Fräulein oder Frau?

Kapitel 1

Auf der See



Die Nacht war vorüber. Kein Windhauch regte sich in den Lüften, keine Welle zeigte sich auf der regungslos daliegenden Meeresfläche. Nichts veränderte sich, als die langsam aufsteigende Sonne; nichts bewegte sich, als der träge Nebel, der ihr im Osten der See entgegenwallte. Nach und nach wurde der Morgennebel im Aufsteigen dünner und dünner, bis er bei dem ersten Strahl der hervortretenden Tageskönigin die langen weißen Segel einer Vergnügungsjacht sichtbar werden ließ.

„Blase, blase, kleine Brise!“ sagte der Mann am Steuerruder, indem er den Anruf des Seemannes an den Wind leise vor sich hin flötete. „Blase, blase, kleine Brise!“

„Woher kommt sie?“ fragte eine tiefe dröhnende Stimme, die von der Kajütentreppe aus über das Verdeck hindrang.

„Woher Ihr wollt, Herr, von jedem Punkt der Windrose.“

Der Stimme folgte ihr Besitzer, der Eigentümer der Yacht. Das war Herr Richard Turlington von der großen mit der Levante handelnden Firma Pizzituti, Turlington & Branca, achtunddreißig Jahre alt, eine feste, straffe Gestalt von nicht mehr als fünf Fuß sechs Zoll Höhe, mit einem Gesicht, das aus verschiedenen geraden Linien bestand. In diesem geradlinigen Bau bildeten Stirn und Oberlippe je eine Linie, die geradeste und längste dieser Linien aber bildete das Kinn. Als Turlington sein dunkles Antlitz nach Osten wendete und seine lichtgrauen Augen gegen die Sonne beschattete, zeigte seine rauhe Hand deutlich, daß sie ihm schon einmal in seinem Leben mit ihrer harten Arbeit seinen Unterhalt verschafft haben mußte. Alles in Allem war er ein Mann, vor dem man leicht Respekt haben, den man aber schwer lieben konnte.

„Gestern Windstille“, brummte Richard Turlington, indem er verdrossen und nachdenklich nach allen Seiten hin umherschaute; „und heute wieder Windstille. Im nächsten Jahr will ich eine Dampfmaschine auf dem Schiffe herrichten lassen.“

„Denken Sie doch an die schmutzigen Kohlen und an das verfluchte Zittern und lassen Sie Ihre schöne Yacht wie sie ist. Wir sind ja nur auf einer Vergnügungsfahrt. Lassen Sie doch den Wind und die See auch ihr Vergnügen haben.“

Mit diesen Worten trat ein schlanker, gewandter junger Mann mit gelocktem Haar zu Richard Turlington auf das Verdeck, er trug seine Kleider unter dem Arm, ein paar Handtücher in der Hand und hatte nichts auf dem Leibe als das Nachthemd, in welchem er aus dem Bette gestiegen war.

„Launcelot Linzie, Sie haben auf meinem Schiff in der Eigenschaft eines ärztlichen Begleiters des Fräuleins Natalie Graybrooke auf den Wunsch ihres Vaters Aufnahme gefunden. Bleiben Sie Ihrer Stellung gefälligst eingedenk. Wenn ich Ihren Rat wünsche, werde ich Sie darum bitten.“

Launcelot Linzie war offenbar entschlossen, dem Eigentümer der Yacht unter keinen Umständen zu gestatten, ihn zu beleidigen.

„Ich danke Ihnen“, erwiderte er in einem gutmütig ironischen Tone, „es wird mir leicht, hier an Bord meiner Stellung eingedenk zu bleiben. Ich bin so anmaßend, mich meines Lebens hier ganz so zu erfreuen, als wäre ich selbst der Eigentümer des Schiffes. Das Leben auf der See ist für mich so neu! So ist es zum Beispiel so köstlich leicht, hier sich zu waschen. Auf dem festen Lande ist das Waschen eine durch Krüge, Schalen und Kübel höchst komplizierte Angelegenheit; man ist immer in Gefahr, etwas zu zerbrechen oder zu verderben. Hier braucht man nur aus dem Bette zu springen, aufs Deck zusteigen und dies zu tun.“

Dabei drehte er sich um, lief nach dem Bugspriet, warf sein Nachthemd ab, sprang auf den Rand der Schanzkleidung und tummelte sich im nächsten Augenblick behaglich in dem Salzwasser der sechzig Faden tiefen See. Turlingtons Augen folgten ihm mit einer widerstrebend unbehaglichen Aufmerksamkeit, als Linzie um das Schiff herum schwamm.

