Herz und Wissen



Capitel VI.

Mrs. Gallilee war ebenso gewandt in der Praxis »der Häuslichkeit als in der Theorie« der Akustik und Ohnmachtsanfälle. Wenn es sich darum handelte, sich geschmackvoll zu kleiden, Diners erfindungsreich anzuordnen, der Tafel mit Grazie zu präsidieren und die Gäste sich behaglich fühlen zu lassen, widerspenstige Domestiken zur Raison zu bringen und unehrliche Lieferanten zu entlarven, so suchte sie unter den am wenigsten intellectuellen Frauen ihres Gleichen. Die von ihr angeordneten Vorbereitungen für die Aufnahme ihrer Nichte waren schon vorher bis in’s kleinste Detail vollendet. Ein einladendes Schlafzimmer in Blau öffnete sich auf Carmina’s unwiderstehliches Wohnzimmer in Braun. Die Ventilation war in Ordnung, Licht und Schatten waren vertheilt und die Blumen unter Mrs. Gallilee’s unfehlbarer Aussicht reizvoll placirt. Ehe sich noch Carmina von ihrer Ohnmacht erholt, hatte sie schon eine zweite Mutter gefunden, die diese Rolle zur Vollkommenheit spielte.

Aber dennoch befanden sich die gegenwärtig in diesem reizenden Wohnzimmer anwesenden vier Personen einander gegenüber in unerträglicher Verlegenheit.

Nachdem Ovid kurz vorher erst seiner Mutter erklärt hatte, daß er Musik hasse, hatte dieselbe ihn in einem Concerte getroffen, wo er sich beeilt, einer ohnmächtig gewordenen jungen Dame Beistand zu leisten und zwar mit einer Aengstlichkeit und Besorgniß, als ob es sich um eine nahe, theure Freundin handele. Und dennoch hatte er, als es sich herausstellte, daß die Fremde eine Verwandte seiner Mutter sei, darüber ein nicht minder großes Erstaunen bekundet als Mrs. Gallilee selbst. Wie waren diese Widersprüche zu erklären?

Dabei trug Carmina’s Betragen dazu bei, die Sache noch mysteriöser zu machen. Weshalb ging dieselbe zu einem Concerte, anstatt ihre Tante aufzusuchen? Und wenn sie ohnmächtig wurde, während doch die Hitze im Saale sonst niemanden überwältigt hatte, warum hatte sie sich nicht in der gewöhnlichen Weise zu erholen vermocht? Da lag sie auf dem Sopha und wurde, wenn sie angeredet wurde, abwechselnd roth und blaß, fühlte sich unbehaglich in dem comfortablesten Hause Londons, scheu und verwirrt in der Obhut ihrer besten Freunde. Selbst wenn man einem sensitiven Temperamente alle Zugeständnisse machen wollte, konnten eine lange Reise von Italien nach England und das kindische Entsetzen beim Anblick des Ueberfahrens eines Hundes einen solchen Zustand allein erklären?

Aber trotz ihrer Verstimmung hierüber war Mrs. Gallilee eine viel zu kluge Frau, um Fragen zu stellen, die vielleicht in Zukunft Unannehmlichkeiten nach sich ziehen könnten; sie versuchte nur durch arglose Plaudereien sich ein wenig Licht zu verschaffen.

Die runzelige Duenna, die in größtem Unbehagen auf dem Atlasstuhle mit den gebrechlich zarten vergoldeten Beinen saß, schien von ihrer jungen Herrin auch den Gefühlston anzunehmen, genau so wie ihre Befehle. Vergeblich sprach Mrs. Gallilee erst Englisch und dann Französisch mit ihr; das eine Experiment mißlang ebenso wie das andere —— die Alte schien sich zu fürchten, sie nur anzusehen.

Ovid selbst war ebenso schwierig zu ergründen. Er antwortete natürlich, wenn seine Mutter ihn anredete, aber immer kurz und in demselben abwesenden Tone; stellte selbst keine Fragen und ließ sich zu keinen Erklärungen herbei. Das Gefühl der Verlegenheit hatte bei ihm unerklärliche Veränderungen bewirkt. Die ruhige Milde, mit der er Carmina die nöthige Aufmerksamkeit erwies, zeigte ihn in einem ganz neuen Lichte; denn während sein Benehmen gegen Patienten, einerlei ob Frauen oder Männer, sonst gewöhnlich ein ziemlich abruptes war, da er bei seiner schnellen Fassungskraft den Leuten, wenn sie ihre Symptome beschrieben, die Worte aus dem Munde zu nehmen pflegte, saß er jetzt da und betrachtete seine blasse kleine Cousine mit einer wunderbar anzusehenden Aufmerksamkeit und Geduld und lauschte den ganz gewöhnlichen conventionellen Worten, die in Zwischenräumen über ihre Lippen kamen, als ob es bei seinem Gesundheitszustand und der damit verbundenen zweifelhaften Aussicht in die Zukunft kein ernsteres Interesse gäbe, das seinen Geist beschäftigen könnte.

