Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 10



Es ist eigentümlich zu sehen, wie ein so ausgesprochener Realist wie Wilkie Collins, welcher mit so staunenswertem Polizeigenie den nächtlichen Pfaden des Verbrechers nachspürt, auf der anderen Seite wiederum sich mit solcher Vorliebe in die Nebelzone des Spritismus verlieren kann. Das Schlimmste ist, daß sich der Leser nicht klar wird, ob der Verfasser selber an Hellseherei, zweites Gesicht, Bedeutsamkeit der Träume und leibhaftige Geistererscheinungen glaube. Oft können wir darüber kaum im Zweifel sein (z.B. Im „Traumweib“, „Am Nordpol“), manchmal wieder läßt er seinen Helden den Aberglauben überwinden (Armadale). Wenn wir annehmen müssten, daß er ein überzeugter Spritist sei, welcher durch seine Romane sein Evangelium predigen wolle, so würden wir diese Bücher von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachten oder dieselben überhaupt der Lektüre nicht für wert halten. So aber können wir uns der leidigen Überzeugung nicht verschließen, daß der Autor mit allen diesen Dingen nur spiele, daß er vielleicht selbst darüber lache, aber sie doch aus Spekulation auf die Geheimnis- und Gruselsucht eines großen Teils seines Publikums mit der feierlichen Grimasse eines modernen Hexenmeisters vorführe. Bei meiner aufrichtigen Hochschätzung der großartigen künstlerischen Eigenschaften Collins‘ hat mich dieser Verdacht schmerzlich berührt und ich glaubte meinen Zweifel am besten lösen zu können, indem ich den Autor selbst um Aufklärung über seinen Glauben in diesen Dingen bat. Hier seine Antwort:

„Ich glaube nicht, daß ein Mensch auf Erden die neueste Entwicklung menschlicher Dummheit in ihrer plumpsten Form, Spritismus genannt, so herzlich verachtet wir ich. Aber jener höhere Glaube, welcher mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit eng verbunden ist, beeinflußt meine Phantasie ganz gewaltig – und das treibt mich dazu, über solche Gegenstände zu schreiben. In meinen kühleren Augenblicken, wenn Glaube und Unglaube sich die Waage halten, sage ich mit unserm großen Doktor Johnson in Raffelas: Ich will mich nicht unterfangen, das Wiedererscheinen Verstorbener zu bestreiten, entgegen dem übereinstimmenden, unveränderlichen Zeugnis aller Zeiten und Nationen. Es gibt kein Volk, sei es roh oder gebildet, bei welchem nicht Erscheinungen von Toten erzählt und geglaubt würden. Ein solcher Glaube, welcher herrscht, soweit das Menschengeschlecht verbreitet ist, konnte nur durch seine Wahrheit allgemein werden: Menschen, die nie voneinander gehört haben, würden nicht alle dasselbe Märchen erfunden haben, wenn nicht Erfahrung es glaublich gemacht hätte.“

Diese Erklärung reinigt in der Tat den verehrten Meister von jedem niedrigen Verdacht, beweist aber an und für sich nichts anderes, als daß Collins‘ phantastische Neigung begierig nach jeder scheinbar rationellen Begründung ihrer Ausschweifungen greift und daß die nationale englische Erziehung zum positiven Christentum, welche den Wunderglauben als conditio sine qua non erfordert, auch über ihn, der sonst über so vielen nationalen Vorurteilen hocherhaben ist, ihren Einfluß bewahrt hat. Der Beweis des großen Doktor Johnson vom Wiedererscheinen Verstorbener steht auf demselben schwachen Grunde wie jener bekannte Beweis vom Dasein Gottes „durch Majoritätsbeschluß“, wie man ihn nennen könnte. Die Zahl der unsinnigen, abergläubischen Anschauungen, welche sich bei fast allen Völkern finden, ist eine außerordentlich große und darunter befinden sich doch wohl recht viele Dinge, welche auch Dr. Johnson trotz des consensus omnium nicht für bewiesen gehalten hätte. In Deutschland ist die Einsicht über die geringe Beweiskraft solcher universeller Glaubensartikel längst durchgedrungen, in England freilich darf selbst ein Gelehrter wie Max Müller noch nicht wagen, die Richtigkeit derselben in Fragen der Religion zu behaupten, sondern muß, um den britischen Löwen nicht zu reizen, jene Fragen mit sophistischen Glacéhandschuhen anfassen!

