerte mich auch, daß Lady Verinder sich in’s Mittel gelegt hatte, um dem Streit ein Ende zu machen, und daß der Doktor und ich »uns wieder gut wurden«, wie die Kinder sagen, und so gute Freunde waren, wie je zuvor, als wir uns zum Abschied die Hände gaben.
»Noch Eines« sagte Ezra Jennings, »wäre für mich sehr wichtig zu wissen. Hatten Sie irgend einen Grund, im vorigen Jahr um diese Zeit wegen des Diamanten besonders besorgt zu sein?«
»Ich hatte dazu die aller stärksten Gründe; ich wußte, daß der Diamant der Gegenstand einer Verschwörung sei, und ich war gewarnt, Maßregeln zum Schutz von Fräulein Verinder, als der Besitzerin des Edelsteins, zu treffen.«
»War die Sicherheit des Diamanten der Gegenstand der Unterhaltung zwischen Ihnen und Jemand Anderem, unmittelbar bevor Sie sich am Abend des Geburtstages zur Ruhe begaben?«
»Das war der Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Lady Verinder und ihrer Tochter ——«
»Die in Ihrer Gegenwart stattfand?«
»Ja«
Ezra Jennings nahm seine Aufzeichnungen vom Tische auf und überreichte sie mir.
»Herr Blake,« sagte er, »wenn Sie diese Auszeichnungen jetzt in dem Lichte lesen, welches meine Fragen und Ihre Antworten aus dieselben geworfen haben, so werden Sie zwei merkwürdige Entdeckungen in Betreff Ihrer selbst machen. Sie werden finden: —— Erstens, daß Sie, als Sie Fräulein Verinders Wohnziminer betraten und den Diamanten fortnahmen, sich in einem durch Opium hervorgerufenen Zustand der Extase befanden; zweitens, daß Ihnen das Opium ohne Ihr Wissen von Herrn Candy als eine praktische Widerlegung der Ansichten, welche Sie bei dem Geburtstagsdiner gegen ihn geäußert hatten, verabreicht worden war.«
Ich saß, die Papiere noch in der Hand, ganz versteinert da.
»Versuchen Sie es, dem armen Herrn Candy zu vergeben,« sagte der Assistent »Er hat schreckliches Unheil angerichtet, das muß ich zugeben, aber er hat es ohne böse Absicht gethan. Wenn Sie die Auszeichnungen ansehen wollen, werden Sie finden, daß er, wenn ihn seine Krankheit nicht daran verhindert hätte, am Morgen nach der Gsellschaft wieder zu Lady Verinder gekommen sein und sich zudem Streich bekannt haben würde, den er Ihnen gespielt hatte. Fräulein Verinder würde davon gehört und ihn näher befragt haben, und die Wahrheit, welche ein Jahr lang verborgen geblieben ist, würde in einem Tage entdeckt worden sein.«
Ich fing an, meine Fassung wieder zu gewinnen.
»Herr Candy ist für meine Rache unerreichbar,« sagte ich zornig, »aber der Streich, den er mir gespielt hat, bleibt darum doch ein Act der Verrätherei. Ich kann ihm vergeben, aber ich werde es nie vergessen.«
»Jeder Arzt begeht solche Acte der Verrätherei in seiner Praxis, Herr Blake. Das aus Unwissenheit hervorgehende Mißtrauen gegen Opium beschränkt sich in England keineswegs auf die unteren und ungebildeten Klassen. Jeder vielbeschäftigte Arzt sieht sich dann und wann genöthigt, seine Patienten zu betrügen, wie Herr Candy Sie betrogen hat. Ich will den thörichten Einfall, Ihnen unter den damaligen Umständen einen solchen Streich zu spielen, gewiß nicht vertheidigen. Ich möchte Sie nur zu einer genaueren und milderen Beurtheilung der Motive veranlassen.«
»Wie geschah es?« fragte ich, »wer gab mir das Opium ein, ohne daß ich etwas davon wußte?«
»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen. Während der ganzen Krankheit des Herrn Candy ist ihm kein Wort in Betreff dieses Umstandes entfahren. Vielleicht kann Ihnen Ihr eigenes Gedächtniß auf die Spur der fraglichen Person helfen.«
»Nein«
»In dem Fall ist es unnütz, weiter nachzuforschen. Irgendwie wurde Ihnen das Opium im Geheimen beigebracht. Lassen Sie uns für’s Erste uns dabei beruhigen und zu Dingen von größerer unmittelbarer Wichtigkeit übergehen. Lesen Sie meine Aufzeichnungen, wenn Sie können. Machen Sie sich mit dem Geschehenen vertraut; ich habe Ihnen in Betreff des zu Geschehenden einen sehr kühnen und verwegenen Vorschlag zu machen.«
Diese letzten Worte brachten mich wieder völlig zur Besinnung.
Ich sah die Aufzeichnungen eine nach der andern, wie sie mir Ezra Jennings in die Hand gegeben hatte, durch. Das Blatt, welches die abgebrochenen Sätze und Worte enthielt, lag oben auf. Dieselben lauteten wie folgt:
—— Herr Franklin Blake —— und angenehmer —— Eins darauf —— Medicin —— bekennt —— Schlaflosigkeit —— sage ihm —— Unordnung —— Medicin —— Er sagt —— Dunkeln tappen dasselbe —— ganzen Mittagsgesellschaft —— Ich sagte —— tappen nach Schlaf —— nichts als, Medicin —— Er sagt —— einen Blinden führt —— weiß ich, was damit gemeint ist —— witzig —— gegen seinen eigenen Willen —— ruhige Nacht —— braucht wirklich Schlaf —— Lady Verinder’s Medicinkasten —— ohne sein Wissen —— fünfundzwanzig Tropfen Opium —— morgen früh —— Nun, Herr Blake —— heute —— Medicin —— Ohne das —— keinen —— Herr Candy —— ohne Medicin —— vortreffliche —— Wahrheit sagen —— etwas anderes —— vortrefflichen —— Dosis Opium —— lieber Herr —— Bett —— Was —— jetzt —— ärztlichen Kunst.
Das war der ganze Inhalt des ersten Bogens. Ich gab denselben Ezra Jennings zurück.
»Das ist es, was Sie an seinem Krankenlager gehört?« sagte ich.
»Buchstäblich sind genau« antwortete er, »nur daß ich die Wiederholungen, wie ste sich in meinen stenographischen Auszeichnungen finden, nicht mit übertragen habe. Gewisse Worte und Sätze wiederholte er wohl zehn, zwanzig, fünfzig Mal, je nachdem er auf die Ideen, die ihm dabei vorschwebten, größeres oder geringeres Gewicht legte. So aufgefaßt, waren mir die Wiederholungen bei der Zusammensetzung der Bruchstücke von Nutzen. Denken Sie nicht,« fügte er hinzu, indem er auf das zweite Blatt Papier hinwies, »daß ich mir einbilde, die Ausdrücke wieder gegeben zu haben, deren Herr Candy sich selbst bedient haben würde, wenn er im Stande gewesen wäre, zusammenhängend zu reden. Ich behaupte nur, daß es mir gelungen ist, das Hinderniß der unzusammenhängenden Ausdrucksweise zu überwinden und zu dem zusammenhängenden Sinn der derselben zu Grunde lag, vorzudringen. Urtheilen Sie selbst.«
Ich nahm das zweite Blatt Papier in die Hand, von dem ich jetzt wußte, daß es den Schlüssel zu dem ersten enthalte.
Abermals waren hier die irren Reden des Herrn Candy mit schwarzer Tinte wortgetreu wiedergegeben, während die Zwischenräume zwischen den abgebrochenen Sätzen von Ezra Jennings mit rother Tinte ausgefüllt waren. Ich gebe das Resultat hier in einer Gestalt wieder, da ja die ursprünglichen Ausdrücke und die zu ihrer Erklärung hinzugefügten Worte in diesen Blättern nahe genug bei einander stehen um leicht verglichen und verificirt werden zu können.
» —— Herr Franklin Blake ist ein gescheidter und angenehmer Mann, aber er muß Eins darauf haben, wenn er von Medicin spricht. Er bekennt, daß er an Schlaflosigkeit gelitten hat. Ich sage ihm, daß seine Nerven in Unordnung sind und daß er Medicin nehmen müßte. Er sagt mir, daß Medicin nehmen und im Dunkeln tappen dasselbe sei, und das vor der ganzen Mittagsgesellschaft. Ich sagte ihm, Sie tappen nach Schlaf und nichts als Medicin kann Ihnen dazu verhelfen, denselben zu finden. Er sagt mir, ich habe sagen gehört, daß ein Blinder einen Blinden führt und jetzt weiß ich, was damit gemeint ist. Das ist ganz witzig, aber ich kann ihm doch gegen seinen eigenen Willen eine ruhige Nacht verschaffen; er braucht wirklich Schlaf und Lady Verinder’s Medicinkasten steht zu meiner Verfügung. Ihm ohne sein Wissen heute Abend fünfundzwanzig Tropfen Opium eingeben und ihn dann morgen früh besuchen. »Nun, Herr Blake, haben Sie nicht heute Lust, etwas Medicin zu nehmen? Ohne das finden Sie doch keinen Schlaf.« —— »Da irren Sie sich, Herr Candy, ich habe ohne Medicin eine vortreffliche Nacht gehabt« —— Dann ihm die Wahrheit sagen. —— »Sie haben noch etwas anderes außer einer vortrefflichen Nacht gehabt; Sie haben eine Dosis Opium zu sich genommen, lieber Herr, ehe Sie zu Bett gegangen sind. Was sagen Sie jetzt zu der ärztlichen Kunst?«
Meine erste Empfindung, als ich Ezra Jennings die durchgelesenen Blätter wieder überreichte, war natürlich Bewunderung des Scharfsinns, welcher dieses glatte und seine Gewebe aus einem so verwickelten Knäuel von Fäden hergestellt hatte. Bescheiden unterbrach er den anerkennenden Ausdruck meiner Ueberraschung mit der Frage, ob mir die Schlüsse die er aus seinen Aufzeichnungen gezogen habe, gerechtfertigt erschienen.
»Glauben Sie mit mir,« fragte er, »daß Sie Alles, was Sie in der Geburtstags-Nacht in Fräulein Verinders Hause vernahmen, unter dem Einflusse des Opiums thaten?«
»Ich weiß zu wenig von den Wirkungen des Opiums, um darüber ein eigenes Urtheil abgeben zu können,« antwortete ich. »Ich kann mich nur Ihrer Ansicht anschließen und mich überzeugt fühlen, daß Sie Recht haben.«
»Nun wohl. Jetzt aber fragt es sich: Wie sollen wir andern Leuten unsere Ueberzeugung beibringen?«
Ich deutete auf die beiden Bogen Papier, die vor uns auf dem Tische lagen. Ezra Jennings schüttelte den Kopf.
»Diese Aufzeichnungen, wie sie da sind, würden uns gar nichts nützen, Herr Blake, und zwar aus drei unwiderleglichen Gründen. Erstens sind diese Aufzeichnungen unter Umständen gemacht worden, wie die wenigsten Menschen sie erlebt haben. Das würde der erste Einwand gegen sie sein! Zweitens sind die Aufzeichnungen der Ausfluß einer physiologischen und psychologischen Theorie. Das wäre der zweite Einwand. Drittens habe ich diese Aufzeichnungen gemacht —— der etwaigen Behauptung, daß sie rein erfunden seien, würden wir nichts als meine Versicherung entgegen zu setzen haben. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen auf der Haide erzählt habe und fragen Sie sich selbst, welchen Werth man auf meine Versicherung legen würde. Nein, dem Urtheil der Menge gegenüber haben meine Aufzeichnungen nur einen Werth. Sie zeigen den Weg. auf welchem der Beweis Ihrer Unschuld erbracht werden kann. Wir müssen unsere Ueberzeugung durch einen Beweis erhärten und Sie sind der Mann,
diesen Beweis zu liefern.«
»Wie das?«
In seinem Eifer lehnte er sich, um mir näher zu sein, weit über den Tisch, der zwischen uns stand.
»Sind Sie bereit ein kühnes Experiment zu versuchen?«
»Ich bin bereit Alles zu thun, was dazu dienen kann mich von dem auf mir lastenden Verdacht zu reinigen.«
»Würden Sie Ihre Person auf einige Zeit einiger Unbequemlichkeit unterziehen?«
»Jeder, gleichviel welcher.«
»Wollen Sie sich ganz meiner Leitung anvertrauen? Das Experiment wird Sie vielleicht in den Augen der Thoren lächerlich machen; das Unternehmen wird Ihnen vielleicht Vorstellungen von Freunden zuziehen, deren Ansichten Sie sich zu respectiren verpflichtet fühlen ——«
»Sagen Sie mir was ich zu thun habe,« brach ich ungeduldig aus, »und ich will es thun, entstehe daraus was da wolle.«
»Was Sie thun sollen, Herr Blake, ist Folgendes: Sie sollen in Gegenwart von Zeugen, deren Aussage unanfechtbar sein wird, den Diamanten zum zweiten Mal in bewußtlosem Zustande stehlen.«
Ich sprang auf, ich versuchte zu reden, aber die Zunge versagte mir, ich konnte ihn nur ansehen.
»Ich glaube, die Sache ist ausführbar,« fuhr er fort, »und sie soll ausgeführt werden, wenn Sie mir nur dabei helfen wollen. Suchen Sie sich zu fassen, setzen Sie sich und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie haben die Gewohnheit des Rauchens wieder aufgenommen, wie ich mich selbst überzeugt habe. Seit wann rauchen Sie wieder?«
»Seit ungefähr einem Jahre.«
»Rauchen Sie jetzt mehr oder weniger als früher?«
»Mehr.«
»Sind Sie bereit die Gewohnheit wieder aufzugeben, wohlgemerkt, ganz plötzlich, wie Sie es schon einmal gethan haben?«
Ich fing an zu ahnen, worauf er hinauswollte und antwortete: »Ich bin bereit, es auf der Stelle aufzugeben.«
»Wenn Sie,« sagte Ezra Jennings, »wieder dieselben Folgen wie im vorigen Juni verspüren, wenn Sie wieder an schlaflosen Nächten leiden, wie Sie es damals thaten, so werden wir unsern ersten Schritt gethan, wir werden etwas dem Zustand Ihrer Nerven an dem Geburtstags-Abend Aehnliches bei Ihnen hervorgerufen haben.
Wenn wir demnächst die häuslichen Verhältnisse, in welchen Sie sich damals befanden, völlig oder annähernd wieder herstellen und Ihren Geist wieder mit den verschiedenen Fragen in Betreff des Diamanten erfüllen können, so werden wir Sie der Situation, in welcher Sie das Opium im vorigen Jahre nahmen, physisch und moralisch wieder so nahe wie möglich gebracht haben. In diesem Falle dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß eine gleiche Dosis Opium zu einem mehr oder weniger entsprechenden Resultat führen wird. Da haben Sie meinen Vorschlag in wenigen eiligen Worten. Jetzt sollen Sie hören, wie ich mich für denselben verantworten kann.«
Er schlug eines der neben ihm liegenden Bücher an einer durch einen schmalen Papierstreifen bezeichneten Stelle auf.
»Fürchten Sie nichts« fuhr er fort, »daß ich Sie mit einer physiologischen Vorlesung ermüden werde, aber ich halte mich in Ihrem wie in meinem eigenen Interesse verpflichtet, Ihnen zu zeigen, daß es nicht meine Autorität allein ist, auf welche hin Sie sich dem fraglichen Experiment unterziehen sollen. Unbestrittene Grundsätze und anerkannte Autoritäten rechtfertigen meine Ansicht. Leihen Sie mir fünf Minuten ein aufmerksames Ohr und ich will es unternehmen Ihnen zu beweisen, daß ich meinen so abenteuerlich klingenden Vorschlag wissenschaftlich begründen kann. Hier sehen Sie erstens das physiologische Princip, auf das hin ich agire, von keinem Geringeren als von Dr. Carpenter aufgestellt. Lesen Sie selbst.«
Er überreichte mir den Papierstreifen, durch welchen die Stelle in dem Buche bezeichnet gewesen war. Derselbe enthielt einige geschriebene Zeilen folgenden Inhalts:
»Es scheint hinlänglicher Grund zu der Annahme vorhanden, daß jeder Eindruck auf das Empfindungsvermögen, der jemals in das Bewußtsein eines Individuums aufgenommen ist, so zu sagen in das Gehirn einregistrirt wird und in einem künftigen Zeitpunkt reproducirt werden kann, wenn auch in der ganzen seit der Aufnahme des Eindrucks verflossenen Zeit kein Bewußtsein desselben vorhanden gewesen ist.«
»Ist Ihnen das klar?« fragte Ezra Jennings.
»Vollkommen.«
Er schob das offene Buch über den Tisch zu mir hinüber und deutete auf eine mit Bleistift unterstrichene Stelle.
»Jetzt,« sagte er, »lesen Sie diesen Bericht über einen Fall, der, wie ich glaube, eine Analogie mit Ihrer eigenen Situation und mit dem Experiment bietet, zu dessen Anstellung ich Sie auffordere. Bemerken Sie, Herr Blake, ehe Sie anfangen, daß ich Sie jetzt an einen der größten englischen Physiologen verweise. Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist Dr. Elliotson’s Physiologie des Menschen, und der Fall, welchen der Verfasser citirt, wird durch die Autorität des bekannten Dr. Combe verbürgt.«
Die betreffende Stelle lautete wie folgt:
»Dr.» Abel, sagt Herr Combe, erzählte mir von einem irischen Arbeitsmanne in einem Magazin, der, wenn er nüchtern war, vergaß, was er betrunken gethan hatte, sobald er aber wieder betrunken war sich seiner in seinem früheren Zustande der Trunkenheit vorgenommenen Handlungen wieder erinnerte. Einmal hatte er in der Trunkenheit ein Packet von einigem Werthe verloren und konnte, wieder ernüchtert, Nichts über den Verbleib sagen. Das nächste Mal aber, wo er wieder betrunken war, erinnerte er sich, daß er das Packet in einem bestimmten Hause gelassen habe. Da sich auf demselben keine Adresse befand, so war es dort ruhig liegen geblieben und wurde ihm, als er darnach fragte, wieder eingehändigt.«
»Ist Ihnen das auch klar?« fragte Ezra Jennings,
»So klar wie möglich.«
Er legte den Papierstreifen wieder an seinen Platz und schloß das Buch.
»Haben Sie sich überzeugt, daß ich nicht ohne den Rückhalt guter Autoritäten gesprochen habe?« fragte er. »Ich kann Ihnen auch noch eine Fülle von anderen Autoritäten für meine Behauptungen vorführen.«
»Ich bin durch Ihre Ausführungen und Belege schon vollkommen überzeugt« erwiderte ich.
»Nun, so können wir auf Ihr persönliches Interesse an dieser Angelegenheit zurückkommen Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß sich sowohl gegen als für das Experiment etwas sagen läßt. Wenn wir in Ihrem Fall die Umstände, wie sie im vorigen Jahre vorhanden waren, ganz genau wieder herstellen könnten, so würden wir, das steht physiologisch fest, zu genau demselben Resultat gelangen.
Aber das ist, wie sich nicht leugnen läßt, völlig unmöglich. Wir können nur hoffen, jenen Umständen nahe zu kommen und wenn es uns nicht gelingt, Sie in einen dem früheren hinreichend ähnlichen Zustand zu versetzen, so wird unser Wagniß fehlschlagen Wenn es uns aber gelingt, —— und ich für meine Person hege diese Hoffnung, —— so werden Sie doch mindestens das, was Sie in der Geburtstagsnacht vorgenommen haben, genau genug wiederholen, um jeden vernünftigen Menschen zu überzeugen, daß Sie an dem Diebstahl des Diamanten moralisch unschuldig sind. Ich glaube, Herr Blake, ich habe Ihnen jetzt innerhalb der Grenzen, die ich mir selbst gezogen habe, beide Seiten der Fragen so offen wie möglich dargelegt. Wenn Ihnen noch irgend etwas unklar geblieben ist, so sagen Sie es mir, und ich will Sie, so weit es mir möglich ist, darüber aufklären.«
»Alles was Sie mir erklärt haben,« sagte ich, »verstehe ich vollkommen. Aber ich muß bekennen, daß mich ein Punkt, den Sie mir noch nicht klar gemacht haben, beunruhigt.«
»Und der wäre?«
»Ich begreife die Wirkung des Opiums auf mich nicht. Ich begreife nicht, warum ich die Treppe hinunter durch lange Corridore gegangen bin, die Schubladen eines Schränkchens geöffnet und geschlossen habe und wieder nach meinem Zimmer zurückgegangen bin. Das sind Alles thätige Vornahmen; bis jetzt habe ich geglaubt, daß die Wirkung des Opiums nur darin besteht, erst zu betäuben und dann einzuschläfern.«
»Der gewöhnliche Irrthum in Betreff des Opiums, Herr Blake! Ich selbst, wie ich hier vor Ihnen stehe und nach meinen Kräften in Ihrem Interesse thätig bin, wirke unter dem Einfluß einer mehr als zehn Mal größeren Dosis Opium als die war, welche Herr Candy Ihnen verabreichte. Aber Sie sollen sich selbst in einer Frage, in der ich mich auf meine eigene Erfahrung berufen kann, nicht auf meine Autorität verlassen. Ich habe den Einwand, den Sie mir eben gemacht haben, vorausgesehen, und ich habe mich abermals mit einem unanfechtbaren Zeugniß versehen, das sowohl in Ihren Augen, als in denen Ihrer Freunde für sich selbst reden wird.«
Er überreichte mir das zweite von den beiden Büchern, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.
»Hier,« sagte er, »sind die weltberühmten Bekenntnisse eines englischen Opiumessers. Nehmen Sie das Buch mit sich nach Hause und lesen Sie es. An der Stelle, die ich für Sie angestrichen habe, werden Sie finden, daß, wenn de Quincey sich einem ausschweifenden Genuß des Opiums ergeben hatte, er entweder in die Oper auf die Gallerie ging, um sich an der Musik zu erfreuen, oder am Sonnabend Abend die Londoner Märkte durchschlenderte und sich an all den kleinen Einkäufen der Armen für ihre Sonntagsmahlzeit ergötzte. So viel über die Fähigkeit des Menschem sich unter dem Einfluß des Opiums thätig zu beschäftigen und von der Stelle zu bewegen.«
»Ueber diesen Punkt,« sagte ich, »bin ich jetzt allerdings aufgeklärt, aber in Betreff der Wirkung des Opiums auch mich selbst genügt mir die Antwort noch nicht.«
»Auch darauf will ich Ihnen in wenigen Worten zu antworten versuchen,« sagte Ezra Jennings. »In der Mehrzahl der Fälle begreift die Wirkung des Opiums zwei Einflüsse in sich, zuerst einen stimulirenden und dann einen besänftigenden. Unter dem stimulirenden Einfluß werden die neuesten und lebhaftesten von Ihrem Geist aufgenommenen Eindrücke, nämlich die Eindrücke in Betreff des Diamanten, bei der krankhaften Reizbarkeit Ihrer Nerven in Ihrem Gehirn wahrscheinlich eine derartige Intensität erlangt haben, daß sie Ihr Urtheil und Ihren Willen beherrschtem ganz wie schon ein gewöhnlicher Traum unser Urtheil und unsern Willen beherrscht. Unter diesem Einfluß werden sich nach und nach die Besorgnisse in Betreff der Sicherheit des Diamanten, welche Sie vielleicht im Laufe des Tages beschäftigt hatten, aus Zweifeln zu voller Gewißheit gesteigert haben. Und diese Gewißheit wird Sie zu einem thätigen Handeln zur Sicherung des Diamanten angestachelt und Sie dazu bestimmt haben, mit diesem Zweck im Auge Ihre Schritte nach dem fraglichen Zimmer zu lenken und Ihre Hand nach dem Schubladen auszustrecken, bis Sie die Schublade gefunden hatten, welche den Edelstein enthielt. Das Alles werden Sie in Ihrem geistigen Opiumrausch gethan haben. Später, als die beruhigende Wirkung über die stimulirende die Oberhand zu gewinnen anfing, werden »Sie allmälig von einer betäubenden Trägheit ergriffen worden, noch später werden Sie in einen tiefen Schlaf verfallen sein und mußten dann am nächsten Morgen, nachdem der Schlaf die ganze Wirkung des Opiums absorbiert hatte, sich dessen, was Sie während der Nacht gethan, so vollkommen unbewußt erwachen, als ob Sie die ganze Nacht hindurch ruhig in Ihrem Bette geschlafen hätten. Habe ich mich Ihnen bis jetzt einigermaßen deutlich gemacht?«
»So deutlich« sagte ich, »daß ich nur wünschte, Sie gingen noch einen Schritt weiter. Sie haben mir klar gezeigt, wie ich dazu kam, das Zimmer zu betreten und den Diamanten fortzunehmen. Aber Fräulein Verinder hat gesehen, wie ich das Zimmer mit dem Diamanten in der Hand wieder verließ. Haben Sie eine Vermuthung über das, was ich nach dem Verlassen des Zimmers that?«
»Auf diesen Punkt wollte ich eben kommen,« erwiderte er, »ich halte es für möglich, das Experiment, welches ich als ein Mittel zum Beweise Ihrer Unschuld proponire, auch zur Wiederauffindung des verlorenen Diamanten zu benutzen. Als Sie Fräulein Verinder’s Wohnzimmer mit dem Juwel in der Hand verließen, kehrten Sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf Ihr eigenes Zimmer zurück ——«
»Ja, und was weiter?«
»Es ist möglich, Herr Blake, —— ich wage nicht mehr zu sagen ——, daß Ihr Gedanke, den Diamanten sicher aufzubewahren, Sie in natürlicher Folge auf den weiteren Gedanken brachte, den Diamanten zu verstecken, und daß Ihr Schlafzimmer der Ort des Verstecks war. Hier könnte sich also bei Ihnen der Fall des irischen Arbeitsmannes wiederholen. Vielleicht werden Sie sich unter dem Einfluß der zweiten Dosis Opium des Platzes erinnern, an welchem Sie unter dem Einfluß der ersten Dosis den Diamanten versteckten.«
Jetzt war die Reihe an mir, Ezra Jennings aufzuklären Ich unterbrach ihn mit den Worten:
»Das Ergebniß, welches Sie als eine Eventualität in’s Auge fassen, ist unmöglich. Der Diamant befindet sich in diesem Augenblick in London.«
Er sprang auf und sah mich sehr überrascht an.
»In London?« wiederholte er, »wie kam er aus Lady Verinder’s Hause nach London?«
»Das weiß kein Mensch.«
»Sie haben ihn in Ihrer eigenen Hand aus Fräulein Verinder’s Zimmer getragen. Wie kam er aus Ihrem Gewahrsam?«
»Darüber habe ich durchaus keine Vermuthung.«
»Sahen Sie den Edelstein noch, als Sie am Morgen erwachten?«
»Nein«
»Ist Fräulein Verinder wieder in den Besitz desselben gelangt?«
»Nein«
»Herr Blake! Hier scheint noch etwas der Aufklärung zu bedürfen. Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß der Diamant diesen Augenblick in London ist?«
Genau dieselbe Frage hatte ich bei meinem ersten Besuch nach meiner Rückkehr nach England an Herrn Bruff gerichtet. Ich beantwortete also Ezra Jennings Frage mit dem, was mir der Advocat selbst mitgetheilt hatte und was den Lesern dieser Blätter bereits bekannt ist.
Er zeigte deutlich, daß ihn meine Antwort nicht befriedigte.
»Mit aller Achtung vor Ihnen und Ihrem Rechtsbeistand,« sagte er, »Halte ich meine eben ausgesprochene Ansicht aufrecht. Dieselbe beruht, wie ich sehr wohl weiß, auf einer reinen Annahme; aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß auch Ihre Ansicht auf einer reinen Annahme beruht.«
Seine Auffassung der Sache war mir vollkommen neu. Ich erwartete mit ängstlicher Spannung, wie er dieselbe rechtfertigen würde.
»Ich habe angenommen,« fuhr Ezra Jennings fort, »daß das Opium, nachdem es für Sie der Antrieb gewesen, sich zum Zweck der sicheren Aufbewahrung in den Besitz des Diamanten zusetzen, auch der Antrieb für Sie gewesen sein könne, den Stein irgendwo in Ihrem Zimmer zu verstecken. Sie nehmen an, daß die indischen Verschwörer sich nicht irren können. Die Indier suchten den Diamanten in Herrn Luker’s Hause, —— also, folgern Sie, muß der Diamant in Herrn Luker’s Besitz sein! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Mondstein überall nach London gebracht worden ist? Sie haben nicht einmal eine Vermuthung darüber, wie oder durch wen derselbe aus Lady Verinder’s Hause kam! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Edelstein an Herrn Luker verpfändet wurde? Er erklärt, nie von dem Mondstein gehört zu haben, und der Empfangschein seines Bankiers bescheinigt nichts als die Deposition eines kostbaren Werthgegenstandes. Die Indier nehmen an, daß Herr Luker lügt —— und Sie nehmen wieder an, daß die Indier Recht haben. Alles was ich zur Vertheidigung meiner Annahme sage, ist: Sie ist möglich. Was können Sie logisch oder juristisch mehr von der Ihrigen sagen?«
Diese Behauptung war stark, aber unleugbar wahr.
