Herz und Wissen



Capitel LIII.

Als der Doktor fort war, ging Teresa in das Wohnzimmer, da sie sich fürchtete, sich vor Carmina sehen zu lassen. Mr. Null hatte die einzige Hoffnung zerstört, die sie bis dahin aufrecht erhalten hatte —— die Hoffnung, mit Carmina zu entkommen, ehe Mrs. Gallilee dazwischen treten konnte. Angesichts dieser ermuthigenden Aussicht hatte sie es über sich vermocht, die demüthige Abbitte zu unterschreiben, die ihr die Advokaten diktiert hatten. Und wie stand es jetzt? Schwer war die Hand des Unglücks über die brave alte Seele gekommen —— und hatte sie zuletzt niedergeschlagen! Während sie da am Fenster stand und mechanisch hinaussah, zitterte und verschwamm die traurige Aussicht auf die Hinterstraße —— sie weinte.

Es war ein Glück, daß sie nicht im Stande war, ihre Schwachheit zu beherrschen, denn die Thränen erleichterten ihr das schwere Herz. Besorgend, daß ihre Augen sie verrathen könnten, wartete sie ein wenig, ehe sie zu Carmina zurückkehrte. Da hörte sie das Geräusch des Schließens einer Thür auf dem Flure über sich.

»Der Musiklehrer!« sagte sie bei sich, und war im nächsten Momente an der Thür des Wohnzimmers und sah durch das Schlüsselloch. Dies war die einzige sichere Weise, ihn zu beobachten —— und das genügte ihr. Seine Gestalt erschien plötzlich in ihrem beschränkten Gesichtskreise —— auf der Matte vor der Thür. War ihr Mißtrauen unbegründet, so würde er hinuntergehen Doch nein! Er blieb auf der Matte stehen, um zu horchen —— beugte sich nieder —— im nächsten Augenblicke würde sein Auge am Schlüsselloch gewesen sein. Da ergriff sie einen Stuhl und rückte denselben, und das Geräusch trieb ihn sogleich fort und er ging die Treppe hinunter.

Teresa überlegte bei sich, auf welche Weise sie sich am sichersten schützen und ihn womöglich strafen könnte. Wie und wo konnte sie die Falle stellen, die ihn fangen möchte?

Während sie noch darüber nachsann, erschien die Wirthin, höflich besorgt zu hören, was die Doktoren von ihrer Patientin meinten. Und als sie in der Beziehung befriedigt war, hatte die lästige Person noch Entschuldigungen vorzubringen, daß sie Mr. Le Frank noch nicht zur Vorsicht ermahnt habe.

»Ich habe diese Nacht darüber nachgedacht,« sagte sie vertraulich, »und kann mir nicht vorstellen, wie Sie oben haben Gehen hören können, da er ja doch einen solch leisen Tritt hat, daß er mich wirklich überrascht, wenn er in mein Zimmer kommt. Er ist auf eine Stunde ausgegangen, und ich habe ihm eine kleine Gefälligkeit erwiesen, die ich gewöhnlichen Miethern nicht zu erzeigen pflege —— ich habe ihm nämlich meinen Regenschirm geliehen, da es nach Regen aussieht. Ich will nun in seiner Abwesenheit auf seinem Zimmer umhergehen, und möchte Sie bitten zuzuhören. Man kann nicht zu eigen sein, wenn Ruhe für Ihr junges Fräulein so wichtig ist —— und es ist mir die Möglichkeit eingefallen, daß der Fußboden auf seinem Zimmer vielleicht schadhaft ist, Beste, die Bretter knarren vielleicht! Ich bin immer unruhig, ich weiß; aber wenn der Zimmermann es wieder zurecht machen kann —— natürlich ohne abscheuliches Hämmern! —— so werde ich mich beruhigt fühlen, je eher er geholt wird.«

Während dieses Wortschwalls hatte Teresa mit einer ihr sonst ganz und gar nicht eigenen Geduld auf eine Gelegenheit gewartet, ein Wort anzubringen. Die Anspielung der Wirthin auf Mr. Le Frank hatte sie in Folge irgend eines verzwickten geistigen Prozesses gerade darauf gebracht, wonach sie in ungestörter Einsamkeit vergebens gesucht hatte, und nie war ihr in Folge dessen die Frau in einem so günstigen Lichte erschienen, wie jetzt.

»Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, Madame,« sagte sie, sobald sie sich Gehör zu verschaffen vermochte; »es war thatsächlich das Knarren der Bretter, welches mir anzeigte, daß sich oben Jemand bewegte.«

»Dann bin ich also kein Störenfried? O wie mich das leichter macht! Eines von den Mädchen soll sogleich zum Zimmermann, einerlei, was sie gerade zu thun haben. Es freut mich so, dem holden jungen Wesen einen Dienst erweisen zu können!«

Ehe Teresa dann wieder in die Kammer ging, sah sie nach der Uhr.