Eins der schlimmsten Beispiele dieser Verirrung der Einbildungskraft gibt uns der Roman „Zwei Schicksalswege“ (Two Destinies), in welchem Collins die Swebenborg‘sche Theorie von der prästabilisierten Harmonie zweier Geister, d.h. Die vorausbestimmte Zusammengehörigkeit zweier Menschenseelen, welche trotz aller trennenden Schicksalsfügungen sich immer wieder finden müssen, durch eine wunderbare Geschichte in die Wirklichkeit überträgt, deren einzelne Gruselszenen nach Analogie von – wie es heißt – beglaubigten Anekdoten aus Robert Dale Owens „Fußstapfen in den Grenzen einer anderen Welt“ gebildet sind. Die Zumutungen, welche in dieser phantastischen Erzählung selbst einem zum Spritismus neigenden Verstande gemacht werden, sind so exorbitant, daß der Verfasser damit weit über sein Ziel hinausschießt und statt des beabsichtigten angenehmen Schauergefühles nur lächelndes Kopfschütteln erregt. Man denke sich: der erscheinende Geist ist nicht nur so körperlich, daß er den Geisterseher berührt und mit ihm spricht, sondern er schreibt sogar mit einem wirklichen Bleistift eine leserliche Handschrift, welche auch für andere sichtbar ist. Schließlich versteigt sich die Phantasie des Autors sogar so weit, daß sie die Tochter des Geistes als strahlenden Wegweiser hunderte von Meilen weit vor dem hellsichtigen Helden herschweben läßt, um ihn dem körperlichen Selbst der Mutter zuzuführen. Es verlohnt sich nicht, den Gang der Handlung wieder zu erzählen, da bei Personen, welche so ganz ein Spielball geheimnisvoller Mächte sind, von einem psychologischen Interesse nicht die Rede sein kann. Wir würden vielleicht ein pathologisches Interesse an ihnen nehmen, wenn, wie gesagt, die Phantasie des Erzählers uns nicht so weit über die Grenzen des Vorstellbaren hinausführte. An der Existenz des zweiten Gesichts, an dem oft wunderbaren Eintreffen von Ahnungen und dergleichen ist allerdings schmerzlich zu zweifeln, und die duch solche Gaben, oder soll man sagen Leiden, ausgezeichneten Personen verdienen, wenn ein Künstler dergleichen darzustellen versucht, gewiß eine ernstliche Beachtung. Aber schriftstellernde Geister von der Art, wie uns einer in den zwei Schicksalswegen vorgestellt wird, sind mir selbst in den Sitzungsberichten spritistischer Vereine noch nicht aufgestoßen. Um all das Grauen noch zu vermehren, führt Collins noch eine mysteriöse Dame ein, welche Katzen zur Harfe tanzen läßt und welche hinter ihrem undurchdringlichen Schleier ein Gesicht verbirgt, dessen entsetzliche Verunstaltung sich auszumalen er der Phantasie des nervenschwachen Lesers anheim stellt. Leider fehlt in diesem Roman auch der sonst so glückliche Humor und es ist nichts darin, was man mit wirklichem Behagen lesen kann, als die Schilderung der Kinderliebe der beiden für einander bestimmten Geister.

Der Roman ist in zwei Bänden in recht mäßiger Übersetzung bei Otto Janke (Berlin 1878) erschienen.

Das nächste Werk „The fallen leaves“ (Welke Blätter) ist von allen Tendenzromanen Wilkie Collins‘ der unverhüllteste. Er stellt eine scharfe, packende Fastenpredigt gegen die offenkundige und doch schweigend geduldete moralische Verrottung sozialer Zustände dar, welche sich leider nicht nur in England nachweisen lassen dürften. Als lichtes Gegenbild zu diesem düsteren Gemälde heimischer Verhältnisse stellt Collins die Lehren und das Leben eines kleinen amerikanischen, christlich-sozialen Gemeinwesens hin. Diese Christlich-Sozialen haben freilich mit denen unseres Stöcker und Genossen wenig Ähnlichkeit. Ihr Gesetzbuch ist das Neue Testament, insofern es die reinen Grundlehren des Christentums enthält; ihr Sozialismus gibt sich kund in gemeinsamer ehrlicher Arbeit zum allgemeinen Vorteile. Ein in dieser Gemeinde aufgewachsener junger Engländer kehrt zu einem längeren Aufenthalte in sein Mutterland zurück und empfängt natürlich die betrübendsten Eindrücke von der dort herrschenden Falschheit, Heuchelei, Selbstsucht und Gefühlsarmut. Er verlobt sich Hals über Kopf mit einem höchst wohlerzogenen Mädchen, der nichte eines schurkischen Geschäftsmannes, an welchem hauptsächlich der demoralisierende Einfluß modernen Kulturlebens und insbesondere englischer Vorurteile nachgewiesen wird.

Der arglose, impetuose Amerikaner sieht sich bald über die Leidenschaft seiner Erkorenen schmerzlich getäuscht. Sie ist einer solchen in seinem Sinne gar nicht fähig, sondern hängt mit allen Fasern ihres Herzens an den anerzogenen Äußerlichkeiten und Vorurteilen, welche auch die Ehe mehr als Geschäfts- denn als Herzensangelegenheit aufzufassen gewohnt sind. Der junge Goldenheart, dies ist der bezeichnende Name des Helden, wird aus dieser unglücklichen Lage, in welche ihn seine unbedachte Verlobung gebracht, durch eine neue Liebe herausgerissen, und zwar eine langsam, aber stetig sich entwickelnde Liebe zu einem, von ihm auf der Straße aufgelesenen Mädchen, deren Beschützer, Lehrmeister und endlich Gatte er wird. Dies Mädchen ist natürlich – anders geht es bei Collins schon nicht – ein von jenem schurkischen Geschäftsmann Farnaby geraubtes und nach allen möglichen verwickelten Zwischenfällen von Goldenheart als Farnabys Tochter erkanntes Kind.

Der Roman ist, wie er vorliegt, nur ein erster Teil, dessen Fortsetzung uns Collins noch schuldig ist. Wir können also noch nicht wissen, wie er sich mit seinem Rousseauismus abzufinden und ob er den christlichen Sozialismus etwa als geeignete Lösung der sozialen Frage aufzustellen gedenkt.