»Ich gestehe, daß Sie mich stutzig machen,« erwiderte ich. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich Herrn Bruff Ihre Ansicht mittheile?«
»Im Gegentheil, es ist mir lieb, wenn Sie Herrn Bruff schreiben. Vielleicht hilft uns seine Erfahrung dazu, die Angelegenheit in einem neuen Lichte zu betrachten. Jetzt lassen Sie uns auf unser Experiment mit dem Opium zurückkommen. Wir sind übereingekommen, daß Sie sich des Rauchens von diesem Augenblicke an wieder enthalten?«
»Von diesem Augenblick an.«
»Das ist unser erster Schritt. Der nächste muß darin bestehen, die häuslichen Verhältnisse in denen Sie sich im vorigen Jahre befanden, so genau wie möglich wieder herzustellen.«
Wie war das möglich? Lady Verinder war todt. Rachel und ich waren, so lange der Verdacht des Diebstahls auf mir lastete, unwiderruflich geschieden. Godfrey Ablewhite war aus dem Continent. Es war ganz unmöglich, die Personen, welche das Haus, als ich zum letzten Mal darin geschlafen hatte, bewohnten, wieder darin zu versammeln. Aber dieser Einwand schien Ezra Jennings nicht in Verlegenheit zu setzen. Er lege, sagte er, sehr geringen Werth darauf, dieselben Personen wieder zu versammeln, da es doch ein vergebliches Bemühen sein würde, sie in dieselbe Lage zu versetzen, in der sie sich im vorigen Jahre mir gegenüber befunden hatten. Andererseits hielt er es für wichtig für den Erfolg des Experiments, daß ich dieselben Gegenstände um mich her sehe, welche mich bei meiner letzten Anwesenheit im Hause umgeben hatten.
»Vor Allem,« sagte er, »müssen Sie in demselben Zimmer schlafen, in welchem Sie in der Geburtstagsnacht schliefen und muß es ebenso möblirt sein, wie damals. Auch die Treppen, die Corridors und Fräulein Verinder’s Wohnzimmer müssen ganz so wieder hergestellt werden, wie Sie sie zuletzt gesehen haben. Es ist durchaus unerläßlich, Herr Blake, jedes aus diesen Localitäten etwa entfernte Möbel wieder an seinen früheren Platz zu stellen. Das Rauchopfer, welches Sie zu bringen bereit sind, würde unnütz sein, wenn wir nicht Fräulein Verinder’s Erlaubniß zu der gedachten Wiederherstellung der Räumlichkeiten erwirken können.«
»Wer soll sie um diese Erlaubniß bitten?« fragte ich. »Können Sie das nicht thun?«
»Ganz unmöglich. Nach dem was in Veranlassung des Verlustes des Diamanten zwischen uns vorgefallen ist, kann ich sie unter den gegenwärtigen Umständen weder sehen, noch ihr schreiben.« Ezra Jennings schwieg einen Augenblick nachdenklich.
»Darf ich ich mir eine delicate Frage erlauben? sagte er.
Ich forderte ihn durch ein Zeichen auf, fortzufahren.
»Irre ich mich nicht, Herr Blake, wenn ich aus einer und der anderen Ihnen entfahrenen Aeußerung schließen zu dürfen glaube, daß Sie vordem ein nicht gewöhnliches Interesse an Fräulein Verinder genommen haben?«
»Vollkommen richtig«
»Wurde dieses Interesse erwidert?«
»Allerdings!«
»Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Fräulein Verinder sich für den Versuch, Ihre Unschuld zu erweisen, lebhaft interessiren werde?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»In diesem Falle will ich, wenn Sie es mir erlauben wollen, an Fräulein Verinder schreiben.«
»Und ihr den Vorschlag mittheilen, den Sie mir gemacht haben?«
»Ihr Alles mittheilen, was heute zwischen uns vorgegangen ist.«
Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich sein Anerbieten bereitwilligst annahm.
»Ich habe noch Zeit, mit der heutigen Post zu schreiben,« sagte er, nach der Uhr sehend. »Vergessen Sie nicht, Ihre Cigarren zu verschließen, wenn Sie in Ihr Hotel zurückkehren! Ich werde Sie morgen Vormittag besuchen, um von Ihnen zu hören, wie Sie die Nacht verbracht haben.«
Ich schickte mich an, fortzugehen, und versuchte es, ihm Dank für seine Güte, den ich wirklich empfand, auszudrücken.
Er drückte mir sanft die Hand.
»Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen auf der Haide gesagt habe,« antwortete er. »Wenn ich Ihnen diesen kleinen Dienst leisten kann, Herr Blake, so wird das für mich wie ein letzter Sonnenstrahl am Abend eines langen trüben Tages sein.«
Ich ging. Es war der 15. Juni. Die Ereignisse der nächsten zehn Tage —— die alle mehr oder weniger direct mit dem Experiment zusammenhingen, dessen passiver Gegenstand ich war —— sind alle in dem von Herrn Candy’s Assistenten regelmäßig geführten Tagebuche genau verzeichnet In diesen Aufzeichnungen ist nichts verheimlicht und nichts vergessen. Hören wir von Ezra Jennings, wie das Wagniß mit dem Opium versucht ward und wie es verlief.
Vierte Erzählung.
in einem Auszuge aus dem Tagebuche
Ezra Jennings.
1849. 15. Juni. —— Unter verschiedenen Unterbrechungen durch Patienten und Schmerzanfälle beendete ich meinen Brief an Fräulein Verinder rechtzeitig für die heutige Post. Es hat mir nicht gelingen wollen, den Brief so kurz zu fassen, wie ich es gewünscht hätte, aber ich glaube er ist deutlich. Ich stelle ihr darin ihre Entscheidung völlig anheim. Wenn sie einwilligt, dem Experiment beizuwohnen, so thut sie es aus eigenem freien Willen und nicht aus Gefälligkeit für Herrn Franklin Blake oder für mich.
16. Juni. —— Nach einer schrecklichen Nacht spät aufgestanden. Das gestern eingenommene Quantum Opium hat sich durch eine Reihe fürchterlicher Träume gerächt. Einmal wurde ich von den Phantomen verstorbener befreundeter und feindlicher Gestalten durch den leeren Raum gejagt. Ein anderes Mal erschien in einem das Dunkel der Nacht widerwärtig erhellenden phosphoresirens den Licht das geliebte Antlitz, das ich niemals wiedersehen werde, über meinem Bett und starrte mich grinsend an. Ein leichter Anfall des alten Schmerzes der sich zur gewohnten Zeit am frühen Morgen einstellte, war mir als eine Abwechslung willkommen. Er verscheuchte meine Gesichte und schien mir deshalb erträglich.
In Folge der schlechten Nacht kam ich erst spät zu Franklin Blake. Ich fand ihn auf dem Sopha ausgestreckt bei seinem aus Cognac und Sodawasser und einem trocknen Biscuit bestehenden Frühstück.
»Sie können sehr mit mir zufrieden sein,« sagte er, »Ich habe eine miserable, schlaflose Nacht verbracht und heute Morgen nicht den mindesten Appetit! Gerade wie voriges Jahr, als ich das Rauchen aufgab. «Je rascher mein Zustand die Verabreichung meiner zweiten Dosis Opium gestattet, desto lieber ist es mir.«
»Sie sollen sie sobald wie möglich bekommen,« antwortete ich. Inzwischen müssen wir doch bestmöglichst für Ihre Gesundheit sorgen. Ihre Kräfte dürfen nicht erschöpft werden. Wir müssen Ihnen zum Mittagessen Appetit schaffen. Mit andern Worten, Sie müssen diesen Morgen spazieren gehen oder reiten.«
»Wenn ich hier ein Pferd finden kann, so will ich reiten. Beiläufig, ich habe gestern an Herrn Bruff geschrieben. Haben Sie an Fräulein Verinder geschrieben?«
»Ja, mit der gestrigen Abendpost.«
»Gut. Also dürfen wir hoffen, uns morgen gegenseitig einige interessante Mittheilungen machen zu können. Bleiben Sie doch noch ein wenig, ich habe Ihnen ein Wort zu sagen. Sie schienen gestern zu glauben, daß unser Experiment mit dem Opinm von einigen meiner Freunde wahrscheinlich nicht mit günstigen Augen werde angesehen werden und Sie hatten ganz recht. Ich zähle den alten Gabriel Betteredge zu meinen Freunden und es wird Sie amüsiren zu hören, daß, als ich ihm gestern von der Sache erzählte, er energisch dagegen protestirte. »Sie haben eine außerordentliche Menge von Thorheiten in Ihrem Leben begangen, Herr Franklin, aber diese übertrifft alle früheren!« Das ist Betteredges Ansicht! Sie werden seine Vorurtheile schonen, wenn Sie ihn sehen, nicht wahr?«
Ich verließ Herrn Blake, um meine Patienten zu besuchen, und fühlte mich schon nach der kurzen Zusammenkunft mit ihm besser und glücklicher.
Wie soll ich mir die geheime Anziehungskraft, die dieser Mensch auf mich ausübt, erklären? Beruht dieselbe nur auf dem Contrast der freundschaftlichen Art mit der er mir entgegen gekommen ist, und der unbarmherzig mißtrauischen und abstoßenden Weise, mit der mich die übrigen Menschen behandeln? Oder ist wirklich etwas in ihm, was meine Sehnsucht nach menschlicher Sympathie befriedigt —— diese Sehnsucht, welche die Einsamkeit und die Verfolgung vieler Jahre überlebt hat, und welche stärker und stärker zu werden scheint, je näher die Zeit heranrückt, wo ich nichts mehr leiden und fühlen werde? Wie nutzlos solche Fragen zu thun! Herr Blake hat, dem Leben ein neues Interesse für mich verliehen. Dabei will ich mich beruhigen, ohne der Natur dieses Interesses weiter nachzuforschen.
17. Juni. —— Diesen Morgen vor dem Frühstück zeigte mir Herr Candy an, daß er auf vierzehn Tage zu einem Freunde im südlichen England reisen werde. Der arme Mann gab mir so viele specielle Anweisungen in Betreff der Patienten, als ob er noch die große Praxis hätte wie vor seiner Krankheit. Die Praxis ist jetzt äußerst klein geworden! Andere Aerzte haben ihn verdrängt und keiner, der umhin kann, kennt mich.
Es ist vielleicht ein Glück, daß er gerade jetzt fortgeht; es würde ihn gekränkt haben, wenn ich ihn von dem Experiment, das ich mit Herrn Blake zu machen im Begriff stehe, nichts gesagt hätte. Und doch hätte ich ihn nicht ins Vertrauen ziehen können, ohne die unerwünschtesten Folgen befürchten zu müssen. Es ist also ohne Frage besser so.
Als Herr Candy eben das Haus verlassen hatte, erhielt ich Fräulein Verinders Antwort.
Ein charmanter Brief! Er giebt mir eine sehr hohe Meinung von ihr. Kein Versuch, ihr Interesse an unserm Unternehmen zu verhehlen. Sie sagt mir in der liebenswürdigsten Weise, daß mein Brief sie von Herrn Blake’s Unschuld überzeugt habe, ohne daß es für sie noch irgend eines Beweises meiner Behauptung bedürfe. Das arme Mädchen macht sich selbst sogar höchst unverdiente Vorwürfe darüber, daß sie nicht seiner Zeit die wahre Lösung des Räthsels errathen habe. Das Motiv aller dieser Aeußerungen ist offenbar etwas mehr als der großmüthige Eifer, ein einer andern Person unabsichtlich zugefügtes Unrecht wieder gut zu machen. Es ist klar, daß sie trotz der zwischen ihnen eingetretenen Entfremdung nicht aufgehört hat, ihn zu lieben. An mehr als einer Stelle bricht das Entzücken über die Entdeckung, daß er ihre Liebe verdient, inmitten der formellsten Wendungen eines an einen Fremden geschriebenen Briefes durch. Ist es möglich, frage ich mich beim Lesen dieses köstlichen Briefes, daß ich unter allen lebenden Menschen berufen bin, die Wiedervereinigung dieser beiden jungen Leute zu vermitteln?
Mein eignes Glück ist mit Füßen getreten, meine eigene Liebe ist mir entrissen. Soll ich es erleben, daß das Glück Anderer durch mich begründet, daß ein liebendes Paar sich durch mein Bemühen wieder vereinigt? O barmherziger Tod, laß es mich erleben, bevor Deine Arme mich umschlingen, und bevor Du mir zuflüsterst: Komm zur ewigen Ruhe!
Der Brief enthält zwei Bitten. Eine derselben verhindert mich, ihn Herrn Franklin Blake zu zeigen. Fräulein Verinder autorisirt mich, ihm zu sagen, daß sie uns mit Vergnügen ihr Haus zur Disposition stellt.
So weit kann ich also ihren Wünschen leicht entsprechen.
Aber die zweite Bitte setzt mich ernstlich in Verlegenheit. Nicht damit zufrieden, daß sie Herrn Betteredge angewiesen hat, alle meine Ordres auszuführen, bittet Fräulein Verinder mich um die Erlaubniß, mir durch persönliche Ueberwachung der Wiederherstellung ihres Wohnzimmers behilflich sein zu dürfen, hiervon aber Herrn Blake nichts mitzutheilen. Sie wartet nur auf ein Wort der Erwiederung von mir, um die Reise nach Yorkshire anzutreten, und in der Nacht, wo die Wirkung des Opiums zum zweiten Mal versucht werden soll, als Zeugin zugegen zu sein.
Hier liegt abermals ein besonderes Motiv zu Grunde und wieder glaube ich es zu erkennen.
Was sie mir verbietet, Herrn Franklin Blake zu sagen, will sie ihm, wie mir scheint, gern selbst sagen, bevor er auf die Probe gestellt wird, die seinen Ruf in, den Augen anderer Menschen reinigen soll. Ich verstehe und bewundere diese großmüthige Hast, ihn freizusprechen, ohne abzuwarten, ob der Beweis seiner Unschuld gelingt oder nicht.
Es verlangt sie darnach, das Unrecht wieder gut zu machen, das sie ihm unschuldiger und unvermeidlicher Weise angethan hat. Aber das darf nicht sein. Ich bin fest überzeugt, daß die Aufregung, welche eine Zusammenkunft auf Beide hervorbringen würde, —— die alten Gefühle, welche dieselbe wiedererwecken, die neuen Hoffnungen, welche sie rege machen würde —— in ihrer Wirkung auf das Gemüth des Herrn Blake dem Erfolg unseres Experiments verhängnisvoll sein würde. Es ist schon schwer genug, wie die Sachen stehen, die Bedingungen, unter welchen das Opium im vorigen Jahre auf ihn wirkte, ganz oder nahezu wieder in ihm hervorzurufen. Wenn neue Interessen und neue aufregendes Emotionen hinzukämen, so würde der Versuch nutzlos sein.
Und doch kann ich es trotz dieser Ueberzeugung nicht übers Herz bringen, ihr ihre Bitte abzuschlagen. Ich muß sehen, ob ich nicht noch vor Abgang der Post ein neues Arrangement ersinnen kann, welches mir gestatten würde, Fräulein Verinder ihre Bitte zu gewähren, ohne den Dienst, den ich mich Herrn Franklin Blake zu leisten verpflichtet habe, zu beeinträchtigen.
Zwei Uhr Nachtmittags —— Ich komme eben von meinen Krankenbesuchen nach Hause, nachdem ich natürlich zuerst im Hotel vorgesprochen hatte.
Herr Blake berichtet über seine Nacht gerade wie gestern. Er ist ein paar Mal auf kurze Augenblicke ein geschlafen, mehr nicht; aber er empfindet es heute weniger, nachdem er gestern nach Tisch geschlafen hat. Dieser Mittagsschlaf ist ohne Zweifel die Wirkung des Ritts, den er auf meinen Rath gemacht hat. Ich fürchte, ich werde seine erfrischende Bewegung in der Lust etwas beschränken müssen. Er darf nicht zu elend, er darf aber auch nicht zu wohl sein. Es ist ein Fall, wo, wie die Seeleute sagen würden, sehr scharf gesteuert werden muß.
Er hat noch keine Antwort von Herrn Bruff. Er war sehr begierig zu erfahren, ob ich Antwort von Fräulein Verinder habe.
Ich theilte ihm genau das mit, was ich Erlaubniß hatte ihm zu sagen, aber nicht mehr. Ich brauchte keinen Entschuldigungsgrund dafür anzudeuten, daß ich ihm den Brief nicht zeigte. Der arme Junge sagte mir sehr bitter, er verstehe das Zartgefühl, das mich abhalte, ihn den Brief sehen zu lassen, vollkommen. »Sie giebt natürlich ihre Einwilligung,« sagte er, »wie es die einfachste Höflichkeit und Gerechtigkeit gebietet, aber sie bleibt bei ihrer Ansicht über mich und wartet das Resultat ab.« Ich fühlte mich schmerzlich versucht, ihm zu verstehen zu geben, daß er jetzt ihr Unrecht thue, wie sie es früher ihm gethan hatte. Bei näherer Ueberlegung aber durfte ich ihr den doppelten Genuß, ihn zu überraschen und ihm zu vergeben, nicht vorwegnehmen.
Mein Besuch war sehr kurz. Meine Leiden in der vorgestrigen Nacht hatten mich bestimmt, mich abermals des Opiums zu enthalten. Die nothwendige Folge davon ist, daß meine Schmerzen wieder die Oberhand gewonnen haben. Ich fühlte den Anfall herannahen und verließ Herrn Blake plötzlich, um ihn nicht zu beunruhigen oder zu betrüben. Dies Mal dauerte er nur eine Viertelstunde und ließ mir Kraft genug, meinem Beruf nachzugehen.
5 Uhr Nachmittags. —— Ich habe meine Antwort an Fräulein Verinder geschrieben. Ich habe ihr ein Arrangement proponirt, das, wenn sie sich mit demselben einverstanden erklärt, die beiderseitigen Interessen zu vermitteln geeignet ist. Nachdem ich zuerst die Einwände, die einer Zusammenkunft zwischen ihr und Herrn Blake vor dem Versuch des Experiments entgegenstehen, aufgeführt, habe ich ihr vorgeschlagen, sie möge ihre Reise so einrichten, daß sie an dem Abend, wo wir das Experiment machen wollen, im Hause einträfe Wenn sie mit dem Nachmittagszug von London abreist, so trifft sie erst um 9 Uhr hier ein. Um diese Stunde habe ich es übernommen, dafür zu sorgen, daß Herr Blake sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen haben wird, und daß daher Fräulein Verinder bis zu der Zeit über ihre Zimmer disponiren kann, wo das Opium verabreicht werden muß. Nachdem das geschehen sein wird, steht nichts im Wege, daß sie mit uns Uebrigen die Wirkung beobachtet. Am folgenden Morgen soll sie dann, wenn sie will, Herrn Blake ihre Correspondenz mit mir zeigen und ihn so überzeugen, daß sie ihn in ihrem Herzen freigesprochen hatte, noch ehe der Beweis seiner Unschuld erbracht war.
In diesem Sinne habe ich ihr geschrieben Das ist Alles, was ich heute thun kann. Morgen muß ich Herrn Betteredge sprechen und ihm die nöthigen Ordres in Betreff der Instandsetzung des Hauses geben.
18. Juni. —— Ich kam wieder erst spät dazu, Herrn Franklin Blake zu besuchen Wieder am frühen Morgen die schrecklichsten Schmerzen, denen dieses Mal mehrere Stunden lang die vollständigste Erschöpfung folgte. Ich sehe voraus, daß ich trotz der unvermeidlichen schlimmen Folgen zum hundertsten Male meine Zuflucht zum Opium werde nehmen müssen. Wenn ich nur an mich selbst zu denken hätte, so würde ich die empfindlichen Schmerzen den schrecklichen Träumen vorziehen. Aber die körperlichen Leiden erschöpfen mich und wenn ich meine Kräfte schwinden lasse, so würde ich Herrn Blake vielleicht zu der Zeit, wo er meiner am meisten bedarf, nicht mehr nützen können.
Es war fast Ein Uhr geworden, bevor ich heute nach dem Hotel gehen konnte. Der Besuch war selbst in meinem geschwächten Zustande, Dank der Gegenwart Gabriel Betteredge’s, höchst unterhaltend.
Ich fand ihn im Zimmer, als ich eintrat. Er zog sich an’s Fenster zurück und schaute hinaus, während ich meine erste gewöhnliche Frage an meinen Patienten richtete. Herr Blake hatte wieder schlecht geschlafen und empfand die fehlende Ruhe heute stärker als bisher.
Ich fragte ihn dann, ob er von Herrn Bruff gehört habe.
Gerade an diesem Morgen hatte er einen Brief erhalten. Herr Bruff sprach die entschiedenste Mißbilligung des Verfahrens aus, das sein Freund und Client nach meinem Rath eingeschlagen habe. Dasselbe sei vom Uebel, denn es erwecke Hoffnungen, welche sich vielleicht nie realisiren würden. Er vermöge darin nichts zu erkennen als eine Art Spiegelfechterei von der bekannten Sorte der Künste des Mesmerismus, der Clairvoyance u. dgl. Es bringe Fräulein Verinder’s Haus in Verwirrung und würde schließlich auch sie selbst verwirrt machen. Er habe, ohne Namen zu nennen, den Fall einem bedeutenden Aerzte vorgelegt und dieser habe gelächelt, den Kopf geschüttelt und nichts geantwortet. Aus diesen Gründen müsse sich Herr Bruff darauf beschränken, gegen die Sache zu protestiren.
Meine nächste Frage betraf den Diamanten, ob der Advocat irgend etwas zum Beweise beigebracht habe, daß der Edelstein sich in London befinde?«
Nein, der Advocat hatte es einfach refüsirt, die Frage zu discutiren Er sei, schreibt er, für seine Person überzeugt, daß der Mondstein an Herrn Luker verpfändet sei. Sein berühmter, jetzt abwesender Freund, Herr Murthwaite, dessen genaue Bekanntschaft des indischen Characters Niemand in Abrede stellen könne, sei derselben Ueberzeugung gewesen. Unter diesen Umständen und im Hinblick aus die vielen Ansprüche, die in dieser Angelegenheit bereits an ihn gemacht worden seien, müsse er es ablehnen, sich in Betreff des Beweises auf weitere Erörterungen einzulassen. Die Zeit werde Alles an den Tag bringen und Herr Bruff wolle die Zeit geduldig abwarten.
Es war ganz klar, auch wenn Herr Blake es dadurch nicht noch klarer gemacht hätte, daß er nur über den Inhalt des Briefes berichtete, anstatt ihn wirklich vorzulesen, daß dem ganzen Raisonnement des Herrn Bruff nur das Mißtrauen gegen meine Person zu Grunde lag. Da ich dies vorausgesehen hatte, so konnte es mich weder kränken noch überraschen. Ich fragte Herrn Blake, ob der Protest seines Freudes ihn in seiner Ueberzeugung erschüttert habe. Er antwortete emphatisch, daß er nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht habe. Danach stand es mir frei, bei unsern Erwägungen ganz von Herrn Bruff zu abstrahiren und ich that das.
Es entstand nun eine Pause in unserer Unterhaltung und Betteredge trat aus seiner Zurückgezogenheit am Fenster wieder hervor.
»Wollen Sie mir einen Augenblick Gehör schenken?« fragte er, sich an mich wendend.
»Ich stehe ganz zu Diensten« antwortete ich.
Betteredge nahm sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Er zog ein ungeheures altmodisches Taschenbuch mit einem Bleistift von entsprechender Dimension hervor. Nachdem er seine Brille aufgesetzt, schlug er in dem Taschenbuch eine leere Seite auf und wandte sich abermals an mich.
»Ich habe,« sagte Betteredge indem er mich fest ansah, »nun beinahe 50 Jahr in dem Dienst meiner verstorbenen gnädigen Frau verlebt. Vorher war ich Page in dem Dienst des alten Lords, ihres Vaters. Ich bin jetzt so etwas wie zwischen 70 und 80 Jahr alt —— es kommt nicht so genau darauf an! Ich gelte dafür, daß ich soviel Weltkenntniß und Erfahrung gesammelt habe, wie die meisten Menschen. Und was muß ich jetzt erleben, Herr Ezra Jennings, daß ein ärztlicher Assisient an Herrn Franklin Blake ein Zauberkunststück mit einer Flasche Opium probirt und daß ich, hol’s der Teufel, in meinen alten Tagen den Handlanger des Zauberers abgeben muß!»
Herr Blake brach in Lachen aus. Ich versuchte es zu reden, aber Betteredge machte eine Handbewegung, zum Zeichen daß er noch nicht fertig sei.
»Kein Wort, Herr Jennings!« sagte er. »Es bedarf keines Wortes von Ihnen, mein Herr. Ich habe Gott sei Dank! meine Grundsätze. Wenn mir eine Ordre zukommt, die einer Ordre aus dem Tollhaus so ähnlich sieht wie ein Eis dem andern, einerlei —— so lange die Ordre von meinem Herrn oder meiner Herrin kommt, parire ich. Ich kann meine eigene Ansicht haben, die wie Sie gefälligst bemerken wollen, auch die Ansicht des Herrn Bruff, des großen Herrn Bruff ist!« sagte Betteredge mit erhobener Stimme und indem er, mir zugekehrt, feierlich mit dem Kopfe schüttelte. »Einerlei; trotz alledem behalte ich meine Ansicht für mich. Mein junges Fräulein sagt: »Thun Sie das!« Und ich sage: »Gnädiges Fräulein, es soll geschehen!« Hier bin ich mit meinem Taschenbuch und meinem Bleistift —— der Bleistift ist zwar nicht so gut zugespitzt, wie ich es wünschen möchte, aber wenn Christenmenschen ihren Verstand verlieren, kann man auch von Bleistiften nicht erwarten, daß sie ihre Spitzen behalten. Herr Jennings, ich erwarte Ihre Befehle, ich will sie mir notiren. Ich bin entschlossen, sie aufs Genaueste auszuführen und nicht um ein Haarbreit mehr oder weniger zu thun. Ich bin ein blindes Werkzeug, weiter nichts —— weiter nichts als ein blindes Werkzeug. wiederholte Betteredge mit außerordentlichem Behagen über seine Schilderung seiner eigenen Person.
»Es thut mir sehr leid,« fing ich an, »daß Sie und ich nicht einer Meinung sind.«
»Lassen Sie mich aus dem Spiel!« unterbrach mich Betteredge. »Es handelt sich hier für mich nicht um Meinungen, sondern um Gehorsam. Geben Sie Ihre Ordres, Herr, geben Sie Ihre Ordres!«
Herr Blake machte mir ein Zeichen, ihn beim Wort zu nehmen. Ich gab meine Ordres so klar und mit so ernsthafter Miene wie es mir möglich war.
»Ich wünsche,« sagte ich, »daß gewisse Räume des Hauses wieder in Stand gesetzt und genau so wieder möblirt werden. wie sie es im vorigen Jahre um diese Zeit waren«
Betteredge befeuchtete seinen mangelhaft gespitzten Bleistift mit der Zunge und sagte feierlich: »Nennen Sie die Räume, Herr Jennings!«
»Erstens: Die innere Halle, welche zur Haupttreppe führt.«
»Erstens: Die innere Halle,« schrieb Betteredge. »Schon einmal unmöglich, die innere Halle wieder so zu möbliren, wie sie voriges Jahr möblirt war.«
»Warum?«
»Weil voriges Jahr ein ausgestopfter Mäusefalk in der Halle stand, Herr Jennings. Als die Familie abreiste, wurde der Mäusefalk mit den andern Sachen weggeräumt. Beim Wegräumen aber platzte er.«
»Lassen wir also den Mäusefalken weg.«
Betteredge notirte sich diese Weglassung. »Die innere Halle wieder so möbliren, wie sie voriges Jahr möblirt war, mit einziger Ausnahme des Mäusefalken. Fahren Sie gefälligst fort, Herr Jennings.«
»Den Teppich auf die Treppe legen, wie früher.«
»Den Teppich auf die Treppe legen, wie früher. Bedaure recht sehr, mein Herr: aber das ist ebenso wenig möglich.«
»Warum nicht?«
»Weil der Mann, der die Decke gelegt hat, todt ist, Herr Jennings, und einen Tapezier, der es so wie er versteht, einen Teppich in eine Ecke zu passen, finden Sie in ganz England nicht mehr.«
»Nun gut, so müssen wir es mit dem geschicktesten Mann in England, der jetzt lebt, versuchen.«
Betteredge notirte wieder und ich fuhr mit meinen Ordres fort.
»Fräulein Verinder’s Zimmer genau so wieder herstellen, wie es im vorigen Jahre war. Desgleichen den Corridor, der von dem Wohnzimmer nach dem ersten Treppenabsatz führt. Desgleichen den Corridoy der von dem zweiten Treppenabsatz zu den besten Schlafzimmern führt. Desgleichen das Schlafzimmer, welches Herr Franklin Blake im vorigen Juni inne hatte.«
Betteredge’s stumpfer Bleistift folgte mir gewissenhaft Wort für Wort. »Fahren Sie fort, Herr!« sagte er mit krampfhafter Feierlichkeit. »Die Bleistiftspitze hält noch lange vor«
Ich sagte ihm, daß ich keine Ordres mehr zu geben habe. »Herr,« sagte Betteredge, »in diesem Falle habe ich ein paar Bemerkungen in Betreff meiner selbst zu machen.« Er schlug eine neue weiße Seite in dem Taschenbuch auf und feuchtete den unerschöpflichen Bleistift wieder an.
»Ich möchte wissen,« sing er an, »ob ich meine Hände waschen kann ——«
»Gewiß können Sie das,« sagte Herr Blake, »ich will dem Kellner klingeln.«
»—— reinwaschen kann von gewissen Verantwortlichkeiten,« fuhr Betteredge fort, indem er fest entschlossen schien, von Niemandem im Zimmer. außer von mir und sich Notiz zu nehmen. »Um zuerst von Fräulein Verinder’s Wohnzimmer zu reden. Als wir im vorigen Jahre die Decke aufnahmen, Herr Jennings, fanden wir eine große Anzahl von Nadeln. Bin ich verpflichtet, diese Nadeln wieder hinzulegen?«
»Gewiß nicht!«
Betteredge notirte sich sofort diese Concession.