„Launcelot Linzie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, und dazu ist er Natalie Graybrookes Vetter. Diese beiden Vorteile hat er unstreitig vor mir voraus; bleibt die Frage: hat er Nataliens Neigung gewonnen?“ -

Mit dieser Frage, die er sich wieder und wieder vorlegte, beschäftigt, setzte sich Richard Turlington in eine Ecke auf dem Hinterdeck. Er grübelte noch über diesem Problem, als der junge Arzt in seine Kabine zurückkehrte, um die letzte Hand an seine Toilette zu legen. Er hatte die Lösung des Problems noch nicht gefunden, als der Steward eine Stunde später mit den Worten vor ihn trat: „Das Frühstück ist fertig, Herr.“

Fünf Personen saßen eine Weile später um den Kajütentisch. Die erste war: Sir Joseph Graybrooke, Erbe eines schönen, von seinem Vater und Großvater erworbenen Vermögens; erwählter Major einer blühenden Provinzialstadt; ein Mann mit einem liebenswürdigen rosigen Gesicht, weichem, weißem, seidenem Haar und sorgfältiger Toilette, von gesunden, politischen Grundsätzen und mit guter Verdauung gesegnet – ein harmloser, gesunder, makelloser, aber charakterschwacher, alter Mann.

Die zweite: Fräulein Lavinia Graybrooke, Sir Josephs altjüngferliche Schwester, ihrem ganzen Wesen nach das zweite Ich von Sir Joseph im Unterrock. Wenn man den Einen kannte, kannte man auch die Andere.

Die dritte: Fräulein Natalie Graybrooke, Sir Josephs einziges Kind. Sie hatte von ihrer schon lange verstorbenen Mutter die äußere Erscheinung und das Temperament geerbt. In der aus Martinique stammenden Familie der verstorbenen Lady Graybrooke hatte eine Mischung französischen Bluts mit Negerblut stattgefunden. Natalie hatte den warmen dunklen Teint, das prächtige schwarze Haar und die schmelzenden, trägen, lieblichen, braunen Augen ihrer Mutter. Im Alter von fünfzehn Jahren, das sie kürzlich erreicht hatte, war ihr Körper in einer Weise entwickelt, wie es bei englischen Mädchen selten vor dem zwanzigsten Jahr der Fall ist. Alles an ihr hatte etwas großartig Amazonenhaftes. Ihre schön geformte Hand war lang und breit, ihre Taille schien, obgleich sie zierlich war, doch einer Frau anzugehören. Die graziöse Nachlässigkeit aller ihrer Bewegungen wurzelte in einer fast männlichen Körperkraft. Dieser merkwürdigen körperlichen Entwicklung ging aber keineswegs eine gleich amazonenhafte Entwicklung des Charakters zur Seite. Natalie hatte das sanfte Wesen eines unschuldigen jungen Mädchens. In ihrem Charakter mischten sich das gleichmäßige Temperament ihres Vaters mit der wandelbaren südlichen Natur ihrer Mutter. Sie bewegte sich wie eine Göttin und lachte wie ein Kind. Im verflossenen Frühjahre hatten sich bei Natalie die Symptome einer zu raschen körperlichen Entwicklung – eines nach dem üblichen Ausdruck „Ausderkraftwachsens“ - gezeigt. Der Hausarzt hatte eine Seereise als die beste Art, die schönen Sommermonate zu benutzen, angeraten. Wie man auf dem Kontinent eine Sommerwohnung auf dem Lande bezieht, so richtet man in England sich ein bequemes Schiff ein und schlägt sein luftiges Domizil auf der offenen See auf. Richard Turlingtons Yacht war ihr nebst Richard Turlington selbst, als einem der zur Yacht gehörigen niet- und nagelfesten Gegenstände, zur Verfügung gestellt worden. Mit ihrem Vater und ihrer Tante, in deren Gesellschaft sie die häusliche Atmosphäre nicht vermissen würde, und mit dem Vetter Launcelot – gewöhnlich kurzweg Lance genannt – als ärztlichen Ratgeber, hatte sich die liebliche Patientin zu ihrer Sommerkreuzfahrt eingeschifft und war alsbald in der belebenden Seeluft zu einem andern Wesen geworden. Nach einer zweimonatlichen in glückseligem Müßiggang verbrachten Fahrt an den Küsten Englands war von Nataliens Krankheit nichts mehr übrig, als ein reizender, schmachtender Ausdruck der Augen und die absolute Unfähigkeit, sich mit irgend etwas zu befassen, was einer ernsten Beschäftigung auch nur entfernt ähnlich sah.