Daß das englische Publikum über diesen Roman, welcher ihm gar bittere Wahrheiten sagt, mehr oder weniger entrüstet ist, versteht sich von selbst. Der Autor will den zweiten Teil erst folgen lassen, wenn mit Hilfe einer billigen Ausgabe die in dem ersten aufgeworfenen Fragen das Interesse weiterer Kreise seiner Landsleute rege gemacht haben. Ich überhebe mich der Notwendigkeit, näher in die Tendenz dieses höchst interessanten Werkes und besonders in die Anklagen, welche er gegen die bestehende öffentliche und private englische Moral schleudert, einzugehen, durch vollständige Anführung der großen Rede, welche Goldenheart bei einem Londoner Meeting hält.

Ich muß gestehen, daß mir in dieser Rede mancher Passus, besonders der über die Wirksamkeit des Parlaments, nur zu gut auch auf deutsche Verhältnisse zu passen scheint. Im Übrigen möge sich der Leser seine eigene Meinung bilden.

Amelius persönliches Erscheinen überraschte das Auditorium außerordentlich. Das Punlikum ist es im allgemeinen nicht gewöhnt, in einem Vortragenden einen jungen und hübschen Mann zu erwarten. Nach einem Augenblicke des Stillschweigens brach ein plötzlicher Applaus los. Er erneuerte sich, als Amelius ein kleines Buch vor sich hinlegte und seine Absicht ankündigte, frei vorzutragen. Die Abwesenheit des unvermeidlichen Manuskripts stimmte das Publikum von vornherein günstig.

Der Redner des Abends begann:

„Meine Damen und Herren! Denkende Menschen, die es gewöhnt sind, die Zeichen der Zeit in ihrer Heimat und den übrigen Ländern Europas zu beobachten, stimmen, so viel ich weiß, in der Ansicht überein, daß höchstwahrscheinlich in den gegenwärtigen Formen der Regierung und der bestehenden Gesellschaftsorganisation wichtige Veränderungen Platz greifen werden, bevor unser Jahrhundert zu Ende gegangen ist. In dürren Worten: die nächste Revolution ist nicht so unwahrscheinlich und nicht so fern, als es den höheren und reicheren Klassen der europäischen Bevölkerung anzunehmen beliebt. Ich gehöre zu denen, die annehmen, daß die kommende Umwälzung diesmal den Charakter einer sozialen Revolution tragen wird, und daß der Mann an ihrer Spitze kein Militär oder Politiker sein wird, - sondern ein großer Bürger, der aus dem Volke hervorgegangen und mit Herz und Seele der Sache des Volkes ergeben ist. Bei den mir heute abend gesteckten Grenzen kann ich zu Ihnen unmöglich von der Regierungs- und Gesellschaftsform bei anderen Nationen reden, selbst wenn ich die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen besäße, um mich an einen so umfassenden Gegenstand zu wagen. Ich kann jetzt weiter nichts tun, als zu zeigen, erstens, welche Ursachen einer Veränderung in den sozialen und politischen Verhältnissen den Weg bahnen, und zweitens, daß das einzig vernünftige Heilmittel für bestehende Mißbräuche in dem System zu finden ist, daß der christliche Sozialismus aus dem kleinen Buche hier vor mir auf dem Tische ableitet, - dem Buche, welches Sie alle unter dem Namen des Neuen Testamentes kennen. Ehe ich jedoch auf mein Thema eingehe, fühle ich mich verpflichtet, einige einleitende Worte darüber zu sagen, wieso ich mich berufen fühle, zu Ihnen zu sprechen. Ich spreche sehr ungern von mir selbst, doch die Lage, in der ich mich befinde, zwingt mich dazu. Ich bin Ihnen allen völlig fremd und noch sehr jung. Gestatten Sie mir deshalb, kurz zu erzählen, wie mein Leben verlaufen ist und wo ich erzogen bin – und dann entscheiden Sie selbst, ob ich Ihre Aufmerksamkeit verdiene oder nicht.“

„Eine sehr hübsche Einleitung“, bemerkte der Schuhmacher.

„Ein reizender Junge“, sagte das Frauenzimmer mit dem roten Gesicht. „Ich möcht‘ ihn gleich küssen.“

„Er ist viel zu höflich“,murrte Frau Sowler. „Ich wünschte, ich hätte meine Sixpence wieder in der Tasche.“

„Lass ihm nur Zeit“, flüsterte Jervy, „er wird schon warm werden. Ich sage dir, Phoebe, der fängt nicht an, wie einer, der stecken bleibt. Ich glaube nicht, daß wir heute viel zu lachen kriegen.“

„Ein bewundernswerter Redner!“ sagte Frau Farnaby zu ihrem Gatten. „Denk nur, wie wär es möglich, daß ein Mann, wie der, eine so dumme Gans wie Regina, heiraten sollte.“

„Er ist dann immerhin noch besser daran“, antwortete Herr Farnaby wütend, „als wenn er mit einem Frauenzimmer, wie du bist, verheiratet wäre!“

Inzwischen hatte Amelius seine Verwandtschaft mit dem Publikum als Engländer betont und sein Leben in Tadmor in den bemerkenswertesten Punkten kurz geschildert. Darauf stellte er die Frage, ob man ihn anhören wolle. Sein Freimut und seine Frische hatten die Versammlung schon gewonnen, ein allgemeiner Beifallssturm war die Antwort.