»Was demnächst den ersten Corridor betrifft« fing er wieder an. »Als wir die Ornamente aus dem Corridor wegnahmen, befand sich darunter auch die Statue eines fetten nackten Kindes, welches in dem Inventar unseliger Weise als »Amor, Gott der Liebe« bezeichnet war. Voriges Jahr hatte er zwei Flügel an seinen fetten Schultern. Als ich einen Augenblick den Rücken gekehrt hatte, brachen sie ihm einen davon ab. Bin ich verantwortlich für den Amorflügel?«
Ich beruhigte ihn auch darüber und Betteredge machte wieder eine Notiz in sein Taschenbuch.
»Was den zweiten Corridor betrifft,« fuhr er fort, »da auf demselben voriges Jahr nichts gestanden hat, als die Thüren zu den Zimmern (deren Vorhandensein ich, wenn es nöthig ist, beschwören kann), so bin ich in Betreff dieses Theils des Hauses sehr ruhig. Was aber Herrn Franklin’s Schlafzimmer betrifft, —— wenn das wieder in seinen frühern Zustand gebracht werden soll ——, so möchte ich wissen, wer die Verantwortlichkeit dafür übernehmen soll, dasselbe in einem Zustande beständiger Confusion zu erhalten, gleichviel wie oft es wieder in Ordnung gebracht wird, —— hier seine Hosen, da seine Handtücher und seine französischen Romane überall ——, ich frage, wer die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen hat, die Ordnung in seinem Zimmer beständig wieder in Unordnung zu bringen —— er oder ich?«
Herr Blake erklärte sich mit dem größten Vergnügen bereit, die ganze Verantwortlichkeit zu übernehmen. Betteredge lehnte es hartnäckig ab, irgend einen Vorschlag zur Lösung der Schwierigkeit anzuhören, bevor er denselben meiner Sanction und Genehmigung vorgelegt habe.
Ich nahm Herrn Blake’s Vorschlag an und Betteredge machte über diesen Gegenstand eine letzte Notiz in sein Taschenbuch.
»Sehen Sie von morgen an nach, wenn es Ihnen gefällig ist,« sagte er aufstehend. Sie werden mich mit dem nöthigen Hilfspersonal bei der Arbeit finden. Ich sage Ihnen meinen verbindlichsten Dank, Herr, für Ihre Nachricht, sowohl in Betreff des ausgestopften Mäusefalken als des Amorflügels —— und dafür, daß Sie mich von jeder Verantwortlichkeit für die Nadeln aus der Decke und die Unordnung in Herrn Franklins Zimmer freigesprochen haben. Als Diener bin ich Ihnen tief verpflichtet, als Mensch betrachte ich Sie als einen verschrobenen Querkopf und protestire gegen Ihr Experiment als gegen eine Täuschung und einen Hohn. Fürchten Sie aber nicht, daß meine Gefühle als Mensch der Erfüllung meiner Pflicht als Diener im Wege stehen werden! Ihre Befehle sollen ausgeführt werden, Herr, —— sollen, trotz Ihrer Verschrobenheit, genau ausgeführt werden. Und wenn die Sache damit enden sollte, daß Sie das Haus in Brand strecken, —— hol mich der Teufel. wenn ich nach den Spritzen schicke, ehe Sie geklingelt und Ordre dazu gegeben haben!«
Mit dieser Abschiedsversicherung verneigte er sich und verließ das Zimmer.
»Glauben« Sie, daß wir uns auf ihn verlassen können?« fragte ich.
»Vollkommen,« antwortete Herr Blake. »Wenn wir ins Hans kommen, werden wir nichts versäumt und nichts vergessen finden.«
19. Juni. —— Ein neuer Protest gegen unser beabsichtigtes Verfahren! Dieses Mal von einer Dame.
Die Morgenpost brachte mir zwei Briefe, den einen von Fräulein Verinder, mit der freundlichsten Zustimmung zu dem von mir proponirten Arrangement. Den andern von der Dame, unter deren Obhut sie lebt, einer Mrs. Merridew.
Mrs. Merridew empfiehlt sich mir und erklärt, daß sie sich nicht anmaße, von der wissenschaftlichen Bedeutung des Gegenstandes, über welchen ich mit Fräulein Verinder correspondirt habe, etwas zu verstehen. Sie erlaube sich aber, vom Standpunkt einer Betrachtung der socialen Bedeutung des Gegenstandes aus, eine Meinung zu äußern. Ich wisse wahrscheinlich nicht, meint Mrs. Meridew, daß Fräulein Verinder kaum neunzehn Jahre alt sei. Einem jungen Mädchen dieses Alters zu gestatten, ohne Begleiterin in einem Hause anwesend zu sein, in welchem eine Anzahl von Männern sich zum Zweck der Anstellung eines medicinischen Experiments versammeln, erscheine als ein grober Verstoß gegen die Schicklichkeit, den Mrs. Merridew auf keine Weise zugeben könne. Wenn die Sache vor sich gehen müsse, so würde sie es als ihre Pflicht betrachten, mit Hintansetzung ihrer eigenen Bequemlichkeit, Fräulein Verinder nach Yorkshire zu begleiten. Unter diesen Umständen wagte sie es, mich freundlich zu bitten, mir die Sache noch einmal zu überlegen, da Fräulein Verinder sich weigert, von irgend Jemand Andern als von mir in dieser Angelegenheit Rath anzunehmen. Unmöglich könne ihre Anwesenheit nothwendig sein und ein Wort von mir in diesem Sinn würde sowohl Mrs. Merridew als mich von einer sehr unangenehmen Verantwortlichkeit befreien.
Seiner Umhüllung von höflichen Redensarten entkleidet, heißt das Vorstehende, wie ich es verstehe, so viel wie, daß Mrs. Merridew eine tödtliche Angst vor dem Urtheile der Welt hat. Unglücklicher Weise wendet sie sich an einen Mann, der wohl von allen lebenden Menschen die wenigste Ursache hat, das Urtheil der Welt zu respectiren. Ich möchte Fräulein Verinder nicht unangenehm enttäuschen, und möchte die Versöhnung zweier junger Leute, die sich lieben und schon so lange getrennt gewesen sind, nicht hinausschieben. In höfliche Redensarten eingehüllt, wird meine Antwort dahin lauten: daß Herr Jennings sich Mrs. Merridew höflichst empfiehlt und sein Bedauern darüber ausspricht, daß er sich nicht für befugt halten kann, irgend etwas in dieser Angelegenheit zurückzunehmen.
Herrn Blake’s Bericht über seinen Zustand lautete diesen Morgen ganz wie bisher. Wir kamen überein, Betteredge heute noch nicht bei seiner Arbeit zu stören. Es wird morgen noch früh genug sein, eine erste Inspektion zu halten.
20. Juni. —— Herr Blake fängt an, die Folgen seiner anhaltenden Schlaflosigkeit zu verspüren. Je eher jetzt —— die Zimmer wieder in Stand gesetzt werden können, desto besser.
Auf unserm Wege nach dem Hause consultirte er mich diesen Morgen mit einer gewissen nervösen Ungeduld und Unentschlossenheit in Betreff eines Briefes von Sergeant Cuff, den er über London erhalten hatte.
Der Sergeant schreibt aus Irland. Er bekennt sich zu dem ihm durch seine Haushälterin übermittelten Empfang einer Karte und einer Bestellung, welche Herr Blake in seinem Hause in der Nähe von Dorking hinterlassen hat und kündigt seine Rückkehr nach England als wahrscheinlich in längstens einer Woche bevorstehend an. Inzwischen bittet er um eine Angabe der Gründe, aus welchen Herr Blake ihn, wie die Karte besage, in Betreff des Mondsteins zu sprechen wünsche. Wenn Herr Blake ihn zu überzeugen im Stande sei, daß er im Laus seiner vorjährigen Untersuchung in Betreff des Diamanten in einem erheblichen Punkte fehlgegangen sei, so werde er es im Hinblick auf die liberale Remuneration seiner Dienste durch die verstorbene Lady Verinder als seine Pflicht betrachten, sich Herrn Blake zur Verfügung zu stellen. Wenn nicht, so bitte er um die Erlaubniß, in seiner ländlichen, der Blumenzucht gewidmeten Zurückgezogenheit verbleiben zu dürfen.
Nachdem ich den Brief gelesen, trug ich kein Bedenken, Herrn Blake den Rath zu ertheilen, Sergeant Cuff in Erwiederung seines Briefes alles Das mitzutheilen, was seit der Sistirung der Untersuchung im vorigen Jahre vorgefallen ist und ihm die Folgerungen aus diesen einfachen Thatsachen selbst zu überlassen.
Bei näherer Erwägung rieth ich ihm aber ferner, den Sergeanten aufzufordern, falls er zeitig genug nach England zurückkehrt, dem Experimente beizuwohnen. Er würde auf alle Fälle ein werthvoller Zeuge sein und falls sich meine Annahme, daß der Diamant in Herrn Blake’s Zimmer versteckt sei, als falsch erweisen sollte, so könnte sein Rath in einem späteren Stadium des Verfahrens, über das ich keine Controle auszuüben im Stande wäre, von großer Wichtigkeit werden. Diese letzte Erwägung schien für Herrn Blake entscheidend zu sein. Er versprach, meinem Rath zu folgen.
Als wir uns dem Hause näherten, tönten uns Hammerschläge aus demselben entgegen und belehrten uns, daß die Arbeit der Wiederinstandsetzung in vollem Gange sei.
Wir trafen Betteredge, der bei der Arbeit eine rothe Fischermütze ausgesetzt und eine grüne baumwollene Schürze vorgebunden hatte, in der äußern Halle. In dem Augenblick, wo er meiner ansichtig wurde, zog er Taschenbuch und Bleistift hervor und capricirte sich, jedes Wort was ich ihm sagte, zu notiren. Wohin wir aber blickten fanden wir, wie es Herr Blake vorausgesagt hatte, daß die Arbeit so rasch und so verständig gefördert wurde, wie es nur irgend möglich war. Aber in der innern Halle und in Fräulein Verinders Zimmer war noch viel zu thun. Es mußte zweifelhaft erscheinen, ob das Haus vor Ende der Woche für uns werde fertig sein können.
Nachdem wir Betteredge zu dem raschen Fortgang der Arbeiten Glück gewünscht hatten —— er blieb dabei, sich jedes meiner Worte zu notiren und nahm beharrlich von dem, was Herr Blake sagte, nicht die mindeste Notiz —— und nachdem wir versprochen hatten, in ein oder zwei Tagen wieder vorzusprechen und nachzusehen, schickten wir uns an, das Haus durch die Hinterthür zu verlassen.
Aber noch ehe wir die Thür erreicht hatten, hielt mich Betteredge, gerade als ich an der zu seinem Zimmer führenden Thür vorüberging zurück.
»Kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen"?« flüsterte er mir geheinmißvoll zu. Ich erklärte mich natürlich bereit. Herr Blake ging voraus, mich im Garten zu erwarten, während ich Betteredge in sein Zimmer begleitete.
Ich war auf ein Gesuch um neue Concessionen gefaßt, wie ich sie bereits in den Fällen des ausgestopften Mäusefalken und des Amorflügels gemacht hatte.
Zu meiner großen Ueberraschung aber legte mir Betteredge vertraulich seine Hand auf die Schulter und richtete eine ganz unerwartete Frage an mich.
»Herr Jennings, kennen Sie zufällig Robinson Crusoe?«
Ich antwortete ihm, daß ich Robinson Crusoe als Kind gelesen habe.
»Seitdem nicht mehr?« fragte Betteredge.
»Nein.«
Er prallte ein paar Schritte zurück und sah mich mit einem aus mitleidiger Neugierde und abergläubischer Ehrfurcht gemischten Ausdruck an.
»Er hat Robinson Crusoe seit seiner Kindheit nicht gelesen,« sagte Betteredge vor sich hin. »Wir wollen doch einmal sehen, was Robinson Crusoe jetzt für einen Eindruck auf ihn machen wird.«
Er schloß einen in der Ecke stehenden Schrank auf und holte ein schmutziges, reichlich mit Eselsohren versehenes Buch hervor, das beim Aufschlagen einen starken Tabacksgeruch aushauchte; nachdem er die Stelle, die er suchte, gefunden zu haben schien, bat er mich in demselben vertraulichen und geheimnißvoll leisen Ton, zu ihm in die Ecke zu treten.
»In Betreff Ihres Hokospokus Herr, mit dem Opium und Herrn Franklin Blake,« fing er an, »so lange die Arbeiter im Hause sind, läßt das Gefühl meiner Pflicht als Diener meine Empfindungen als Mensch nicht aufkommen; aber wenn die Arbeiter fort sind, verdrängen meine Empfindungen als Mensch das Gefühl meiner Pflicht als Diener. Nun wohl! Vorige Nacht, Herr Jennings, überwältigte mich der Gedanke, daß Jhr neues medicinisches Unternehmen ein schlechtes Ende nehmen müsse Wenn ich dieser geheimen Eingebung nachgegeben hätte, so würde ich mit meinen eigenen Händen alle Möbel wieder bei Seite geschafft und die Arbeiter am nächsten Morgen wieder fortgeschickt haben.«
»Ich freue mich eben gesehen zu haben,« sagte ich, »daß Sie Ihrer geheimen Eingebung widerstanden haben.«
»Widerstanden ist nicht das Wort,« antwortete Betteredge, »geschwankt ist das rechte Wort. Ich schwankte zwischen der geheimen Eingebung meiner Stimme und den geschriebenen Ordres in meinem Taschenbuch, bis ich, mit Erlaubniß zu sagen, in Schweiß gebadet war. Und was that ich in diesem schrecklichen Zustand geistiger Verwirrung und körperlicher Ermattung? Ich nahm meine Zuflucht, Herr, zu dem Mittel, das mir seit dreißig Jahren und länger noch nie seine Dienste versagt hat, —— zu diesem Buch!«
Er schlug mit der offenen Hand laut auf das Buch und entlockte demselben damit einen noch penetranteren Tabacksgeruch, als vorher.
»Und was fand ich hier,« fuhr er fort, »auf der ersten Seite, die ich zufällig aufschlug? Diese gewaltigen Worte, Herr, Seite 171 wie folgt: —— »Nach diesen und vielen ähnlichen Erwägungen, machte ich es mir später zum Gesetz, so oft ich diese geheimen Winke, in meinem Innern etwas zu thun oder nicht zu thun, oder diesen oder jenen Weg einzuschlagen, vernahm, dieser geheimen Stimme zu folgen.« —— So wahr ich lebe, Herr Jennings, das waren die ersten Worte, die mir grade in dem Augenblick, wo ich mit einer geheimen Eingebung kämpfte, in die Augen fielen! Sie finden darin nichts Besonderes, Herr? Wie?«
»Ich sehe darin ein zufälliges Zusammentreffen, weiter nichts.«
»Sie fühlen sich dadurch in Ihrem Vorhaben nicht wankend gemacht, Herr Jennings?«
»Nicht im Allermindesten.«
Betteredge starrte mich schweigend an. Er machte das Buch bedächtig zu und verschloß es wieder ungemein behutsam in den Schrank; dann drehte er sich um, starrte mich wieder an und sagte feierlich:
»Herr, einem Manne, der Robinson Crusoe seit seiner Kindheit nicht gelesen hat, muß man viel nachsehen. Ich wünsche Ihnen ’einen guten Morgen.«
Er öffnete die Thür mit einer tiefen Verbeugung und überließ es mir, meinen Weg nach dem Garten allein zu finden. Ich traf Herrn Blake, eben im Begriff in’s Haus zurückzukehren.
»Sie brauchen mir nicht zu erzählen, was vorgefallen ist,« sagte er; »Betteredge hat seinen letzten Trumpf ausgespielt: er hat einmal wieder eine prophetische Entdeckung im Robinson Crusoe gemacht. Sind Sie auf sein Lieblingsthema eingegangen? Nein? Sie haben ihn merken lassen, daß Sie nicht an Robinson Crusoe glauben? Herr Jennings, dann sind Sie für alle Zeit so tief wie möglich in Betteredges Achtung gesunken, Sie mögen fortan thun oder sagen was Sie wollen, Sie werden finden, daß er von nun an kein Wort mehr an Sie verschwendet.«
21. Juni. —— Heute muß ich mich mit einer kurzen Notiz in meinem Tagebuche begnügen.
Die letzte Nacht war für Herrn Blake so schlimm, wie noch keine frühere. Ich bin sehr gegen meinen Willen genöthigt gewesen, ihm etwas zu verschreiben. Glücklicher Weise wirken Heilmittel bei Menschen von seiner reizbaren Organisation rasch, sonst würde ich fürchten müssen, daß er, wenn die Zeit des Experiments herankommt, ganz unempfänglich für dasselbe sein würde.
Ich selbst hatte diesen Morgen, nachdem meine Schmerzen einige Tage etwas nachgelassen hatten, wieder einen Anfall, über den ich nichts bemerke, als daß ich mich habe entschließen müssen, wieder zum Opium meine Zuflucht zu nehmen. Ich will dieses Buch bei Seite legen und meine volle Dosis —— 500 Tropfen —— nehmen.
22. Juni. —— Heute sind unsere Aussichten wieder besser. Herr Blake fühlt eine wesentliche Erleichterung seiner nervösen Beschwerden. Er hat in der vorigen Nacht etwas geschlafen. Ich habe, Dank dem Opium! die Nacht in völliger Betäubung verbracht. Ich würde mich ungenau ausdrücken, wenn ich sagte, daß ich diesen Morgen erwachte; es wäre richtiger zu sagen, daß ich wieder zur Besinnung kam.
« Wir fuhren nach dem Hause. um nachzusehen, ob die Wiederinstandsetzung beendet sei. Sie wird morgen —— Sonnabend —— fertig werden.
Wie Herr Blake vorhergesagt hatte, machte Betteredge keine Schwierigkeiten mehr. Vom ersten bis zum letzten Augenblick beobachtete er eine bedeutungsvolle förmliche Höflichkeit und ein ausdrucksvolles Schweigen.
Mein medicinisches Unternehmen, wie Betteredge es nennt, muß jetzt nothwendig bis zum nächsten Montag verschoben werden. Morgen Abend werden die Arbeiter noch spät im Hause zu thun haben. An dem darauf folgenden Tage sind die Züge, in Folge der herkömmlichen Sonntagstyrannei, welche zu den Institutionen dieses freien Landes gehört, so eingericht, daß es für uns unmöglich ist, irgend Jemanden aufzufordern, von London aus zu uns zu reisen.
Bis Montag also kann ich nichts thun, als Herrn Blake sorgfältig beobachten und ihn, wo möglich, in demselben Zustand.erhalten, in welchem ich ihn heute finde.
Inzwischen habe ich ihn bewogen, an Herrn Bruff zu schreiben und denselben dringend zu ersuchen, bei dem Experiment als Zeuge anwesend zu sein. Ich lege besonderes Gewicht auf die Gegenwart des Advokaten, gerade weil er entschieden gegen unser Vorhaben eingenommen ist. Wenn es uns gelingt, ihn zu überzeugen, so ist unser Sieg über jede Anfechtung erhaben.
Herr Blake hat ferner einen Brief an Sergeant Cuff und ich habe eine Zeile an Fräulein Verinder geschrieben. An den genannten Personen und an dem alten Betteredge, —— der wirklich eine bedeutende Rolle in der Familie spielt —— werden wir Zeugen genug für unsern Zweck haben, nicht gerechnet Mrs. Merridew, wenn dieselbe darauf bestehen sollte, ihre Bequemlichkeit dem Urtheil der Welt zum Opfer zu bringen.
23. Juni. —— Vorige Nacht habe ich wieder für das Opium büßen müssen. Gleichviel ich muß mich jetzt, bis der Montag vorüber ist, aufrecht erhalten.
Herr Blake ist heute wieder nicht so wohl. Heute Morgen um zwei Uhr hat er, wie er mir gestanden, die Schublade, in welcher seine Cigarren verschlossen sind, geöffnet. Es bedurfte eines gewaltsamen Aufgebots seiner Energie für ihn, um die Schublade wieder zuzuschließen. Um einer ähnlichen Versuchung für die Folge zu entgehen, hat er dann seinen Schlüssel zum Fenster hinausgeworfen. Der Kellner brachte ihm den Schlüssel, den er aus dem Boden eines leeren Brunnens gefunden hatte —— so geht es! Jetzt habe ich den Schlüssel bis nächsten Dienstag an mich genommen.
24. Juni. —— Herr Blake und ich machten eine lange Spazierfahrt in einem offenen Wagen. Wir empfanden Beide die wohlthätige Wirkung der milden Sommerluft. Ich speiste mit ihm im Hotel. Zu meiner großen Freude —— denn ich hatte ihn diesen Morgen in einem sehr überreizten Zustand gefunden —— hielt er nach Tische einen zweistündigen gesunden Mittagsschlaf. Wenn die nächste Nacht auch wieder schlecht sein sollte, so fürchte ich die Folgen nicht weiter.
25. Juni. Montag. —— Der Tag des Experiments! Es ist fünf Uhr Nachmittags. Wir sind eben im Hause angekommen.
Die erste und Hauptfrage ist die nach Herrn Blake’s Gesundheit.
So weit ich es beurtheilen kann, verspricht er —— physisch gesprochen —— heute Abend ganz so empfänglich für die Wirkung des Opiums zu sein, wie er es im vorigen Jahre um diese Zeit war. Er ist diesen Nachmittag in einem Zustande nervöser Reizbarkeit, die an nervöse Aufregung grenzt. Er wechselt leicht die Farbe, seine Hand zittert ein wenig und er fährt bei zufällig entstehenden Geräuschen und bei dem Anblick unerwarteter Personen und Dinge zusammen. Das Alles ist das Resultat der Schlaflosigkeit, welche ihrerseits wieder die Folge eines plötzlichen Aufhörens des Rauchens ist, nachdem diese Gewohnheit vorher bis zum Extrem getrieben worden war. Hier haben wieder dieselben Ursachen, die voriges Jahr bei ihm thätig waren, augenscheinlich dieselben Wirkungen hervorgebracht Wird sich die Analogie auch auf die Schlußprobe erstrecken? Darüber muß die nächste Nacht entscheiden.
Während ich diese Zeilen schreibe, unterhält sich Herr Blake am Billard in der inneren Halle und versucht verschiedene Kunstbälle, wie er es im vorigen Juni, als er Gast im Hause war, zu thun pflegte. Ich habe mein Tagebuch mit hergebracht, theils zu dem Zweck, um müßige Stunden damit auszufüllen, an denen es mir bis morgen früh gewiß nicht fehlen wird, theils in der Hoffnung, daß sich etwas ereignen werde, was mir seiner Zeit der Aufzeichnung werth erscheinen wird.
Habe ich bis jetzt irgend etwas vergessen? Ein Blick auf meine Aufzeichnungen über den gestrigen Tag zeigt mir, daß ich unterlassen habe, der Ankunft der gestrigen Morgenpost Erwähnung zu thun. Ich will das noch nachholen, bevor ich für den Augenblick diese Blätter schließe und zu Herrn Blake gehe.
Ich habe also gestern ein paar Zeilen von Fräulein Verinder erhalten. Sie hat es so eingerichtet, daß sie mit dem Nachmittagszuge reisen wird, wie ich es ihr vorgeschlagen habe. Mrs. Merridew besteht darauf, sie zu begleiten. Sie giebt mir zu verstehen, daß die sonst so vortreffliche Laune der alten Dame etwas getrübt sei und bittet um alle ihrem Alter und ihren Gewohnheiten schuldige Nachsicht für sie. Ich werde mich in meinen Beziehungen zu Mrs. Merridew bemühen, der Mäßigung nachzueifern, welche Betteredge in seinen Beziehungen zu mir an den Tag legt. Er empfing uns heute in bedeutungsvoll feierlicher Gala in seinem besten schwarzen Anzug und seiner steifen weißen Cravatte. So oft sein Blick auf mich fällt, erinnert er sich, daß ich den Robinson Crusoe seit meiner Kindheit nicht wieder gelesen habe und betrachtet mich mit achtungsvollem Mitleid.
Gestern erhielt Herr Blake auch die Antwort des Advokaten. Herr Bruff nimmt die Einladung unter Protest an. Es scheint ihm klärlich nothwendig, daß ein im Besitz des gewöhnlichen Menschenverstandes befindlicher Herr Fräulein Verinder nach dem Schauplatz der, wie er es zu nennen sich erlauben will, beabsichtigten Vorstellung begleiten müsse. In Ermangelung einer besseren Begleitung will Herr Bruff selbst dieser Herr sein.
So muß das arme Fräulein Verinder sich zwei Begleiter gefallen lassen. Es ist ein tröstlicher Gedanke, daß das Urtheil der Welt dadurch gewiß besänftigt werden wird! Sergeant Cuff hat nichts von sich hören lassen. Er ist ohne Zweifel noch in Irland Wir dürfen ihn also heute Abend nicht erwarten.
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7 Uhr Abends. —— Wir haben nochmals alle Zimmer und Treppen in Augenschein genommen und haben den Gebüschweg, der bei seiner letzten Anwesenheit Herrn Blake’s Lieblingsspaziergang war, behaglich durchschlendert. Auf diese Weise hoffe ich, die alten Eindrücke der umgehenden Plätze und Dinge so lebhaft wie möglich wieder bei ihm aufzufrischen.
Wir wollen jetzt zu Mittag essen, genau zu derselben Stunde, wo im vorigen Jahr das Geburtstags-Diner stattfand. Mein Zweck ist in diesem Fall natürlich ein rein medicinischer. Das Opium muß den Körper so genau wie möglich in demselben Stadium des Verdauungs-Processes finden wie im vorigen Jahre.
Bald nach Tische beabsichtige ich, die Unterhaltung so zwanglos wie möglich wieder auf den Diamanten und auf die indische Verschwörung zu bringen. Wenn ich seinen Geist mit den durch diese Unterhaltung erweckten Vorstellungen erfüllt haben werde, so wird Alles geschehen sein, was bis zu der Stunde, wo ihm die zweite Dosis Verabreicht werden soll, zu thun in meiner Macht steht.
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8 1/2 Uhr. —— Ich habe erst eben Gelegenheit gefunden, der wichtigsten aller meiner Pflichten obzuliegen, nämlich der Pflicht, in der Familien-Medicinkiste nach dem Opium zu sehen, dessen sich Herr Candy im vorigen Jahre bediente.
Vor zehn Minuten faßte ich Betteredge in einem Augenblick, wo er unbeschäftigt war, ab, und sagte ihm was ich wolle. Ohne den geringsten Einwand, ja ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Taschenbuch hervorzuziehen, führte er mich, unter vielen Entschuldigungen vorangehend, nach dem Vorrathszimmer, wo die Medicinkiste aufbewahrt wurde.
Ich fand die Flasche, sorgfältig mit einem mit Leder überzogenen Glasstöpsel verwahrt. Das Opiumpräparat, welches sie enthielt, war, wie ich vorausgesehen hatte, die gewöhnliche Opiumtinctur. Da ich die Flasche noch gut gefüllt fand, so habe ich beschlossen, mich ihres Inhalts lieber als eines der beiden Präparate zu bedienen, mit welchen ich mich auf alle Fälle versehen habe.
Die Frage nach der Quantität, in welcher ich das Opium zu verabreichen habe, ist nicht ohne Schwierigkeiten. Ich habe mir die Sache überlegt und bin zu dem Entschluß gelangt, die Dosis zu vergrößern.
Meine Aufzeichnungen belehren mich, daß Herr Candy nur 25 Tropfen verabreicht hat. Das ist in Betracht der später eingetretenen Wirkungen, selbst bei einer so nervös-reizbaren Person wie Herr Blake, eine sehr kleine Dosis. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Herr Candy mehr gegeben hat, als er selbst glaubte, wenn ich bedenke, daß er immer äußerst empfänglich für die Freuden der Tafel war und daß er die Quantität Opium an dem Geburtstag nach Tische abgemessen hat. Auf jeden Fall will ich es riskiren, die Dosis auf 40 Tropfen zu vermehren. Herr Blake weiß dieses Mal im Voraus, daß er das Opium nehmen soll, was, physiologisch ausgedrückt, einer unbewußt in ihm schlummernden Widerstandskraft gegen die Wirkung des Opiums gleichkommt. Wenn diese meine Auffassung richtig ist, so ist dieses Mal eine größere Quantität unerläßlich, um dieselben Wirkungen hervorzurufen, welche die kleinere Quantität im vorigen Jahre bewirkt hat.
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10 Uhr Abends. —— Vor einer Stunde sind die Zeugen oder die Gesellschaft, —— wie soll ich sie nennen? —— eingetroffen.
Kurz vor 9 Uhr vermochte ich Herrn Blake, mit mir in sein Schlafzimmer zu gehen, unter dem Vorwande, daß ich wünsche, er möge zum letzten Mal einen Blick in dasselbe werfen, um sich zu vergewissern, daß bei der Wiederinstandsetzung des Zimmers nichts vergessen sei.
Ich hatte mit Betteredge verabredet, daß das anstoßende Zimmer zum Schlafzimmer für Herrn Bruff eingerichtet werde und daß ich durch Klopfen an der Thür von der Ankunft des Advokaten in Kenntniß gesetzt werden solle. Fünf Minuten nachdem die Uhr in der Halle neun geschlagen hatte, hörte ich das Klopfen, ging sofort hinaus und traf Herrn Bruff aus dem Corridor.
Meine persönliche Erscheinung brachte dieses Mal wie immer einen ungünstigen Eindruck hervor. Herr Bruff sah mich mißtrauisch an. Da ich an diese Art von Eindruck, den ich auf Fremde mache, gewöhnt bin, so konnte mich derselbe nicht einen Augenblick abhalten, das zu sagen, was ich sagen wollte, bevor der Advokat zu Herrn Blake hineinging.