Mrs. Gallilee konnte es nicht länger ertragen. Hätte sie nicht absichtlich ihre Phantasie verkommen lassen und jedes zärtlichere Gefühl, das ihr Herz einst empfunden haben mochte, aus diesem verwiesen, so würde das sonderbare Benehmen ihres Sohnes sie interessiert haben, anstatt sie zu verwirren. So aber ließ ihre wissenschaftliche Bildung sie bei Fragen, bei denen es sich um Empfinden handelte, so vollständig im Dunkeln, als ob sie ihre Erfahrungen von der Menschheit in ihrem Verhältniß zur Liebe auf den Cannibaleninseln gesammelt hätte. Sie entschied sich dafür, ihre Nichte zu verlassen, damit dieselbe sich ausruhen könne, und ihren Sohn mit aus dem Zimmer zu nehmen.

»Bei Deinem gegenwärtigen Gesundheitszustande Ovid«, begann sie, »darf Carmina Deinen ärztlichen Rath nicht annehmen.«

Etwas in diesen Worten fiel Ovid auf und er antwortete etwas heftig. »Du sprichst, als ob sie ernstlich krank wäre!«

Carmina’s anmuthiges Lächeln ließ ihn hier innehalten. »Wer weiß, was geschehen kann«, bemerkte sie scherzhaft.

»Das verhüte Gott!« erwiderte er mit solcher Wärme daß ihn alle Drei überrascht ansahen.

»Ovid ist so furchtbar überarbeitet, liebe Nichte«, sagte Mrs. Gallilee ruhig, »daß ich mich wirklich freue, daß er seine Praxis aufgegeben hat und morgen abreist. Wir wollen Dich jetzt mit Deiner alten Freundin allein lassen. Wenn Du etwas bedarfst, so klingele, bitte.« Dann warf sie Carmina eine Kußhand zu, winkte ihren Sohn und ging nach der Thür.

Teresa sah sie an und dann plötzlich wieder weg. Gallilee blieb bei einer Chiffoniere stehen und änderte etwas in dem Arrangement des Porzellans auf derselben. Die Duenna folgte ihr auf den Zehenspitzen und tupfte sie mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger auf den Rücken, aber so leise, daß sie es nicht merkte. Dann stahl die Alte sich wieder auf ihren Platz zurück und flüsterte auf Italienisch vor sich hin: »Der böse Blick.«

Weder Ovid noch seine Cousine hatten das Thun der Alten bemerkt. Ersterer erhob sich widerstrebend von seinem Platze an Carmina’s Seite, die ihn in dankbarer Empfänglichkeit für seine kleinen Aufmerksamkeiten mit unschuldiger Vertraulichkeit zurückhielt. »Ich muß Ihnen danken«, sagte sie einfach; »es kommt einem wirklich hart vor, daß Sie, der Sie andere heilen, selbst unter Krankheit leiden.«

Teresa hatte beide mit Interesse beobachtet und kam jetzt ein wenig näher, wobei ihre glänzenden Augen forschend und eifersüchtig auf Ovid’s Gesichte ruhten. Mr. Gallilee erinnerte ihren Sohn, daß sie auf ihn warte; er hatte aber noch einige letzte Worte zu sagen. »Heilige Teresa, meine Schutzpatronin, zeige mir die Seele dieses Mannes in seinem Gesichte«, murmelte die Duenna vor sich hin, als sie sich vom Sopha zurückzog, ohne die Augen von Ovid abzuwenden. Endlich nahm derselbe Abschied. »Ich werde morgen kommen und nachsehen, wie es Ihnen geht, ehe ich fortgehe«, sagte er und nickte dann Teresa freundlich zu. Diese war aber damit nicht zufrieden, sondern wollte mehr haben und fragte ihn, ob sie ihm die Hand schütteln dürfe. Mrs. Gallilee gehörte in der Politik zu den Liberalen, aber nie waren ihre Grundsätze so auf die Probe gestellt worden, als jetzt bei dieser Frage der Alten. Als Teresa dann Ovid’s Hand mit fühlbarer Energie zusammenpresste, dabei sich bemühend, ihm seinen Charakter aus dem Gesicht zu lesen, fragte er lächelnd, was sie sähe, das sie interessiere. »Einen braven Mann, hoffe ich«, antwortete sie so ernst, daß Carmina und Ovid sich des Lachens nicht enthalten konnten. »Lacht, wenn es besser am Platze ist«, verwies Teresa sie wie ein paar Kinder, »jetzt paßt es sich nicht.« Als Ovid seiner Mutter die Thür öffnete, stand die Duenna aufgerichtet in der Mitte des Zimmers und sah ihr nach, dabei wieder vor sich hin flüsternd: »Der böse Blick!«

