Armadale



Erstes Kapitel.

Es fragt sich, ob es auf dem ganzen bewohnten Erdballe einen Ort gibt, der dem neugierigen Reisenden so wenig Interessantes bietet, wie die Stadt Castletown, welche Allan und Midwinter jetzt durchwanderten. Um mit dem Strande den Anfang zumachen, so gab es dort einen inneren Hafen zu sehen, mit einer Zugbrücke welche die Schiffe durchließ; einen äußeren Hafen, der mit einem zwerghaften Leuchtthurme endete; eine flache Küstenansicht zur Rechten und eine flache Küstenansicht zur Linken. In der Einöde der inneren Stadt stand ein plumpes graues Gebäude, welches »das Schloß« genannt wurde; außerdem ein Denkstein, der einem gewissen Gouverneur Smelt gewidmet war und dessen obere Fläche offenbar bestimmt war, eine Statue zu tragen, doch keine Statue trug. Außerdem gab es eine Kaserne, welche die der Insel zugetheilte halbe Compagnie Soldaten beherbergte und an deren einsamer Thür eine einzige Schildwache melancholisch auf und ab wankte. Die vorherrschende Farbe der Stadt war ein mattes Grau. Zwischen den wenigen offenen Verkaufsläden sah man hier und da andere, welche geschlossen waren, nachdem die Inhaber sie in Verzweiflung aufgegeben hatten. Das langweilige Umherschlendern von Bootsleuten am Lande war hier von einer dreifachen Langweiligkeit; die jungen Leute der Nachbarschaft rauchten zusammen in stummer Niedergeschlagenheit an der vor dem Winde geschützten Seite einer verfallenen Mauer; die zerlumpten Kinder sagten mechanisch »Geben Sie uns einen Penny«, und versanken, noch ehe die mildthätige Hand die großmüthige Tasche zu durchsuchen vermochte, wieder in menschenfeindliche Zweifel an der menschlichen Natur, die sie angefleht hatten. Grabesstille lag über dem Friedhofe und füllte diese elende Stadt. Nur ein einziges erfreulich aussehendes Gebäude erhob sich trostbringend in der Wüstenei jener grausigen Straßen. Von den Studenten des benachbarten König-Wilhel-Collegs frequentiert, war dieses Gebäude natürlicherweise dem Dienste eines Conditors gewidmet. Hier gab es wenigstens hinter den Fenstern etwas für den Fremden zu sehen; denn hier saßen auf hohen Sesseln die Schüler des Collegs mit baumelnden Beinen und langsam kauenden Kinnladen und verschlangen in der fürchterlichen Stille von Castletown mit ernsten Mienen ihre Kuchen.

»Mich soll der Henker holen, wenn ich noch länger die Jungen und die Kuchen anzugaffen im Stande bin!« rief Allan, seinen Freund von der Conditorei hinweg zerrend »Laß uns sehen, ob wir in der nächsten Straße nichts Unterhaltenderes finden können.«