„Nun gut, so will ich fortfahren“, begann Amelius von Neuem. „Werfen wir zunächst einen Blick – an weiterem verhindert uns die Kürze der Zeit – auf den gegenwärtigen Zustand unseres religiösen Systems. Wie sieht das Ding, das man Christentum nennt, im heutigen England aus? Wir sehen hundert verschiedene Sekten, die sämtlich voneinander abweichen. Die Landeskirche steckt nach jeder Richtung in unaufhörlichen Streitereien. - Dispute, ob die Röcke schwarz oder weiß sein sollen, ob Kerzen auf der Tafel stehen dürfen oder nicht, ob man sich nach Osten oder nach Westen verbeugen soll, ob diese oder jene Lehre die respektabelsten Stützen und das meiste Geld hat, die Lehre in meiner Kirche, oder die Lehre in deiner Kirche, oder die Lehre in der Kirche über der Straße. Blicken Sie von diesen zahlreichen und unaufhörlichen Quängeleien bei Unteroffizieren und Gemeinen anch den höheren Regionen hinauf, wo die höchstverehrungswürdigen Repräsentanten der Staatsreligion auf gesonderten Stühlen sitzen. Sind das Christen? Wenn sie es sind, so zeigt mir den Bischof, der sein Christentum im Hause des Lords zu vertreten wagt, wenn das Ministerium des Tages zufällig sein Heil in einem neuen Kriege sieht! Wo ist der Bischof und wieviel Anhänger hat er in seinem eigenen Stande? Mißfällt es Ihnen, daß ich eine so heftige Sprache führe, eine Sprache, die ich nicht rechtfertigen könne? Urteilen Sie unparteiisch und entscheiden Sie dann. Das Christentum des neuen Testaments macht die Menschen wahr, human, sanftmütig, bescheiden, streng gewissenhaft und streng rücksichtsvoll im Verkehr mit ihren Mitmenschen. Bringt das Christentum der Kirchen und Sekten ähnliche Resultate unter uns zu Wege? Blickt auf die Industrie des Landes, auf die Beschäftigung, der sich die überwiegende Mehrzahl der Engländer aller Stände widmet, auf unseren Handel! Welches sind die sozialen Ansichten, nach dem Maßstabe der Moralität des Buches in meiner Hand? Laßt die organisierten Systeme des Betruges, die sich unter der Maske von Banken und Gesellschaften verbergen, diese Fragen beantworten – ich brauche die Antwort nicht zu geben. Sie wissen, welch respektable Namen Jahr für Jahr mit der schamlosesten Fälschung von Büchern in Verbindung gebracht werden – kennen den erbarmungslosen Ruin von tausend und abertausend Schlachtopfern. Sie wissen, daß unser armer, indischer Abnehmer als Kattun einen Fetzen Zeug erhält, der in Stücke zerfällt, wie der ehrliche Wilde als Waffe ein Gewehr erhält, das ihm in der Hand zerspringt, wie das halbverhungerte Nähmädchen mit der aufgedruckten Nummer der Yards beim Ankauf ihres Zwirnes betrogen wird, wissen endlich, daß auf den europäischen Märkten fremde Waren sehr bald die unserige vom Platze drängt, weil die fremde Ware solider ist, und schließlich wissen Sie – und das ist das Schlimmste von allem, daß diese grausamen und niederträchtigen Betrügereien nebst vielen anderen von den höchsten Autoritäten des Handelsstandes als „Formen der Konkurrenz“ und erlaubte Vorteile im Handelsgeschäfte betrachtet werden.

Glauben Sie an eine ehrehafte Anhäufung von Reichtümern bei Leuten, die solchen Ansichten huldigen und solche Betrügereien stetig ausüben? Ich nicht. Und finden wir ein helleres und reineres Bild, wenn wir von denen, die uns im großen Maßstabe betrügen, auf jene blicken, die es im Kleinen tun? Nein! Alles, was wir essen, trinken und auf dem Leibe tragen ist mehr oder weniger gefälscht, und diese Fälschung verkauft uns der Kaufmann zu unsinnig hohen Preisen, daß wir gezwungen sind, uns nach sozialistischen Prinzipien zu schützen, indem wir Konsumvereine errichten. Lassen Sie mich ausreden, bevor Sie applaudieren. Mißverstehen Sie den Zweck dieser Worte nicht und glauben Sie nicht, daß ich gegen die helleren Seiten des düsteren Gemäldes, das ich Ihnen entworfen habe, blind bin.

Innerhalb der Schranken des Privatlebens findet man, Gott sei Dank, noch gute Christen, Geistliche wie Laien, findet man Männer und Frauen, die im besten Sinne des Wortes Schüler Christi genannt zu werden verdienen. Doch ich habe an dieser Stelle mit dem Privatleben nichts zu tun – mich beschäftigt der öffentliche Zustand von Religion, Moral und Politik dieses Landes, und ich wiederhole es, derselbe bietet unseren Augen ein weites Feld von Mißbrauch und Korruption und enthüllt eine hartnäckige, entsetzliche Unempfindlichkeit seitens der Nation gegenüber dem Schauspiel ihrer eigenen Entsittlichung und Schande.“

Hier hielt Amelius inne und nahm den ersten Schluck Wasser.

Reservierte Sitze pflegen infolge einer sonderbaren Verwandtschaft bei öffentlichen Unterhaltungen auch von reservierten Leuten besetzt zu sein. Das auserwählte Publikum zunächst dem Redner bewahrte ein diskretes Stillschweigen. Doch der herzliche Beifall ovn den Sechspence-Plätzen entschädigte dafür reichlich. Diese Eröffnung des Angriffs enthielt genug von des Redners eigener Heftigkeit und Ungestüm – zumal seinen Worten eine unleugbare Wahrheit zu Grund lag, um energisch auf die Majorität der Zuhörer zu wirken. Frau Sowler kam zu der Ansicht, daß ihr Sechspence-Stück schließlich doch ganz gut angelegt war, und Frau Farnaby spitzte alle die scharfen Angriffe auf den Handel zu diskreten Beziehungen auf ihren Gatten zu, indem sie diesem jedesmal mit dem Kopfe zunickte.