Beim Hinabsteigen der Treppe meldete der Bediente Mrs. Gallilee, daß »Mr. Mool« in der Bibliothek sei.

»Hast Du für die nächste halbe Stunde etwas vor, Ovid?« fragte Mrs. Gallilee.

»Du wünschst, daß ich Mr. Mool sehe? Wenn es sich um eine Rechtssache handelt, werde ich, fürchte ich, nicht eben nützlich sein können.«

»Der Anwalt ist mit einer Copie des Testamentes des seligen Onkels hier«, antwortete Mrs. Gallilee. »Es ist vielleicht von einigem Interesse für Dich, und ich dächte, Du solltest es Dir anhören.«

Ohne besondere Neigung dazu zu bekunden, stellte Ovid die müßige Frage: »Ich habe von dem Auffinden des Testaments gehört —— sind romantische Umstände damit verbunden?«

»Was für ein Kind bist Du doch noch in manchen Dingen!« entgegnete seine Mutter, ihn mit einem Ausdruck launiger Verachtung betrachtend. »Hast Du etwa kürzlich einen Roman gelesen? Sie fanden das Testament in Italien, als sie sich endlich entschlossen hatten, die Möbel in Onkels Zimmer zu zerschlagen. Es war in einem alten, wurmstichigen Secretair, der ganz mit unnützen Papieren vollgestopft war, hinter einen Auszug gequetscht. Gott sei Dank! es ist nichts Romantisches und, wie Mr. Mool’s Brief besagt, nichts dabei, das zu Mißverständnissen oder Streitigkeiten Anlaß geben könnte.«

Ovid zeigte sich noch vollständig gleichgültig und stellte es seiner Mutter anheim, ihn durch ein Wort zu benachrichtigen, falls er mit einem Legate bedacht sein sollte. »Ah bin nicht so sehr dabei interessiert, als Du«, erklärte er.

»Das sollte man denken!« meinte Mrs. Gallilee, die seine Einfalt amüsierte.

»Natürlich ist Dir ein ganzer Berg Geld zugeschrieben?« bemerkte er, augenscheinlich die ganze Zeit über an etwas Anderes denkend.

»Dein Kopf ist in einer schrecklichen Verfassung«, sagte seine Mutter. »Hast Du wirklich vergessen, was ich Dir erst gestern gesagt habe? Ich bin in dem Testamente zu Carmina’s Vormund ernannt.«

Er stutzte, als seine Mutter ihn an diesen Umstand erinnerte. »Sonderbar«, sagte er zu sich selbst, »daß ich nicht daran dachte, als ich die Zimmer für Carmina in Stand setzen sah.« Seine Mutter, die ihn sorgfältig betrachtete, bemerkte das Aufhellen seines Gesichtes. Ein neues Interesse war erweckt, das ihn plötzlich seine Ansicht ändern ließ.

»Du mußt einem Ueberarbeiteten schon etwas zugute halten«, sagte er. »Du hast Recht, ich sollte das Verlesen des Testamentes anhören —— ich stehe Dir also zu Diensten.«

Jetzt endlich zog Mrs. Gallilee die richtige Folgerung, machte aber weiter keine Bemerkung; nur unter dem Puder und der Farbe schien sich etwas schwach zu regen. Sollte sich eine weichere Bewegung an die Oberfläche arbeiten wollen? Unmöglich!

Hätten sie, ehe sie die Bibliothek betraten, ein zufälliges Geräusch auf der Treppe beachtet, so hätten sie vielleicht Miß Minerva bemerkt, die forschend über die Balustrade des oberen Treppenabsatzes lugte, und wären dann möglicherweise auf den Argwohn gekommen, daß die Gouvernante durch die offenstehende Thür des Schulzimmers ihre Unterhaltung belauscht hätte.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte