Der Mondstein



Drittes Capitel.

Die Rücksicht für die arme Lady Verinder verbot es mir, auch nur anzudeuten, daß ich die traurige Wahrheit bereits errathen hatte, noch bevor sie die Lippen zu ihrer Mittheilung öffnete. Ich wartete den Moment, wo sie zu reden anfangen würde, ruhig ab, und nachdem ich mich in meinem Innern auf ein paar Trostesworte vorbereitet hatte, die ich bei der ersten passenden Gelegenheit anbringen wollte, war ich zur Uebernahme jeder mir zugedachten Pflicht, so schmerzlich sie auch sein möchte, bereit.

»Ich bin vor einiger Zeit ernstlich krank gewesen, Drusilla,« fing meine Tante an. »Und, sonderbar genug, ohne selbst etwas davon zu wissen.«

»Ich mußte an die Tausende und aber Tausende menschlicher Geschöpfe denken, die Alle in der Sterbestunde an ihrer Seelekrank sind, ohne es selbst zu wissen. Und ich fürchtete gar sehr, daß auch meine arme Tante zu diesen Tausenden gehören möchte.

»Ja, meine Theuerste!« sagte ich traurig, »ja!«

»Ich brachte,« fuhr sie fort, »wie Du weißt, Rachel nach London, um die Aerzte über sie zu consultiren ich hielt es für richtig, mich an zwei Aerzte zu wenden.«

Zwei Aerzte! und —— o, mein Gott! Rachel’s Zustand keinen Geistlichen.

»Jawohl meine Theuerste,« wiederholte ich, »jawohl.«

»Einer der beiden Aerzte,« fuhr meine Tante fort, »war mir bis dahin unbekannt. Der andere war ein alter Freund meines verstorbenen Mannes gewesen und hatte stets um meines Gatten willen ein aufrichtiges Interesse an mir genommen. Nachdem er Rachel etwas verordnet, erklärte er, er wünsche mich in einem andern Zimmer allein zu sprechen. Ich erwartete natürlich einige specielle Anweisungen, wie ich mich in Betreff meiner Tochter zu verhalten habe. Zu meiner Ueberraschung ergriff er mit sehr ernster Miene meine Hand und sagte: »Ich habe Sie mit dem Auge des Freundes und des Arztes angesehen, Lady Verinder. Ich fürchte, Sie bedürfen ärztlichen Raths viel dringender, als Ihre Tochter.«

Er that mir einige Fragen, mit denen ich es anfänglich sehr leicht nehmen wollte, bis ich bemerkte, daß meine Antworten ihn betrübten. Unsere Unterhaltung endete damit, daß wir für den nächsten Tag auf eine Stunde, wo Rachel nicht zu Hause sein würde, eine Consultation verabredeten, die er mit einem ärzlichen Freunde meinetwegen halten wollte. Das Ergebniß dieser Consultation, das mir in einer höchst rücksichtsvollen und milden Weise mitgetheilt wurde, war die von beiden Aerzten gewonnene Ueberzeugung, daß eine kostbare und nicht wieder einzubringende Zeit verloren sei und daß ihre Kunst über meinen Zustand jetzt nichts mehr vermöge. Seit länger als zwei Jahren habe ich an einem tückischen Herzübel gelitten, welches, ohne von irgend beunruhigenden Symptomen begleitet zu sein, ganz allmälig meine Gesundheit zerrüttet hat. Ich kann vielleicht noch ein paar Monate leben, ich muß aber jeden Augenblick auf meinen Tod gefaßt sein, die Aerzte können nicht positiver reden. Es würde vergebens sein, wenn ich Dich glauben machen wollte, meine Liebe, daß ich nicht sehr schlimme Stunden durchgemacht habe, seit ich über meinen wirklichen Zustand aufgeklärt bin. Aber ich bin jetzt gefaßter als ich es war und ich bin nach Kräften bemüht, meine weltlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Das Einzige, was mir Sorge macht, ist der Gedanke, daß Rachel eine Ahnung von meinem Zustand bekommen könnte. Wenn sie etwas davon erführe, so würde sie auf der Stelle die Erschütterung meiner Sorge wegen des Diamanten zuschreiben und würde sich bittere Vorwürfe über Etwas machen, was das arme Kind in keiner Weise verschuldet hat. Beide Aerzte stimmen« darin überein, daß das Uebel zwei, wenn nicht vor drei Jahren seinen Anfang genommen hat. Ich bin überzeugt, Drusilla, daß Du mein Geheimniß gut bewahren wirst, denn ich täusche mich nicht, wenn ich aufrichtige Sorge und Sympathie für mich in Deinem Gesicht zu lesen glaube.«

Sorge und Sympathie! O, wie kann man so heidnische Empfindungen von einer glaubensfesten englischen Jungfrau erwarten!