Amelius fuhr fort:

„Zunächst haben wir nun folgendes zu untersuchen: - kann unser gegenwärtiges Regierungssystem uns friedliche Mittel zur Abhilfe der eben von mir dargelegten Mißstände an die Hand geben; nicht zu vergessen, daß andere kolossale Mißbräuche, die mit der unerträglichen Höhe unseres Staatshaushaltsetats zusammenhängen, von Jahr zu Jahr wachsen? Wenn Sie es nicht durchaus verlangen, will ich unsere kostbare Zeit nicht damit vergeuden, daß ich ber das Haus der Lords rede, und zwar aus drei ausreichenden Gründen. Erstens ist diese Körperschaft nicht vom Volke erwählt und hat deshalb in einem wirklich freien Lande nicht die geringste Existenzberechtigung. Zweitens haben von seinen 485 Mitgliedern nicht weniger als 187 direkten Vorteil von der Ausgabe öffentlicher Gelder, da sie unter diesem oder jenem Titel mit mehr als einer halben Million Pfund auf dem Jahresetat stehen. Drittens hat, wenn das Haus der Gemeinen den Willen und die Fähigkeit besitzt, die nötigen Reformen einzuleiten, das Haus der Lords keine andere Alternative, als zu folgen, oder die Revolution wachzurufen, der es vor 40 Jahren nur um eines Haares Breite entschlüpfte. Was meinen Sie? Sollen wir unsere Zeit mit Betrachtungen über das Haus der Lords verschwenden?“

Laute Rufe von den Sechspence-Bänken antworteten Nein! - am lautesten schrieen der Stallknecht und das Frauenzimmer mit dem feuerroten Gesicht. Hier und dort ließen einige dissentierende Individuen ein schüchternes Zischen hören, an der Spitze Jervy im Interesse von Altar und Thron.

Amelius fuhr fort:

„Wird uns denn nun das Haus der Gemeinen auf gesetzmäßigem und vernünftigem Wege der Reform zu einem reineren Christentum und einer billigeren Regierung helfen? Ich erinnere Sie noch einmal daran, daß diese Versammlung das Recht hat – wenn sie den Willen hat. Ist sie nun gegenwärtig so zusammengesetzt, daß sie den Willen hat? Das ist die Frage! Die Zahl der Mitglieder beträgt etwas über 650. Davon vertritt – oder behauptet zu vertreten – nur ein Fünftel die Interessen des Handelsstandes. Die Mitglieder, welchen die Vertretung der Interessen der arbeitenden Klassen obliegt, sind noch viel leichter zu zählen – es sind gerade zwei! Aber ums Himmels willen, werden Sie fragen, welche Interessen vertritt denn die Majorität der Mitglieder dieser Versammlung? Darauf gibt es nur eine Antwort: - das militärische und aristokratische Interesse. In diesen Tagen des Verfalls der repräsentativen Verfassungen ist das Haus der Gemeinen ein vollkommener Widersinn geworden. Die Gemeinen sind überhaupt nicht vertreten, die gegenwärtigen Mitglieder gehören Gesellschaftsklassen an, die nicht das geringste Interesse daran haben, für die Bedürfnisse des Volkes zu sorgen und die Bürden des Volkes zu erleichtern. Mit einem Worte, wir haben vom Hause der Gemeinen gar nichts zu hoffen. Und wessen Fehler ist das? Ich sage es mit Scham und Kummer – es ist durchaus der Fehler des Volkes. Ja, ich sage es Ihnen ganz offen, es ist Englands Schmach und Gefahr, daß das Volk selbst diese repräsentative Versammlung erwählt, welche die Bedürfnisse des Volkes ignoriert. Man hat euch Wählern in Stadt und Land jede denkbare Freiheit und Ermutigung für Ausübung eures heiligsten Rechtes gewährt – und das gegenwärtige Haus der Gemeinen ist der Beweis, daß ihr dessen vollständig unwürdig seid.“

Diese kühnen Worte veranlaßten das Auditorium zu einem Ausbruch des Unwillens, welcher für den Augenblick die Stimme des Redners übertönte. Sie waren darauf vorbereitet, mit unerschöpflicher Geduld die Aufzählung ihrer Tugenden und des ihnen widerfahrenen Unrechts anzuhören – hatten aber nicht sechs Pence bezahlt, um über die klägliche und verächtliche Rolle informiert zu werden, die sie in der modernen Politik spielten. Sie schrieen, grölten und zischten – und fühlten, daß sie ihr hübscher, junger Vorleser beleidigt hatte.

Amelius wartete ruhig, bis sich der Sturm gelegt hatte.