»Sie sind in Begleitung von Fräulein Verinder und Mrs. Merridew hergereist, nicht wahr?« sagte ich.
»Ja,« antwortete Herr Bruff so trocken wie möglich.
»Fräulein Verinder hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, daß ihre und selbstverständlich auch Mrs. Merridews Anwesenheit im Hause für Herrn Blake ein Geheimniß bleibe, bis ich das Experiment an ihm angestellt haben werde.«
»Ich weiß, daß ich den Mund halten soll, mein Herr!« sagte Herr Bruff ungeduldig. »Da ich überhaupt gewohnt bin, über die menschliche Thorheit zu schweigen, so bin ich nur um so geneigter, mich bei dieser Gelegenheit ganz stumm zu verhalten. Genügt Ihnen das?«
Ich verneigte mich und überließ es Betteredge, ihn auf sein Zimmer zu führen. Betteredge warf mir beim Fortgehen einen Blick zu, der so deutlich wie möglich sagte: »Da sind Sie an den unrechten Mann gekommen, Herr Jennings und sein Name ist Bruff.«
Jetzt hatte ich noch die Begegnung mit den beiden Damen zu überstehen. Ich ging die Treppe zu Fräulein Verinder’s Wohnzimmer, offen gestanden, nicht ohne eine gewisse nervöse Aufregung, hinunter.
Auf dem Corridor des ersten Stocks begegnete mir die Frau des Gärtners, die es übernommen hatte, die Zimmer der Damen in Ordnung zu halten. Diese vortreffliche Frau behandelt mich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die offenbar der Ausfluß einer tödtlichen Angst vor mir ist. Sie starrt mich an, zittert und knixt, so oft ich mit ihr spreche. Auf meine Frage nach Fräulein Verinder starrte sie mich an, zitterte und —— würde ohne Zweifel im nächsten Augenblick geknixt haben, wenn nicht Fräulein Verinder selbst dieser Ceremonie dadurch zuvorgekommen wäre, daß sie plötzlich die Thür ihres Wohnzimmers öffnete.
»Ist das Herr Jennings?« fragte sie.
Noch ehe ich antworten konnte, kam sie hastig auf mich zu, um auf dem Corridor mit mir zu reden. Wir blieben bei dem Scheine eines Candelabers stehen. Bei meinem ersten Anblick wurde Fräulein Verinder ersichtlich befangen und stockte. Sie faßte sich aber auf der Stelle wieder, erröthete einen Augenblick und reichte mir dann mit anmuthiger Offenheit die Hand.
»Ich kann Sie nicht wie einen Fremden behandeln, Herr Jennings,« sagte sie. »O, wenn Sie wüßten, wie glücklich Sie mich durch Ihre Briefe gemacht haben!«
Sie blickte in mein häßliches runzliges Gesicht mit einem Ausdruck strahlender Dankbarkeit, der mir in meinem Verkehr mit meinen Nebenmenschen so neu war, daß ich wirklich nicht wußte, was ich antworten sollte. Ich war auf ihre Güte und Schönheit nicht vorbereitet gewesen. Das Elend vieler Jahre hat, Gott sei Dank, mein Herz nicht verhärtet. Ich fühlte mich ihr gegenüber so ungeschickt und so blöde, als wenn ich ein zehnjähriger Junge gewesen wäre.
«Wo ist er diesen Augenblick?« fragte sie in unverhohlener Kundgebung ihres einzigen sie ganz beherrschenden Interesses —— des Interesses an Herrn Blake. »Was thut er? Hat er von mir gesprochen? Ist er guter Laune? Wie erträgt er den Anblick des Hauses nach Dem, was im vorigen Jahre in demselben vorgefallen ist? Wann wollen Sie ihm das Opium geben? Darf ich zusehen, wenn Sie es eingießen? Es interessirt mich so sehr; ich bin so aufgeregt —— ich habe Ihnen zehntausend Sachen zu sagen und sie drängen sich alle so in mir, daß ich nicht weiß, was ich zuerst sagen soll. Können Sie sich über mein Interresse wundern?«
»Nein,« sagte ich. »ich glaube, ich darf sagen, daß ich dasselbe vollkommen begreife.«
Sie war erhaben darüber, sich mit jämmerlicher Affectation verwirrt zu stellen Sie antwortete mir wie sie einem Bruder oder einem Vater geantwortet haben würde:
»Sie haben mich aus unbeschreiblichem Elend errettet; Sie haben mir ein neues Leben geschenkt Wie könnte ich so undankbar sein, Ihnen irgend etwas verbergen zu wollen? Ich liebe ihn! Ich habe ihn vom ersten bis zum letzten Augenblick geliebt, selbst als ich ihm in meinen Gedanken Unrecht that; selbst als ich ihm die härtesten und grausamsten Dinge sagte. Liegt darin eine Entschuldigung für mich? Ich hoffe es —— und ich fürchte, es ist meine einzige Entschuldigung Und morgen, wenn er erfahren wird, daß ich im Hause bin, glauben Sie ——?«
Sie hielt wieder inne und sah mich sehr ernst an.
»Morgen,« sagte ich, »werden Sie ihm, glaube ich, nur zu sagen nöthig haben, was Sie eben mir gesagt haben.«
Ihr Gesicht leuchtete; sie trat mir einen Schritt näher. Ihre Finger spielten krampfhaft mit einer Blume, die ich im Garten gepflückt und die ich mir in’s Knopfloch gesteckt hatte.
»Sie haben ihn kürzlich viel gesehen,« sagte sie. »Haben Sie wirklich und wahrhaftig Grund zu Ihrer Zuversicht bei ihm gefunden?«
»Wirklich und wahrhaftig,« antwortete ich. »Ich bin des »morgen« ganz gewiß, ich wünschte nur, ich wäre der heutigen Nacht ganz eben so gewiß.«
In diesem Augenblick wurden wir durch Betteredge’s Erscheinen mit dem Thee unterbrochen. Er warf mir abermals einen bedeutungsvollen Blick im Vorübergehen auf dem Wege nach dem Wohnzimmer zu. Der Blick war so ausdrucksvoll, als hätte et gesagt: »Ho! ho! Schmieden Sie nur Ihr Eisen, so lange es heiß ist! Da aber ist einer, der Ihnen aufpaßt, Herr Jennings, —— da aber ist einer, der Ihnen aufpaßt!«
Wir folgten ihm in’s Wohnzimmer. Eine kleine, alte, sehr zierlich gekleidete Dame, die, in die Beschäftigung mit einer bunten Stickerei versenkt, in einer Ecke des Zimmers saß, ließ beim ersten Anblick meiner zigeunerhaften Hautfarbe und meines scheckigen Haars ihre Arbeit in den Schooß sinken und stieß einen schwachen Schrei aus.
»Mrs. Merridew,« sagte Fräulein Verinder, »das ist Herr Jennings.«
»Ich bitte Herrn Jennings um Verzeihung,« sagte die alte Dame, indem sie Fräulein Verinder ansah und mit mir sprach. »Das Fahren auf der Eisenbahn macht mich immer nervös. Ich versuche es, meine Nerven durch Vornahme meiner gewöhnlichen Beschäftigung wieder zu beruhigen. Ich weiß nicht, ob meine Stickerei bei dieser Gelegenheit hier nicht am Orte ist. Wenn sie zu den medicinischen Ansichten des Herrn Jennings nicht paßt, so werde ich sie natürlich mit Vergnügen bei Seite legen.«
Ich beeilte mich, mich mit der Gegenwart der Stickerei einverstanden zu erklären, grade wie ich mich mit der Abwesenheit des geplatzten Mäusefalken und des abgebrochenen Amorflügels einverstanden erklärt hatte. Mrs. Merridew machte im Gefühl der Dankbarkeit für diese Concession einen Versuch, mein Haar anzusehen. Aber nein! es war nicht möglich. Mrs. Merridew blickte wieder Fräulein Verinder an.
»Ich möchte Herrn Jennings,« fuhr die alte Dame fort, »um eine Gefälligkeit bitten. Herr Jennings ist im Begriff, heute Abend ein wissenschaftliches Experiment anzustellen. Als junges Mädchen in der Schule pflegte ich wissenschaftliche Experimente mit anzusehen, die immer mit einer Explosion endigten. Wenn Herr Jennings die große Güte haben wollte, so möchte ich ihn bitten, mir vorher zu sagen, ob eine solche Explosion stattfinden wird, damit ich mich wo möglich nicht eher zur Ruhe begebe, bis die Sache vorüber ist.«
Ich versuchte es Mrs. Merridew zu überzeugen, daß dieses Mal keine Explosion zum Programm gehöre.
»Nein,« sagte die alte Dame, »ich bin Herrn Jennings sehr verbunden, aber ich weiß daß er mich zu meinem eigenen Besten täuscht. Ich möchte lieber daß er offen gegen mich verführe. Ich bin ganz auf die Explosion gefaßt, aber ich möchte wo möglich gern, daß die Sache zu Ende wäre, bevor ich zu Bett gehe.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Mrs. Merridew stieß abermals einen kleinen Schrei aus. War es der Eintritt der Explosion? Nein, nur der Eintritt Betteredge’s.
»Ich bitte um Vergebung, Herr Jennings,« sagte Betteredge in dem studirtesten Ton geheimnißvoller Vertraulichkeit. »Herr Franklin wünscht zu wissen, wo Sie sind. Da ich von Ihnen die Ordre habe, ihn in Betreff der Anwesenheit meines gnädigen Fräuleins in dem Hause zu täuschen, so habe ich gesagt, ich wisse es nicht. Das war, wie Sie gefälligst bemerken wollen, eine Lüge. Da ich schon mit einem Fuß im Grabe stehe, Herr, so werde ich Ihnen im Hinblick auf die nahe Zeit, wo mein Stündlein schlagen und mein Gewissen mich mahnen wird, um so dankbarer sein, je weniger Sie mich zu lügen veranlassen.«
Hier war kein Augenblick mit der rein speculativen Frage über Betteredge’s Gewissen zu verlieren. Herr Blake konnte möglicherweise, wenn er mich suchte, hereinkommen, wenn ich nicht sofort zu ihm auf sein Zimmer ging. Fräulein Verinder folgte mir auf den Corridor.
»Es scheint ja hier eine förmliche Verschwörung gegen Sie im Gange zu sein,« sagte sie; »was bedeutet das?«
»Nichts, Fräulein Verinder, als in einem sehr kleinen Maßstabe den Protest der Welt gegen alles Neue«.
»Was sollen wir mit Mrs. Merridew anfangen?«
»Sagen Sie ihr, die Explosion werde morgen früh um 9 Uhr stattfinden.«
»Um sie so ins Bett zu bringen?«
»Jawohl.«
Fräulein Verinder ging in ihr Wohnzimmer zurück und ich ging zu Herrn Blake hinauf.
Zu meiner Ueberraschung fand ich ihn allein, unruhig in seinem Zimmer auf- und abgehend und etwas gereizt darüber, daß man ihn so allein gelassen habe.
»Wo ist Herr Bruff?« fragte ich.
Er deutete auf die verschlossene Thür, welche beide Zimmer verband. Herr Bruff hatte einen Augenblick bei ihm vorgesprochen; hatte es versucht, seinen Protest gegen unser Verfahren zu erneuern, und hatte abermals nicht den geringsten Eindruck auf Herrn Blake hervorgebracht. Darauf hatte der Advokat seine Zuflucht zu einem mit Arten bis oben angefüllten schwarzen Ledersack genommen. Die Wahrnehmung ernster Berufsarbeiten hatte er gesagt, sei, wie er zugeben müsse, leider bei einer Gelegenheit wie der vorliegenden, nicht am Platze; müsse aber nichtsdestoweniger ihren Fortgang nehmen. Vielleicht werde Herr Blake mit den altmodischen Gewohnheiten eines alten Mannes Nachsicht haben. Zeit sei Geld —— und, was Herrn Jennings anlange, so könne er sich darauf verlassen, daß Herr Bruff zur Hand sein werde, sobald man ihn rufe.
Mit dieser Entschuldigung war der Advokat wieder auf sein Zimmer gegangen und hatte sich eigensinnig in seinen schwarzen Ledersack versenkt.
Ich mußte an Mrs. Merridew mit ihrer Stickerei und an Betteredge mit seinem Gewissen denken. Die Unbeweglichkeit des englischen Charakters äußert sich mit derselben wunderbaren Uebereinstimmung die auch in der Unbeweglichkeit des englischen Gesichtsausdrucks herrscht.
»Wann bekomme ich das Opium?« fragte Herr Blake ungeduldig.
»Sie müssen noch ein wenig warten,« sagte ich, »ich will Ihnen aber so lange Gesellschaft leisten.«
Es war noch nicht zehn Uhr. Durch verschiedene zu wiederholten Malen an Betteredge und Herrn Blake gerichtete Fragen war ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß das Verabreichen des Opiums durch Herrn Candy nicht vor 11 Uhr Abends stattgefunden haben könne. Ich war demnach entschlossen, auch die zweite Dosis nicht früher zu geben.
Wir plauderten ein wenig; wir waren Beide durch den Gedanken an das bevorstehende Gottesgericht präoccupirt. Die Unterhaltung fing bald an zu stocken, bis sie endlich ganz aufhörte. Herr Blake blätterte mechanisch in den Büchern auf seinem Tische. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, einen Blick in dieselben zu werfen, als wir zum ersten Mal das Zimmer betraten. Lauter classische Zeitschriften und Romane aus dem vorigen Jahrhundert, die alle natürlich allem später Producirten unendlich überlegen waren, und das unter den obwaltenden Umstanden unschätzbare Verdienst hatten, Niemandes Interesse zu fesseln und Niemandes Phantasie aufzuregen.
Ich überließ Herrn Blake der beschwichtigenden Wirkung dieser klassischen Werke und beschäftigte mich selbst damit, das Vorstehende in mein Tagebuch zu tragen.
Meine Uhr sagt mir, daß es beinahe elf Uhr ist. Ich muß meine Aufzeichnungen abermals unterbrechen.
2 Uhr Morgens. —— Das Experiment ist vor sich gegangen. Mit welchem Erfolg, will ich hier beschreiben.
Um elf Uhr klingelte ich nach Betteredge und sagte Herrn Blake, daß er nun endlich werde zu Bett gehen können.
Ich sah zum Fenster hinaus. Das Wetter war milde und regnerisch, also ähnlich dem Wetter in der auf den Geburtstag, den 21. Juni, folgenden Nacht. Ohne an Vorzeichen zu glauben, machte ich doch gern die Beobachtung, daß die Atmosphäre keine direct auf die Nerven wirkenden Agentien, wie es Sturm und Electricität sind, enthalte. Betteredge trat zu mir ans Fenster und steckte mir geheimnißvoll einen kleinen Papierstreifen in die Hand. Derselbe enthielt die folgenden Zeilen:
»Mrs. Merridew ist auf die bestimmte Versicherung hin zu Bette gegangen, daß die Explosion morgen Vormittag um 9 Uhr stattfinden und daß ich mein Zimmer nicht wieder verlassen werde, bis sie selbst kommt und mir die Erlaubniß dazu giebt. Sie hat keine Idee davon, daß der Hauptschauplatz des Experiments mein Wohnzimmer ist, sonst würde sie die ganze Nacht nicht aus demselben gewichen sein! Ich bin allein und sehr unruhig. Bitte, lassen Sie mich dabei sein, wenn Sie das Opium eingießen; ich möchte so gern etwas damit zu thun haben, wäre es auch nur als müßiger Zuschauer. R. V.«
Ich ging mit Betteredge zum Zimmer hinaus und hieß ihn den Medicinkasten nach Fräulein Verinder’s Wohnzimmer bringen.
Diese Ordre schien ihn im höchsten Grade zu überraschen. Er sah aus, als ob er mich im Verdacht habe, irgend einen geheimen medicinischen Plan im Schilde zu führen. »Darf ich mir die Frage erlauben,« sagte er, »was mein junges Fräulein und der Medicinkasten mit einander zu thun haben?«
»Bleiben Sie nachher in Fräulein Verinder’s Wohnzimmer und Sie werden es sehen.«
Betteredge getraute sich offenbar nicht, mich allein bei einer Gelegenheit, wo ein Medicinkasten im Spiele war, hinreichend zu überwachen.
»Haben Sie etwas dagegen, Herr,« fragte er, »wenn auch Herr Bruff dabei ist?«
»Im Gegentheill Ich bin eben im Begriff, Herrn Bruff zu ersuchen, mich hinunter zu begleiten.«
Betteredge ging ohne weitere Bemerkung, den Medicinkasten zu holen. Ich ging wieder in Herrn Blake’s Zimmer und klopfte an die in Herrn Bruff’s Zimmer führende Verbindungsthür.
Herr Bruff öffnete dieselbe, eine Acte in der Hand, ganz in Jurisprudenz versenkt und unempfänglich für medicinische Interessen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte ich, »aber ich will eben jetzt das Opium für Herrn Blake bereiten und muß Sie bitten, dabei zugegen zu sein und zu sehen, was ich thue.«
»So?« sagte Herr Bruff, dessen Aufmerksamkeit noch zu neun Zehntel aus seine Acte concentrirt war, während er mir mit einem Zehntel derselben ein ungeneigtes Gehör schenkte, »und sonst noch Etwas?«
»Ich muß Sie dann weiter bitten, mich wieder hinauf zu begleiten und zugegen zu, sein, wenn ich die Dosis verabreiche.«
Und weiter?«
»Noch Eines. Ich muß Sie bitten, sich dann der Unbequemlichkeit zu unterziehen, in Herrn Blake’s Zimmer zu bleiben und abzuwarten, was sich dort ereignet.«
»O, sehr gern!« sagte Herr Bruff. »Mein Zimmer oder Herrn Blake’s Zimmer, das ist mir einerlei, ich kann meine Acten überall studiren, vorausgesetzt, daß Sie gegen eine solche Zufuhr von gesundem Menschenverstand Nichts einzuwenden haben, Herr Jennings.«
Noch ehe ich antworten konnte, redete Herr Blake den Advokaten von seinem Bett aus an.
»Interessiren Sie sich denn gar nicht für das, was wir hier vornehmen, Herr Bruff? Sie haben ja nicht mehr Phantasie als ein Heupferd!«
»Ein Heupferd ist ein sehr nützliches Thier, Herr Blake,« erwiderte der Advokat und ging dabei mit mir hinunter, seine Arten fortwährend in der Hand behaltend.
Wir fanden Fräulein Verinder blaß und aufgeregt, unruhig in ihrem Wohnzimmer auf und abgehend. Vor einem Tische in der Ecke stand Betteredge als Wache bei dem Medicinkasten. Herr Bruff setzte sich auf den ersten besten Stuhl und versenkte sich —— in rühmlicher Nacheiferung der Nützlichkeit der Heupferde —— wieder in seine Arten. Fräulein Verinder nahm mich bei Seite, um mit mir über den Gegenstand ihres ausschließlichen Interesses, über Herrn Blake zu sprechen.
»Wie geht es ihm jetzt?« fragte sie. »Ist er nervös? Ist er schlechter Laune? Glauben Sie, daß es gelingen wird? Sind Sie überzeugt, daß es ihm nicht schaden wird?«
»Vollkommen überzeugt. Geben Sie jetzt Acht, wie ich den Trank für ihn bereiten werde.«
»Einen Augenblick! Es ist jetzt 11 Uhr vorüber. Wie lange wird es dauern, bis irgend etwas erfolgen kann?«
»Das ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht eine Stunde.«
»Das Zimmer muß doch wohl dunkel sein, wie im vorigen Jahre, nicht wahr?«
»Gewiß«
»Ich werde in meinem Schlafzimmer warten, gerade wie damals. Ich werde die Thür ein klein wenig geöffnet halten, ebenso wie voriges Jahr. Ich werde die Thür, die vom Corridor in das Wohnzimmer führt, genau beobachten und im Moment, wo ich eine Bewegung an derselben bemerke, mein Licht auslöschen. Genau so war es in der Nacht nach meinem Geburtstag, und es muß Alles wieder ebenso sein, nicht wahr?«
»Sind Sie Ihrer selbst gewiß, Fräulein Verinder? Werden Sie sich beherrschen können?«
»Für ihn vermag ich Alles zu thun!« antwortete sie feurig.
Ein Blick in ihr Antlitz sagte mir, daß ich mich auf sie verlassen könne. Ich wandte mich nun wieder an Herrn Bruff.
»Ich muß Sie bitten, Ihre Acten einen Augenblick bei Seite zu legen,« sagte ich.
»O, mit Vergnügen!« Er sprang plötzlich mit einer Miene auf, als ob ich ihn bei einer besonders interessanten Stelle gestört habe und folgte mir an den Tisch, auf welchem der Medicinkasten stand. Hier, wo er das spannende Interesse an seiner Beschäftigung entbehren mußte, fing er mit einem Blick aus Betteredge herzhaft zu gähnen an.
Fräulein Verinder trat mit einer Wasserflasche, die sie von einem Seitentische genommen hatte, zu mir heran.
»Lassen Sie mich das Wasser eingießen,« flüsterte sie mir zu, »ich muß etwas dabei zu thun haben!«
Ich maß die vierzig Tropfen behutsam ab und goß dieselben in ein Medicinglas. »Füllen Sie es zu drei Viertel mit Wasser,« sagte ich, indem ich ihr das Glas überreichte. Ich hieß dann Betteredge den Medicinkasten wieder zuschließen und sagte ihm, daß ich ihn jetzt nicht mehr brauche. Ein Ausdruck von unaussprechlicher Herzens-Erleichterung überflog das Gesicht des alten Dieners. Er hatte mich offenbar in Verdacht gehabt, es mit dem Medicinkasten auf sein junges Fräulein abgesehen zu haben.
Nachdem sie das Wasser, wie ich ihr geheißen, eingegossen hatte, hielt Fräulein Verinder einen Augenblick inne und küßte verstohlen den Rand des Medicinglases während Betteredge den Medicinkasten zuschloß und Herr Bruff wieder an seine Acten ging. »Wenn Sie es ihm geben,« flüsterte das liebliche Mädchen, »lassen Sie es ihn von dieser Seite nehmen!«
Ich zog das Stück Krystall, welches den Diamanten vorstellen sollte, aus meiner Tasche und gab es ihr.
»Hiermit sollen Sie auch etwas zu thun haben,« sagte ich. »Sie müssen es an dieselbe Stelle legen, an die Sie voriges Jahr den Mondstein legten.«
Sie trat damit an das indische Schränkchen und legte den falschen Diamanten in die Schublade, in welcher sich der echte Diamant in der Geburtstagsnacht befunden hatte. Herr Bruff protestirte gegen dieses Verfahren, wie er gegen alles Uebrige protestirt hatte. Betteredge’s Selbstbeherrschung vermochte aber, wie ich zu meinem größten Ergötzen bemerkte, dem starken dramatischen Interesse, welches das Experiment jetzt gewann, nicht zu widerstehen. Seine Hand zitterte, während er das Licht hielt, und er flüsterte ängstlich: »Wissen Sie gewiß, gnädiges Fräulein, daß es die rechte Schublade ist?«
Ich verließ nun wieder das Zimmer, das Medicinglas mit Opium und Wasser in der Hand. An der Thür blieb ich stehen, um Fräulein Verinder ein letztes Wort zu sagen.
»Löschen Sie bald die Lichter aus!« sagte ich.
»Ich werde sie sogleich auslöschen,« antwortete sie, und werde dann in meinem Schlafzimmer mit nur einem brennenden Lichte warten.«
Mit diesen Worten schloß sie die Thür des Wohnzimmers hinter uns, während ich, in Begleitung von Herrn Bruff und Betteredge, wieder zu Herrn Blake hinaufging.
Wir fanden ihn, sich unruhig im Bette umherwälzend. Er rief uns gereizt die Frage entgegen, ob er das Opium noch in dieser Nacht bekommen werde oder nicht. In Gegenwart der beiden Zeugen gab ich ihm die Dosis, legte seine Kissen zurecht und hieß ihn, sich ruhig hinlegen und zu warten. Sein mit hellen Cattun-Vorhängen versehenes Bett stand mit dem Kopfende gegen die Wand, so daß sich zu beiden Seiten desselben ein hinlänglich großer freier Raum befand. An der einen Seite zog ich die Vorhänge vollständig zusammen und ließ Herrn Bruff und Betteredge in dem so seinen Blicken entzogenen Theile des Zimmers niedersitzen, um das Resultat abzuwarten. Am Fußende des Bettes zog ich die Vorhänge halb zusammen und rückte meinen eigenen Stuhl in einer kleinen Entfernung davor, so daß er mich, je nach den Umständen, würde sehen und sprechen können oder nicht. Da ich schon wußte, daß er immer bei Licht zu schlafen pflegte. so stellte ich eine der beiden angezündeten Kerzen auf einen kleinen am Kopfende des Bettes stehenden Tisch, wo ihn das Licht der Kerze nicht blenden konnte. Die andere Kerze gab ich Herrn Bruff und hier entzog der Vorhang den im Bette Liegenden den Anblick des Lichtes völlig. Die oberen Fenster waren behufs der Ventilation des Zimmers geöffnet.
Der Regen fiel in leisen Tropfen, das Haus war ruhig. Es war zwanzig Minuten nach elf nach meiner Uhr, als die Vorbereitungen fertig waren und ich mich auf meinen am Fußende des Bettes stehenden Stuhl niedersetzte.
Herr Bruff hatte wieder nach seinen Acten gegriffen und sich in dieselben, allem Anscheine nach mit dem gleichen Interesse wie vorher, vertieft. Als ich aber jetzt einen Blick nach ihm hinüberwarf nahm ich gewisse Anzeichen wahr, welche mich überzeugten daß die Jurisprudenz ihr fesselndes Interesse doch endlich für ihn zu verlieren anfange. Das Spannende der Situation, in der wir uns befanden, bemächtigte sich allmälig selbst seines phantasielosen Geistes. Für Betteredge aber waren Consequenz und Würde des Benehmens bereits ein leerer Schall geworden. Er vergaß, daß ich ein »Zauberkunststück mit Herrn Franklin Blake« aufführe; er vergaß, daß ich das Haus von oben bis unten auf den Kopf gestellt und daß ich Robinson Crusoe seit meinen Kinderjahren nicht wieder gelesen hatte. »Um Gottes willen, Herr,« flüsterte er mir zu, »sagen Sie uns, wenn es zu wirken anfangt.«
»Nicht vor Mitternacht« flüsterte ich ihm wieder zu. »Bleiben Sie ruhig sitzen und reden Sie nicht.«
Betteredge ließ sich zu der gemeinsten Vertraulichkeit mit mir herab, ohne daß es ihn auch nur einen Kampf gekostet hätte. Er antwortete mir mit einem Kopfnicken.
Als ich mich nun wieder nach Herrn Blake umsah, fand ich ihn sich so unruhig wie bisher in seinem Bett umherwälzen. Verdrießlich fragte er mich, warum das Opium noch nicht zu wirken anfange. Ihm bei seiner jetzigen Stimmung zu sagen, daß er durch seine nervöse Unruhe und sein ungeduldiges Grübeln das Resultat, auf das wir warteten, nur immer weiter hinausschiebe, würde ganz nutzlos gewesen sein. Es schien mir richtiger, seine Gedanken von dem Opium ab und unmerklich auf andere Dinge zu lenken.
In dieser Absicht forderte ich ihn auf, sich mit mir zu unterhalten, und bemühte mich meinerseits, die Unterhaltung wieder auf den Gegenstand hinzulenken, der uns bereits am Abend beschäftigt hatte —— auf den Diamanten. Ich brachte gerade die Parthieen der Geschichte des Mondsteins aufs Tapet, die sich auf den Transport desselben von London nach Yorkshire, auf die Gefahr, welche Herr Blake durch die Entfernung desselben aus der Bank in Frinzinghall gelaufen habe und auf die unerwartete Erscheinung der Indier in dem Hause am Abend des Geburtstages bezogen und stellte mich absichtlich bei der Erwähnung dieser Ereignisse, als habe ich Vieles von dem, was mir Herr Blake einige Stunden früher erzählt hatte, mißverstanden. Auf diese Weise brachte ich ihn dazu, über den Gegenstand zu reden, mit welchem seinen Geist zu beschäftigen jetzt von der höchsten Wichtigkeit war, ohne daß er doch meine Absicht, ihn zum Reden zu veranlassen, merkte. Nach und nach fesselte die Berichtigung meiner angeblichen Mißverständnisse sein Interesse so sehr, daß er seine nervöse Unruhe vergaß und in dem Augenblick, wo mich der Anblick seiner Augen belehrte, daß das Opium auf sein Gehirn zu wirken anfange, dachte er an nichts weniger als an das Opium.
Ich sah auf meine Uhr. Es war fünf Minuten vor zwölf Uhr, als die vorläufigen Symptome der Wirkung des Opiums sich mir zuerst bemerklich machten.
Ju diesem Augenblick würde noch kein ungeübtes Auge irgend eine Veränderung an ihm entdeckt haben. Aber in dem Maße, wie die Minuten des neuen Tages verrannen, wurde die leise fortschreitende Wirkung erkennbarer. Der vergeistigende Opiumrausch leuchtete aus seinen Augen hervor; die Tropfen eines langsamen Schweißes fingen an auf seinem Gesichte zu perlen. Fünf Minuten später begann er, während er sich noch mit mir unterhielt, unzusammenhängend zu reden. Er blieb beharrlich bei dem Gegenstand des Diamanten, aber er fing an, seine Sätze nicht mehr zu vollenden. Ein wenig später wurden die Sätze zu abgerissenen Worten. Dann trat eine Pause ein. Dann richtete er sich im Bett auf. Dann fing er, noch immer mit dem Gegenstand des Diamanten beschäftigt, wieder zu reden an, aber dieses Mal nicht mit mir, sondern mit sich selber. Diese Veränderung überzeugte mich, daß das erste Stadium des Experiments erreicht sei. Der stimulirende Einfluß des Opiums hatte sich seiner zu bemächtigen angefangen.