Der erste unterhaltende Gegenstand in der nächsten Straße war der Laden eines Bildhauers und Vergolders, der eben im letzten Stadium commerciellen Verfalls den Geist aushauchte Auf dem Ladentische im Innern war nichts weiter zu sehen als der Kopf eines Knaben, der in der ungestörten Stille des Ortes friedlich schlummernd dalag. Im Fenster erblickte der vorübergehende Fremde drei arg von den Fliegen heimgesuchte kleine Bilderrahmen, einen in Folge langer Vernachlässigung mit Staub bedeckten Zettel, welcher ankündigte, daß das Haus zu vermiethen sei, und einen einzigen colorirten Kupferstich, den letzten einer Reihe von Bildern, welche nach den gewaltigsten Mäßigkeitsgrundsätzen die Gräuel der Trunkenheit - illustrierten. Die Composition, welche eine leere Branntweinflasche, eine geräumige Dachkammer, einen Bibelvorleser und eine vor ihm aus dem Boden liegende, sterbende Familie darstellt« suchte die Gunst des Publikums unter dem völlig untadelhaften Titel »Die Hand des Todes.« Allan’s Entschlossenheit, der Stadt Castletown einige Unterhaltung abzugewinnen, hatte vielem widerstanden; doch jetzt ließ dieselbe ihn endlich im Stich. Er schlug daher einen Ausflug nach einem andern Orte vor. Da Midwinter ihm bereitwillig beistimmte, kehrten sie nach dem Gasthofe zurück, um sich Auskunft geben zu lassen. Dank der entgegenkommenden Vertraulichkeit Allan’s einerseits und seinem völligen Mangel an Klarheit bei seinen Fragestellungen andrerseits sahen sich die beiden Fremden von Auskunft förmlich überfluthet, und zwar von Auskunft, die sich auf alles, nur nicht auf den Gegenstand bezog, der sie nach dem Gasthofe geführt hatte. Sie machten verschiedene interessante Entdeckungen in Bezug auf die Gesetze und die Constitution der Insel Man und die Sitten und Bräuche der Eingeborenen. Zu Allan’s großem Entzücken sprachen die Manxianer von England wie von einer wohlbekannten nahe gelegenen Insel, die sich in gewisser Entfernung von dem centralen Kaiserreiche der Insel Man, befinde. Es ward den beiden Engländern ferner offenbart, daß dieses glückliche kleine Volk sich seiner eigenen Gesetze erfreue, welche alljährlich einmal durch den Gouverneur und die beiden Oberrichten in entsprechendem Costüme auf dem Gipfel eines alten Hügels öffentlich bekannt gemacht wurden. Im Besitze dieser beneidenswerthen Institution genoß die Insel noch den unschätzbaren Segen eines eigenen Parlaments, das »Haus der Schlüssel« genannt, welches vor jenem andern Parlamente auf der benachbarten Insel den Vortheil voraus hatte, daß die Mitglieder sich ohne das Volk behalfen und sich feierlichst gegenseitig erwählten. Mit diesen und vielen andern Neuigkeiten, die er von allen möglichen Arten von Leuten innerhalb und außerhalb des Gasthofs gesammelt, verkürzte Allan sich auf seine eigene unstäte Weise die Zeit, bis das Geplauder eines natürlichen Todes starb und Midwinter, der sich inzwischen bei Seite mit dem Wirthe unterhalten hatte, ihn ruhig an den in Frage stehenden Gegenstand erinnerte. Midwinter hatte in Erfahrung gebracht, daß die schönste Küstengegend der Insel nach Westen und Süden gelegen sei und daß sich in jenen Regionen ein Fischerdorf befinde, Port-St.-Mary genannt, das sich eines Gasthofes zu rühmen habe, in welchem Reisende übernachten könnten. Wenn Allan’s Eindrücke von Castletown ihn noch zu einem Ausfluge nach einem andern Orte geneigt machten, so dürfe er dies nur sagen und es solle ihm augenblicklich ein Fuhrwerk zu Gebote stehen. Allan griff mit beiden Händen zu, und in zehn Minuten befand er sich mit Midwinter auf der Fahrt nach den westlichen Einöden der Insel.

In dieser Weise war der Tag nach Mr. Brock’s Abreise bis hierher verstrichen, ohne daß sich andere als ganz unbedeutende Ereignisse zugetragen —— so unbedeutende Ereignisse, daß selbst Midwinter’s ängstliche Wachsamkeit nichts in denselben zu erblicken vermochte, und so blieb es bis der Abend kam —— ein Abend, den wenigstens der eine der beiden Gefährten bis zu seinem letzten Lebenstage nicht vergessen sollte.