Meine arme Tante hatte wenig Vorstellung davon, welch ein Strom frommer Dankbarkeit sich über mich ergoß, als sie sich dem Ende ihrer traurigen Erzählung näherte. Vor mir eröffnete sich ein weites Feld nützlicher Thätigkeit! Eine geliebte Verwandte und ein dem Tode naher Mitmensch, am Rande der großen Reise, völlig unvorbereitet und durch eine Fügung der Vorsehung in dem Fall mir ihre Lage zu enthüllen! Wie soll ich die Freude schildern, mit der ich mich nun erinnerte, daß die würdigen geistlichen Freunde, auf die ich mich verlassen konnte, nicht nach ein oder zwei, sondern nach zehn und zwanzigen zählten! Ich schloß meine Tante in meine Arme, ich vermochte meiner überströmenden Zärtlichkeit jetzt durch nichts Geringeres, als durch eine Umarmung zu genügen. »O!« rief ich feurig aus, welch’ ein unbeschreibliches Interesse flößest Du mir ein! O! Wie viel Gutes hoffe ich Dir noch erweisen zu können, bevor wir von einander Abschied nehmen!«

Nachdem ich noch einige ernste vorbereitende Worte gesagt hatte, ließ ich ihr die Wahl unter drei würdigen Freunden, die Alle in ihrer Nachbarschaft das Werk der Gnade vom Morgen bis Abend übten, die Alle gleich unermüdlich im Ermahnen, Alle freundlich bereit waren, auf ein Wort von mir ihre reiche Begabung zur Anwendung zu bringen. Aber ach! das Ergebniß meiner Bemühung war weit entfernt, ermuthigend zu sein. Die arme Lady Verinder sah bei meinen Worten verwirrt und erschrocken aus und begegnete allen meinen Vorstellungen mit dem rein weltlichen Einwand, daß sie sich nicht stark genug fühle, den Besuch Fremder zu empfangen. Ich gab, natürlich nur für den Augenblick, nach. Meine reiche Erfahrung —— als Hörerin und Besucherin von im Ganzen nicht weniger als vierzehn geistlichen Freunden —— belehrte mich, daß hier wieder einmal ein Fall der Vorbereitung durch Bücher vorliege. Ich besaß eine kleine Bibliothek von Werken, die Alle für die gegenwärtige Situation geeignet, Alle darauf berechnet waren, meine Tante zu erwecken, zu überzeugen, vorzubereiten, zu erleuchten und zu stärken. »Du mußt lesen, Liebste, nicht wahr, das wirst Du thun?« sagte ich im gewinnendsten Ton. »Nicht wahr, Tante, Du wirst lesen, wenn ich Dir meine köstlichen Bücher bringe, in denen die Blätter bei allen wichtigen Stellen eingeschlagen und wo alle solche Worte, bei denen Du inne halten und Dich fragen mußt: »Paßt dies auf mich?« mit Bleistift angestrichen sind?« Selbst diese einfache Aufforderung, —— so absolut unchristlich ist der Einfluß der Welt ——, schien meine Tante unangenehm zu berühren. Sie sagte mit einem Blick der Ueberraschung, der für mich eben so belehrend wie erschreckend war: »Ich will Dir gern zu Gefallen thun, was ich kann, Drusilla.« Da war kein Augenblick zu verlieren. Die Uhr auf dem Kamine mahnte mich, daß ich noch eben Zeit habe, nach Hause zu eilen, mich mit einer ersten Serie auserwählter Schriften, etwa einem Dutzend, zu versehen und noch zu rechter Zeit wieder da zu sein, wenn der Advocat kommen und ich als Zeugin bei Lady Verinder’s Testament gebraucht werden würde. Nachdem ich versprochen, um fünf Uhr zurück zu sein, ging ich fort, um mein Gnadenwerk auszurichten.