Die Uhr war jetzt drei und zwanzig Minuten nach zwölf. In längstens einer halben Stunde mußte es sich entscheiden, ob er aus seinem Bette aufstehen und das Zimmer verlassen werde.
In der athemlosen Spannung, in die mich seine Beobachtung versetzte, in dem unaussprechlichen Gefühl des Triumphs darüber, daß das erste Resultat des Experiments sich in der Weise und fast genau in dem Zeitpunkt, wie ich es vorausgesagt hatte, kundgab, hatte ich die beiden Genossen meiner Nachtwache total vergessen. Als ich jetzt wieder nach ihnen umschaute, sah ich die durch Herrn Bruff’s Acten repräsentirte Jurisprudenz unbeachtet auf dem Boden liegen. Herr Bruff selbst blickte eifrig durch eine Spalte des nicht völlig zusammengezogenen Bettvorhangs Und Betteredge guckte aller Achtung vor dem socialen Rangunterschied, der ihn von Herrn Bruff trennte, uneingedenk, über dessen Schulter hinweg.
Als sie bemerkten, daß ich sie sähe, schreckten beide zurück wie ein paar von ihrem Schullehrer auf einem Streich ertappte Jungen. Ich bedeutete ihnen durch ein Zeichen, ihre Stiefel leise auszuziehen. wie ich es auch that. Wenn uns Herr Blake Veranlassung geben sollte, ihm nachzugehen, so war es von der höchsten Wichtigkeit, daß dies geräuschlos geschähe.
Zehn Minuten vergingen, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Da warf er plötzlich die Decke von sich und stieg mit einem Fuß aus dem Bett. In dieser Stellung verharrte er und sagte zu sich selbst: »Ich wollte, ich hätte ihn nie aus der Bank genommen, in der Bank war er sicher.«
Mein Herz pochte heftig, die Pulse an meinen Schläfen klopften rasend. Also auch das war erreicht: Der Zweifel über die Sicherheit des Diamanten war wieder der ihn beherrschende Gedanke! Das war der Angelpunkt um den sich alle den Erfolg des Experiments verbürgende Vornahmen zu drehen hatten. Die Aussicht, die sich mir damit plötzlich eröffnete, war zu viel für meine erschütternden Nerven. Ich war genöthigt, meine Augen von ihm wegzuwenden, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, die Herrschaft über mich selbst zu verlieren.
Abermals entstand eine Pause.
Als ich wagen konnte, mich wieder nach ihm umzusehen, stand er aufrecht neben seinem Bett. Seine Pupillen waren jetzt zusammengezogen, seine Augen funkelten, während er den Kopf langsam hin und her bewegte. Er dachte nach, er schwankte, er fing wieder an zu reden.
»Wie kann ich wissen,« sagte er, »ob sich die Indier nicht im Hause versteckt haben?«
Dann hielt er inne und ging langsam an das andere Ende des Zimmers Er drehte sich um —— stand wieder still und —— ging wieder nach dem Bett.
»Er ist nicht einmal verschlossen,« fuhr er fort. »Er liegt in einer Schublade ihres Schränkchens und die Schubladen sind nicht verschließbar.«
Er setzte sich auf einen neben dem Bette stehenden Stuhl. »Jeder könnte ihn wegnehmen.«
Dann stand er wieder unruhig auf und wiederholte seine ersten Worte: »Wie kann ich wissen, ob sich die Indier nicht im Hause versteckt haben?«
Dann antwortete er wieder. Ich zog mich hinter den zusammengezogenen Bettvorhang zurück. Er ließ seine in’s Leere starrenden, unheimlich glänzenden Augen im Zimmer umherschweifen. Es war ein angstvoller Augenblick. Etwas stockte. War es die Wirkung des Opiums? oder war es die Thätigkeit des Gehirns? Wer konnte das bestimmen?! Alles kam jetzt darauf an, was er zunächst thun werde.
Er legte sich wieder aufs Bett.
Ein schrecklicher Zweifel überkam mich. War es möglich, daß die calmirende Wirkung des Opiums sich bereits fühlbar machte? Das würde meiner Erwartung nicht entsprochen haben. Aber wie wenig ausreichend ist alle Erfahrung den Wirkungen des Opiums gegenüber!
Es giebt vielleicht nicht zwei Menschen, auf welche das Opium in genau derselben Weise wirkt. War er so eigenthümlich organisirt, daß er den Einfluß dieses wunderbaren Mittels in einer neuen Weise empfand? Sollte unser Experiment an der Schwelle des Erfolges fehlschlagen?
Nein! Plötzlich erhob er sich rasch wieder.
»Zum Teufel, wie kann ich mit solchen Gedanken schlafen?« sagte er.
Er sah nach dem auf dem Tisch am Kopfende seines Bettes stehenden Licht. Einen Augenblick später ergriff er das Licht.
Ich löschte das zweite, hinter den Vorhängen brennende Licht aus und zog mich mit Herrn Bruff und Betteredge in die entfernteste Ecke neben dem Bett zurück. Ich gab ihnen ein Zeichen zu schweigen mit einer so drohenden Bewegung, als ob ihr Leben davon abgehangen hätte.
Wir warteten hinter dem geschlossenen Vorhang verborgen, und sahen und hörten nichts.
Plötzlich aber bewegte sich das Licht in seiner Hand. Im nächsten Augenblick ging er rasch und geräuschlos an uns vorüber auf die Thür zu, öffnete dieselbe und ging hinaus.
Wir folgten ihm längs des Corridors die Treppe hinunter und längs des zweiten Corridors; er hielt nicht an und sah sich nicht um.
Er öffnete die Thür des Wohnzimmers, trat ein und ließ die Thür hinter sich offen.
Die Thür hing, wie alle übrigen Thüren im Hause, in großen altmodischen Angeln. Wenn sie offen war, entstand zwischen Thür und Thürpfosten eine Spalte. Ich bedeutete meine beiden Begleiter, durch diese Spalte hindurchzusehen, so daß man sie nicht sehen konnte. Ich selbst stellte mich an die andere Seite vor die Thür, wo sich zu meiner Linken eine Wandnische befand, in der ich mich auf der Stelle würde verbergen können, wenn er sich anschicken sollte, in den Corridor zurückzukehren.
Er ging, das Licht noch immer in der Hand haltend, bis in die Mitte des Zimmers und sah umher, aber nicht rückwärts.
Ich sah, daß die Thür zu Fräulein Verinder’s Schlafzimmer halb geöffnet war. Sie hatte ihr Licht ausgelöscht. Sie nahm sich wunderbar zusammen. Der blaßweiße Umriß ihres Sommerkleides war Alles, was ich sehen konnte. Niemand, der es nicht gewußt hätte, würde geahnt haben, daß ein lebendes Wesen im Zimmer sei. Sie hielt sich still im Dunkeln: kein Wort, keine Bewegung entfuhr ihr.
Es war jetzt 10 Minuten nach 1 Uhr. Ich vernahm in der tiefen Stille der Nacht das sanfte Tröpfeln des Regens und das Rauschen des Nachtwindes durch die Blätter.
Nachdem er eine Minute oder länger unentschlossen in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war, ging er in die Ecke neben dem Fenster, wo das indische Schränkchen stand.
Er setzte sein Licht auf das Schränkchen und öffnete und schloß dann eine Schublade nach der andern, bis er an die kam, in welcher der falsche Diamant lag. Er blickte einen Augenblick in die Schublade hinein, nahm dann den Diamanten mit der rechten Hand heraus, während er mit der andern Hand das auf dem Schränkchen stehende Licht ergriff; that darauf einige Schritte vorwärts nach der Mitte des Zimmers zu und stand wieder still.
Bisher hatte er Alles genau so wiederholt, wie er es in der Geburtstagsnacht gethan hatte. Jetzt fragte es sich, ob das Nächste, was er thun würde, wieder dem im vorigen Jahre Gethanen gleichen, ob er das Zimmer verlassen und wieder, wie er es nach meiner Annahme damals gethan hatte, auf sein Zimmer gehen und uns zeigen würde, was er, auf sein Zimmer zurückgekehrt, mit dem Diamanten vorgenommen hatte.
Der erste Schritt, den er jetzt wieder that, war ersichtlich ein anderer als der welchen er in dem entsprechenden Moment im vorigen Jahre gethan hatte. Er stellte das Licht auf den Tisch und that einige Schritte vorwärts. Da stand ein Sopha. Er lehnte sich mit der linken Hand schwer auf die Rücklehne, ermannte sich dann wieder und kehrte nach der Mitte des Zimmers zurück. Ich konnte jetzt seine Augen sehen. Ihr Ausdruck wurde stumpf und matt, ihr Glanz war im Verlöschen.
Die peinliche Ungewißheit dieses Augenblicks stellte Fräulein Verinder’s Selbstbeherrschung auf eine zu schwere Probe.
Sie trat einige Schritte vor und stand dann wieder still. Herr Bruff und Betteredge sahen durch die offene Thürspalte zum ersten Male nach mir. Die Voraussicht einer nahen Enttäuschung bedrängte sie wie mich.
So lange er an der Stelle, wo er jetzt stand, verharrte, war noch Hoffnung vorhanden. Wir erwarteten in athemloser Spannung, was nun geschehen werde. Und dieses Nächste war entscheidend: Er ließ den falschen Diamanten aus seiner Hand gleiten.
Dieser fiel auf den Fußboden vor die Thür, deutlich´sichtbar für ihn wie für uns Uebrigen. Er machte keine Anstrengung, ihn wieder aufzuheben; er sah mit starrem Blick auf den Stein herab und ließ den Kopf auf die Brust sinken.
Er schwankte —— ermannte sich wieder einen Augenblick —— ging unsicheren Schritts nach dem Sopha zurück —— und setzte sich auf dasselbe nieder. Er machte eine letzte Anstrengung und versuchte aufzustehen, sank aber wieder zurück. Sein Kopf fiel auf die Sophakissen. Die Uhr war 25 Minuten nach eins. Noch ehe ich meine Uhr wieder in die Tasche gesteckt hatte, war er eingeschlafen.
Jetzt war Alles vorbei. Die beruhigende Wirkung des Opiums hatte sich seiner bemächtigt; das Experiment war zu Ende.
Ich trat ins Zimmer und hieß Herrn Bruff und Betteredge mir folgen. Wir brauchten nicht zu fürchten, ihn zu stören. Wir konnten uns bewegen und sprechen.
»Die erst; Frage,« sagte ich, »ist jetzt, was wir mit ihm thun sollen. Er wird wahrscheinlich mindestens sechs bis sieben Stunden fort schlafen. Bis zu seinem Zimmer ist es eine ziemliche Strecke. In meinen jüngeren Jahren hätte ich ihn wohl allein dahin getragen, aber meine Gesundheit und meine Kraft haben abgenommen, ich fürchte, ich muß Sie bitten, mir zu helfen.«
Noch ehe sie mir antworten konnten, rief mich Fräulein Verinder in sanftem Ton. An der Schwelle ihrer Thür kam sie mir mit, einem leichten Shawl und ihrer Bettdecke entgegen.
»Werden Sie bei ihm wachen, so lange er schläft?« fragte sie.
»Ja, ich bin der Wirkung des Opiums auf ihn nicht gewiß genug, um ihn allein zu lassen.«
Sie gab mir den Shawl und die Decke.
»Warum wollen Sie ihn stören? « flüsterte sie.
»Machen Sie ihm ein Bett auf dem Sopha. Ich kann meine Thür verschließen und in meinem Zimmer bleiben.«
Unzweifelhaft war er auf diese einfache Weise am besten für den Rest der Nacht aufgehoben. Ich theilte Herrn Bruff und Betteredge den Vorschlag mit, und beide riethen mir ihn anzunehmen. In fünf Minuten hatte ich ihn bequem auf dem Sopha gebettet und ihn mit der Decke und dem Shawl leicht zugedeckt. Fräulein Verinder wünschte uns gute Nacht und schloß die Thür. Auf meine Bitte setzten wir drei uns an den Tisch in der Mitte des Zimmers, auf welchem das Licht noch brannte und auf welchem Schreibmaterialien lagen.
»Bevor wir uns trennen,« hub ich an, »habe ich noch ein Wort über das angestellte Experiment zu sagen. Zwei gesonderte Zwecke sollten durch dasselbe erreicht werden. Der erste bestand darin, zu beweisen, daß Herr Blake im vorigen Jahr in einem bewußtlosen und unzurechnungsfähigen Zustande, unter dem Einfluß des Opiums, dieses Zimmer betreten und den Diamanten fortgenommen habe. Ich frage Sie nun beide, ob Sie in dieser Beziehung durch das, was Sie gesehen haben, überzeugt worden sind?«
Beide bejahten anstandslos meine Frage.
»Der zweite Zweck« fuhr ich fort, »war, zu erfahren, was er mit dem Diamanten gethan habe, nachdem Fräulein Verinder in der Geburtstagsnacht gesehen hatte, daß er ihr Zimmer mit dem Diamanten in der Hand verließ. Die Erreichung dieses Zweckes hing natürlich davon ab, daß er auch nach dem Verlassen des Zimmers wieder genau thue, was er im vorigen Jahr gethan hatte. Das hat er nun aber nicht gethan und dieser Zweck des Experiments ist folgeweise verfehlt. Ich kann nicht sagen, daß ich dieses Resultat nicht beklage, aber ich kann in Wahrheit sagen, daß es mich nicht überrascht. Ich habe Herrn Blake von Anfang an gesagt, daß wir auf einen vollständigen Erfolg in dieser Angelegenheit nur rechnen dürften, wenn es uns gelänge, die physischen und moralischen Bedingungen, unter welchen er im vorigen Jahre handelte, vollständig wieder bei ihm herzustellen —— und ich habe ihn im Voraus darauf aufmerksam gemacht, daß die Erfüllung dieser Vorbedingung nahezu unmöglich sein werde. Wir haben jene Bedingungen nur theilweise wieder herstellen können und das Experiment ist in Folge dessen auch nur theilweise gelungen. Es ist auch möglich, daß ich ihm eine zu große Dosis verabreicht habe. Aber ich selbst betrachte die ersterwähnte Ursache als den wahren Grund, aus welchem wir sowohl ein Mißlingen zu beklagen, als uns über ein Gelingen zu freuen haben.«
Nachdem ich das gesagt hatte, legte ich die Schreibmaterialien vor Herrn Bruff hin und fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, bevor wir jetzt auseinander gingen, einen klaren Bericht über das, was er gesehen habe, niederzuschreiben und zu unterzeichnen. Er ergriff sofort die Feder und schrieb den Bericht mit der fließenden Leichtigkeit eines gewandten Geschäftsmannes nieder.
»Ich bin Ihnen das schuldig,« « sagte er, indem er den Bericht unterzeichnete, »und hoffe damit einigermaßen wieder gut zu machen, was im Lauf des gestrigen Abends zwischen uns vorgefallen ist. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Jennings, daß ich an Ihnen gezweifelt habe. Sie haben Franklin Blake einen unschätzbaren Dienst geleistet; juristisch ausgedrückt: Sie haben Ihren Beweis erbracht.«
Betteredge’s Entschuldigung war charakteristisch für ihn.
»Herr Jennings,« sagte er, »wenn Sie Robinson Crusoe wieder lesen, was ich Ihnen zu thun dringend empfehle, so werden Sie finden, daß er niemals Anstand nimmt, sein Unrecht zu bekennen. Bitte, nehmen Sie an, daß ich bei dieser Gelegenheit thue, was Robinson Crusoe zu thun pflegte.«
Mit diesen Worten unterzeichnete auch er das Document.
Als wir aufstanden nahm Herr Bruff mich bei Seite.
»Ein Wort in Betreff des Diamanten,« sagte er. »Sie nehmen an, daß Franklin Blake den Mondstein in seinem Zimmer versteckt hat; ich nehme an, daß der Mondstein sich im Besitz der Banquiers des Herrn Luker in London befindet. Wir wollen nicht darüber streiten, wer von uns beiden Recht hat. Wir wollen uns vielmehr nur fragen, wer von uns beiden in der Lage ist, zuerst die Probe von der Richtigkeit seiner Annahme zu machen.«
»Meine Probe,« antwortete ich, »ist heute Abend versucht worden und ist fehlgeschlagen«
»Meine Probe,« erwiderte Herr Bruff, »soll noch erst gemacht werden. Seit zwei Tagen habe ich eine Wache vor der Bank ausgestellt und werde diese Wache bis zum letzten Tage dieses Monats beibehalten. Ich weiß, daß Herr Luker den Diamanten in eigener Person aus den Händen seiner Banquiers entgegen nehmen muß und mein Verfahren gründet sich auf die Hoffnung, daß die Person, welche den Diamanten verpfändet hat, Herrn Luker durch Auslösung des Pfandes zu jener Entgegennahme nöthigen werde. Geschieht das, so kann ich vielleicht der Person des Verpfänders habhaft werden. Und so haben wir die Hoffnung, das Geheimniß gerade in dem Punkt aufzuklären, der uns jetzt noch räthselhaft ist! Geben Sie das zu?«
Ich that das bereitwillig.
»Ich werde mit dem 10 Uhr Zug diesen Morgen nach London zurückkehren,« fuhr der Advokat fort. »Vielleicht höre ich bei meiner Rückkehr, daß die Entdeckung gelungen ist und es könnte für mich von der größten Wichtigkeit sein, Franklin Blake bei der Hand zu haben, um mich nöthigenfalls auf ihn zu berufen. Ich beabsichtige ihm, sobald er aufwacht, zu sagen, daß er mit mir nach London zurück muß. Darf ich nach allem Vorgefallenen dabei auf Ihren Beistand rechnen?«
»Gewiß!« sagte ich.
Herr Bruff gab mir die Hand und verließ das Zimmer. Betteredge folgte ihm.
Ich ging nach dem Sopha, um nach Herrn Blake zu sehen. Seit ich sein Bett gemacht und ihn hingelegt hatte, hatte er sich nicht gerührt —— er lag in tiefem, ruhigen Schlaf.
Während ich ihn noch betrachtete, hörte ich die Schlafzimmerthür sich leise öffnen. Da stand Fräulein Verinder wieder an der Schwelle in ihrem leichten Kleide.
»Thun Sie mir einen letzten Gefallen« flüsterte sie, »lassen Sie mich mit Ihnen bei ihm wachen.«
Ich zauderte —— nicht ans Gründen der Schicklichkeit, sondern aus Besorgniß für ihre Nachtruhe Sie trat dicht an mich heran und ergriff meine Hand.
»Ich kann nicht schlafen; ich kann nicht einmal in meinem Zimmer ruhig sitzen,« sagte sie. »O! Herr Jennings, denken Sie doch, wie sehr Sie, wenn Sie an meiner Stelle wären, verlangen würden, bei ihm zu sitzen und ihn anzusehen. Sagen Sie ja! Bitte! Thun Sie es!«
Brauche ich zu sagen, daß ich nachgab? Gewiß nicht!
Sie rückte einen Stuhl an den Fuß des Sophas.
Sie betrachtete ihn mit dem Ausdruck stiller Glückseligkeit, bis Thränen ihre Augen füllten. Sie trocknete sie und sagte, sie wolle ihre Arbeit holen. Sie holte sie, that aber keinen Stich daran. Sie ließ sie auf ihrem Schoß liegen, sie konnte sich nicht entschließen, ihre Augen auch nur so lange von ihm abzuwenden, als nöthig war, um ihre Nadel einzufädeln. Ich dachte an meine eigene Jugend, ich dachte an die sanften Augen, die auch mich einst liebend angeblickt hatten. Als mir das Herz dabei allzu schwer wurde, suchte ich Trost bei meinem Tagebuch und schrieb das Vorstehende nieder.
So wachten wir schweigend mit einander, der Eine versenkt in seine Auszeichnungen —— die Andere versenkt in ihre Liebe.
Eine Stunde nach der andern verbrachte er in tiefem, festen Schlaf. Das Licht des neuen Tages drang heller und heller in das Zimmer, aber er rührte sich nicht.
Gegen sechs Uhr Morgens fühlte ich das Herannahen eines neuen Anfalles meiner Schmerzen. Ich war genöthigt, Fräulein Verinder kurze Zeit mit ihm allein zu lassen. Ich sagte, ich wolle hinaufgehen und ein anderes Kissen aus seinem Zimmer für ihn herunterholen. Der Anfall dauerte diesmal nicht lange. Nach kurzer Zeit konnte ich mich zurück wagen und mich wieder zu ihr setzen.
Als ich eintrat, stand sie am Kopfende des Sophas; sie drückte eben einen Kuß auf seine Stirn. Ich schüttelte so discret wie möglich mit dem Kopf und deutete auf ihren Stuhl hin. Sie sah mich mit einem strahlenden Lächeln und einem reizenden Erröthen ihres Antlitzes wieder an. »In meiner Stelle,« flüsterte sie, »hätten Sie das auch gethan.«
Es ist gerade 8 Uhr. Er fängt eben an, sich zu rühren.
Fräulein Verinder kniet an der Seite des Sopha’s so, daß seine Augen, wenn er sie öffnet, zuerst auf ihr Gesicht fallen müssen.
Soll ich sie allein lassen?
Ja!
11 Uhr Vormittags. —— Sie haben es mit einander abgemacht; um 10 Uhr sind alle nach London zurückgekehrt. Mein kurzer Glückstraum ist ausgeträumt. Ich bin wieder zu der kalten Wirklichkeit meines freudlosen und einsamen Lebens erwacht.
Ich kann mich nicht entschließen, die freundlichen Worte niederzuschreiben die mir, besonders von Fräulein Verinder und Herrn Blake, gesagt worden sind. Ueberdies wäre es unnütz. Diese Worte werden sich mir in meinen einsamen Stunden wiederholen und werden mir über das Stück Leben, das mir noch beschieden ist, hinweghelfen. Herr Blake wird mir schreiben, was in London geschieht. Fräulein Verinder wird ohne Zweifel im Herbst nach Yorkshire zurückkehren, um ihre Hochzeit zu feiern, und ich soll mir dann einen freien Tag machen und Gast im Hause sein. Was empfand ich, als mir das dankbare Glück aus ihren Augen entgegenblickte und ihr warmer Händedruck mir sagte: »Das ist Ihr Werk!«
Meine armen Patienten warten auf mich. Also wieder in das alte Geleise zurück! und heute Nacht wieder in die schreckliche Alternative zwischen Opium und Schmerzen!
Gott sei gelobt für seine Gnade! Ich habe mich eines kurzen Sonnenscheins erfreut —— ich habe eine glückliche Zeit gehabt.
Fünfte Erzählung.
Wiederaufnahme der Geschichte durch Franklin Blake.
Erstes Capitel.
Es wird nur weniger Worte von mir bedürfen, um die vorstehende Erzählung aus Ezra Jennings Tagebuch zu ergänzen.
Von mir selbst habe ich nur zu melden, daß ich am Morgen des 26sten ohne eine Ahnung von dem erwachte, was ich unter dem Einfluß des Opiums von dem Augenblick an, wo der Trank zuerst zu wirken begann, bis zu dem Augenblick, wo ich auf dem Sopha in Rachel’s Wohnzimmer die Augen öffnete, gesagt und gethan hatte.
Ueber das, was nach meinem Erwachen geschah, fühle ich mich nicht berufen, einen ausführlichen Bericht zu erstatten. Ich will mich vielmehr lediglich auf die Mittheilung von Resultaten beschränken und berichten, daß Rachel und ich uns vollkommen verstanden, ohne daß Einer von uns Beiden ein Wort der Erklärung zu sagen nöthig gehabt hätte. Ich sowohl wie Rachel versuchen es nicht, uns die außerordentliche Raschheit unserer Aussöhnung zu erklären. Lieber Leser und liebe Leserin, erinnert Euch der Zeit, wo Ihr Euch leidenschaftlich liebtet, und Ihr werdet gerade so gut wie ich wissen, was geschah, nachdem Ezra Jennings die Thür des Wohnzimmers hinter sich geschlossen hatte. Ich sehe indessen nicht ein, warum ich nicht hinzufügen soll, daß wir ohne Rachel’s Geistesgegenwart unzweifelhaft von Mrs. Merridew entdeckt worden wären. Sie vernahm das Rauschen des Kleides der alten Dame auf dem Corridor und eilte sofort zu ihr hinaus. Ich hörte Mrs. Merridew sagen: »Nun, was giebt’s?« und Rachel antworten: »Die Explosion!« Mrs. Merridew ließ es sieh auf der Stelle gefallen, daß Rachel ihr den Arm gab und sie aus dem Bereich der bevorstehenden Erschütterung in den Garten führte.
Bei ihrer Rückkehr in’s Haus begegnete mir die alte Dame in der Halle und sprach ihr Erstaunen über die außerordentlichen Fortschritte aus, welche die Wissenschaft seit den Zeiten ihrer Jugend gemacht habe. »Die Explosionen, Herr Blake, sind jetzt unendlich viel gelinder als damals. Ich versichere Sie, ich habe Herrn Jennings Explosionen im Garten kaum gehört. Und gar kein Geruch im Hause, so viel ich merken kann! Ich muß mich wirklich bei Ihrem medicinischen Freund entschuldigen. Man muß billiger Weiser anerkennen, daß er seine Sachen gut gemacht hat«
So hatte Ezra Jennings nach der Reihe Herrn Bruff, Betteredge und selbst Mrs. Merridew für sich gewonnen. Im Grunde fehlt es doch den meisten Menschen keineswegs an einer wenn auch unentwickelten Empfänglichkeit für eine ekle Gerechtigkeit!
Beim Frühstück theilte mir Herr Bruff die Gründe, aus welchen er wünsche, daß ich ihn nach London begleiten möge, unumwunden mit. Die vor, der Bank aufgestellte Wache und die Entdeckungen, zu denen diese Aufstellung vielleicht führen würde, übten einen so unwiderstehlichen Reiz auf Rachel’s Neugierde, daß sie sich sofort entschloß, uns, falls Mrs. Merridew nichts dagegen einzuwenden habe, nach London zu begleiten, um dort den Fortgang unseres Verfahrens aus nächster Nähe beobachten zu können.
Mrs. Merridew war ganz Nachgiebigkeit und Gefälligkeit, seit die Explosion sich so äußerst rücksichtsvoll benommen hatte, und Betteredge wurde nun benachrichtigt, daß wir alle Vier mit dem Morgenzug abreisen würden. Ich war ganz darauf gefaßt, daß er um die Erlaubniß bitten würde, uns begleiten zu dürfen. Aber Rachel hatte vorsorglich für eine Beschäftigung ihres alten Dieners gesorgt, die sein Interesse ganz in Anspruch nahm. Sie hatte ihn beauftragt, die Wiederinstandsetzung des Hauses zu vervollständigen und die mit der Ausführung dieses Auftrages verbundene Verantwortlichkeit erfüllte ihn zu sehr, als daß das Entdeckungsfieber die Wirkung auf ihn hätte üben können, die es unter andern Umständen wahrscheinlich geübt haben würde. Das Einzige, was wir bei unserer Abreise nach London bedauerten, war, daß uns dieselbe nöthigte, uns früher von Ezra Jennings zu trennen als wir es gewünscht hätten. Er war nicht zu überreden, uns zu begleiten. Ich konnte nichts thun als ihm versprechen zu schreiben, und Rachel nahm ihm das Versprechen ab sie zu besuchen, sobald sie nach Yorkshire zurückgekehrt sein würde. Es war alle Aussicht dazu vorhanden, daß wir uns in wenigen Monaten wiedersehen würden, und doch hatte es etwas sehr Trauriges, unsern besten und theuersten Freund allein auf dem Perron zurückbleiben zu sehen, als sich der Zug in Bewegung setzte.
Bei unserer Ankunft in London wurde Herr Bruff auf dem Bahnhof von einem kleinen Jungen angesprochen, der Jacke und Hofe von fadenscheinigem schwarzen Tuch trug und durch seine merkwürdig hervorstechenden Augen auffallen mußte. Sie traten dermaßen heraus und bewegten sich so unabhängig, daß man sich eines unbehaglichen Erstaunens darüber nicht erwehren konnte, daß sie nicht aus den Augenhöhlen herausfielen. Nachdem er den Jungen angehört hatte, bat Herr Bruff die Damen, ihn und mich entschuldigen zu wollen, wenn wir sie nicht nach Portland Place begleiteten. Ich hatte kaum Zeit, Rachel zu versprechen, bald wieder zu ihr zu kommen und ihr Alles zu erzählen, denn schon ergriff mich Herr Bruff am Arm und drängte mich in eine Droschke. Der Junge mit den losen Augen setzte sich neben den Kutscher auf den Bock und der Kutscher wurde beordert, nach Lombard Street zu fahren.
»Neuigkeiten von der Bank?« fragte ich, als wir abfuhren.
»Neuigkeiten von Herrn Luker,« sagte Herr Bruff »Vor einer Stunde haben meine Leute gesehen, wie Herr Luker sein Haus in Lambeth in Begleitung von zwei Männern, die sie als Polizei-Offizianten in Civil erkannten, verlassen hat. Wenn Herrn Luker’s Furcht vor den Indiern hinter dieser Maßregel steckt, so ist der Schluß daraus leicht genug gezogen: er ist im Begriff, den Diamanten aus der Bank zu holen.«
»Und wir wollen nach der Bank fahren, um zu sehen, was weiter geschieht?«
»Ja, oder zu hören, was geschehen ist, wenn schon Alles vorüber sein sollte. Haben Sie meinen Jungen da oben angesehen?«
»Mir sind seine Augen aufgefallen.«
Herr Bruff lachte. Auf meinem Bureau nennen sie den armen kleinen Bengel Stachelbeere. Ich gebrauche ihn zu Botengängen, und ich wünschte nur, daß meine Schreiber, die ihm den Spitznamen gegeben haben, so unbedingt zuverlässig wären, wie er. Stachelbeere ist einer der gescheitesten Jungen in London, trotz seiner Augen.