„Es tut mir leid, daß ich Sie gegen mich erzürnt habe“, sagte er lächelnd. „Der Tadel für diese kleine Unterbrechung bleibt auf den öffentlichen Redner sitzen, die sich vor Ihnen fürchten und Ihnen schmeicheln – namentlich, wenn Sie zu den arbeitenden Klassen gehören. Sie sind nicht gewohnt, daß man Ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagt. Ja, meine lieben Freunde, die Leute in England, die des großen Vorrechtes, welches die weise und großmütige englische Verfassung in ihre Hände legt, unwürdig sind, sind so zahlreich, daß man sie in verschiedene Klassen einteilen kann. Da ist eine hochgebildete Klasse, die an der Besserung verzweifelt und sich beiseite hält. Dann kommt die nächste Klasse, die ohne Selbstachtung und Vaterlandssinn, indirekt durch eine Anstellung, einen Pachtkontrakt, ja selbst durch eine Einladung zu einer Gesellschaft in einem vornehmen Hause, welche auf Frauen und Töchter ausgedehnt ist, eingefangen werden kann. Und dann kommt die dritte und noch tiefer stehende Klasse – käuflich, verderbt, schamlos bis ins Mark der Knochen – welche sich und ihre Freiheit für Geld und einen Schluck Brandy verkauft. Als ich im beginn meiner Rede von bevorstehenden Umgestaltungen sprach, prophezeite ich, daß dieselben revolutionärer Natur sein würden. Bin ich ein Ruhestörer? Verkenne ich in ungerechter Weise die Fähigkeit zu friedlichen Reformen, welche das moderne England bisher vor Revolutionen bewahrt hat?

Gott verhüte, daß ich die Wahrheit verleugnen oder Sie ohne not beunruhigen sollte. Doch die Geschichte erzählte mir – und ich brauche nicht weiter zurückzugehen als bis zur ersten französischen Revolution – daß es eine soziale und politische Verderbtheit gibt, die in einer Nation so weit- und tiefgreifende Wurzeln schlägt, daß sie nur durch eine revolutionäre Umwälzung ausgerissen und beseitigt werden kann. Und ich für meine Person fürchte (und ältere und erfahrene Männere sind derselben Ansicht), daß die Verderbtheit, die ich in dieser kurzen Rede eben nur andeuten konnte, in England ebenso wie im ganzen übrigen Europa weit über die Grenzen der gesetzlichen und unblutigen Reformen hinausgreift, die uns in früheren Jahren so gute Dienste leisteten. Mag ich mich nun in dieser Ansicht irren (und das hoffe ich von Herzen) oder mag dieselbe von den Ereignissen der Zukunft bestätigt werden, in beiden Fällen kann das Heilmittel, der einzig sichere Grund, auf dem eine dauernde, vollständige und würdige Reform aufgebaut werden kann, mag sie nun eine Umwälzung verhindern oder ihr folgen – nur in den Spalten dieses Buches gefunden werden. Lassen Sie sich um Himmelswillen nicht von den kurzsichtigen Philosophen überreden, welche versichern, daß die göttliche Tugend des Christentums zu denen gehört, die sich im Verlaufe der Zeit abnützen. Der Mißbrauch, die Verderbnis des Christentums nützen sich ab – wie sich alle Falschheit, alle Betrügerei abnützen sollen und müssen. Seit Christus und seine Apostel den Menschen zuerst den Weg zu einem glücklicheren und besseren Dasein zeigten, haben sich die Völker niemals in einer härteren Notwendigkeit befunden, zu seinen Lehren in ihrer ursprünglichen Reinheit und Einfachheit zurückzukehren, als eben jetzt. Sicher war es niemals mehr als in dieser kritischen Zeit, eben sowohl das Interesse als die Pflicht der Menschheit, dem Geschrei falscher Lehrer ein taubes Ohr zu leihen und auf jene allweise und allerbarmende Stimme zu hören, die erst dann aufhörte, die Menschen zu erheben, zu trösten und zu reinigen, als sie unter den Qualen der Kreuzigung in Finsternis erlosch. Sind das ungestüme Worte eines Enthusiasten? Ist dies der Traum eines irdischen Paradieses, an welches zu glauben helle Narrheit wäre? Ich kann Ihnen von einer Gemeinde (es gibt deren mehrere) erzählen, die mehrere hundert Personen zählt und welche Glück und Gedeihen gefunden hat, indem sie die ganze geheimnisvolle Kunst des Regierens auf den einfachen Spruch des Neuen Testaments stellte: „Fürchte Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Das tendenziöse Interesse steht natürlich sehr im Vordergrund, dennoch aber hat Collins es wohl verstanden, auch hier wieder sorgsam durchgeführte, packende Charaktergemälde zu liefern. Der junge Goldenheart und sein amerikanischer Freund Rufus sind höchst sympathische Figuren. Simple Sally, die unglückliche Tochter der Straße, ist mit ihrer rührenden Hundeliebe à la Käthchen von Heilbronn eine wirklich poetische Gestalt. Frau Farnaby, eine bizarre Charakterstudie, und selbst das typische Monstrum, ihr Gemahl, ist noch mit dem Collins fast nie verlassenden künstlerischen Takte ausgeführt. Einige höchst realistische Typen aus der Verbrecherwelt und die komische Figur eines französischen Dieners vervollständigen das farben- und gestaltenreiche Gemälde. Man darf auf die Fortsetzung dieses Werkes gespannt sein, da, wie gesagt, erst sie zeigen wird, ob der Autor im Stande ist, die schwerwiegenden Fragen, welche er aufwirft, befriedigend zu lösen. Es wird schwer sein. Wünschen wir, daß es ihm gelinge.