Wo es nur meine eigenen Interessen gilt, begnüge ich mich in meiner Demuth mit der Beförderung durch den Omnibus. Man kann sich also von meiner Hingebung an die Interessen meiner Tante eine Vorstellung machen, wenn ich bemerke, daß ich bei dieser Gelegenheit die Verschwendung beging, mir eine Droschke zu nehmen.

Ich fuhr nach Hause, suchte meine erste Serie von Schriften zusammen und fuhr zurück nach Montaguesquare mit einem Dutzend Bücher in einem Nachtsack, deren Gleichen sich, wie ich fest überzeugt bin, die Literatur keines andern Landes in Europa rühmen kann. Ich bezahlte dem Droschkenkutscher genau seine Taxe. Er nahm dieselbe mit einem Fluch entgegen, worauf ich ihm sofort ein Tractätchen einhändigte. Hätte ich ihm eine Pistole vor den Kopf gehalten, so hätte dieses verlorene Menschenkind kaum betroffener aussehen können. Er sprang von seinem Bock auf und fuhr unter profanen Ausrufen des Entsetzens, die ohne jede Wirkung auf mich blieben, davon. Ich säete, seinem Zornausbruche Trotz bietend, die gute Saat, indem ich ein zweites Tractätchen durch’s Fenster in den Wagen warf.

Dieses Mal öffnete mir zu meiner großen Freude nicht die Person mit den Mützenbändern, sondern der Diener die Thür und theilte mir mit, daß während meiner Abwesenheit der Doktor gekommen und noch mit Lady Verinder eingeschlossen sei. Vor wenigen Augenblicken war der Advocat Herr Bruff eingetroffen und wartete in der Bibliothek. Ich ward in die Bibliothek geführt, um gleichfalls dort zu warten.

Herr Bruff schien überrascht, mich zu sehen. Er ist der Advocat der Familie und wir hatten uns schon wiederholt bei früheren Gelegenheiten in Lady Verinder’s Hause getroffen. Ein Mann, der, wie ich mit Bedauern sagen muß, im Dienst der Welt alt und grau geworden, ein Mann, der in seinen Geschäftsstunden der auserwählte Prophet des Gesetzes und des Mammons, und der in seinen Mußestunden fähig war, einen Roman zu lesen und ein Tractätchen zu zerreißen.

»Kommen Sie, um längere Zeit im Hause zu bleiben, Miß Clack?« sagte er mit einem Blick auf meinen Nachtsack. Einem Mann wie diesem den Inhalt meines Nachtsacks zu enthüllen, wäre eine Aufforderung zu einem profanen Ausbruch gleichgekommen. Ich ließ mich zu dem Niveau seiner Vorstellungen herab und nannte mein Geschäft hier im Hause.

»Meine Tante hat mir mitgetheilt, daß sie im Begriff steht, ihr Testament zu unterzeichnen,« antwortete ich; »sie hat mich freundlichst ersucht, ihr dabei als Zeugin zu dienen.«

»Ei! ei! Gut, Miß Clack, Sie können als Zeugin dienen; Sie sind über 21 Jahre alt und Sie haben nicht das mindeste pecuniäre Interesse an Lady Verinder’s Testament.«

Nicht das mindeste pecuniäre Interesse an Lady Verinder’s Testament! O! wie dankbar war ich, als ich das hörte. Wenn meine reiche Tante an meine arme Person gedacht hätte, für die fünf Pfund schon eine bedeutende Summe ist; wenn mein Name in Verbindung mit einem kleinen mir vermachten Legat in dem Testament vorgekommen wäre: so würden meine Feinde vielleicht die Motive, die mich bestimmt hatten, mich mit den kostbarsten Schätzen meiner Bibliothek zu beladen, verdächtigt und vielleicht in Veranlassung meiner verschwenderischen Ausgabe für eine Droschke auf meine geringen Mittel gestichelt haben. Aber jetzt konnte auch der grausamste Spötter unter ihnen die Reinheit meiner Motive nicht anzweifeln Es war viel besser so! Gewiß! Gewiß! Viel besser so!