Ehe die Reisenden noch zwei Meilen ihres Weges zurückgelegt hatten, ereignete sich ein Unfall. Das Pferd stürzte und der Fuhrmann erklärte, daß dasselbe ernstlich verletzt sei. Es blieb ihnen daher keine andere Wahl, als entweder ein anderes Fuhrwerk aus Castletown kommen zu lassen oder den Weg nach Port-St.-Mary zu Fuße fortzusetzen. Sie entschlossen sieh zu Letzterem und waren noch nicht weit gegangen, als sie von einem Herrn eingeholt wurden, welcher allein in einer offenen Chaise fuhr. Derselbe stellte sich ihnen höflich als einen Arzt vor, der in unmittelbarer Nähe von Port-St.-Mary wohne, und bot ihnen Plätze in seinem Wagen an. Stets zu neuen Bekanntschaften bereit, nahm Allan sofort die Einladung an. Er und der Doctor, dessen Name, wie sich bald ergab, Hawbury war, wurden freundschaftlich vertraut, als sie noch keine fünf Minuten im Wagen gesessen hatten, während Midwinter zurückhaltend und schweigend hinter ihnen saß. Vor dem Hause des Doctors schieden sie von einander, indem Allan laut die hübschen französischen Fenster des Doctors und dessen zierlichen Blumengarten und Rasen bewunderte und ihm beim Abschied die Hand drückte, wie wenn sie einander seit frühester Kindheit gekannt hätten. In Port-St.-Mary angelangt, sahen die beiden Freunde sich in einem zweiten Castletown in verjüngtem Maßstabe. Aber die umliegende Gegend —— wild, offen und hügelig —— war ihres Rufes würdig. Ein Spaziergang half ihnen über einen guten Theil des Tages hinweg; es war noch immer der harmlose, müßige Tag, der es von Anfang an gewesen. Endlich rückte der Abend heran. Sie warteten noch eine Weile, um die Sonne zu bewundern, welche majestätisch hinter Hügel, Haide und Felsenriff ins Meer hinabsank, während sie sich von Mr. Brock und seiner langen Heimreise unterhielten; dann kehrten sie ins Hotel zurück, um ihr frühes Nachtessen zu bestellen. Immer näher und näher rückte die Nacht heran und mit ihr ein Abenteuer für die beiden Freunde, während doch ihre bisherigen Erlebnisse noch immer ein solches Abenteuer nicht ahnen ließen, sondern höchstens lächerlicher Natur waren. Das Nachtessen war schlecht zubereitet, und die Aufwärterin von einer unaussprechlichen Dummheit; der altmodische Glockenzug im Gastzimmer war, als Allan geschellt, abgerissen und hatte im Herunterfallen eine bemalte Porzellan-Schäferin getroffen und dieselbe in Scherben auf den Boden geworfen. Dieser Art waren die Ereignisse gewesen, als das Zwielicht erlosch und Kerzen ins Zimmer gebracht wurden.

Da Allan seinen Freund Midwinter nach der doppelten Strapaze einer schlaflosen Nacht und eines Unruhigen Tages wenig zur Unterhaltung aufgelegt fand, ließ er ihn auf dem Sofa ruhen und ging in die Hausflur, in der Hoffnung, dort Jemanden zu entdecken, mit dem er sich unterhalten könne. Hier führte ein abermaliges unbedeutendes Ereigniß Allan mit Mr. Hawbury zusammen und half —— ob zum Glücke oder nicht, dies sollte sich erst zeigen —— die Bekanntschaft zwischen ihnen befestigen.

Die Schenkstube des Wirthshauses befand sich an dem einen Ende der Hausflur, und in derselben war die Wirthin beschäftigt, ein Glas Grog für den Doctor zu bereiten, der soeben hereingekommen war, ein wenig zu Plaudern. Da Allan um Erlaubniß bat, beim Plaudern und Trinken der Dritte sein zu dürfen, reichte Mr. Hawbury ihm höflich das Glas, welches die Wirthin soeben gefüllt hatte. Dasselbe enthielt kalten Grog. Eine auffallende Veränderung in Allan’s Gesichte, wie er plötzlich zurücktrat und sich statt dessen Whisky ausbat, entging dem Auge des Arztes nicht. »Eine nervöse Antipathie«, sagte der Dotter, indem er das Glas ruhig für sich nahm. Diese Bemerkung nöthigte Allan zu dem Bekenntniß daß er einen unüberwindlichen Ekel gegen den Geruch und Geschmack von Rum habe, und er war thöricht genug, sich dessen ein wenig zu schämen. Mit welcher andern Flüssigkeit dieses Getränk auch immer vermischt sein mochte —— seine Geruchs- und Geschmacksorgane entdeckten dasselbe augenblicklich, und die bloße Berührung der Mischung mit seinen Lippen verursachte ihm eine tödtliche Uebelkeit. Von diesem Bekenntnisse ausgehend, wandte das Gespräch sich dem Gegenstande der Antipathien im Allgemeinen zu, und der Doctor bekannte seinerseits, daß er ein berufsmäßiges Interesse an dem Gegenstande nehme und zu Hause einige merkwürdige Illustrationen desselben besitze, die sein neuer Bekannter, falls er diesen Abend nichts Besseres zu thun habe und in einer Stunde etwa, nachdem die Berufspflichten des Doctors zu Ende seien, nach seinem Hause kommen wolle, dort in Augenschein nehmen könne.