Die Uhr war zwanzig Minuten vor fünf, als wir vor der Bank in Lombardstreet hielten. Stachelbeere blickte sehnsüchtig zu seinem Herrn auf, als er die Droschkenthür öffnete.
»Möchtest Du mit hineingehen? fragte Herr Bruff freundlich. »So komme mit und halte Dich bis auf Weiteres dicht bei mir. »Der Junge begreift so rasch wie der Blitz,« flüsterte mir Herr Bruff zu. »Bei Stachelbeere richtet man mit zwei Worten so viel aus, wie bei andern Jungen mit zwanzig.«
Wir gingen in die Bank. Das äußere Comtoir mit dem langen Zahltisch, hinter welchem die Kassirer saßen, war mit Menschen dicht angefüllt, die alle noch vor dem um fünf Uhr erfolgenden Schluß der Bank Zahlungen empfangen oder leisten wollten. Kaum war Herr Bruff eingetreten, als zwei Männer aus der Menge sich ihm näherten.
»Nun,« fragte der Advokat,« haben Sie ihn gesehen?«
»Vor einer halben Stunde, Herr, ist er hier an uns vorüber in das innere Bureau gegangen.«
»Ist er noch nicht wieder herausgekommen?«
»Nein, Herr!«
Herr Bruff wandte sich gegen mich und sagte: »Lassen Sie uns warten.«
Ich sah mich in der Menge nach den drei Indiern um, aber nirgends war eine Spur von ihnen zu erblicken. Die einzige anwesende Person von auffallend dunkler Hautfarbe war ein langer Mann, der, mit einem Seemannsrock und rundem Hut bekleidet, wie ein Matrose aussah. Sollte sich Einer von ihnen unter dieser Verkleidung verbergen? Unmöglich! Der Mann war von höherem Wuchs als einer der Indier und sein Gesicht war an den Stellen, wo es nicht durch einen buschigen, schwarzen Bart verdeckt war, mindestens zwei Mal so breit, wie eines ihrer Gesichter.
»Einen Spion werden sie jedenfalls hier haben,« sagte Herr Bruff, als er jetzt auch des schwarzen Matrosen ansichtig wurde, »und vielleicht ist es der Mann da.«
Ehe er noch ein Wort weiter sagen konnte, zupfte ihn sein dienstbarer Kobold mit den Stachelheer-Augen respectvoll am Rockschoß. Herr Bruff sah nach der Stelle, auf welche der Junge seinen Blick richtete. »St!« sagte er, »da ist Herr Luker!«
Der Geldverleiher trat in Begleitung der beiden Polizei-Beamten in Civil aus den innern Räumen der Bank.
»Beobachten Sie ihn scharf!« flüsterte Herr Bruff, »wenn er irgend Jemandem den Diamanten übergiebt, so wird er es hier thun.«
Ohne uns zu bemerken, bahnte sich Herr Luker langsam durch die Menge seinen Weg nach der Thür. Ich sah genau, wie seine Hand sich bewegte, als er an einem kleinen, dicken, vollständig in Grau gekleideten Manne vorüberging. Der Mann stutzte ein wenig und sah ihm nach. Herr Luker ging seines Weges weiter durch die dichtgedrängte Menge. An der Thür stellten sich seine Wächter an seine beiden Seiten. Allen Dreien folgte einer von Herrn Bruff’s Leuten und ich sah Nichts mehr von ihnen.
Ich sah Herrn Bruff an und warf dann einen bedeutungsvollen Blick nach dem in Grau gekleideten Mann hinüber.
»Ja!« flüsterte mir Herr Bruff zu, »ich habe es auch gesehen!« Dann drehte er sich um, nach dem zweiten seiner Leute zu sehen, aber dieser war nirgends zu finden. Jetzt suchte er mit den Augen seinen dienstbaren Kobold. Aber auch »Stachelbeete« war verschwunden.
»Was zum Teufel soll das heißen!« sagte Herr Bruff ärgerlich. »Die Beiden haben uns gerade in dem Augen blicke verlassen, wo wir ihrer am meisten bedürfen.«
Jetzt kam die Reihe an den grau gekleideten Mann, sein Geschäft am Zahltisch abzumachen. Er leistete eine Zahlung in einer Anweisung, erhielt einen Empfangschein dafür und schickte sich an, fortzugehen.
»Was ist nun zu thun?« fragte Herr Bruff »Wir können ihm doch nicht nachgehen.«
»Ich kann es!"« sagte ich. »Nicht für 10,000 Pfund möchte ich den Mann aus den Augen lassen.«
»Dann,« erwiderte Herr Bruff, »möchte ich Sie nicht für 20,000 Pfund aus den Augen lassen! Eine passende Beschäftigung für einen Mann in meiner Stellung,« murmelte er vor sich hin, als wir dem Fremden auf seinem Wege aus der Bank folgten. »Um? Himmelswillen, erzählen Sie es nicht! Ich wäre ein ruinirter Mann, wenn es bekannt würde.«
Der Mann im grauen Anzug setzte sich in einen Omnibus, der nach dem Westende zufuhr. Wir setzten uns auch hinein.
In Herrn Bruff schlummerten noch Reste von Jugendlichkeit. Ich sah ganz deutlich, daß er, als wir uns in den Omnibus setzten, erröthete!
Der Mann im grauen Anzug ließ den Omnibus in Oxford-street halten und stieg aus. Auch wir stiegen wieder aus, Er trat in einen Apothekerladen.
Herr Bruff stutzte »Mein Apotheker!« rief er aus; »ich fürchte, wir haben uns geirrt.«
Wir traten in den Laden. Herr Bruff und der Eigenthümer wechselten leise ein paar Worte mit einander. Dann kam Herr Bruff wieder zu mir mit einer sehr niedergeschlagenen Miene.
»Die Sache gereicht uns sehr zur Ehre,« sagte er, indem er meinen Arm ergriff und mit mir hinausging —— »das ist ein Trost!«
»Was gereicht uns zur Ehre?« fragte ich.
»Herr Blake! Wir beiden, Sie und ich, sind die beiden schlechtesten Dilettanten im Fach der geheimen Polizei, die sich jemals mit dieser Kunst befaßt haben. Der Mann im grauen Anzug ist seit 30 Jahren im Geschäft des Apothekers. Er war nach der Bank geschickt worden, um für Rechnung seines Principals eine Zahlung zu leisten und er weiß nicht mehr von dem Mondstein als ein neugeborenes Kind.«
Ich fragte, was nun zu thun sei.
»Kommen Sie mit mir auf mein Bureau,« sagte Herr Bruff, »Stachelbeere und der zweite Mann von meiner Wache sind offenbar einer andern Person gefolgt. Lassen Sie uns hoffen, daß die wenigstens sich ordentlich werden umgesehen haben!«
Als wir Gray’s Inn Square erreichten, war der zweite Mann dort schon vor uns eingetroffen. Er hatte seit länger als einer Viertelstunde gewartet.
»Nun,« fragte Herr Bruff, »was bringen Sie Neues?«
»Ich habe leider zu melden,« sagte der Mann, »daß ich mich versehen habe. Ich hätte schwören können, daß ich gesehen habe, wie Herr Luker einem ältlichen Herrn in einem hellen Paletot etwas übergab. Der ältliche Herr aber ist, wie ich mich überzeugt habe, ein höchst respectabler Eisenhändler in Eastcheap.«
»Wo ist Stachelbeere?« fragte Herr Bruff resignirt.
Der Mann erschrak.
»Ich weiß es nicht, Herr. Ich habe nichts von ihm gesehen, seit ich die Bank verließ«
Herr Bruff entließ den Mann.
»Da giebt es nur zwei Möglichkeiten,« sagte er zu mir, »entweder Stachelbeere ist weggelaufen oder er macht Jagd auf seine eigene Hand. Was meinen Sie dazu, wenn Sie hier mit mir äßen? Vielleicht kommt der Junge in ein oder zwei Stunden zurück. Ich habe ein Paar Flaschen Wein im Keller und wir können uns eine Cotelette vom Restaurant holen lassen.«
Wir speisten in Herrn Bruff’s Privat-Bureau. Ehe noch das Tischtuch abgenommen war, wurde Jemand gemeldet, der den Advokaten zu sprechen wünsche. Sollte es »Stachelbeere« sein? Nein, nur der Mann, der Herrn Luker beim hinausgehen aus der Bank gefolgt war.
Auch der Bericht dieses Mannes erwies sich als ganz uninteressant. Herr Luker war nach seinem Hause zurückgegangen und hatte dort die Polizeibeamten entlassen. Später war er nicht wieder ausgegangen. Bei einbrechender Dämmerung waren die Laden geschlossen und die Thüren verriegelt worden. Der Mann hatte die Straße und den Gang hinter dem Hause genau beobachtet. Keine Spur von den Indiern war sichtbar geworden. Kein Mensch hatte das Haus umschlichen. Nachdem der Mann diese Thatsachen berichtet hatte, wartete er auf weitere Ordres Herr Bruff entließ ihn bis zum nächsten Tage.
»Glauben Sie, daß Herr Luker den Mondstein mit sich nach Hause genommen hat?« fragte ich.
»Nein!« sagte Herr Bruff. »Er würde nimmermehr die beiden Polizeibeamten entlassen haben, wenn er sich der Gefahr ausgesetzt hätte, den Diamanten noch einmal in seinem Hause aufzubewahren.«
Wir warteten noch eine halbe Stunde auf den Jungen, aber vergebens. Es wurde Zeit für Herrn Bruff, nach Hampstead zu gehen und für mich, zu Rachel nach Portlandplace zurückzukehren. Ich hinterließ bei dem Portier des Bureaus meine Karte mit einer Zeile, die besagte, daß ich um halb elf Uhr wieder in meiner Wohnung sein werde. Die Karte sollte dem Jungen eingehändigt werden, falls er zurückkäme.
Einige Menschen haben ein besonderes Geschick im Einhalten, andere ein eben so großes im Verfehlen von Verabredungen. Ich gehöre zu diesen letzteren. Dazu nehme man, daß ich den Abend in Portlandplace, auf demselben Sopha mit Rachel, in einem 40 Fuß langen Zimmer zubrachte, an dessen äußerstem Ende Mrs. Merridew saß. Kann sich da Jemand wundern, daß ich um halb ein Uhr, statt um halb elf Uhr nach Hause kam? Das müßte ein höchst hartherziger Mensch sein, dessen Bekanntschaft ich niemals zu machen wünsche!
Mein Diener überreichte mir, als ich nach Hause kam, ein Stück Papier.
Auf demselben standen in einer seinen Advokaten-Handschrift folgende Worte: —— »Entschuldigen Sie, Herr, ich werde müde. Ich will morgen früh zwischen neun und zehn Uhr wiederkommen.« Auf nähere Nachfrage erfuhr ich, daß ein Junge mit sehr sonderbaren Augen nach mir gefragt, meine Karte mit meiner Bestellung vorgezeigt, eine Stunde gewartet, während derselben in Absätzen geschlafen, dann eine Zeile für mich aufgeschrieben habe und nach Hause gegangen sei, nachdem er dem Diener feierlich mitgetheilt, daß er ohne seine Nachtruhe zu nichts nütze sei.
Um neun Uhr am nächsten Morgen war ich zum Empfang des mir gemeldeten Besuchs bereit. Um halb zehn! Uhr hörte ich Schritte vor der Thür »Komm’ herein, Stachelbeere!« rief ich hinaus. »Danke, Herr!« antwortete eine feierliche und melancholische Stimme. Die Thür öffnete sich. Ich sprang auf und stand —— Sergeant Cuff gegenüber!
»Ich dachte, ich wolle einmal nachsehen, ob Sie vielleicht in der Stadt seien, bevor ich nach Yorkshire schreibe,« sagte der Sergeant.
Er war so traurig und so mager wie je. Seine Augen hatten noch immer ihren alten, von Betteredge so fein beobachteten Ausdruck, als ob sie mehr hinter einem suchten, als dessen man sieh selbst bewußt war. Aber so weit die Kleidung das Aussehen eines Menschen ändern kann, war der große Cuff zum Nichtwiedererkennen verwandelt. Er trug einen breiträndigen weißen Hut, einen hellen Jagdrock, weiße Beinkleider und graue Tuchgamaschen. In der Hand hatte er einen dicken Eichenstock. Sein ganzes Streben schien darauf gerichtet, auszusehen, als ob er sein ganzes Leben auf dem Lande zugebracht hätte. Als ich ihm über seine Methamorphose mein Compliment machte, that er, als ob er den Scherz nicht verstehe. Er beklagte sich ganz ernsthaft über den Lärm und die übeln Ausdünstungen in London. Ich möchte nicht dafür einstehen, daß er nicht mit einem Anflug von ländlichem Accent sprach! Ich forderte ihn auf, mit mir zu frühstücken. Der unschuldige Landbewohner schien ganz erstaunt. Seine Frühstückstunde sei um halb sieben Uhr und er gehe mit den Hühnern zu Bett!
»Ich bin erst gestern Abend von Irland zurückgekommen,« sagte der Sergeant, indem er so in der ihm eigenthümlichen undurchdringlichen Art und Weise auf den eigentlichen Zweck seines Besuches kam. »Bevor ich zu Bett ging, las ich Ihren Brief, in welchem Sie mir mittheilen, was sich seit der vorjährigen Sistirung meiner Untersuchung in Betreff des Diamanten ereignet hat. Ich meinerseits habe über diese Angelegenheit nur eine Bemerkung zu machen. Ich habe mich vollständig geirrt. Ich glaube aber nicht, daß irgend ein Mensch in der Situation, in welcher ich mich damals befand, die wahre Sachlage erkannt haben würde. Aber das ändert nichts an den Thatsachen. Ich gestehe, daß ich dieselben falsch aufgefaßt habe. Nicht zum ersten Mal in meinem Berufsleben, Herr Blake! Nur in Büchern sind die Beamten der geheimen Polizei über jedes Versehen erhaben.«
»Sie kommen gerade zu rechter Zeit,« sagte ich, »um Ihren Ruf wieder herzustellen.«
»Ich bitte um Vergebung, Herr Blake,« erwiderte der Sergeant. »Jetzt, wo ich mich von Geschäften zurückgezogen habe, ist mir nichts mehr an meinem Ruf gelegen. Ich bin, Gott sei Dank! mit meinem Ruf fertig. Nur die dankbare Erinnerung an die Liberalität der verstorbenen Lady Verinder gegen mich hat mich hierher geführt. Aus diesem Grunde und aus keinem andern will ich zu meiner alten Beschäftigung zurückkehren, wenn Sie meiner bedürfen und wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken wollen. Aber jede Bezahlung muß ich mir im Voraus verbitten Was ich thue, thue ich um der Ehre willen. Nun erzählen Sie mir, Herr Blake, wie die Dinge sich, seit Sie mir geschrieben, gestaltet haben.«
Ich erzählte ihm das Experiment und unsere späteren Erlebnisse in der Bank in der Lombardstreet Das Experiment machte aus ihn großen Eindruck —— das war sür ihn etwas ganz Neues. Und Ezra Jennings Annahme in Betreff dessen, was ich, nachdem ich Rachels Wohnzimmer verlassen, mit dem Diamanten gethan hatte, erregte sein ganz besonderes Interesse.
»Ich theile nicht die Ansicht des Herrn Jennings, daß Sie den Diamanten versteckt haben,« sagte Sergeant Cuff, »aber ich stimme ganz mit ihm überein, daß Sie ohne Zweifel den Diamanten wieder mit auf Ihr Zimmer werden genommen haben.«
»Nun?« fragte ich. »Was geschah weiter?«
»Haben Sie selbst gar keinen Verdacht in Betreff dessen, was weiter geschah?«
»Durchaus keinen.«
»Hat Herr Bruff keinen Verdacht?«
»So wenig wie ich.«
Sergeant Cuff stand auf und ging an meinen Schreibtisch. Von dort kehrte er mit einem versiegelten Couvert zurück. Auf demselben stand das Wort »Vertraulich«. Es trug meine Adresse und in einer Ecke die Unterschrift des Sergeanten.
»Ich hatte voriges Jahr eine falsche Person in Verdacht,« sagte er, »und es kann sein, daß ich jetzt wieder eine falsche Person in Verdacht habe. Warten Sie daher mit dem Eröffnen des Couverts, bis Sie die Wahrheit herausgefunden haben und dann vergleichen Sie den Namen der schuldigen Person mit dem Namen, den ich in dieses versiegelte Couvert geschrieben habe.«
Ich steckte den Brief in die Tasche und befragte dann den Sergeanten um seine Ansicht in Betreff der Maßregeln, welche wir bei der Bank ergriffen hatten.
»Ganz richtig angelegt und ausgeführt,« antwortete er. »Aber es hätte noch eine andere Person außer Herrn Luker beobachtet werden müssen.«
»Die Person, deren Namen Sie in dieses Couvert geschrieben haben?«
»Ja wohl, Herr Blake, eben diese Person. Die Sache ist jetzt nicht wieder gut zu machen. Ich werde Ihnen und Herrn Bruff seiner Zeit etwas vorzuschlagen haben. Aber lassen Sie uns erst warten und sehen, ob der Junge uns etwas mitzutheilen hat, was der Mühe Werth ist.«
»Es war beinahe zehn Uhr geworden und der Junge war noch nicht da. Sergeant Cuff sprach über andere Dinge. Er erkundigte sich nach seinem alten Freund Betteredge und nach seinem alten Feind, dem Gärtner. Einen Augenblick später wäre er ohne Zweifel aus seinen Lieblingsgegenstand, die Rosenzucht, gekommen, wenn uns nicht mein Diener unterbrochen und gemeldet hätte, daß der Junge unten sei.
Stachelbeere blieb an der Schwelle stehen und blickte mißtrauisch auf den Fremden, der neben mir saß. Ich rief dem Jungen zu, näher zu kommen und sagte zu ihm:
»Du kannst vor diesem Herrn Alles sagen. Er ist hier zu meinem Beistand und weiß Alles, was geschehen ist; Sergeant Cuff,« fügte ich hinzu, »das ist der Junge von Herrn Bruff’s Bureau.«
In unserer modernen civilisirten Welt ist Berühmtheit, gleichviel welcher Art, der Hebel, welcher Alles in Bewegung setzt. Der Ruf des großen Cuff war selbst bis zu der kleinen Stachelbeere gedrungen. Die losen Augen des Jungen geriethen, als ich den berühmten Namen nannte, in eine dermaßen rollende Bewegung, daß mir wirklich bange wurde, sie möchten auf den Teppich fallen.
»Komm’ her, mein Junge,« sagte der Sergeant, »und laß uns hören, was Du uns zu sagen hast.«
Der Anblick des großen Mannes, des Helden vieler berühmten Geschichten, die auf jedem Advokaten-Bureau in London cursirten, schien wie ein Zauber auf den Jungen zu wirken. Er stellte sich Sergeant Cuff gegenüber und legte die Hände aus den Rücken, als solle er im Katechismus examinirt werden.
»Wie heißt Du?« fragte der Sergeant.
»Octavius Guy.« antwortete der Junge. »Auf dem Bureau nennen sie mich »Stachelbeere« wegen meiner Augen.«
»Octavius Guy, alias Stachelbeere,« wiederholte der Sergeant höchst ernsthaft; »Du warst gestern aus der Bank verschwunden. Wo warst Du hingegangen?«
»Mit Verlaub, Herr, ich ging einem Mann nach.«
»Wer war das?«
»Ein langer Mann, Herr, mit einem großen schwarzen Bart, der wie ein Matrose gekleidet war.«
»Ich erinnere mich des Mannes« fiel ich ein. »Herr Bruff und ich hielten ihn für einen Spion im Dienste der Indier.«
Herrn Bruff’s und meine Ansicht schien auf Sergeant Cuff keinen großen Eindruck zu machen. Er fuhr fort, Stachelbeere zu vernehmen.
»Nun?« sagte er, »und warum gingst Du dem Matrosen nach?«
»Um Vergebung, Herr; Herr Bruff wollte wissen, ob Herr Luker beim Hinausgehen aus der Bank irgend Jemandem Etwas einhändige. Ich sah, daß Herr Luker dem Matrosen mit dem schwarzen Bart etwas gab.«
»Warum sagtest Du Herrn Bruff nicht, was Du sahst?«
»Ich hatte keine Zeit, irgend Jemandem etwas zu sagen, Herr, so rasch ging der Matrose fort.«
»Und Du liefst ihm nach —— wie?«
»Ja, Herr«
»Stachelbeere,« sagte der Sergeant, ihm die Hand auf den Kopf legend, »Du hast da etwas in Deinem kleinen Schädel, was kein Stroh ist. Du gefällst mir sehr gut bis jetzt.«
Der Junge erröthete vor Freude. Sergeant Cuff fuhr fort:
»Nun? und was that der Matrose, als er auf die Straße kam?«
»Er rief eine Droschke an, Herr.«
»Und was thatest Du?«
»Hielt mich hinten fest und lief mit.«
Noch ehe Sergeant Cuff seine erste Frage thun konnte, wurde wieder Jemand gemeldet —— dieses Mal der erste Schreiber von Herrn Bruff’s Bureau.
Da ich es für sehr wichtig hielt, den Sergeanten bei seiner Vernehmung des Jungen nicht zu unterbrechen, empfing ich den Schreiber in einem andern Zimmer. Er brachte schlimme Nachrichten von seinem Principal. Die Aufregung der letzten Tage war für Herrn Bruff zu viel gewesen. Er war diesen Morgen mit einem Gichtanfall aufgewacht; er mußte sein Zimmer in Hampstead hüten und war sehr verdrießlich darüber, daß er mich in der kritischen Lage unserer Angelegenheiten ohne den Rath und Beistand einer erfahrenen Person lassen müsse. Der erste Schreiber war von seinem Principal angewiesen, sich mir zur Verfügung zu stellen und war bereit, sein Bestes zu thun, Herrn Bruff zu ersetzen.
Ich schrieb auf der Stelle an den alten Herrn, um ihn durch die Mittheilung von Sergeant Cuff’s Besuch zu beruhigen, fügte hinzu, daß »Stachelbeere« gerade vernommen werde und versprach, Herrn Bruff persönlich oder schriftlich von dem in Kenntniß zu setzen, was sich etwa im Laufe des Tages ereignen möchte. Nachdem ich den Schreiber mit meiner Botschaft entlassen hatte, kehrte ich in das eben verlassene Zimmer zurück und fand Sergeant Cuff vor dem Kamin, im Begriff, die Glocke zu ziehen.
»Um Vergebung, Herr Blake,« sagte der Sergeant »Ich war eben im Begriff, Ihnen durch Ihren Diener sagen zu lassen, daß ich Sie zu sprechen wünsche. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß dieser Junge, dieser höchst verdienstvolle Junge.« fügte der Sergeant hinzu; indem er »Stachelbeere« die Hand auf den Kopf legte, »dem richtigen Manne nachgegangen ist. Eine kostbare Zeit ist dadurch verloren gegangen, Herr Blake, daß Sie unglücklicher Weise gestern Abend halb elf Uhr nicht zu Hause waren. Das Einzige, was jetzt geschehen kann ist, auf der Stelle nach einer Droschke zu schicken.«
Fünf Minuten später saßen Sergeant Cuff und ich in einer Droschke und »Stachelbeere« auf dem Bock neben dem Kutscher, um diesen zu dirigiren, und fuhren in östlicher Richtung nach der City zu.
»Der Junge da wird noch einmal Großes in meinem früheren Fach leisten,« sagte der Sergeant auf Stachelbeere deutend; »er ist der gescheiteste und aufgeweckteste kleine Bengel, der mir seit Jahren vorgekommen ist. Ich will Ihnen in Kurzem erzählen, Herr Blake, was er mir, nachdem Sie das Zimmer verlassen mitgetheilt hat. Sie haben, glaube ich, noch gehört, daß er sich hinten an den Wagen hing und demselben nachlief?«
»Ja.«
»Nun gut. Der Wagen fuhr von Lombardstreet nach der Tower-Werfte. Der Matrose mit dem schwarzen Bart stieg aus und sprach mit dem Steward des nach Rotterdam fahrenden Dampfboots, welches am nächsten Morgen abgehen sollte. »Er fragte, ob er gleich an Bord gehen und die Nacht in seiner Cabine zubringen könne. Der Steward erklärte, das gehe nicht an. Die Cabinen und Betten müßten noch diesen Abend gründlich gereinigt werden und kein Passagier dürfe vor dem nächsten Morgen an Bord kommen. Der Matrose ging darauf wieder fort. Als er wieder auf der Straße war, bemerkte der Junge zum ersten Male, daß ein Mann in der Kleidung eines respectabeln Handwerkers an der andern Seite der Straße ging und augenscheinlich den Matrosen beobachtete. Der Matrose hielt vor einem Speisehause in der Nachbarschaft und trat in dasselbe ein. Der Junge, der im Augenblick nicht wußte, was er thun solle, trieb sich mit andern Jungen vor dem Hause umher und betrachtete sich die guten Sachen an dem Schaufenster des Speisehauses. Er bemerkte, daß der Handwerker gleich ihm warte, aber noch immer auf der andern Seite der Straße. Einen Augenblick später kam eine Droschke langsam heran und hielt vor dem Handwerker still. Der Junge konnte nur eine Person in dem Wagen deutlich erkennen, die sich vorüberbeugte, um aus dem Fenster mit dem Handwerker zu reden. Er beschrieb diese Person, ohne daß ich ihn irgend durch Fragen darauf gebracht hätte, als einen Mann von dunkler Gesichtsfarbe wie ein Indier.«
Es war wieder klar, daß Herr Bruff und ich uns auch in einem andern Punkt geirrt hatten. Der Matrose mit dem schwarzen Bart war offenbar kein Spion im Dienste der indischen Verschwörung. Konnte er möglicher Weise der Mann sein, der den Diamanten hatte?
»Etwas später,« fuhr der Sergeant fort, »fuhr der Wagen langsam die Straße hinab. Der Handwerker kam jetzt über den Weg und ging gleichfalls in das Speisehaus. Der Junge wartete draußen, bis er hungrig und müde wurde, und ging dann auch in das Speisehaus. Er hatte einen Schilling in der Tasche und soupirte dafür, wie er sagt, ganz köstlich; Blutwurst, Aalpye und eine Flasche Bier. Was kann ein Junge nicht Alles verdauen!«
»Und was sah er in dem Speisehaus? fragte ich.
»Nun, Herr Blake, er sah den Matrosen an einem Tisch und den Handwerker an einem andern die Zeitung lesen. Es war Dämmerung geworden, als der Matrose aufstand und fortging. Als er aus die Straße hinaustrat, blickte er argwöhnisch umher, den Jungen aber ließ er, eben weil es ein Junge war, unbeachtet. Der Handwerker war noch nicht herausgekommen. Der Matrose ging, fortwährend um sich blickend, weiter und schien nicht recht zu wissen, wohin er seine Schritte wenden solle. Der Handwerker ließ sich dann wieder auf der andern Seite der Straße blicken. Der Matrose ging weiter, bis er nach Shore Lane kam, da wo diese Straße nach der untern Themsestraße führt. Hier blieb er vor einem »das Glücksrad« benannten Wirthshause stehen und trat, nachdem er sich das Haus von Außen angesehen hatte, hinein. Stachelbeere folgte ihm. Da stand eine große Menge von meistens anständig gekleideten Leuten am Schenktisch. Das »Glücksrad« ist ein sehr respectables Haus, Herr Blake, berühmt für seinen Porter und seine Schweinfleisch-Pasteten.«
Die Abschweifungen des Sergeanten machten mich ungeduldig. Er bemerkte es und hielt sich von nun an strenger an Stachelbeeres Aussage.