Ich wurde aus diesen tröstlichen Reflexionen durch Herrn Bruff erweckt. Mein nachdenkliches Schweigen schien auf diesem Weltkind zu lasten und ihn gewissermaßen wider seinen Willen zur Unterhaltung mit mir zu zwingen.

»Nun, Miß Clack, was giebt es Neues in den mildthätigen Kreisen? Wie geht es Ihrem Freunde, Herrn Godfrey Ablewhite, nach der Mißhandlung, die er von den Spitzbuben in Northumberlandstreet erfahren hat? In meinem Club erzählen sie wahrhaftig eine hübsche Geschichte über diesen mildthätigen Herrn.«

Ich hatte die Art, mit welcher dieser Mensch bemerkt hatte, daß ich über einundzwanzig Jahr alt sei und daß ich kein pecuniäres Interesse an dem Testament meiner Tante habe, schweigend hingenommen. Aber der Ton, in dem er auf den theuren Herrn Godfrey anspielte, war zu viel für mich. Da ich mich durch Das, was diesen Nachmittag in meiner Gegenwart vorgefallen war, verpflichtet fühlte, die Unschuld meines bewundernswerthen Freundes zu bezeugen, wo immer ich einem Zweifel an derselben begegnen würde, betrachtete ich es, wie ich bekenne, als einen Theil meiner Aufgabe, diesem Herrn Bruff eine scharfe Zurechtweisung zu Theil werden zu lassen.

»Ich lebe wenig in der Welt,« sagte ich, »und kann mich nicht wie Sie, mein Herr, rühmen, einem Club anzugehören Aber ich kenne zufällig die Geschichte, auf welche Sie anspielen und weiß auch, daß niemals eine erbärmlichere Lüge als diese Geschichte erzählt worden ist.«

»Jawohl, Miß Clack! Sie glauben an Ihren Freund. Das ist sehr natürlich! Aber Herr Godfrey Ablewhite wird die Welt im Allgemeinen nicht ganz so bereit finden, sich überzeugen zu lassen, wie ein Comité von mildthätigen Damen. Der Schein ist entschieden gegen ihn. Er war im Hause, als der Diamant zuerst vermißt wurde und war der Erste, der nach dem Verlust des Edelsteins nach London ging. Das sind häßliche Umstände, mein Fräulein, wenn man sie in dem Licht späterer Ereignisse betrachtet.«

Ich bin mir wohl bewußt, daß ich ihn, bevor ich ihn weiter reden ließ, tüchtig hätte zurechtsetzen müssen; ich hätte ihm sagen sollen, daß er ohne Kenntniß von einem Zeugniß der Unschuld des Herrn Godfrey rede, welches von der einzigen Person ausgestellt worden sei, die unleugbar competent war, mit positiver Sachkenntniß zu sprechen. Aber ach! die Versuchung, dem Advocaten auf Umwegen eine Niederlage zu bereiten, war zu groß für mich! Ich fragte ihn mit der anscheinend unschuldigsten Miene, was er mit den »späteren Ereignisse« meine.

»Mit späteren Ereignissen, Miß Clack, meine ich Ereignisse, bei denen die Indier eine Rolle spielen,« fuhr Herr Bruff fort, indem er, je länger er sprach, mehr und mehr die Oberhand über meine arme Person zu gewinnen schien. »Was beginnen die Indier in dem Moment, wo sie aus dem Gefängniß in Frizinghall entlassen werden? Sie gehen direct nach London und richten ihr Absehen auf Herrn Luker. Und was sagt Herr Luker da, wo er sich zum ersten mal um Schutz an den Richter wendet?