Nachdem er die Einladung zugleich im Namen Midwinter’s mit Herzlichkeit angenommen hatte, kehrte Allem in das Gastzimmer zurück, um sich nach seinem Freunde umzuschauen. Midwinter lag noch immer halb wach halb schlafend auf dem Sofa und die Ortszeitung entfiel eben seiner matten Hand.

»Ich hörte Deine Stimme in der Hausflur«, sagte er schläfrig. »Mit wem unterhieltest Du Dich?«

»Mit dem Doctor«, erwiderte Allan. »Ich soll in einer Stunde eine Cigarre bei ihm rauchen. Willst Du mitkommen?«

Midwinter willigte mit einem milden Seufzer ein. Von Natur allen neuen Bekanntschaften abgeneigt, trug seine Müdigkeit noch zu dem Widerstreben bei, mit dem er die Einladung des Doctors annahm. Doch wie die Sachen standen, blieb ihm nichts weiter übrig als zu gehen, denn bei Allan’s constitutioneller Unvorsichtigkeit war es nicht gerathen, ihn irgendwo allein hingehen zu lassen, und namentlich nicht nach dem Hause eines Fremden. Mr. Brock hätte seinen Zögling sicherlich nicht allein zu dem Fremden gehen lassen, und Midwinter war sich noch immer ängstlich bewußt, daß er Mr.. Brocks Stelle einnehme.

»Was sollen wir anfangen, bis es Zeit ist zu gehen?« frug Allan, um sich blickend. »Giebt’s hier irgendetwas zu lesen?« fügte er hinzu, indem er die Zeitung erblickte und dieselbe vom Boden aufnahm.

»Ich bin zu müde, um nachzusehen. Wenn Du etwas findest, lies es vor«, sagte Midwinter, indem er dachte, das Lesen werde ihn vielleicht wach erhalten.

Ein Theil der Zeitung, und zwar ein nicht geringer Theil derselben, war Auszügen aus kürzlich in London erschienenen Büchern gewidmet. Eins der Werke, welches die beträchtlichste Beisteuer hierzu lieferte, war von der Art, um Allan’s besonderes Interesse zu erwecken, denn es war eine höchst pikante Erzählung von Reiseabenteuern in den Wildnissen von Australien, welche die Leiden der Reisenden schilderte, die sich in der pfadlosen Wildniß verirrt und in Gefahr waren, vor Durst umzukommen Allan kündigte seinem Freunde an, daß er etwas gefunden habe, das ihm die Haut schaudern mache, und fing eifrig die Stelle vorzulesen an. Entschlossen, nicht einzuschlafen, folgte Midwinter der Erzählung Satz für Satz, ohne ein Wort zu verlieren. Die Berathschlagung der Verirrten Reisenden, denen Verschmachtungstod entgegenstierte; ihr Entschluß, weiter zu dringen, solange ihre Kräfte noch aushielten, der heftige Regenschauer; ihre vergeblichen Bemühungen, das Regenwasser aufzufangen; die kurze Erquickung, die sie in dem Aussaugen des Wassers aus ihren durchnäßten Kleidern fanden; die erneuten Leiden, welche die nächsten Stunden brachten; das nächtliche Vordringen der Stärksten der Gesellschaft, indem sie die Schwächsten zurückließen, ihr weiterer Marsch bei Tagesanbruch, wobei sie sich von einer Flucht von Vögeln leiten ließen; ihre endliche Entdeckung eines großen Teiches, der ihnen das Leben rettete «— alles dies vermochte Midwinters sinkende Aufmerksamkeit nur noch mit Mühe zu erfassen, indem Allan’s Stimme seinem Ohre mit jedem Satze matter und matter erklang. Bald verschwanden die Worte ganz und gar und es blieb nichts, als der langsam sinkende Ton der Stimme. Dann wurde es vor seinen Augen allmählig finster, der Ton von Allan’s Stimme wich einer köstlichen Stille, und die letzten wachen Eindrücke des müden Midwinter nahmen ein sanftes Ende.