»Der Matrose,« fuhr er fort, »fragte, ob er ein Zimmer bekommen könne. Der Wirth erklärte ihm, daß das Haus voll sei, aber das Schenkmädchen widersprach ihm und bemerkte, Nr. 10 sei frei. Es wurde ein Kellner gerufen, um den Matrosen auf Nr. 10 zu führen. Gerade in diesem Augenblick hatte Stachelbeere auch den Handwerker wieder unter den Leuten am Schenktisch bemerkt, noch ehe aber der Kellner erschien, war der Handwerker schon wieder verschwunden. Der Matrose wurde aus sein Zimmer geführt. Stachelbeere, der nicht recht wußte, was er thun solle, war weise genug, abzuwarten, ob sich etwas ereignen werde. Und in der That ereignete sich bald Etwas. Es wurde nach dem Wirth gerufen, laute Stimmen wurden von oben her vernehmbar. Plötzlich erschien der Handwerker wieder, vom Wirth am Kragen gepackt und zu Stachelbeeres Erstaunen mit allen Anzeichen der Betrunkenheit. Der Wirth warf ihn zum Hause hinaus und drohte ihm mit der Polizei, wenn er sich wieder blicken lassen sollte. Aus den zwischen dem Wirth und dem Handwerker gewechselten Worten ergab sich, daß der Mann auf Nr. 10 gefunden worden war und mit dem Eigensinn eines Betrunkenen erklärt hatte, es sei sein Zimmer. Stachelbeere war über diese plötzliche Betrunkenheit eines Menschen, den er kurz vorher noch nüchtern gesehen hatte, so betroffen, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, dem Handwerker auf die Straße zu folgen und nachzulaufen. So lange er in der Nähe des Wirthshauses war, taumelte der Mann wie ein völlig Betrunkener hin und her; in dem Augenblick aber, wo er um die nächste Ecke bog» fand er aus der Stelle sein Gleichgewicht wieder und wurde wieder ein so nüchternes Mitglied der menschlichen Gesellschaft, wie es nur eines geben konnte. Stachelbeere ging in sehr aufgeregter Stimmung nach dem »Glücksrad« zurück. Er wartete wieder, ob sich noch Etwas ereignen werde. Diesmal vergebens. Es passirte Nichts, und von dem Matrosen war nichts mehr zu sehen und zu hören. Stachelbeere entschloß sich, nach dem Bureau zurückzukehren. Gerade als er diesen Entschluß gefaßt hatte, erschien wieder an der andern Seite der Straße —— wer anders als der Handwerker. Er blickte nach einem bestimmten Fenster in dem höchsten Stockwerk des Wirthshauses hinauf, dem einzigen, welches erleuchtet war. Der Anblick des Lichts schien ihn zu erfreuen, er ging auf der Stelle wieder fort. Der Junge ging nach Gray’s Inn zurück, fand Ihre Karte mit der darauf befindlichen Bestellung, sprach bei Ihnen vor und verfehlte Sie. Da haben Sie einen Bericht über den Fall, Herr Blake, wie er augenblicklich liegt.«
»Und was denken Sie davon, Sergeant?«
»Ich halte die Sache für ernst. Nach dem zu urtheilen, was der Junge gesehen hat, sind für’s Erste ein mal die Indier im Spiel.«
»Ja wohl, und der Matrose ist offenbar der Mann, welchem Herr Luker den Diamanten übergeben hat. Es ist sonderbar, aber Herr Bruff und ich und der von Herrn Bruff angestellte Mann scheinen uns alle Drei in der betreffenden Person geirrt zu haben.«
»Durchaus nicht sonderbar, Herr Blake Es ist nur zu wahrscheinlich, daß Herr Luker, in Betracht der Gefahr, welcher diese Person sich aussetzt, Sie Alle nach einer vorher mit der Person getroffenen Verabredung absichtlich irre geleitet hat.«
»Verstehen Sie denn die Vorgänge in dem Wirthshaus?« fragte ich. »Der wie ein Handwerker gekleidete Mann handelte natürlich im Dienst der Indier, aber warum er sich plötzlich betrunken stellte, vermag ich mir sowenig zu erklären, wie Stachelbeere.«
»Ich glaube, ich kann Ihnen darüber einen aufklärenden Wink geben,« sagte der Sergeant. »Wenn Sie sich die Sache überlegen, so werden Sie finden, daß der Mann ziemlich genaue Instructionen von den Indiern gehabt haben muß. Sie selbst sind von viel zu auffallender Erscheinung, als daß sie es hätten riskiren können, sich in der Bank oder in dem Wirthshause blicken zu lassen. Sie mußten sich ganz auf ihren Bevollmächtigten verlassen. Nun wohl. Der Bevollmächtigte hörte im Wirthshause eine gewisse Nummer als die Nummer des Zimmers nennen, in welchem der Matrose und folgeweise auch, wenn Sie nicht ganz auf dem Irrwege sind, der Diamant übernachten sollte. Unter diesen Umständen würden die Indier, darauf können Sie sich verlassen, eine genaue Beschreibung des Zimmers, seiner Lage im Hause, der Möglichkeit, von außen in dasselbe zu gelangen u. s. w. verlangt haben. Was konnte der Mann mit solchen Instructionen anders thun, als eben das, was er gethan hat? Er lief hinauf, sich das Zimmer anzusehen, bevor der Matrose hinaufgeführt worden war. Dort wurde er bei seinem Auskundschaften ertappt und nahm seine Zuflucht zu einer simulirten Betrunkenheit, als dem besten Mittel, sich aus der Affaire zu ziehen. So löse ich mir das Räthsel. Aus dem Hause geworfen, überbrachte er vermuthlich seinen Bericht dahin, wo seine Vollmachtgeber auf ihn warteten, und diese schickten ihn ohne Zweifel wieder nach dem Wirthshause zurück, um sich zu vergewissern, daß der Matrose daselbst bis zum nächsten Morgen definitiv sein Quartier aufgeschlagen habe. Was sich in dem »Glücksrad« weiter begeben hat, nachdem der Junge fortgegangen war, das hätten wir gestern Abend zu erfahren suchen müssen. Es ist jetzt eilf Uhr. Wir müssen sehen, was wir noch thun können, und das Beste hoffen.«
Eine Viertelstunde später hielt unser Wagen in Shore Lane und öffnete Stachelbeere den Wagenschlag für uns.
»Sind wir da?« fragte der Sergeant.
»Ja wohl, Herr!« antwortete der Junge.
In dem Moment, wo wir die Schwelle des »Glücksrades« betraten, war es selbst für meine unerfahrenen Augen klar, daß hier im Hause Etwas nicht in Ordnung sei.
Die einzige hinter dem Schenktische stehende Person war ein des Geschäfts völlig unkundiges, confuses Dienstmädchen. Einige wenige Habitués, die auf ihren Morgentrunk warteten, klopften ungeduldig mit ihrem Gelde auf den Schenktisch. Das Schenkmädchen trat aufgeregt und preoccupirt aus den inneren Räumen des Hauses herein. Auf Sergeant Cuff’s Frage nach dem Wirth erklärte sie patzig, ihr Herr sei oben und wolle von Niemandem incommodirt sein.
»Folgen Sie mir,« sagte Sergeant Cuff, indem er ganz ruhig uns voran die Treppen hinaufging und dem Jungen winkte, mitzukommen.
Das Schenkmädchen rief ihrem Herrn hinauf, daß Fremde in das Haus dringen wollten.
Auf dem Vorplatze des ersten Stocks begegnete uns der Wirth, der in einem höchst aufgeregten Zustande heruntergelaufen kam, zu sehen, was es gebe.
»Wer zum Teufel sind Sie, und was wollen Sie hier?« fragte er.
»Ruhig Blut!« sagte der Sergeant kühl. »Ich will Ihnen zuerst sagen, wer ich bin; ich bin Sergeant Cuff.«
Der berühmte Name that auf der Stelle seine Wirkung. Der zornige Wirth riß die Thür eines Wohnzimmers auf und bat den Sergeanten um Verzeihung.
»Ich bin höchst verdrießlich und ungehalten, das ist wahr, Herr,« sagte er. »Es ist etwas sehr Unangenehmes diesen Morgen hier im Hause vorgefallen. Unsereins hat es schwer, guter Laune zu bleiben, Sergeant Cuff.«
»Ganz gewiß,« antwortete der Sergeant. »Ich will Ihnen, mit Ihrer Erlaubniß, ohne Weiteres sagen, was uns herführt. Dieser Herr und ich möchten Sie mit einigen Fragen über eine uns Beide interessirende Angelegenheit behelligen.«
»Was für eine Angelegenheit, Herr?« fragte der Wirth.
»Sie steht in Verbindung mit einem dunkelfarbigen Manne in Matrosenkleidung der hier übernachtet hat.«
»Guter Gott! Gerade dieser Mann versetzt unser Haus in diesem Augenblick in die höchste Verwirrung!« rief der Wirth aus. »Wissen Sie oder weiß dieser Herr irgend etwas über ihn?«
»Darauf werden wir Ihnen erst bestimmt antworten können, wenn wir ihn sehen,« antwortete der Sergeant.
»Gesehen?« wiederholte der Wirth. »Das ist seit heute Morgen um sieben Uhr gerade nicht möglich. Um diese Zeit wollte er heute Morgen geweckt werden. Man wollte ihn wecken, er gab aber trotz allen Klopfens an seine Thür keine Antwort und war auch nicht zu bewegen, dieselbe zu öffnen. Vergebens haben wir es um acht Uhr und um neun Uhr wieder versucht. Die Thür war fest verschlossen und kein Laut im Zimmer zu hören. Ich mußte diesen Morgen ausgehen und bin erst vor einer Viertelstunde wieder nach Hause gekommen. Da habe ich selbst vor seiner Thür Lärm gemacht, aber Alles vergebens. Jetzt habe ich den Kellner nach dem Schlosser geschickt. Wenn Sie einige Minuten verweilen können, meine Herren, so wollen wir die Thür öffnen lassen und sehen, was die Sache zu bedeuten hat.«
»War der Mann gestern Abend betrunken?« fragte Sergeant Cuff.
»Vollkommen nüchtern, Herr, sonst hätte ich ihn gar nicht in meinem Hause schlafen lassen.«
»Hat er sein Zimmer im Voraus bezahlt?«
»Nein.«
»Ist es möglich, daß er sein Zimmer auf einem anderen Wege als durch die Thür verlassen hat?«
»Das Zimmer ist eine Bodenkammer,« sagte der Wirth. »Aber in der Decke desselben befindet sich eine Fallthür, die nach dem Dache hinausführt, und in einer kleinen Entfernung von meinem Hause steht ein etwas niedrigeres Haus, in dem eben gebaut wird. Meinen Sie, Sergeant, der Lump könnte sich so, ohne zu bezahlen, davon gemacht haben?«
»Das würde einem Matrosen nicht unähnlich sehen,« sagte Sergeant Cuff, »so in der Frühe des Morgens, wo noch kein Mensch aus den Straßen ist. So ein Kerl ist das Klettern gewohnt und ihn würden auch Dächer nicht schwindlig machen.«
In diesem Augenblick wurde die Ankunft des Schlossers gemeldet. Wir gingen sofort Alle nach dem höchsten Stock hinauf. An dem Sergeanten fiel mir ein selbst für ihn ungewöhnlich feierlicher Ernst auf. Auch frappirte es mich, daß er den Jungen, den er bis dahin immer aufgefordert hatte, uns zu folgen, unten im Zimmer warten hieß, bis wir wieder hinunter kommen würden. Der Schlosser hatte die Thür bald genug geöffnet; dieselbe schien aber von innen durch ein Möbel verrammelt zu sein. Durch das Aufstoßen der Thür schoben wir jedoch dieses Möbel bei Seite und gelangten so in das Zimmer. Der Erste, welcher eintrat, war der Wirth, der Zweite der Sergeant und ich der Dritte, die andern anwesenden Personen folgten uns.
Wir sahen Alle zuerst nach dem Bett und fuhren Alle zusammen.
Der Mann hatte das Zimmer nicht verlassen. Er lag angekleidet auf dem Bett, das Gesicht völlig mit einem weißen Kissen bedeckt.
»Was ist daß?« sagte der Wirth, aus das Kissen deutend.
Sergeant Cuff trat, ohne zu antworten, an das Bett und hob das Kissen auf.
Das dunkle Gesicht des Mannes sah ruhig und unentstellt aus, sein schwarzes Haar und sein Bart waren ein wenig, aber sehr wenig in Unordnung. Seine Augen starrten weit geöffnet, gläsern und leer, nach der Decke. Der starre, verschleierte Blick dieser Augen entsetzte mich. Ich wandte mich ab und trat an’s offene Fenster. Die Andern traten zu Sergeant Cuff an’s Bett.
»Er ist ohnmächtig!« hörte ich den Wirth sagen.
»Er ist todt!« antwortete der Sergeant. »Schicken Sie nach dem nächsten Arzt und nach der Polizei.«
Der Kellner wurde sofort abgeschickt Sergeant Cuff blieb, wie von einem seltsamen Zauber gebannt, vor dem Bett stehen. Die Andern schienen in gespannter Erwartung dessen, was der Sergeant nun thun werde, dazustehen.
Ich stand noch immer am Fenster. Einen Augenblick später fühlte ich, wie leise an meinen Rockschoß gezupft wurde und hörte eine Knabenstimme flüstern: »Sehen Sie einmal her Herr!«
Stachelbeere war doch hinaufgekommen. Seine losen Augen rollten fürchterlich, nicht vor Schreck, sondern vor Aufregung. Er hatte auf seine eigene Hand als geheimer Polizei-Agent fungirt und eine Entdeckung gemacht: »Sehen Sie einmal her Herr,« wiederholte er und führte mich an einen in der Ecke des Zimmers stehenden Tisch.
Auf dem Tisch stand offen und leer ein kleiner hölzerner Kasten. Neben demselben lag auf der einen Seite etwas Watte, aus der andern ein zerrissenes Blatt weißes Papier, mit einem zerbrochenen Siegel und einer noch vollkommen leserlichen Aufschrift. Dieselbe lautete wie folgt:
»Deponirt bei H.H. Bushe, Lysaught & Bushe von Herrn Septimus Luker, Middleser Place, Lambeth, ein kleiner hölzerner in diesen Umschlag eingesiegelter Kasten, enthaltend einen sehr kostbaren Werthgegenstand. Der Kasten ist von den Herren Bushe & Co. nur auf Anhalten des Herrn Luker und nur demselben persönlich wieder einzuhändigen.«
Diese Zeilen beseitigen jeden weiteren Zweifel wenigstens in einer Beziehung: Der Matrose hatte Tags zuvor, als er die Bank verließ, den Diamanten bei sich gehabt.
Ich fühlte ein abermaliges Zupfen an meinem Rockschoß. Stachelbeere war noch nicht mit mir fertig.
»Gestohlen«, flüsterte der Junge, höchst vergnügt auf den leeren Kasten deutend.
»Du solltest ja unten warten,« sagte ich, »geh’ Deiner Wege.«
»Und ermordet,« fügte Stachelbeere noch vergnügter auf den Mann im Bett deutend hinzu.
Die Freude des Jungen über die greuliche Seene war mir so widerwärtig, daß ich ihn beim Arm nahm und hinaussetzte.
In dem Moment, wo ich die Thürschwelle über schritt, hörte ich Sergeant Cuff’s Stimme nach mir fragen. Er kam» mir entgegen, als ich wieder hineintrat und zog mich mit sich an’s Bett.
»Herr Blake,« sagte er, »sehen Sie sich das Gesicht des Mannes genau an. Es ist verstellt und hier ist der Beweis dafür.« Er wies mit den Finger auf einen schmalen Streifen von fahlem Weiß, der sich zwischen der dunklen Hautfarbe und dem etwas in Unordnung gerathenen Kopfhaar an der Stirn hinzog. »Wir wollen doch einmal sehen, was darunter steckt,« sagte der Sergeant, indem er plötzlich mit fester Hand in das schwarze Haar griff.
Meine Nerven waren nicht stark genug den Anblick zu ertragen. Ich wandte mich wieder von dem Bett weg.
Das Erste was ich ansah, als ich mich umdrehte, war der unausrottbare Stachelbeere, der auf einen Stuhl stehend, über die Schultern der Erwachsenen weg in athemloser Spannung mit ansah, was der Sergeant vornahm.
»Er reißt ihm die Perrücke ab,« flüsterte Stachelbeere mir als der einzigen Person im Zimmer, die nichts sehen konnte, mitleidig zu.
Nach einer athemlosen Pause ertönte ein Aufschrei des Erstaunens unter den um das Bett versammelten Leuten.
»Er hat ihm den Bart abgerissen,« rief Stachelbeere.
Wieder entstand eine Pause. Sergeant Cuff verlangte etwas. Der Wirth ging nach dem Waschtisch und kehrte mit einem mit Wasser gefüllten Becken und einem Handtuch nach dem Bett zurück.
Stachelbeere sprang vor Aufregung auf dem Stuhl herum. »Kommen Sie doch hierher, Herr. Er wäscht ihm jetzt die Farbe vom Gesicht.«
Plötzlich bahnte sich der Sergeant einen Weg durch die ihn umstehenden Leute und trat mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht gerade auf mich zu.
»Kommen Sie wieder mit uns an’s Bett,« fing er an. Dann sah er mich schärfer an und hielt inne. »Nein,« verbesserte er sich, öffnen Sie erst das versiegelte Couvert das ich Ihnen diesen Morgen gegeben habe.«
Ich that das.
»Lesen Sie den. Namen, den ich da hineingeschrieben habe. Herr Blake.«
Ich las: »Godfrey Ablewhite.«
»Nun,« sagte der Sergeant, »kommen Sie und sehen Sie den Mann auf dem Bett an.«
Ich trat mit ihm hinan. Da lag Godfrey Ablewhite.
Sechste Erzählung.
von Sergeant Cuff.
I.
Dorking, Grafschaft Surrey, 30. Juli 1849.
An Herrn Franklin Blake.
Geehrter Herr. Ich bitte Sie die verspätete Einsendung meines Berichts, welchen ich Ihnen zu liefern versprochen habe, zu entschuldigen. Ich wünschte denselben ganz vollständig zu liefern und bin dabei hier und da auf Schwierigkeiten gestoßen, welche nur mit einem kleinen Aufwand von Geduld und Zeit zu überwinden waren.
Jetzt darf ich hoffen den mir vorgesetzten Zweck erreicht zu haben. Sie werden in diesen Blättern Antworten auf die meisten, wenn nicht auf alle die Fragen in Betreff des verstorbenen Herrn Godfrey Ablewhite finden, welche Sie beschäftigte, als ich zuletzt die Ehre hatte, Sie zu sehen.
Ich will Ihnen erstens das mittheilen, was ich über die Art, wie Ihr Vetter seinen Tod gefunden hat, in Erfahrung gebracht habe und dann diesem thatsächlichen Bericht die Schlüsse hinzufügen, die sich mir aus jenen Thatsachen zu ergeben scheinen.
Darauf werde ich zweitens versuchen, Ihnen die Entdeckungen vorzulegen, welche ich in Betreff des Benehmens des Herrn Ablewhite vor, während und nach der Zeit, wo er und Sie sich zusammen als Gäste in Lady Verinder’s Landhaus befanden, gemacht habe.
II.
Also erstens, die Todesart Ihres Vetters. Es scheint mir völlig zweifellos festzustehen, daß er im Schlaf oder unmittelbar nach seinem Erwachen durch Erstickung mittelst eines Bettkissens getödtet wurde, daß die seines Mordes schuldigen Personen die drei Indier sind und daß der durch das Verbrechen beabsichtigte und erreichte Zweck darin bestand, sich in den Besitz des »Mondstein« genannten Diamanten zu setzen.
Die Thatsachen, aus welchen dieser Schluß gezogen ist, ergeben sich theilweise aus einer Untersuchung des Zimmers in dem Wirthshause und theilweise aus den bei der Untersuchung des Todtenbeschauers gesammelten Aussagen.
Bei dem Erbrechen der Thür wurde der Verstorbene, das Gesicht mit dem Kopfkissen bedeckt, todt im Bette gefunden. Der Arzt, welcher die Leiche untersuchte, erklärte, nachdem ihm diese Umstände mitgetheilt waren, das Aussehen der Leiche vollkommen vereinbar mit einem Tode durch Erstickung d. h. einem dadurch bewirkten Tode, daß eine oder mehrere Personen das Kissen so lange auf Nase und Mund drückten, bis der Tod durch eine Lähmung der Lungen erfolgte.
Was demnächst die Motive des Verbrechens anlangt:
Auf dem Tisch im Zimmer fand sich ein kleiner offener leerer Kasten mit einem von demselben abgerissenen gesiegelten, mit einer Aufschrift versehenen Stück Papier. Der Kasten, das Siegel und die Aufschrift sind von Herrn Luker identificirt worden. Er hat erklärt, daß der Kasten wirklich den »»Mondstein« genannten Diamanten enthalten habe und hat sich dazu bekannt, daß er den so versiegelten Kasten am Nachmittage des 26. Juni d. J. dem verkleideten Herrn Godfrey Ablewhite übergeben habe. Hieraus ergiebt sich einfach der Schluß, daß der Diebstahl des Mondsteins das Motiv des Verbrechens war.
Was sodann die Art betrifft, wie das Verbrechen ausgeführt wurde:
Bei der Untersuchung des Zimmers, welches nur 7 Fuß hoch ist, ward eine an der Decke befindliche, auf das Dach führende Fallthür offen gefunden.
Die zum Zweck des Hinaufsteigens auf der Fallthür dienende und unter das Bett gehörige kurze Leiter stand an die Oeffnung gelehnt, so daß jede im Zimmer befindliche Person mit Leichtigkeit hinaussteigen konnte: in der Fallthür selbst fand sich grade neben der Stelle, wo von innen der Riegel befestigt war, ein mit einem sehr scharfen Instrument in das Holz geschnittenes viereckiges Loch. Auf diese Weise konnte jeder Mensch den Riegel von Außen zurückschieben, die Fallthür heben und sich allein oder mit Hilfe eines Complicen geräuschlos hinunterlassen, da das Zimmer, wie gesagt, nur 7 Fuß hoch war. Dieses Loch ist also ein unzweideutiger Beweis dafür, das eine oder mehrere Personen auf diese Weise in das Zimmer gelangt ist oder sind. Was die Art betrifft, in welcher diese Person oder Personen auf das Dach des Wirthshauses gelangte oder gelangten, so ist zu bemerken, daß das drittnächste Haus leer stand, weil daran gebaut wurde, daß die Bauarbeiter vor demselben eine lange, von der Straße bis zur Spitze des Hauses führende Leiter hatten stehen lassen, und daß diese Arbeiter, als sie am nächsten Morgen, dem 27., an die Arbeit gehen wollten, das Brett, welches sie vor die Leiter gebunden hatten, um deren Benutzung in ihrer Abwesenheit zu verhindern, von der Stelle genommen und auf der Erde liegend fanden. Was die Möglichkeit betrifft, unbemerkt diese Leiter hinauf, über die Dächer der Häuser hin und her und die Leiter wieder herabzusteigen, so ist es durch die eigene Aussage des Nachtpolizeiwächters erbracht, daß er Shore-Lane auf seiner nächtlichen Runde nur zweimal in der Stunde passirt. Auch bezeugen die Bewohner der Straße, daß Shore-Lane nach Mitternacht eine der verödetsten Straßen in London ist. Auch hier also scheint der Schluß gerechtfertigt, daß Leute mit gewöhnlicher Vorsicht und Geistesgegenwart unbemerkt die Leiter hinauf und wieder herabsteigen konnten. Daß, einmal auf dem Dache angekommen, ein Mann, der, auf der Fallthür liegend, ein Loch in dieselbe schnitt, in dieser Lage den Augen der Vorübergehenden durch die Brustwehr des Hauses völlig entzogen sein würde, ist durch einen Versuch außer Zweifel gestellt.
Was endlich die Person des- oder derjenigen betrifft, welcher oder welche das Verbrechen begangen haben:
1. Es ist bekannt, daß die Indier ein Interesse daran hatten,
sich in den Besitz des Diamanten zu setzen.
2. Es ist wenigstens
wahrscheinlich, daß der wie ein Indier aussehende Mann, welchen
Octavius Guy am Wagenfenster mit dem wie ein Handwerker gekleideten
Manne sprechen sah, einer der drei indischen Verschwörer war.
3.
Es ist gewiß, daß derselbe wie ein Handwerker gekleidete Mann
während des ganzen Abends des 26. gesehen worden ist, wie er Herrn
Godfrey Ablewhite aus Schritt und Tritt folgte, und daß er unter
Umständen, welche aus den Verdacht leiten, das er das Zimmer
untersuchte, in dem Schlafzimmer gefunden wurde, als man Herrn
Godfrey Ablewhite in dasselbe führte.
4. Es wurde ein Stück
zerrissenen Goldfadens in dem Schlafzimmer aufgelesen welches
Sachverständige für ein indisches, in England nicht bekanntes
Fabrikat erklären.
5. Am Morgen des 27. wurden drei Männer,
welche der Beschreibung der Indier entsprachen, in der unteren
Themsestraße beobachtet und bis zur Tower-Werfte verfolgt, wo man
sie mit dem nach Rotterdam gehenden Dampfboote abfahren sah.
Hier liegt ein, wenn nicht juristischer, doch moralischer Beweis vor, daß der Mord von den Indiern begangen wurde.
Ob der als Handwerker gekleidete Mann ein Mitschuldiger des Verbrechens war oder nicht, ist unmöglich zu sagen. Daß er den Mord allein begangen haben sollte, erscheint im höchsten Grade unwahrscheinlich. Allein würde er schwerlich im Stande gewesen sein, Herrn Ablewhite, der größer und stärker als er war, zu ersticken, ohne daß ein Kampf stattgefunden hätte oder ein Schrei gehört worden wäre. Ein im anstoßenden Zimmer schlafendes Dienstmädchen hörte nichts. Der unmittelbar unter dem Zimmer des Ermordeten schlafende Wirth eben so wenig. Alle Indicien drängen zu dem Schlusse, daß das Verbrechen von mehr als einer Person begangen wurde, und die Umstände, ich wiederhole es, rechtfertigen moralisch die Behauptung, daß es die Indier waren, welche das Verbrechen begingen.
Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß das Verdict des Leichenbeschauers aus Ermordung durch eine oder mehrere unbekannte Personen lautete. Die Familie des Herrn Ablewhite hat eine Belohnung ausgesetzt und nichts ist unversucht geblieben, um die schuldigen Personen zu entdecken. Der wie ein Handwerker gekleidete Mann hat alle an ihn gerichteten Fragen ausweichend zu beantworten gewußt. Man hat die Spur der Indier verfolgt. Ueber die Möglichkeit, dieser Letzteren noch einmal habhaft zu werden, werde ich noch am Schlusse dieses Berichts ein Wort zu sagen haben.
Inzwischen kann ich nun, nachdem ich betreffs des Todes des Herrn Godfrey Ablewhite alles Nothwendige beigebracht habe, zu der Erzählung Dessen übergehen, was mir über seine Handlungen vor, während und nach der Zeit, wo er sich mit Ihnen zusammen in Lady Verinder’s Hause befand, bekannt geworden ist.
III.
Ich beginne den nun von mir zu behandelnden Gegenstand mit der Bemerkung, daß das Leben des Herrn Godfrey Ablewhite der Betrachtung zwei verschiedene Seiten darbietet.
Die den Blicken des Publikums zugekehrte Seite bietet das Bild eines als Redner bei Versammlungen zu mildthätigen Zwecken renommirten Gentleman, der sein Verwaltungstalent verschiedenen, vorzugsweise weiblichen mildthätigen Gesellschaften zur Verfügung stellte. Die der Oeffentlichkeit entzogene Seite bietet das ganz entgegengesetzte Bild eines Roue’s, der in der Vorstadt eine nicht auf seinen Namen gekaufte Villa besaß, in welcher sich eine ebenfalls nicht auf seinen Namen engagirte Dame befand.
Bei meinen Nachforschungen in der Villa habe ich verschiedene schöne Bilder und Statuen, ein höchst geschmackvolles und vorzüglich gearbeitetes Améublement und ein Treibhaus mit den seltensten Blumen, dessen Gleichen schwerlich in ganz London zu finden sein dürfte, gesehen.
Meine Nachforschungen nach der Dame hatten zu der Entdeckung von Juwelen, welche sich den Blumen würdig anreihen, und von Wagen und Pferden geführt, welche in Hyde Park gerechtes Aufsehen bei den competentesten Richtern über solche Dinge erregt haben.
Das Alles ist an sich nichts Ungewöhnliches. Die Villa und die Dame sind so alltägliche Dinge im Londoner Leben, daß sch mich ihrer Erwähnung wegen fast entschuldigen zu müssen glaube. Aber was nach meiner Erfahrung nicht gewöhnlich und nicht alltäglich, das ist, daß alle diese schönen Dinge nicht nur bestellt, sondern auch bezahlt waren. Für die Bilder, die Statuen, die Blumen, die Juwelen, die Wagen und die Pferde war, wie meine Erkundigungen zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen ergeben haben, von den Lieferanten kein Schilling mehr zu fordern. Die Villa war auf Heller und Pfennig ausbezahlt und auf den Namen der Dame geschrieben.
Eine Lösung dieses Räthsels wäre auch mir vielleicht nicht möglich gewesen, wenn nicht Godfrey Ablewhite’s Tod zu einer Untersuchung seiner Angelegenheiten geführt hätte.
Diese Untersuchung hat ergeben: ——
Daß Herr Godfrey Ablewhite als einer von zwei Vormündern eines im Jahre 1848 noch unmündigen jungen Mannes mit der Verwaltung eines Vermögens von 20,000 Pfund betraut war. Daß im Monat Februar 1850 die Vormundschaft ihr Ende erreichte und der junge Mann die 20,000 Pfund zu erhalten hatte, daß ihm bis zu diesem Zeitpunkt ein jährliches Einkommen von 600 Pfund, halbjährlich zu Weihnachten und Johanni, von seinen Vormündern auszuzahlen war. Daß dieses Einkommen von dem verwaltenden Vormund, Herrn Godfrey Ablewhite, regelmäßig ausgezahlt wurde. Daß die 20,000 Pfund, deren Zinsen das Einkommen angeblich repräsentirte, schon zu Ende 1847 in wiederholten Veräußerungen der Velegungen gänzlich aufgezehrt war. Daß die Vollmacht, welche die Bankiers autorisirte, das Capital zu verkaufen und die verschiedenen Anweisungen zum Verkauf einzelner Beträge desselben, anscheinend von beiden Vormündern unterzeichnet waren. Und daß die Unterschrift des zweiten Vormunds, eines in den Ruhestand versetzten, auf dem Lande lebenden Officiers der Armee, jedes mal von dem verwaltenden Vormund, Herrn Godfrey Ablewhite, gefälscht war.
Diese Thatsachen enthalten die Erklärung für Herrn Godfrey’s respectables Benehmen bei Bezahlung der für die Villa und die Dame erforderlichen Summen, und wie Sie gleich sehen werden, auch noch für andere Dinge.
Wir können jetzt zu dem Datum des Geburtstages von Fräulein Verinder im Jahre 1848, dem 21. Juni, übergehen.