Er bekennt, daß er einen fremden Arbeiter in seinem Geschäft in Verdacht hat, mit den Indiern unter einer Decke zu stecken. Kann es einen klareren moralischen Beweis dafür geben, daß die Spitzbuben unter den Leuten in Herrn Lukers Geschäft einen Complicen gefunden hatten und daß sie wußten, daß sich der Mondstein in Herrn Lukers Haus befinde? Gut! Was geschieht weiter? Herr Luker ist, und das mit gutem Grunde, über die Sicherheit des ihm verpfändeten Edelsteins besorgt. Er deponirt denselben unter einer allgemeinen Bezeichnung in dem Gewölbe seines Bankiers. Aeußerst schlau erdacht! Nur daß die Indier ebenso schlau sind. Sie argwöhnen, daß der Diamant seinen Platz gewechselt hat, und sie verfallen auf einen merkwürdig kühnen Weg, diesen Argwohn vollständig aufzuklären. Wen ergreifen und durchsuchen sie? Nicht Herrn Luker allein, was erklärlich genug wäre, sondern auch Herrn Godfrey Ablewhite. Warum? Herr Ablewhite erklärt die Sache damit, daß sie auf einen blinden Verdacht hin handelten, weil sie ihn zufällig mit Herrn Luker sprechen gesehen hatten. Absurd! Ein halb Dutzend andere Personen hatten an jenem Morgen auch mit Herrn Luker gesprochen. Warum wurden diese anderen Personen nicht auch nach Hause verfolgt und in die Falle gelockt? Nein, nein! man muß einfach schließen, daß Herr Ablewhite so gut wie Herr Luker sein besonderes Interesse an dem Mondstein hat, und daß die Indier so ungewiß waren, welcher von Beiden die Disposition über den Edelstein habe, daß ihnen nichts Anderes übrig blieb, als sie Beide zu durchsuchen. So spricht die öffentliche Meinung, Miß Clack, und die öffentliche Meinung läßt sich bei dieser Gelegenheit nicht leicht widerlegen.«

Bei diesen letzten Worten sah er so selbstgefällig weise aus, daß ich in der That, zu meiner Schande sei es gesagt —— der Versuchung nicht zu widerstehen vermochte, ihn noch ein wenig weiter reden zu lassen, bevor ich ihn mit der Wahrheit zu Boden schmettern würde.

»Ich maße mir nicht an, mit einem so gewandten Advocaten zu discutiren,« sagte ich. »Aber es ist ganz gerecht, Herr Bruff, gegen Herrn Ablewhite die Ansicht des berühmten Londoner Polizeibeamten, der die Untersuchung dieses Falles geleitet hat, ganz außer Acht zu lassen? Nach der Ueberzeugung des Sergeant Cuff haftete nicht der Schatten eines Verdachts aus irgend Jemand, außer Fräulein Verinder.«

»Wollen Sie damit sagen, Miß Clack, daß Sie der Ansicht des Sergeanten beistimmen?«

»Ich klage Niemanden an, Herr Bruff, und ich äußere gar keine Meinung.«

»Ich aber mache mich dieser beiden Ungeheuerlichkeiten schuldig, mein Fräulein. Ich klage den Sergeanten an, auf gänzlich falscher Fährte gewesen zu sein, und ich äußere die Meinung, daß, wenn er Rachel’s Charakter gekannt hätte, wie ich ihn kenne, er aus alle anderen Personen im Hause eher einen Verdacht geworfen haben würde, als auf sie. Ich gebe zu, daß sie ihre Fehler hat, sie ist verschlossen und eigenwillig, launenhaft und abenteuerlich, und anders als andere Mädchen ihres Alters. Aber echt wie Gold und großmüthig und edeldenkend bis zum Exceß. Wenn der klarste Beweis von der Welt nach einer Richtung hin, und wenn nichts als Rachel’s Ehrenwort nach der andern Richtung hinwiese, so würde ich, obgleich Jurist, größeren Werth auf ihr Wort als aus den Beweis legen! Das ist stark ausgedrückt, Miß Clack, aber es ist meine wirkliche Meinung!«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir Ihre Ansicht durch einige Beispiele verdeutliche, Herr Bruff, um Sie besser zu verstehen? Angenommen, es stellte sich heraus, daß Fräulein Verinder ein ganz unerklärliches Interesse an dem nehme, was Herrn Ablewhite und Herrn Luker begegnet ist. Angenommen, sie thäte die sonderbarsten Fragen über dieses abscheuliche Gerücht und geriethe in die maßloseste Aufregung, sobald sie erführe, auf was dieses Gerücht abzielt?«

»Nehmen Sie an, was Sie wollen, Miß Clack, es würde mein Vertrauen auf Rachel Verinder nicht im Mindesten erschüttern.«