Der Roman „Jezebels Daughter“ bildet eine Mittelgattung zwischen Sensations- und Charakterroman. Mehr noch als in den unmittelbar vorhergehenden und demnächst folgenden Werke „The black robe“ ist in dem vorliegenden das Bestreben des Autors, mit dem größten Fleiß zu motivieren und zu charakterisieren, sichtbar. Dennoch aber müssen wir ihn wegen der ganz abnormen Figuren, welche in ihm auftreten, und wegen der ebenso abnormen, aufregenden Handlung entschieden zu den Sensationsromanen rechnen.

Die Hauptperson ist eigentlich nicht die Tochter Jezebels, sondern Jezebel selbst, die Gattin eines in Würzburg verstorbenen Professors der Chemie, namens Fontaine, deren eigenartige Schönheit und hochfahrendes Wesen ihr jenen Spitznamen eingetragen haben. Ihr Gatte hat sich in seinen letzten Lebensjahren mit dem Versuch beschäftigt, die berüchtigten Borgia-Gifte wieder herzustellen. Es gelang ihm nicht nur dies, sondern auch die Bereitung entsprechender Gegengifte. Auf die herrschsüchtige Natur seiner Gattin macht der Gedanke, durch diese Gifte, welche keine durch chemische Analyse erkennbaren Spuren ihrer Wirkung zurücklassen, souverän über das Leben ihrer Mitmenschen gebieten zu können, einen solchen Eindruck, daß sie die betreffenden Flaschen heimlich beiseite schafft. Eben so stark wie ihre Sehnsucht nach Gewalt, unumschränkter Freiheit ihres Handelns, Luxus und vornehmem Leben ist aber auch ihre Liebe zu ihrer einzigen Tochter, der durchaus harmlosen, anmutigen Minna. Der Kampf zwischen diesen beiden Hauptregungen ihres Herzens bildet den psychologischen Inhalt des Romans und ist von Collins mit großer Feinheit der Beobachtung höchst interessant dargestellt worden. Der aktuelle Inhalt ist zu kompliziert, als daß man ihn kurz wiedergeben könnte. Die Reihe von Verbrechen, welche die Witwe Fontaine begeht, und welche damit endigen, daß sie selbst ein Opfer jener Borgiagifte wird, ist eine Folge des Versuchs, ihrem geliebten Kinde den Mann seiner Wahl trotz aller Hindernisse zu verschaffen. Dieser ist nämlich der Sohn eines reichen Handelsherren, Keller, in Frankfurt am Main, welcher von einer Verbindung mit der Tochter einer übel beleumundeten Frau durchaus nichts wissen sill. Frau Fontaine zieht mit ihrer Tochter nach Frankfurt, macht Kellers Partner, Engelmann, in sich verliebt und erlangt dadurch Zutritt im Hause der Beiden. Da aber Keller weder ihr eine Unterredung gewährt, noch ihre Briefe beachtet, bringt sie ihm heimlich eines ihrer Gifte bei und installiert sich dann im Hause, nachdem die Ärzte ihn aufgegeben haben, als Krankenpflegerin und heilt ihn vermittelst ihres Gegengiftes. Seiner Lebensretterin kann Keller natürlich nichts abschlagen, und die Hochzeit wird anberaumt. Der Tag wird jedoch durch allerlei Umstände hinausgeschoben und in der Zwischenzeit muß Frau Fontaine eine drückende pekuniäre Verbindlichkeit lösen, oder vor dem Schwiegervater ihrer Tochter als Schwindlerin sich darstellen. Die Angst, daß dadurch das Glück ihrer Tochter dennoch vereitelt werden könnte, und die rasende Wut gegen die Personen, welche sich ihren Plänen hindernd in den Weg stellen, führen sie zu weiteren Experimenten mit ihren Giften, welche jedoch durch Verwechslung von Flaschen und allerlei Umstände, wie sie eben nur Collins so geschickt und überraschend herbeizuführen weiß, vereitelt werden. Mit das Stärkste, was Collins an gruseligen Situationseffekten geleistet hat, ist die Szene im Frankfurter Leichenhause.

Die in dieser Szene von den Toten auferstehende Dame ist Frau Wagner, der Chef des Londoner Handlungshauses, von welchem das Frankfurter Hause Keller und Engelmann abgezweigt ist. Diese Dame spielt eine hervorragende Rolle im Roman und ihr energischer, durch und durch tüchtiger und liebenswürdiger Charakter bildet einen vortrefflichen Gegensatz zu dem dämonischen der Giftmischerin Fontaine und ist von Collins mit besonderer Liebe geschildert. Außer anderen Plänen ihres verstorbenen Mannes hat Frau Wagner auch zur Ausführung zu bringen versucht, Irrsinnige durch Liebe und Vertrauen, statt durch Prügel und die Zwangsjacke zu heilen. Ein Tobsüchtiger aus Bedlam, der berühmten englischen Irrenanstalt, dient ihr zum Versuchsobjekt und es gelingt ihr, durch ungemein kluge Behandlung ihm eine rührende Anhänglichkeit an ihre Person einzuflößen und überhaupt ihn zu einem leidlich brauchbaren Menschen zu machen. Der Roman spielt in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts – daher die energische Polemik gegen die unmenschliche Behandlung der Irren, welche jetzt wohl überall abgestellt ist. Pathologische Spezialitäten interessieren, wie wir gesehen haben, Collins ganz ungemein. Der gezeichnete Tobsüchtige aus Bedlam, Jack Straw, ist auch wieder ein solch wunderliches menschliches Fragezeichen und die kurze Widmung des Autors an einen italienischen Freund spricht es ausdrücklich aus, mit welcher Vorliebe er diese Figur zu zeichnen versuchte. Bei Collins intimer Frundschaft mit hervorragenden Ärzten, wie Carr Beard, ist wohl anzunehmen, daß Jack Straw, so wie er dargestellt ist, möglich sei, trotzdem macht er aber vielfach einen durchaus unwirklichen Eindruck, als ob er nur das Geschöpf der Laune seines eigensinnigen Erfinders sei. Interessant ist aber die Figur immerhin, ja selbst poetisch, und zwar nicht nur, wenn die Phantasie des Verfassers etwas romantisch schwärmt. Sogar zu einer Ballade hat sich Collins in Jezebels Daughter aufgeschwungen, die gar nicht so übel ist – besonders mit Rücksicht darauf, daß sie einem betrunkenen Nachtwächter in den Mund gelegt wird.