Die Besserung in Carmina's Befinden hielt an, und dieselbe war im Stande, etwas von der leichten Nahrung, die bereit gehalten war, zu sich zu nehmen. Wie Benjulia vorausgesehen hatte, bat sie, das Rouleau etwas herunterzulassen, und Teresa, die ihre Gründe hatte, Carmina zum Ruhen zu veranlassen, ließ dasselbe vollständig herunter. Eine halbe Stunde darauf schlief die müde Patientin, und die Amme konnte ihre Falle für Mr. Le Frank stellen.

Das Erste, was sie that, war, daß sie das Ende einer Gänsefeder in ihr Salatölfläschchen tauchte und damit Schloß und Schlüssel der von der Treppe nach der Kammer gehenden Thür einölte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Schlüssel jetzt benutzt werden konnte, ohne das leiseste Geräusch zu machen, ging sie zu der Verbindungsthür mit dem Wohnzimmer.

Diese Thür war mit grünem Stoffe überzogen, hatte Handgriffe, aber kein Schloß und ging nach innen, so daß man die Thür des Schrankes (der in die Wand des Wohnzimmers eingelassen war) unbehindert nach der Kammer zu öffnen konnte. Teresa ölte die Angeln, sowie den messingenen Riegel und Haken, welche die Thür auf der Kammerseite schützten, und sah dann wieder nach der Uhr.

Wenn Mr. Le Frank eine Stunde ausblieb, so mußte er in fünf Minuten zurück sein.

Sie verriegelte die Verbindungsthür, warf dann der noch schlafenden Carmina eine Kußhand zu, verließ die Kammer durch die nach der Treppe gehende Thür, verschloß dieselbe und steckte den Schlüssel ein.

Nachdem sie schon die erste Treppenflucht hinuntergegangen war, hielt sie plötzlich an und kehrte wiederum. Die einzige unverschlossene Thür war die, welche von der Treppe in das Wohnzimmer führte. Diese öffnete sie und ließ dieselbe einladend angelehnt stehen. »So,« sagte sie für sich »jetzt habe ich ihn!«

Als gerade die Uhr auf dem Flur die Stunde schlug, trat sie in das Zimmer der Wirthin.

Die wortreiche Frau war entzückt und unzufrieden zugleich. Ersteres weil sie hörte, daß die liebe Patientin schlief, und sie von der Amme einen Besuch empfing; letzteres, weil der Zimmermann für den ganzen Tag anderswo auf Arbeit war. »Wenn mein seliger Mann noch lebte, brauchten wir keinen Zimmermann; denn der verstand sich auf Alles. Jetzt setzen Sie sich —— Sie müssen einmal meinen selbstgemachten Kirsch kosten.«

Als Teresa einen Stuhl nahm, kehrte Mr. Le Frank zurück, und die beiden geheimen Gegner standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

»Ich sollte diese Dame kennen,« sagte er.

Teresa machte ihren besten Knix und erinnerte ihn an die Umstände, unter denen sie sich früher getroffen hatten. Die gastfreie Wirthin holte ihren Kirsch hervor und sagte: »Wir wollen ein kleines Plauderstündchen halten; nehmen Sie Platz, Herr, und leisten Sie uns Gesellschaft.« Aber Mr. Le Frank entschuldigte sich. Der ihm freundlichst geliehene Regenschirm hätte seine Stiefel nicht geschützt; seine Füße waren naß und er holte sich so ungeheuer leicht eine Erkältung, daß er um die Erlaubniß bitten müßte, sich sofort trockene Sachen anzuziehen. Unter Verbeugungen ging er aus der Thür, hielt aber draußen auf dem Flur an und lugte, auf den Zehen stehend, durch ein Fenster in der Mauer, durch welches das kleine Zimmer der Wirthin Licht empfing. Die beiden Frauen saßen behaglich am Tische mit dem Kirsch und einem Teller Kuchen vor sich. »Die halten einen langen Klatsch,« dachte Mr. Le Frank. »Jetzt ist es Zeit für mich!«

Ehe fünf Minuten vergangen waren, entschuldigte sich Teresa, daß sie noch einmal nach oben müßte, da sie ganz vergessen hätte, den Glockenzug so zu befestigen, daß Carmina denselben erreichen könnte, falls sie erwachen sollte. »Thun Sie es gute Seele,« stimmte die brave Wirthin bei; »und kommen Sie sofort zurück!« Als sie allein war, füllte sie ihr Glas wieder und lächelte es an.

Als Teresa sich ihrem Zimmer näherte, wartete sie und horchte. Durch die angelehnte Thür des Wohnzimmers ließ sich kein Geräusch vernehmen. Sie trat leise in die Kammer, und auch von hier war nichts zu hören. Hatte er sie gesehen?

Da hörte sie über sich die Dielen knarren. Mr. Le Frank war also auf seinem Zimmer.