»Ist sie so unbedingt zuverlässig?«

»So unbedingt zuverlässig.«

»Dann erlauben Sie mir, Ihnen mitzutheilen, Herr Bruff, daß Herr Godfrey Ablewhite dieses Haus vor noch nicht zwei Stunden verlassen hat und daß seine vollständige Unschuld an dem Verschwinden des Diamanten von Fräulein Verinder selbst in den stärksten Ausdrücken, die ich in meinem ganzen Leben aus dem Munde eines jungen Mädchens gehört habe, proclamirt wurde.«

Ich weidete mich an dem Triumph —— an dem unheiligen Triumph, wie ich leider zugeben muß —— Herrn Bruff durch einige wenige einfache Worte von mir gänzlich außer Fassung gebracht und niedergeschmettert zu sehen. Er sprang auf und starrte mich schweigend an. Ich blieb ruhig sitzen und berichtete die ganze Scene, genau wie sie vorgegangen war. »Und was sagen Sie jetzt von Herrn Ablewhite?« fragte ich im Tone größtmöglichster Freundlichkeit, sobald ich mit meinem Berichte fertig war.

»Wenn Rachel seine Unschuld bezeugt hat, Miß Clack, so nehme ich keinen Anstand, zu erklären, daß ich eben so fest an seine Unschuld glaube, wie Sie. Ich habe mich, wie die übrige Welt, durch den Schein irre leiten lassen, und ich will, so viel an mir ist, die Sache wieder gut machen, indem ich dem Gerücht, welches sich gegen Ihren Freund gerichtet hat, so oft ich auf dasselbe stoße, öffentlich widerspreche. Zugleich erlauben Sie mir, Ihnen mein Compliment über die Art zu machen, wie Sie das ganze Feuer Ihrer Batterien in dem Augenblicke aus mich losgelassen haben, in welchem ich es am wenigsten erwartete. Sie würden ein ausgezeichneter Advocat geworden sein, wenn Sie ein Mann gewesen wären.«

Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und fing an unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen.

Es war mir klar, daß das neue Licht über die Angelegenheit, welches ihm durch mich aufgegangen war, ihn sehr überrascht und verwirrt hatte. Als er sich mehr und mehr von seinen eigenen Gedanken absorbieren ließ, entfuhren ihm einzelne Ausdrücke, welche mir einen Schluß auf die abscheuliche Auffassung gestatteten, welche er bis her von dem Geheimniß des verlorenen Diamanten gehabt hatte. Er hatte kein Bedenken getragen, den theuren Herrn Godfrey der Infamie zu verdächtigem den Diamanten genommen zu haben und Rachel’s Betragen dem großmüthigen Entschluß zuzuschreiben, das Verbrechen zu verheimlichen. Auf die eigene Autorität Fräulein Verinder’s hin —— eine nach Herrn Bruff’s Schätzung, wie man gesehen hat, völlig unangreifbare Autorität —— mußte jetzt diese Erklärung als eine durchaus falsche aufgegeben werden. Die Perplexität, in welche ich diesen hochangesehenen Mann des Gesetzes gestürzt hatte, überwältigte ihn dermaßen, daß er völlig unfähig war, sie zu verbergen.

»Welch’ ein Fall!« hörte ich ihn vor sich hin murmeln, während er am Fenster stille stand und mit den Fingern an die Scheiben trommelte. Es läßt keine Erklärung zu, er macht sogar jede Vermuthung zu Schanden.«

In diesen Worten lag nichts, das irgend eine Erwiederung meinerseits erforderlich gemacht hätte, und doch antwortete ich auf dieselben!

Es scheint kaum glaublich, daß ich noch jetzt Herrn Bruff nicht in Ruhe lassen konnte. Es scheint fast über die einfache menschliche Verderbniß hinauszugehen, daß ich in dem, was er eben gesagt hatte, eine neue Gelegenheit erspähte, mich ihm persönlich unangenehm zu machen.

Aber ach! meine Freunde! Nichts geht über die menschliche Verderbniß hinaus, und alles ist glaublich, wenn unsere sündhafte Natur die Oberhand über uns gewinnt.