Das nächste Ereigniß, dessen er sich bewußt ward, war ein lautes Schellen an der verschlossenen Hausthür des Wirthshauses. Mit der schnellen Munterkeit eines Mannes, dessen Lebensweise ihn daran gewöhnt hat, in einem Augenblicke wach zu sein, sprang er vom Sofa auf. Ein flüchtiger Blick zeigte ihm, daß das Zimmer leer sei, und als er auf seine Uhr blickte, sah er, daß es fast Mitternacht war. Das Geräusch, welches die schläfrige Magd beim Thür öffnen machte, und die im nächsten Augenblicke folgenden schnellen Schritte in der Hausflur erfüllten ihn plötzlich mit schlimmer Ahnung. Wie er eilig vorschritt, um hinauszugehen und zu sehen, was es gebe, öffnete sich die Thür des Gastzimmers und der Doctor stand vor ihm.

»Es thut mir leid, Sie zu stören«, sagte Mr. Hawbury; »seien Sie unbesorgt, es ist kein Unglück geschehen.«

»Wo ist mein Freund?« frug Mitwinter.

»Am Hafendamm«, antwortete der Doctor. »Ich bin gewissermaßen verantwortlich für das, was er zu thun im Begriff ist, und bin der Ansicht, daß er irgendeine umsichtige Person, wie Sie, bei sich haben sollte.«

Dieser Wink genügte Midwinter. Er und der Doctor begaben sich unverzüglich nach dem Hafendamme, und auf dem Wege dorthin erzählte Mr. Hawbury die Umstände, die ihn nach dem Gasthofe geführt.

Allan hatte sich pünktlich im Hause des Doctors eingestellt und erzählt, er habe seinen milden Freund so fest eingeschlafen auf dem Sofa zurückgelassen, daß er nicht das Herz gehabt habe, ihn zu wecken. Der Abend sei sehr angenehm verstrichen und ihre Unterhaltung habe sich um mancherlei Gegenstände gedreht, bis Mr. Hawbury in einem unglückseligen Augenblicke einen Wink habe fallen lassen, daß er ein großer Freund vom Segeln sei und selbst, ein Vergnügungsboot besitze, welches im Hafen liege. Durch seinen Lieblingsgegenstand augenblicklich in Feuer und Flammen gesetzt, hatte Allan seinem gastfreundlichen Wirthe keine andere Wahl gelassen, als mit ihm nach dem Hafendamme zu gehen und ihm sein Boot zu zeigen. Die Herrlichkeit der Nacht und die sanfte Brise hatten das Uebrige gethan —— sie hatten Allan mit dem unwiderstehlichen Verlangen erfüllt, eine Wasserfahrt bei Mondschein zu machen. Der Doctor, dessen Berufspflichten ihn am Lande zu bleiben nöthigten, hatte, da er nicht gewußt, was er anders anfangen sollte, lieber Midwinter zu stören gewagt, als die Verantwortung übernommen, Mr. Armadale ganz allein um Mitternacht aufs Meer hinaussegeln zu lassen.

Als der Doctor diese Erklärung beendete, waren sie auf dem Hafendamme angelangt. Dort war der junge Armadale wirklich im Boote und spannte die Segel, wobei er aus vollem Halse sein Matrosen-Ahoi-ho sang.

»Komm her, alter Junge!« rief Allan »Du kommst gerade zu rechter Zeit zu einem Mondscheinspaße!«

Midwinter schlug vor, daß der Spaß lieber bei Tage genossen würde und sie sich inzwischen zu Bette verfügten.

»Zu Bett!« rief Allan, auf dessen aufgeregtes Temperament die Gastfreiheit des Doktors jedenfalls keine beruhigende Wirkung geübt hatte. »Hören Sie ihn an, Doctor! Man sollte glauben, er sei neunzig Jahre alt! Zu Bett, Du schläfriges altes Murmelthier! Schau Dir das dort an —— und dann denke noch ans Bett, wenn Du kannst!«

Er deutete auf das Meer. Der Mond stand hell an dem wolkenlosen Himmel; der Nachtwind wehte lau und sicher vom Lande her; das friedliche Wasser kreuselte sich lustig in der stillen Herrlichkeit der Nacht. Midwinter wandte sich mit weiser Ergebung in die Umstände zum Doctor; er hatte genug gesehen, um zu wissen, daß alle Gegenvorstellungen weggeworfen sein würden.«

»Wie ist die Fluth?« fragte er.