War ihr so gut angelegter Plan fehlgeschlagen, oder zog er sich wirklich andere Schuhe und Strümpfe an?

Letzteres war in der That der Fall. Mr. Le Frank vergaß auch über ernsten Interessen seine kostbare Gesundheit nicht. Er hatte unten nicht bloße Entschuldigungen gemacht. Seine Brust war schwach, leicht konnte sich eine Erkältung in seiner Lunge festsetzen; und so sehr ihn die halbgeöffnete Thür auch in Versuchung führte, sie konnte ihn nicht vergessen lassen, daß seine Füße naß waren.

Wieder knarrten die Dielen; die Thür seines Zimmers wurde leise geschlossen dann war wieder alles ruhig, und Teresa erkannte erst, daß er das Wohnzimmer betreten hatte als sie hörte, wie er die verriegelte grüne Thür zu öffnen versuchte. Dann mußte er wieder hinausgegangen sein, denn sie hörte ihn an der nach der Treppe führenden Kammerthür.

Wiederum entstand eine Pause. Teresa zog geräuschlos den Riegel zurück und öffnete die Thür nur auf Haaresbreite Sie hörte ihn den Schlüssel in einem Arbeitstische umdrehen, der nur Cirkuläre, Quittungen und ein paar Bücher enthielt.

Selbst angesichts des Schrankes war sein erster Gedanke, in den Papieren Carmina's den Beweis ihrer Intrigen zu finden.

Nach dem Tone zu schließen, in welchem er etwas vor sich hin brummte, mußte ihn der Inhalt des Arbeitstisches enttäuscht haben. Bei dem nächsten Geräusch fuhr Teresa zusammen; es war ein leichter Schlag gegen die Fassung der Thür, hinter welcher sie stand. Er hatte die Schrankthür aufgeworfen.

Das Klappern des Deckels zeigte ihr an, daß er mit der Untersuchung der Büchse begann, die sie jetzt als einen harmlosen Gegenstand in den Schrank zurückgestellt hatte, nachdem das Gift und die Etikette durch Feuer vernichtet worden waren. Daß er von Dutzenden anderer Dinge, die auf dem Börde standen, gerade die Büchse auswählte, erfüllte sie plötzlich mit mißtrauischer Ueberraschung. Sie wollte nicht nur hören, sondern jetzt auch sehen, was er machte, und um ihn auf der That zu ertappen, stieß sie die Thür auf —— gerade in dem Momente, wo er entdeckt haben mußte, daß die Büchse leer war, denn ein schwacher Fall verrieth, daß er dieselbe auf den Boden geworfen hatte.

Sie hatte die Schrankthür vergessen, die, jetzt weit offen stehend, den Eingang zur Kammer versperrte und beide vor einander vollständig verbarg. Für den Augenblick stutzte sie und zögerte, ob sie sich zeigen sollte oder nicht. Da hörte sie seine Stimme.

»Vielleicht ist noch eine da,« sagte er für sich, »welche diese alte Schmutzvettel versteckt hat.« —— Weiter hörte sie nichts. »Diese alte Schmutzvettel« war mehr, als sie ertragen konnte! Sie vergaß ihre Absicht, ihn unbemerkt zu beschleichen, vergaß den Vorsatz, nichts zu thun, was Carmina aufwecken könnte: in wilder Wuth stieß sie mit beiden Händen gegen die Schrankthür, so daß dieselbe wie ein Blitz zuflog.

Ein Aufschrei des Schmerzes tönte durch das Haus. Die Thür hatte die rechte Hand Le Franks ergriffen, mit der er gerade in dem Augenblicke wieder in den Schrank hatte langen wollen, und ihm die Finger zerquetscht.

Ohne sich nach ihm umzusehen, rannte sie nach Carmina zurück, die grüne Thür fiel ins Schloß und kein weiterer Schrei wurde gehört. Nichts geschah, was ihre verzweifelte Versicherung, daß der Schrei nur die Täuschung eines lebhaften Traumes gewesen wäre, Lügen strafte. Sie nahm Carmina in ihre Arme und streichelte und liebkoste dieselbe wie ein Kind. »Sieh, mein Herz, ich bin bei Dir wie gewöhnlich und habe nichts gehört. O zittere doch nicht so! Komm —— ich will Dich in mein Tuch wickeln und Dir etwas vorlesen. Nein! laß uns lieber von Ovid sprechen.«

Ihre Bemühungen, Carmina zu beruhigen, wurden durch den gedämpften Schall von Männertritten und Frauenstimmen im Zimmer nebenan unterbrochen. Sie öffnete schnell die Thür und bat die Leute, leise zu sein. Ihr Auge überflog die Scene. Le Frank lag ohnmächtig auf dem Fußboden, neben ihm kniete die Wirthin, um nach seiner verletzten Hand zu sehen, und sie hörte, wie die Miether sagten: »Er muß ins Hospital.« Dann schloß sie die Thür sofort wieder.


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