»Verzeihen Sie, wenn ich mich in Ihre Reflexionen mische,« sagte ich zu dem nichts argwöhnenden Herrn Bruff, »aber sicher giebt es eine Vermuthung, auf die wir bis jetzt noch nicht gefallen sind.«

»Mag sein, Miß Clack. Ich gestehe, daß ich nicht weiß, was Sie sagen wollen.«

»Bevor ich das Glück hatte, Sie, Herr Bruff, von Herrn Ablewhites Unschuld zu überzeugen, bezeichneten Sie es als einen der Verdachtsgründe gegen ihn, daß er zur Zeit des Verlustes des Diamanten im Hause gewesen sei. Erlauben Sie mir, Sie zu erinnern, daß auch Herr Franklin Blake im Hause war, als der Diamant verloren ging.«

Der alte Weltmann verließ auf einmal seinen Platz am Fenster, setzte sich auf einen mir gerade gegenüberstehenden Stuhl und sah mir mit einem sündhaften und starren Lächeln fest in’s Gesicht.

»Sie sind doch kein so guter Advocat, Miß Clack,« bemerkte er nachdenklich, »wie ich glaubte. Sie verstehen es nicht, im rechten Moment die Dinge aus sich beruhen zu lassen.«

»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Bruff,« sagte ich bescheiden.

»Es geht nicht, Miß Clack, es geht wahrhaftig nicht zum zweiten Mal. Franklin Blake ist mein besonderer Liebling, wie Sie wohl wissen. Aber daraus kommt es nicht an. Ich will mich in diesem Falle auf Ihren Standpunkt stellen, bevor Sie mich überrumpeln Sie haben vollkommen Recht, liebes Fräulein. Ich habe Herrn Ablewhite auf Gründe hin in Verdacht gehabt, welche, wenn man die Sache abstract nimmt, auch eine Verdächtigung des Herrn Blake rechtfertigen würden. Nun wohl! Wir wollen einmal Beide einen solchen Verdacht auf ihn richten. Wir wollen die Frage, ob er nach seinem Charakter eines Diebstahls des Mondsteins fähig war, hier außer Acht lassen, wir wollen uns auf die Frage beschränken, ob ein solcher Diebstahl in seinem Interesse lag.«

»Herrn Franklin Blake’s Schulden« bemerkte ich, »sind für die Familie eine notorische Thatsache.«

»Und Herrn Godfrey Ablewhites Schulden haben diese Höhe noch nicht erreicht. Aber Ihrer Auffassung, Miß Clack, stehen doch zwei Schwierigkeiten entgegen. Ich habe Franklin Blake’s Angelegenheiten in Händen und erlaube mir, Ihnen mitzutheilen,« daß die große Mehrheit seiner Gläubiger, die wissen, daß sein Vater ein reicher Mann ist, sich damit begnügen, für den Betrag ihrer Forderung Zinsen zu berechnen und geduldig auf ihr Geld zu warten. Das ist die erste Schwierigkeit und schon eine ziemlich starke. Sie werden die zweite noch stärker finden. Ich weiß es aus dem eigenen Munde Lady Verinder’s, daß ihre Tochter bereit war, Franklin Blake zu heirathen, bevor jener höllische indische Diamant aus dem Hause verschwand. Sie hatte ihn mit der Coquetterie eines jungen Mädchens an sich gezogen und wieder abgestoßen. Aber sie hatte ihrer Mutter gestanden, daß sie Vetter Franklin liebe und ihre Mutter hatte Vetter Franklin das Geheimniß anvertraut. So war also seine Lage die, Miß Clack, daß seine Gläubiger zu warten bereit waren und daß er die sichere Aussicht vor sich hatte, eine Erbin zu heirathen. Nehmen Sie getrost an, er sei ein Schurke, aber sagen Sie mir gefälligst, was ihn veranlassen konnte, den Mondstein zu stehlen?«

»Das menschliche Herz ist unergründlich,« sagte ich sanft, »wer kann in seine Tiefen dringen?«

»Mit andern Worten, mein verehrtes Fräulein, obgleich er nicht den Schatten eines Grundes hatte, den Diamanten zu nehmen, so konnte er ihn doch aus natürlicher Verderbtheit genommen haben. Gut. Sagen wir, er nahm ihn. Warum zum Teufel ——?«

»Ich bitte um Vergebung, Herr Bruff, wenn der Teufel in dieser Weise in meiner Gegenwart genannt wird, muß ich das Zimmer verlassen.«