Der Doctor sagte es ihm.

»Sind die Ruder im Boote?«

Ja.

»Ich bin ans Wasser gewöhnt«, sagte Midwinter, die Hafentreppe hinuntersteigend »Sie dürfen mir die Obhut über meinen Freund und Ihr Boot anvertrauen.«

»Gute Nacht, Doctor!« rief Allan. »Ihr Whisky ist vortrefflich, Ihr Boot ist eine wahre Pracht, und Sie sind der beste Bursch, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin!«

Der Doctor lachte und schwenkte die Hand zum Gruße; das Boot glitt aus dem Hafen, indem Midwinter steuerte.

Die Brise brachte sie bald dem westlichen Vorgebirge gegenüber, welches die Bucht von Poolvash bildet, und es erhob sich die Frage, ob sie ins Meer hinaus oder an der Küste entlang segeln sollten. Das weiseste Verfahren für den Fall, daß der Wind sie, im Stiche ließ, war das Letztere Midwinter veränderte deshalb den Curs des Bootes und sie segelten glatt in südwestlicher Richtung der Küste gegenüber dahin.

Allmählig erhoben sich die Felsenklippen höher und immer höher, wilder und rauher, und zeigten auf der Seeseite gähnende, schwarze Abgründe Auf der Höhe des kühn emporragenden Vorgebirges Spanish-Head sah Midwinter bedeutungsvoll auf seine Uhr; doch Allan flehte um noch eine halbe Stunde, um den berühmten Sundkanal erblicken zu können, dem sie sich jetzt mit großer Schnelligkeit näherten und über den er von den Leuten, die auf seiner Jacht arbeiteten, erstaunliche Geschichten gehört hatte. Die neue Veränderung im Curse des Bootes, die Midwinter’s Einwilligung nothwendig machte, brachte dasselbe scharf vor den Wind und gewährte ihnen auf der einen Seite den großartigen Anblick der Südküste der Insel Man und auf der andern den der schwarzen Felsenabhänge der kleinen Insel, die das »Kalb« genannt und durch den dunkeln und gefährlichen Sundkanal vom Festlande getrennt wird.

Midwinter sah nochmals nach der Uhr. »Wir sind weit genug gesegelt«, sagte er. »Lege das Segel um!«

»Halt!« rief Allan vom Bug des Bootes. »Gerechter Gott! Hier liegt ein Wrack gerade vor uns!«

Midwinter ließ das Boot ein wenig abfallen und schaute nach der Stelle hin, welche der Andere ihm zeigte.

Dort, auf halbem Wege zwischen den Felsengrenzen zu beiden Seiten des Sundes gestrandet, lag, um sieh nie wieder aus seinem Grabe auf dem unterseeischen Felsen zu dem lebendigen Wasser zu erheben, verlassen und einsam in der stillen Nacht, hoch und düster und gespenstisch im gelben Mondscheine das Wrack.

»Das Schiff kenne ich«, rief Allan in großer Aufregung. »Ich hörte meine Zimmerleute gestern von demselben sprechen. Es ward in einer stockfinsteren Nacht hier herein getrieben, da sie die Lichter nicht zu sehen im Stande waren. Ein armer verwitterter alter Kauffahrer, Midwinter, den die Makler gekauft haben, um ihn abzubrechen. Laß uns hinein segeln und ihn in Augenschein nehmen.«

Midwinter zauderte. Die alte Seelust in ihm trieb ihn mächtig, Allan’s Vorschlage zu folgen, aber der Wind fing an zu fallen, und er mißtraute dem unruhigen Gewässer und den Wirbelströmen des vor ihnen liegenden Kanals »Dies ist eine häßliche Stelle für Segler, die nicht vertraut mit derselben sind«, bemerkte er.

»Unsinn!« rief Allan »Es ist so hell wie am Tage, und wir haben hier zwei Fuß Wasser.«

Ehe Midwinter noch antworten konnte, ergriff eine Strömung das Boot und zog dasselbe in den Kanal hinein, gerade dem gestrandeten Schisse zu.