Wie sie an jenem Morgen in ihrem wunderlich zugeschnittenen Seemansanzuge aus altmodischem Nanking am Frühstückstisch saß, und in der blühenden Reise ihrer Formen einen reizenden Kontrast mit der angebornen Kindlichkeit ihres Wesens darbot, hätte ein Mann fürwahr mit dem Rüstzeug der modernen Philosophie dreifach gewaffnet sein müssen, der diesem Anblick gegenüber hätte leugnen wollen, daß das erste Recht eines Weibes darin bestehe, schön zu sein, und ihr größtes Verdienst ihre Jugend sei.

Die beiden noch übrigen Personen am Kajütentisch waren die beiden Herren, die wir bereits auf dem Verdeck der Yacht kennen gelernt haben.

„Noch immer regt sich kein Lüftchen!“ sagte Richard Turlington. „Das Wetter muß etwas gegen uns haben. In den letzten achtundvierzig Stunden sind wir kaum vier oder fünf Meilen weiter gekommen. Sie werden gewiß nie wieder mit mir fahren wollen, Sie müssen sich danach sehnen, wieder ans Land zu kommen.“

Er richtete diese Worte an Natalie, mit ersichtlicher Beflissenheit, sich der jungen Dame angenehm zu machen; aber ohne daß es ihm gelungen wäre, irgend einen Eindruck auf sie hervorzubringen. Sie antwortete ihm höflich und blickte dabei auf ihre Teetasse, anstatt in Richard Turlingtons Gesicht.

„In diesem Augenblick könnte man sich schon aufs feste Land versetzt glauben“, bemerkte Launce. „Das Schiff liegt ja so fest, wie ein Haus, und der Schaukeltisch, an dem wir frühstücken, steht so ruhig, wie Ihr Eßtisch zu Hause.“

„Es wird mir am Lande sonderbar vorkommen“, sagte jetzt das junge Mädchen, „mich in einem Zimmer aufzuhalten, das sich nie hin- und herbewegt, und an einem Tisch zu sitzen, der nie in einem Augenblick auf meine Knie herabsinkt und mir im nächsten bis ans Kinn steigt. Wie werde ich das Geräusch der Wellen an meinen Ohren und das Läuten der Glocke auf dem Verdeck entbehren, wenn ich am Lande des Nachts erwachen werde! Da wird man sich auch nicht mehr dafür interessieren können, wie der Wind weht, oder wie die Segel aufgesetzt sind; nicht mehr, wenn man seinen Weg verloren hat, die Sonne mit einem kleinen kupfernen Instrument, einem Stück Papier und einem Bleistift befragen; und nicht mehr so köstlich von der Stelle kommen, so oft der Wind einsetzt, ohne daß man nötig hätte, sich vorher lange mit der Überlegung zu plagen, wohin man gehen will. O, wie werde ich die liebe, veränderliche, unbeständige See entbehren! Und wie beklage ich es, kein Mann und kein Seemann zu sein!“

Das Alles sagte sie zu Launce, dem auf dem Schiff gewissermaßen nur geduldeten Gast, während sie sich bei keinem ihrer Worte, wenn auch nur zufällig, an den Eigentümer der Yacht wandte. Richard Turlingtons dicke Augenbrauen zogen sich mit einem unverkennbaren Ausdruck peinlichen Mißbehagens zusammen.