Tags zuvor war Herr Godfrey Ablewhite im Hause seines Vaters angekommen, und hatte denselben, wie ich von dem ältern Herrn Ablewhite selbst weiß, um ein Darlehn von 300 Pfund angesprochen. Bemerken Sie gefälligst die Summe und erinnern Sie sich, daß die halbjährliche Zahlung an seinen Mündel am 24. des Monats fällig war, sowie daß das ganze Vermögen des jungen Mannes bereits Ende 1847 von seinem Vormund verausgabt worden war.
Herr Ablewhite weigerte sich, seinem Sohn einen Pfennig zu borgen.
Am nächsten Tage ritt Herr Godfrey Ablewhite mit Ihnen nach Lady Verinder’s Landhause hinüber. Wenige Stunden später machte er, wie Sie mir selbst erzählt haben, Fräulein Verinder einen Heiraths-Antrag.
Mit der Annahme dieses Antrags hoffte er offenbar allen seinen Geldverlegenheiten jetzt und künftig ein Ende gemacht zu sehen. Aber was geschah? Fräulein Verinder lehnte den Antrag ab.
Am Abend des Geburtstags befand sich daher Herr Godfrey Ablewhite in folgender pecuniairen Situation:
Bis zum 24. des Monats mußte er 300 Pfund, bis zum Februar 1850 20,000 Pfund herbeischaffen. Wenn es ihm nicht gelang, sich diese Summen bis zu den betreffenden Tagen zu verschaffen, war er ein ruinirter Mann.
Was geschieht zunächst?
Sie erbittern den Doktor, Herrn Candy, durch Ihre Aeußerungen über seinen Beruf und er spielt Ihnen aus Rache dafür einen Streich mit einer Dosis Opium. Er überträgt die Verabreichung dieses in einem kleinen Flacon enthaltenen Tranks Herrn Godfrey Ablewhite, der seinen Antheil an diesem Streich selbst bei einer Gelegenheit bekannt hat, über welche Sie sogleich das Nähere erfahren sollen. Herr Godfrey Ablewhite ist nur um so bereitet, an der Verschwörung gegen Sie Theil zu nehmen, als er selbst im Laufe des Abends von Ihrer scharfen Zunge zu leiden gehabt hat. Er unterstützt Betteredge, als dieser Sie überreden will, vor’m Schlafengehen ein Glas Cognac und Wasser zu trinken. Er träufelt Ihre Dosis Opium verstohlen in Ihren kalten Grog und Sie nehmen das Getränk zu sich. ——
Lassen Sie uns jetzt, wenn es Ihnen recht ist, die Scene verwandeln und uns nach Herrn Luker’s Hause in Lambeth begeben und erlauben Sie mir die Bemerkung voran zuschicken, daß es Herrn Bruff und mir gemeinschaftlich gelungen ist, den Geldverleiher zu einem offenen Bekenntniß zu nöthigen. Wir haben seine Angaben sorgfältig gesichtet und hier haben Sie, was wir davon als wesentlich betrachten.
IV.
Freitag den 23. Juni 1848 wurde Herr Luker spät am Abend durch einen Besuch des Herrn Godfrey Ablewhite überrascht. Seine Ueberraschung stieg aber noch, als Herr Godfrey ihm den Mondstein präsentirte. Kein ähnlicher Diamant befindet sich, Herrn Luker’s erfahrener Aussage zufolge, im Besitz irgend einer Privatperson in Europa.
Herr Godfrey hatte in Betreff dieses prachtvollen Edelsteins zwei bescheidene Propositionen zu machen. Zuerst die, daß Herr Luker ihm denselben gefälligst abkaufen möge; zweitens, daß Herr Luker, falls er sich zu dem Kauf nicht bewogen finden sollte, den Diamanten in Commission nehmen und sofort eine Zahlung darauf leisten möge.
Herr Luker prüfte den Diamanten, wog ihn und schätzte den Werth desselben ab, bevor er eine Silbe antwortete. Nach seiner Schätzung war der Diamant, mit Rücksicht auf die darin befindliche Blase, nur dreißigtausend Pfund werth.
Nachdem Herr Luker darüber mit sich einig geworden, öffnete er den Mund zu der Frage: »Wie kommen Sie zu diesem Stein?« Nur sechs Worte! Sechs inhaltgschwere Worte!
Herr Godfrey Ablewhite fing eine Geschichte zu erzählen an. Herr Luker öffnete den Mund zum zweiten Male, dieses Mal, um nur fünf Worte zu sagen: »So geht die Sache nicht!«
Herr Godfrey Ablewhite fing eine andere Geschichte an. Herr Luker sah sich nicht veranlaßt, noch ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden. Er stand auf und klingelte dem Diener, um dem Herrn die Hausthür zu öffnen.
Unter der so auf ihn geübten Pression machte Herr Godfrey einen Essort und brachte nun eine neue verbesserte Version der Angelegenheit vor, die auf Folgendes hinauslief.
Nachdem er heimlich das Opium in Ihren Grog geträufelt, hatte er Ihnen gute Nacht gewünscht und war auf sein eigenes Zimmer gegangen. Es lag unmittelbar neben dem Ihrigen und hatte eine gemeinschaftliche Verbindungsthür mit demselben. Beim Eintritt in sein Zimmer schloß Herr Ablewhite, wie er meinte, diese Thür. Seine Geldverlegenheiten ließen ihn nicht schlafen. Fast eine Stunde saß er, über seine Lage nachdenkend, in Schlafrock und Pantoffeln auf. Gerade als er im Begriff war, sich in’s Bett zu legen, hörte er Sie in Ihrem Zimmer mit sich selber reden und fand, als er an die Verbindungsthür trat, daß er sie nicht, wie er geglaubt, geschlossen habe.
Er warf einen Blick in Ihr Zimmer, um zu sehen, was mit Ihnen sei. Er fand Sie, wie Sie eben im Begriffe waren, mit dem Licht in der Hand Ihr Zimmer zu verlassen. Er hörte Sie in einem Ihrer gewöhnlichen Sprechweise ganz unähnlichen Ton zu sich selber sagen: »Wie kann ich wissen? Vielleicht haben sich die Indier im Hause versteckt«
Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht anders gewußt, als daß er durch die Verabreichung des Opiums behilflich gewesen sei, Sie zum Opfer eines harmlosen Spaßes zu machen. Jetzt frappirte es ihn, daß das Opium eine Wirkung aus Sie übte, die er so wenig wie der Doktor selbst vorausgesehen habe. Aus Furcht vor einem möglichen Unglücksfall folgte er Ihnen leise, zu sehen, was Sie thun würden. Er folgte Ihnen bis zu Fräulein Verinder’s Wohnzimmer und sah Sie hineintreten. Sie ließen die Thür offen. Er sah durch die so zwischen Thür und Thürpfosten entstandene Spalte nicht nur, wie Sie den Diamanten aus der Schublade nahmen, sondern auch, wie Fräulein Verinder von ihrem Schlafzimmer aus durch die geöffnete Thür desselben Sie schweigend beobachtete. Er sah, daß sie gleichfalls sah, wie Sie den Diamanten nahmen.
Bevor Sie das Wohnzimmer wieder verließen, zögerten Sie ein wenig. Diese Zögerung benutzte Herr Godfrey, wieder auf sein Zimmer zu gehen, bevor Sie herauskämen und ihn bemerken möchten. Er erreichte sein Zimmer aber nur eben vor Ihnen. Sie sahen ihn, wie er glaubt, gerade in dem Augenblick, wo er durch die Verbindungsthür ging. Jedenfalls, behauptet er, riefen Sie nach ihm in einem sonderbar schläfrigen Ton.
Er kam wieder zu Ihnen hinein. Sie sahen ihn mit einem stumpfen, verschlafenen Blick an, Sie legten den Diamanten in seine Hand und sagten dabei zu ihm: »Nimm ihn wieder mit, Godfrey, nach der Bank Deines Vaters; da ist er sicher, hier aber nicht.« Dann wandten Sie unsicheren Schrittes ab, zogen Ihren Schlafrock an und setzten sich in den großen, auf Ihrem Zimmer stehen den Lehnstuhl. Daraus sagten Sie wieder: »Ich selbst kann ihn nicht nach der Bank zurückbringen. Mein Kopf ist mir schwer wie Blei und in meinen Füßen habe ich gar kein Gefühl.« Ihr Kopf sank auf die Rücklehne, Sie seufzten tief und schliefen ein.
Herr Godfrey Ablewhite ging mit dem Diamanten auf sein Zimmer zurück. Er giebt ferner an, daß er in jenem Augenblick zu keinem Entschluß gelangt sei, außer daß er abwarten wolle, was am nächsten Morgen geschähe.
Am nächsten Morgen zeigte es sich, daß Sie von dem, was Sie während der Nacht gethan und gesagt hatten, absolut nichts wußten. Zu gleicher Zeit zeigte Fräulein Verinder’s Sprache und Benehmen, daß sie entschlossen war, aus Rücksicht für Sie nichts zu sagen. Herr Godfrey Ablewhite hatte also, wenn er den Diamanten behielt, nichts zu fürchten. Der Mondstein bot sich ihm als ein Rettungsanker in der drohenden Gefahr eines sichern Ruins. Er steckte den Mondstein in die Tasche.
V.
Das war die Geschichte, die Ihr Vetter im Drang der Umstände Herrn Luker erzählte.
Herr Luker hielt die Geschichte in allen wesentlichen Punkten für wahr, aus dem einfachen Grunde, weil Herr Godfrey Ablewhite viel zu dumm gewesen sei, um so etwas erfinden zu können. Herr Bruff und ich stimmen mit Herrn Luker überein. weil wir sein Kriterium der Wahrheit der Geschichte für ein vollkommen zutreffendes halten.
Es fragte sich nun zunächst, was Herr Luker in der Mondstein-Angelegenheit thun würde. Er proponirte folgende Modalitäten als die einzigen, unter denen er sich dazu verstehen könne, sich mit einem selbst in seiner Branche so heiklichen und gefährlichen Geschäfte zu befassen.
Herr Luker erklärte sich bereit, Herrn Godfrey Ablewhite die Summe von 2000 Pfund unter der Bedingung zu leihen, daß der Mondstein bei ihm als Pfand deponirt werde.
Wenn Herr Godfrey Ablewhite nach Verlauf eines Jahres Herrn Luker 3000 Pfund bezahle, so solle er den Diamanten als ein ausgelöstes Pfand zurückerhalten. Wenn er nach Ablauf des Jahres die Zahlung nicht leiste, so solle das Pfand, mit andern Worten der Mondstein, Herrn Luker verfallen sein, der in diesem letzteren Falle Herrn Godfrey großmüthiger Weise verschiedene in seinem Besitz befindliche, mit früheren Geschäften zusammenhängende Wechsel zum Geschenk machen wolle.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß Herr Godfrey diese ungeheuerlichen Bedingungen mit Entrüstung zurückwies. Darauf gab Herr Luker ihm den Diamanten zurück und wünschte ihm guten Abend.
Ihr Vetter ging bis an die Thür und kehrte dann wieder um und richtete an Herrn Luker die Frage, ob er sich daraus verlassen könne, daß dieser das Geheimniß ihrer eben geführten Unterhaltung streng bewahren würde?
Herr Luker erklärte, sich in dieser Beziehung zu nichts verpflichten zu können. Wenn Herr Godfrey auf seine Bedingungen eingegangen wäre, so würde er ihn zum Complicen gemacht und auf seine Discretion sicher haben rechnen können. Wie die Sachen nun ständen, müsse Herr Luker sich von seinem eigenen Interesse leiten lassen. Falls ihm unbequeme Fragen vorgelegt würden, so könne nicht von ihm verlangt werden, daß er sich um eines Mannes willen compromittire, der es abgelehnt habe, mit ihm zu handeln.
Nach diefer Antwort that Herr Godfrey Ablewhite, was alle Geschöpfe —— menschliche so gut wie thierische —— thun, wenn sie sich in einer Falle gefangen sehen. Er blickte in einem Zustande hilfloser Verzweiflung umher. Zufällig fiel sein Auge auf den in einem beweglichen auf dem Kamin stehenden Kalender angegebenen Tag des Monats.
Es war der 23. Juni. Am 24-sten hatte er seinem Mündel 300 Pfund auszuzahlen und keine andere Aussicht, sich das Geld zu verschaffen, als die ihm von Herrn Luker eröffnete. Wäre nicht dieses elende Hinderniß gewesen, so hätte er mit dem Diamanten nach Amsterdam gehen, denselben dort in verschiedene Steine zerschneiden lassen und so bequem verkäuflich machen können. Wie aber die Dinge standen, blieb ihm keine Wahl: er mußte auf die Bedingungen des Herrn Luker eingehen. Am Ende hatte er doch ein ganzes Jahr vor sich, um sich die 3000 Pfund zu verschaffen, und ein Jahr ist eine lange Zeit.
Herr Luker setzte auf der Stelle die erforderlichen Schriftstücke auf. Nachdem dieselben unterzeichnet waren, gab er Herrn Godfrey Ablewhite zwei Anweisungen. Die eine unter dem Datum des 23. Juni, auf 300 Pfund, die andere, eine Woche später datiert, auf die Restsumme von 1700 Pfund lautend.
Wie der Mondstein den Bankiers des Herrn Luker übergeben wurde und wie die Indier Herrn Luker und Herrn Godfrey nach dieser Uebergabe behandelten, wissen Sie bereits.
Das nächste Ereigniß in dem Leben Ihres Vetters steht wieder mit Fräulein Verinder in Verbindung. Er machte ihr einen zweiten Heiraths-Antrag und erklärte sich später, nachdem Fräulein Verinder denselben zuerst angenommen hatte, auf ihren Wunsch bereit, das eingegangene Verlöbniß wieder aufzuheben. Einen der Gründe, die ihn dazu bestimmten, hat Herr Bruff richtig vermuthet Fräulein Verinder hatte nur die Nutznießung des Vermögens ihrer Mutter, und es konnte daher die erforderliche Summe von 20.000 Pfund diesem Vermögen nicht entnommen werden.
Aber ich höre Sie sagen: ich hätte doch, wenn er geheirathet hätte, von dem Jahres-Einkommen seiner Frau die zur Einlösung des verpfändeten Diamanten nöthigen 3000 Pfund ersparen können. Das hätte er gewiß können, vorausgesetzt, daß weder seine Frau noch ihre Vormünder etwas dagegen einzuwenden gehabt hätten, daß er in dem ersten Jahre seiner Verheirathung zu einem unbekannten Zweck mehr als die Hälfte des zu seiner Verfügung stehenden Einkommens vorweg genommen hätte. Aber selbst wenn er dieses Hinderniß überwunden hätte, so blieb noch ein anderes im Hintergrunde lauerndes übrig. Die Dame in der Villa hatte von seiner beabsichtigten Heirath gehört. Ein stolzes Weib, Herr Blake, von der Art, die nicht mit sich spaßen läßt —— eine von jenen schönen Frauen mit hellem Teint und römischer Nase. Sie verachtete Herrn Godfrey Ablewhite aus tiefstem Herzensgrunde; sie erklärte sich bereit, dieser Verachtung keinen Ausdruck zu geben, wenn er gut für sie sorgte, —— andernfalls würde sie wissen ihre Verachtung laut werden zu lassen. Das Nutznießungsrecht Fräulein Verinder’s ließ ihm aber die Erfüllung dieses Verlangens eben so wenig möglich erscheinen, als die Erhebung der 20,000 Pfund. Unter diesen Umständen konnte er nicht heirathen, konnte er wirklich nicht heirathen.
Wie er dann sein Glück noch einmal mit einer andern Dame versuchte und wie auch dieses Heirathsproject an der Geldfrage scheiterte, das wissen Sie auch schon. Auch von dem Vermächtniß von 5000 Pfund, welches ihm kurz nachher eine seiner vielen Anbeterinnen, die er sich durch sein bezauberndes Wesen zu gewinnen gewußt hatte, hinterließ, haben Sie bereits gehört. Dieses Vermächtniß brachte ihm, wie die Ereignisse gezeigt haben, den Tod.
Ich habe in Erfahrung gebracht, daß er auf der Reise, die er nach Empfang jener 5000 Pfund unternahm, nach Amsterdam ging. Hier traf er alle nöthigen Anstalten zur Zerschneidung des Diamanten in verschiedene Steine. Er kehrte in einer Verkleidung zurück und löste den Diamanten an dem bestimmten Tage aus. Beide Theile hatten sich aus Vorsicht darüber verständigt, daß bis zur Entnahme des Diamanten auf der Bank noch einige Tage verfließen sollten. Wenn er denselben nach Amsterdam hätte in Sicherheit bringen können, so würde von Juli 1849 bis Februar 1850, dem Zeitpunkt der Mündigkeit des jungen Mannes, gerade Zeit genug gewesen sein, um den Diamanten zerschneiden zu lassen und sich in den verschiedenen Steinen, gleichviel ob in geschliffenem oder ungeschliffenem Zustand, leicht verkäufliche Gegenstände zu verschaffen. Urtheilen Sie darnach selbst, welche Gründe er hatte, sich der Gefahr auszusetzen, der er erlegen ist. Wenn es je einen Fall gegeben hat, wo ein Mensch Ursache hatte Alles auf eine Karte zu setzen, so war es dieser.
Bevor ich diesen Bericht schließe, habe ich nur noch zu erwähnen, daß noch Hoffnung vorhanden ist der Indier habhaft zu werden und den Mondstein wieder zu erlangen. Es ist aller Grund vorhanden anzunehmen, daß die Indier sich augenblicklich auf einem Ostindienfahrer aus dem Wege nach Bombay befinden. Das Schiff wird, wenn ihm keine Unfälle begegnen, unterwegs keinen andern Hafen anlaufen; und die Behörden in Bombay, die bereits durch die Ueberlandpost benachrichtigt sind, werden sich im Moment, wo das Schiff in den Hafen einläuft an Bord einfinden.
Ich verbleibe mit ausgezeichneter Hochachtung
Richard
Cuff,
früher Sergeant der geheimen Polizei,
Scotland Yard,
London.
Siebente Erzählung.
in einem Brief des Herrn Candy.
Frizinghall, Mittwoch, den 26. September 1849.
Lieber Herr Franklin Blake.
Sie werden die traurige Nachricht, die ich Ihnen zu melden habe, schon errathen, wenn Sie umliegend Ihren an Ezra Jennings gerichteten Brief uneröffnet wiederfinden.
Er starb in meinen Armen in der Frühe vorigen Mittwoch bei Sonnenaufgang.
Ich gaube keinen Tadel dafür zu verdienen, daß ich Sie nicht von seinem nahen Ende in Kenntniß gesetzt habe. Er hatte mir ausdrücklich verboten, Ihnen zu schreiben. »Ich verdanke,« hatte er gesagt, »Herrn Franklin einige glückliche Tage. Betrüben Sie ihn nicht, Herr Candy, betrüben Sie ihn nicht!«
Seine Leiden waren, bis auf die letzten sechs Stunden seines Lebens, schrecklich mit anzusehen. In den Intervallen, wo die Schmerzen nachließen und sein Geist klar war, bat ich ihn, mir Verwandte von ihm zu nennen, an die ich schreiben könne. Er bat mich um Verzeihung, daß er mir etwas abschlagen müsse, und fügte dann ohne Bitterkeit hinzu, er wolle sterben wie er gelebt habe, vergessen und unbekannt. Bei diesem Entschluß verharrte er bis an sein Ende. Jetzt ist wohl keine Hoffnung mehr, etwas Näheres über seine Vergangenheit zu erfahren. Seine Geschichte ist und bleibt für uns ein weißes Blatt.
An dem Tage vor seinem Tode bat er mich, ihm alle seine Papiere auf’s Bett zu bringen. Dieselben bestanden aus einem kleinen Bündel alter Briefe, das er bei Seite legte, seinem unvollendeten Werk und seinem Tagebuch in vielen verschlossenen Bänden. Er öffnete den letzten Band und riß, eines nach dem andern, die Blätter aus, welche seine Auszeichnungen über die hier mit Ihnen verlebte Zeit enthielten. »Geben Sie.« sagte er, »diese Blätter Herrn Franklin Blake. Vielleicht, daß es ihn in künftigen Jahren einmal interessirt, einen Blick auf dieselben zu werfen.« Dann faltete er die Hände und betete inbrünstig zu Gott, daß er Sie und die Ihnen theuren Menschen segnen möge. Er äußerte, er würde Sie gern noch einmal sehen, im nächsten Augenblick aber hatte er seinen Sinn wieder geändert. »Nein!« antwortete er, als ich mich erbot, Ihnen zu schreiben; »ich will ihn nicht betrüben!«
Aus seinen Wunsch nahm ich dann, unter Zurücklassung der für Sie bestimmten Blätter, die sämtlichen Papiere, das Briefbündel, das unvollendete Werk und die Bände des Tagebuchs und packte sie alle in einen mit meinem Petschaft versiegelten Umschlag. »Versprechen Sie mir,« sagte er, »daß Sie dieses Packet mit eigener Hand in meinen Sarg legen und dasselbe auch, nachdem das geschehen, von keiner andern Hand berühren lassen wollen.«
Ich gab ihm das Versprechen und habe es gehalten.
Dann hatte er noch eine Bitte, deren Erfüllung mich einen harten Kampf gekostet hat. Er sagte: »Lassen Sie mein Grab in Vergessenheit gerathen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht zugeben wollen, daß irgend ein Denkmal, auch nicht der allergewöhnlichste Grabstein, auf meinem Begräbnißplatz errichtet werde. Lassen Sie mich ungekannt und namenlos in meiner ewigen Ruhe liegen.« Als ich ihn von diesem Entschluß abzubringen suchte, gerieth er zum ersten und einzigen Male in eine leidenschaftliche Aufregung.
Das konnte ich nicht ertragen und ließ die Sache fallen. Und nun ist die Stätte seines Grabes durch nichts als einen kleinen Grashügel bezeichnet. Mit der Zeit werden sich rund umher Grabsteine erheben und unsere Nachkommen werden sich über das namenlose Grab verwundern. Wie ich schon bemerkt habe, hörten seine Schmerzen sechs Stunden vor seinem Tode auf. Er schlummerte ein wenig und schien zu träumen. Ein- oder zweimal lächelte er. Der Name »Ella,« vermuthlich der Name eines Weibes, kam im Schlaf oft über seine Lippen. Wenige Minuten vor seinem Ende bat er mich, ihn im Bett aufzurichten, um durch sein Fenster die Sonne ausgehen zu sehen. Er war sehr schwach; sein Kopf sank auf meine Schulter. Er flüsterte: »Es ist vorüber!« Dann sagte er: »Küssen Sie mich!« Ich küßte ihn auf die Stirne. Plötzlich erhob er den Kopf; die Sonnenstrahlen fielen auf sein Gesicht, das einen schönen Verklärten Ausdruck annahm. Er rief dreimal laut: »Friede! Friede! Friede!« Sein Kopf sank abermals auf meine Schulter und seine langen Leiden hatten für immer ein Ende.
Er ist von uns gegangen. Er war nach meiner Ueberzeugung ein seltener Mensch, obgleich die Welt nichts von ihm wußte. Er trug seine schwere Lebenslast muthig und tapfer. Er hatte dabei das mildeste Temperament, daß mir je bei einem Menschen vorgekommen ist. Sein Verlust macht mich sehr einsam. Vielleicht bin ich seit meiner Krankheit nicht mehr der Alte. Bisweilen denke ich daran, meine Praxis aufzugeben und fortzugehen, um eines der ausländischen Bäder zu versuchen.
Wie es hier heißt, wollen Sie im nächsten Monat Ihre Hochzeit mit Fräulein Verinder feiern. Erlauben Sie mir, Ihnen dazu meinen herzlichsten Glückwunsch zu sagen.
Die Blätter aus dem Tagebuche meines armen verstorbenen Freundes liegen in ein Couvert eingesiegelt in meinem Hause für Sie bereit. Ich habe sie der Post nicht anvertrauen mögen.
Mit den besten Empfehlungen und Glückwünschen für Fräulein Verinder verbleibe ich
Ihr treu ergebener
Thomas Candy.
Achte Erzählung.
von Gabriel Betteredge.
Ich bin, wie sich der Leser ohne Zweifel erinnern wird, derjenige, der den Anfang unserer Geschichte berichtet hat. Ich soll nun auch derjenige sein, der, als der letzte im Zuge, die Geschichte, so zu sagen, abschließt, aber glaube Niemand, daß ich etwa noch ein Schlußwort in Betreff des Diamanten zu sagen hätte. Ich verabscheue diesen unglücklichen Edelstein und ich verweise den Leser für weitere Nachrichten über den Mondstein, sofern solche im gegenwärtigen Augenblick erwartet werden können, auf andere Gewährsmänner. Mein Zweck bei diesen Zeilen ist, eine Thatsache in der Geschichte der Familie,zu berichten, welche alle Uebrigen mit Stillschweigen übergangen haben und welche ich nicht in dieser Weise geringschätzig bei Seite gesetzt lassen möchte. Die Thatsache welche ich meine, ist die Heirath Fräulein Rachel’s und Herrn Franklin Blake’s. Dieses bedeutsame Ereigniß fand am Dienstag, den 9. October 1849, in unserm Hause in Yorkshire statt. Ich erhielt einen neuen Anzug zu dieser festlichen Gelegenheit und das junge Paar reiste nach Schottland, um dort die Flitterwochen zu verleben.
Ich muß bekennen, daß ich nach dem Familienfeste dergleichen seit dem Tode unserer armen gnädigen Frau in unserem Hause so selten geworden waren, am Abend des Hochzeitstages auf die Gesundheit des jungen Paares einen Schluck zu viel trank.
Wenn Du, lieber Leser, Dir jemals etwas Aehnliches hast zu Schulden kommen lassen, so wirst Du meine Schwäche begreifen und nachsichtig beurtheilen Wenn nicht, so wirst Du wahrscheinlich sagen: »Der widerwärtige alte Mann! Warum erzählt er uns das?« Ich habe aber meine Gründe.
Als ich also meinen Schluck zu viel genommen hatte, —— sei nur ruhig! Du haft auch Deine Schwäche, wenn es auch eine andere ist —— nahm ich meine Zuflucht zu dem einzigen unfehlbaren Radikalmittel als das Ihr schon den Robinson Crusoe kennt. Wo ich das unvergleichliche Buch aufschlug, weiß ich nicht mehr, wohl aber weiß ich noch sehr gut, wo die gedruckten Zeilen zuletzt in einander zu laufen anfingen. Es war auf Seite 318, eine kleine Stelle über Robinson Crusoe’s Heirath, wie folgt:
»Ich überdachte daß ich ein Weib hatte« —— wohlgemerkt, das hatte Herr Franklin auch! —— »daß mir mein Weib ein Kind geschenkt hatte« —— abermals wohlgemerkt das konnte bei Herrn Franklin auch noch zutreffen! —— »und daß meine Frau dann« —— Was Robinson Crusoes Frau »dann« gethan oder nicht gethan hatte, verlangte ich nicht weiter zu wissen. Ich strich die Worte in Betreff des Kindes mit meinem Bleistift an und legte ein Stück Papier als Zeichen zwischen die Blätter: »Lieg Du da,« sagte ich, »bis die Heirath zwischen Herrn Franklin und Fräulein Rache! ein paar Monat älter ist, dann wollen wir uns wieder sprechen.«
Die Monate vergingen, und zwar deren mehr als ich mir gedacht hatte, ohne daß sich eine Veranlassung geboten hätte, das Zeichen im Buch aus seiner Ruhe zu stören. Erst in diesem Monat November 1850 trat Herr Franklin in bester Laune in mein Zimmer und sagte: »Betteredge! Ich habe eine Neuigkeit für Sie! Es wird nicht mehr sehr lange dauern, bis sich im Hause etwas ereignet.«
»Betrifft es die Familie, Herr?« fragte ich.
»Gewiß thut es das,« antwortete Herr Franklin
»Hat Ihre liebe Frau irgend etwas damit zu thun, wenn ich fragen darf?«
»Sehr viel,« sagte Herr Franklin, der anfing, etwas überrascht auszusehen.«
»Sie brauchen kein Wort weiter zu sagen, Herr,« antwortete ich. »Gott segne Sie beide! Ich freue mich herzlich über die Nachricht!«
Herr Blake starrte mich an, als ob er vom Blitz gerührt wäre »Darf ich fragen, woher Sie Ihre Nachrichten haben? fragte er. »Ich bin erst vor fünf Minuten unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit in das Geheimniß eingeweiht worden.«
Das war eine Gelegenheit, Robinson Crusoe herbeizuholen! Das war eine erwünschte Veranlassung, die kleine Stelle über das Kind, welche ich an Herrn Franklin’s Hochzeitstag angestrichen hatte, vorzulesen! Ich las die merkwürdigen Worte mit der« gebührenden Emphase vor und sah ihm dann scharf ins Gesicht» »Nun Herr, glauben Sie jetzt an Robinson Crusoe?« fragte ich mit der der Gelegenheit angemessenen Feierlichkeit.
»Betteredge!« antwortete Herr Franklin mit gleicher «Feierlichkeit, »jetzt glaube ich.« Wir reichten uns die Hände und ich fühlte, daß ich ihn bekehrt hatte.
Nachdem ich diese außerordentliche Begebenheit berichtet habe, trete ich zum zweiten Mal vom Schauplatz dieser Blätter ab. Lache Niemand über die merkwürdige hier erzählte Anekdote Ueber alles andere was ich geschrieben habe, könnt Ihr Euch so viel Ihr wollt lustig machen, aber wenn ich über Robinson Crusoe schreibe, so ist es mir, bei Gott! Ernst, und ich verlange, daß Ihr es auch mit Ernst aufnehmt. Nun bin ich fertig. Meine Damen und Herren, ich empfehle mich Ihnen und schließe die Geschichte ab.