»Zieh’ das Segel ein«, sagte Midwinter ruhig, »und lege die Ruder ein. Wir werden jetzt schnell genug zum Wrack hinuntergetrieben, ob es uns nun gefällt oder nicht.«

Da sie sich beide auf die Handhabung des Ruders verstanden, brachten sie das Boot bald hinlänglich in ihre Gewalt, um es in dem ruhigsten Theile des Kanals zu erhalten, das heißt auf derjenigen Seite, die sich der Insel »Kalb« zunächst befand. Als sie schnell an das Wrack herantrieben, übergab Midwinter sein Ruder an Allan und schlug, den Augenblick wohl abpassend, den Boothaken in die Vorderketten des Schiffes ein. Im nächsten Augenblicke hatten sie das Boot sicher unter dem Lee des Schiffes in ihrer Macht.

Die Schiffsleiter, deren die Arbeitsleute sich bedienten, hing über der Vorderkette herab. Midwinter stieg dieselbe hinan, indem er ein Ende des Bootstaues zwischen den Zähnen hielt, befestigte dieses und ließ das andere zu Allan ins Boot hinab. »Befestige jenes Ende«, rief er, »und warte bis ich nachgesehen, ob an Bord alles sicher ist.« Mit diesen Worten verschwand er hinter dem Bollwerk.

»Warten?« wiederholte Allan in unverhohlenem Erstaunen über die übertriebene Vorsicht seines Freundes. »Was in aller Welt will er damit sagen? Mich soll der Henker holen, wenn ich warte; wo der Eine von uns hingeht, dorthin geht auch der Andere!«

Er schlug das lose Ende des Taues um das vordere Querholz des Bootes und stand, indem er sich gewandt die Leiter hinaufschwang, im nächsten Augenblicke aus dem Verdeck »Befindet sich irgendetwas Fürchterliches an Bord?« frug er spöttisch, als er seinem Freunde begegnete.

Midwinter lächelte. »Durchaus nicht«, erwiderte er. »Aber ich konnte nicht gewiß wissen, daß wir das Schiff ganz für uns haben würden, bis ich über das Bollwerk stieg und nachsah.«

Allan ging einmal um das Verdeck herum und betrachtete das Wrack mit kritischen Blicken vom Bug bis zum Spiegel.

»Kein großes Wunder von einem Schiff«, bemerkte er. »Die Franzosen verstehen sich sonst besser auf den Schiffbau.«

Midwinter kam über das Verdeck zu ihm herüber und betrachtete ihn einige Augenblicke schweigend.

»Die Franzosen?« wiederholte er nach einer Pause. »Ist dies ein französisches Schiff?«

»Ja.«

»Woher weißt Du dies?«

»Die Leute, die an Bord meiner Jacht arbeiten, haben es mir gesagt Sie kennen es sehr genau.«

Midwinter kam ein wenig näher. Allan glaubte in Midtwinter’s Gesicht eine unerklärliche Blässe im Mondlichte wahrzunehmen.

»Erwähnten sie, wozu es bestimmt war?«

»Ja. Zum Holzhandel.«

Wie Allan diese Antwort gab, packte Midwinters hagere braune Hand ihn fest bei der Schulter, und Midwinter’s Zähne klapperten wie die eines Mannes, der von einem plötzlichen Frost ergriffen wird.

»Sagten sie Dir auch seinen Namen?« frug er mit einer Stimme, die plötzlich bis zum Flüsterton herabsank.

»Ich glaube, ja. Aber derselbe ist mir entfallen. —— Sachte, mein alter Junge, Deine langen Krallen packen meine Schulter ein wenig zu fest.«

»War der Name ——?« Er hielt inne, ließ Allan’s Schulter los und strich die großen Tropfen weg, die auf seine Stirn getreten waren. »War der Name etwa La Gráce de Dieu?«

»Wie, zum Henker, kommst Du dazu, ihn zu wissen? Allerdings ist das der Name. La Gráce de Dieu.«

Midwinter war mit einem einzigen Satze auf dem Bollwerke des Wracks.

»Das Boot!!« schrie er mit einem Angstrufe, der weit durch die Stille der Nacht drang und Allan augenblicklich an seine Seite brachte.

Das untere Ende des nachlässig befestigt gewesenen Taus schwamm lose auf dem Wasser, und vor ihnen im hellen Mondscheine schwebte ein kleiner schwarzer Gegenstand, bereits so ferne, daß sie ihn kaum noch zu sehen vermochten. Das Boot war den Wellen preisgegeben.


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