„Wenn diese Windstille anhält“, fuhr er zu Sir Joseph gewandt fort, „fürchte ich, Graybrooke, werde ich nicht im Stande sein, Euch bis Ende der Woche in den Hafen zurückzubringen, von dem wir ausgesegelt sind.“

„Immerhin, Richard“, antwortete der alte Herr resigniert. „Mir ist jede Zeit recht.“

„Jede Zeit innerhalb gewisser Grenzen, Joseph“, bemerkte Fräulein Lavinia, die offenbar fand, daß ihr Bruder in seinem Zugeständnis zu weit gehe. Sie sprach mit Sir Josephs liebenswürdigem Lächeln und Sir Josephs sanft gedämpfter Stimme. Zwei Zwillingskinder hätten einander nicht ähnlicher sein können.

Während diese wenigen Worte unter der den älteren Personen gewechselt wurden, nahm unter dem Kajütentisch eine vertrauliche Unterhaltung der jungen Leute ihren Fortgang. Nataliens mit einem zierlichen Pantoffel bekleideter Fuß rückte auf dem Teppich vorsichtig Zoll für Zoll vor, bis er Launces Stiefel berührte. Launce, der damit beschäftigt war, sein Frühstück zu verzehren, blickte sofort von seinem Teller auf und sah dann anch einer Berührung Nataliens eiligst wieder nieder. Nachdem Natalie sie vergewissert hatte, daß sie nicht beobachtet werde, nahm sie ihr Messer in die Hand.

Während sie sich mit großem Geschick den Anschein zu geben wußte, als spiele sie in Gedanken versunken mit dem Messer, fing sie an, mit demselben ein Stück Schinken, das am Rande ihres Tellers liegen geblieben war, in sechs kleine Stücke zu zerschneiden. Launces Auge folgte mit erwartungsvollen Seitenblicken der Zerteilung des Schinkens. Er wartete offenbar darauf, daß die einzelnen Stückchen Schinken in einer vorher zwischen seiner Nachbarin und ihm verabredeten Weise telegraphisch verwendet werden würden.

Inzwischen nahm auch die Unterhaltung der übrigen Personen am Frühstückstisch ihren Fortgang. In diesem Augenblick aber wandte sich Fräulein Lavinia an den jungen Mann. „Weißt du wohl, daß du mich diesen Morgen recht erschreckt hast? - Ich schlief bei offenem Fenster in meiner Kabine und wurde durch ein furchtbares Aufspritzen des Wassers aufgeweckt. Ich rief die Stewardeß – ich glaubte wirklich, daß jemand über Bord gefallen sei.“

Bei diesen Worten blickte Sir Joseph plötzlich auf; die Worte seiner Schwester hatten zufällig die Erinnerung an ein altes Erlebnis bei ihm erweckt.

„Was du von über Bord Fallen sagst“, fing er an, „erinnert mich an eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit -“

Hier fiel Launce ein, um sich zu entschuldigen.

„Es soll nicht wieder vorkomen, Fräulein Lavinia“, sagte er, , „morgen früh will ich mich am ganzen Körper ölen und so leise wie eine Fischotter ins Wasser schlüpfen.“

„An eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit“, fuhr Sir Joseph fort, „die ich vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, erlebte. Lavinia?“

Er hielt inne und sah seine Schwester fragend an. Fräulein Graybrooke nickte als Antwort mit dem Kopf und rückte sich auf ihrem Stuhle zurecht, wie wenn sie ihre Aufmerksamkeit in Voraussicht eines Appels an dieselbe im Voraus konzentrieren wolle. Für Leute, die Bruder und Schwester gut kannten, war diese Prozedur das Vorzeichen einer bevorstehenden Erzählung. Das Geschwisterpaar erzählte eine Geschichte immer gemeinschaftlich und zwar so, daß jedes von ihnen von jeder Tatsache immer eine von der des andern abweichende Auffassung hatte, indem die Schwester dem Bruder höflich widersprach, wenn die Erzählung von Sir Joseph, und der Bruder der Schwester höflich widersprach, wenn die Erzählung von Fräulein Lavinia begonnen wurde. Wenn sie von einander getrennt waren, und so des gewohnten Widerspruchs des andern entbehrten, konnten weder Bruder noch Schwester jemals den Versuch wagen, die einfachsten Tatsachen zu erzählen, ohne in ein unrettbares Stocken zu geraten.