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Miß Clack, ich werde in Zukunft in meinen Ausdrücken wählerischer sein. Alles was ich fragen wollte, war: Warum, angenommen selbst, er habe den Diamanten gestohlen —— warum war er von allen Personen im Hause am beflissensten in seinen Bemühungen zur Wiedererlangung des Edelsteins? Sie werden mir vielleicht sagen, er that das absichtlich aus schlauer Berechnung, um den Verdacht von sich abzulenken. Darauf antworte ich, daß er nicht nöthig hatte den Verdacht von sich abzulenken, da Niemand Verdacht aus ihn hatte. Erst stiehlt er den Mondstein ohne die geringste Ursache, aus natürlicher Verderbtheit, und übernimmt dann in Betreff des Verschwindens des Edelsteins eine Rolle, die zu spielen er durchaus keine Veranlassung hat, und welche dahin führt, daß er die junge Dame, die ihn sonst geheirathet haben würde, tödtlich beleidigt. Eine so ungeheuerliche Behauptung sind Sie genöthigt aufzustellen, wenn Sie das Verschwinden des Mondsteins mit Franklin Blake in Verbindung bringen wollen. Nein, nein, Miß Clack! Nach dem was heute hier zwischen uns Beiden vorgegangen, ist das Dunkel, in welches dieser Fall gehüllt ist, nur noch undurchdringlicher geworden. Rachel’s eigene Unschuld ist, wie ihre Mutter und ich wissen, über jeden Zweifel erhaben. Ebenso gewiß ist Herrn Ablewhite’s Unschuld, denn sonst würde Fräulein Rachel sie niemals bezeugt haben. Und Franklin Blake’s Unschuld geht, wie Sie sich eben selbst überzeugt haben, unwiderleglich aus den Umständen hervor. Einerseits sind wir von all’ diesen Dingen moralisch überzeugt, andererseits aber sind wir ebenso gewiß, daß Jemand den Mondstein nach London gebracht hat, und daß Herr Luker oder sein Banquier sich in diesem Augenblick im Besitz desselben befindet. Was nützen mir da meine Erfahrungen? Der Fall spottet jeder Erfahrung.«

Nein —— nicht jeder Erfahrung, nicht der Sergeant Cuff’s. Ich war eben im Begriff, dies so milde wie möglich und unter aller nöthigen Verwahrung gegen die Annahme, daß ich auch nur den leisesten Schatten auf Rachel’s Ruf werfen wolle, auszusprechen, als der Diener eintrat und meldete, daß der Doctor Lady Verinder verlassen habe und daß sie bereit sei, uns zu empfangen.

Damit hatte unsere Diskussion ein Ende. Herr Bruff, der von unserer Unterhaltung ein wenig erschöpft aussah, nahm meinen Sack voll köstlicher Schriften. Ich, die ich noch stundenlang hätte fortsprechen können, und er gingen schweigend nach Lady Verinder’s Zimmer.

Man gestatte mir hier, bevor meine Erzählung zu anderen Ereignissen übergeht, die Bemerkung, daß ich bei der Schilderung dessen, was zwischen mir und dem Advokaten geschehen, nicht ohne einen bestimmten Zweck gehandelt habe. Ich muß meiner Weisung gemäß in meinem Beitrag zu der entsetzlichen Geschichte des Mondsteins eine klare Darstellung nicht nur der Richtung, in welcher sich der Verdacht bewegte, sondern selbst der Namen derjenigen Personen aufnehmen, auf welchen zu der Zeit, wo das Vorhandensein des Diamanten in London bekannt wurde, ein Verdacht haftete. Ein Bericht über meine Unterhaltung in der Bibliothek mit Herrn Bruff schien mir genau dem angegebenen Zwecke zu entsprechen, während derselbe zu gleicher Zeit den großen moralischen Vortheil gewährte, ein Opfer sündhafter Selbstachtung von meiner Seite nothwendig zu machen. Ich bin zu dem Bekenntniß genöthigt gewesen, daß meine sündhafte Natur die Oberhand über mich gewann. Indem ich dieses demüthigende Bekenntniß ablege, gewinne ich wieder die Oberhand über meine sündhafte Natur. Das moralische Gleichgewicht ist wieder hergestellt, die geistliche Atmosphäre ist wieder rein. Seht, lieben Freunde, können wir wieder fortfahren.


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