Die Darstellungsweise ist, zum Glück für das Buch, nicht ganz so knapp und telegraphisch wie in so vielen der letzten Werke. Die Exposition ist übrigens etwas breit und nicht so unmittelbar auf den Kern der Handlung zielend, wie dies sonst immer bei Collins der Fall ist. Er täuschte sich, wenn er erwartete, daß der Leser sich für Jack Straw eben so interessieren werde, als für Madame Jezebel – welche wohl eine seiner am besten charakterisiertesten und effektvollsten Figuren genannt werden darf. Der Roman liest sich übrigens gerade so, wie ein modernes französisches Sensationsstück und meine früher aufgestellte Parallele zwischen Sardou und Collins dürfte man besonders nach der Lektüre dieses Buches wohl für zutreffend erklären.


Was wir schon von der „Neuen Magdalene“ sagten, gilt auch von „The black Robe“ (Der schwarze Rock). Auch hierin finden wir das ernste Bestreben des Autors, an die Stelle des rein stofflich Spannenden das Interesse für seelische Probleme zu setzen. Aber auch hier, und zwar in erhöhtem Maße, wirkt die aktenmäßige Darstellungsmanier erkältend auf die Mitempfindung des Lesers.

Es handelt sich, wie schon der Titel andeutet, um eine Jesuitenintrige. Der Erbe eines großen, früher der Kirche gehörenden Besitzes, soll zum Katholizismus bekehrt und zur Herausgabe seines Eigentums an die Kirche bewogen werden. Nachdem seine Heirat vorläufig die Intrigen zerstört, gilt es, das Band der Ehe durch Verdächtigung der Frau zu zerreißen. Die meisterhaft geführte Intrige glückt vollkommen. Der Konvertit läßt Frau und Vermögen im Stich und ist auf bestem Wege, hohe geistliche Ehren zu erringen. Da wirft ihn ine schwere Krankheit aufs Sterbebett, und als er jetzt erst erfährt, daß ihm nach der Trennung ein Sohn geboren und seine Frau durchaus unschuldig gewesen sei, triumphiert die rein menschliche Liebe über die künstlich erregte religiöse Begeisterung und er vernichtet das Testament, welches die Kirche zu seiner Erbin einsetzte.

In diesem Roman ist die Führung der Intrige wieder so meisterhaft gehandhabt, wie das eben nur Collins und wenige andere können. In der Hauptsache dagegen, in der psychologischen Entwicklung findet sich doch einiges Anfechtbare. Romayne, das Objekt der Intrige, ist zwar durch seine krankhafte Seelenangst – er hat einen Menschen im Duell getötet – wohl vorbereitet für geistliche Experimente, dennoch aber glauben wir es nicht recht, daß ein Gelehrter wie er, welcher ein Werk über den Ursprung der Religion schreibt, durch ein paar katholische Bücher und die warme Begeisterung eines jungen Priesters bekehrt werden sollte. Es ist ja möglich, aber die flüchtige Darstellungsart überzeugt uns eben nicht von der Möglichkeit. Collins ist kein spekulativer Geist. Es ist daher nicht zu verwundern, daß seine Kraft an dieser Aufgabe gescheitert ist. An der weiblichen Hauptfigur, Romaynes Gattin Stella, vermissen wir auch etwas – eben das je ne sais quoi, welches uns eine dichterische Person erst lebendig vor Augen führt. Ausgezeichnet ist dagegen die Figur des Jesuiten Benwell. Das ist nichts weniger als der konventionelle Sensations-Jesuit und wer Collins so nichtachtend zu den Sensationalisten wirft, der sehe sich diesen Pater Benwell einmal genauer an und er wird doch wohl zugeben müssen, daß nur ein feindenkender Kopf eine so abgebrauchte Marionette so individuell gestalten kann. Ein prächtiger Typus der frivolen, unverwüstlichen Weltdame ist Stellas Mutter, die mit ihrer geläufigen Zunge doch manchmal ganz hübsche Wahrheiten sagt. Übrigens dürfte es nicht viel deutsche Autoren geben, welche das small talk so ungezwungen schreiben können, als es hier Collins getan hat. Der liebenswürdigste Mensch des Romans ist Mr. Winterfield, ein Hundefreund nach dem Herzen Schwartenmaiers. Einen Charakter wie den des jungen schwärmerischen Jesuiten Penrose zu schildern liegt etwas außerhalb des Collins‘schen Könnens; aber wie fein gedacht ist diese Konstatierung des Jesuiten Benwell und dieses warmherzigen, grundehrlichen Penrose, welchem wahrlich ein Unstern zum schwarzen Rock verhalf.


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