„Es war fünf Jahre, bevor ich dich kennen lernte, Richard“, fuhr Sir Joseph fort.

„Sechs Jahre“, bemerkte Fräulein Graybrooke.

„Entschuldige, Lavinia.“

„Nein, Joseph, es steht in meinem Tagebuch.“

„Lassen wir den Punkt auf sich beruhen.“ Das war die Formel, deren sich Sir Joseph regelmäßig bei solchen Angelegenheiten als eines Mittels bediente, seine Schwester sofort wieder zu versöhnen und einen frischen Anlauf für seine Erzählung zu gewinnen.

„Ich kreuzte vor der Mündung der Mersey in einem Liverpooler Lotsenboote. Ich hatte das Boot gemeinschaftlich mit einem Freunde gemietet, welcher früher in der Londoner Gesellschaft eine bekannte Persönlichkeit unter dem Spitznamen ‚Mahagony-Dobbs‘ gewesen war. Den Spitznamen hatte er der Farbe seines Backenbarts zu verdanken.“

Richard Turlingtons harte Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch. Er blickte nach Natalie hinüber.

In Ermanglung einer andern Beschäftigung legte sie ihre Stückchen Schinken auf ihrem Teller zu einem Muster zurecht. Launcelot Linzie sah anscheinend ganz gedankenlos nach dem Muster.

Sie Joseph fuhr in seiner Erzählung fort:

„Wir kreuzten zehn oder zwölf Meilen vor der Mündung der Mersey.“

„Seemeilen, Joseph.“

„Darauf kommt es nicht an, Lavinia.“

„Entschuldige, lieber Bruder, der verstorbene große, vortreffliche Doktor Johnson pflegte zu sagen, man müsse sich selbst in den geringfügigsten Dingen immer der größten Genauigkeit befleißigen.“

„Es waren gewöhnliche Meilen, Lavinia.“

„Es waren Seemeilen, Joseph.“

„Lassen wir den Punkt auf sich beruhen. Mahagony-Dobbs und ich waren eben unten in der Kajüte damit beschäftigt - “. Hier hielt Sir Joseph mit seinem liebenswürdigen Lächeln inne, um sich zu besinnen. Fräulein Lavinia wartete ihrerseits mit ihrem liebenswürdigen Lächeln auf die nächste Gelegenheit, ihren Bruder zu berichtigen. In demselben Augenblick legte Natalie ihr Messer nieder und berührte Launce leise unter dem Tisch. Auf ihrem Tisch waren sechs Stückchen Schinken in einer Weise zurecht gelegt, welche in der zwischen Beiden verabredeten originellen Zeichensprache bedeutete: „Ich muß dich allein nach dem Frühstück sprechen.“

Während Natalie wieder zu ihrem Messer griff, um neue Zeichen vorzubereiten, fuhr Sir Joseph in seiner Erzählung fort: „Wir waren beide unten in der Kajüte beschäftigt, unser Mittagessen zu beenden, als wir plötzlich durch den auf dem Verdeck erschallenden Ruf: ‚Ein Mann über Bord!‘ erschreckt wurden. Wir liefen beide die Kajütentreppe hinauf, natürlich in der Besorgnis, daß einer von unserer Mannschaft über Bord gefallen sei: eine Besorgnis, die, wie ich hinzufügen muß, von dem Steuermann, der den Ausruf getan hatte, geteilt wurde.“

Sir Joseph hielt wieder inne. Er näherte sich einem der spannendsten Momente seiner Erzählung und wollte diesen Moment natürlich gern möglichst ergreifend wiedergeben. Den Kopf auf die Seite geneigt, überlegte er einen Augenblick. Fräulein Lavinia hielt ihren Kopf ein wenig auf die andere Seite geneigt, und überlegte ihrerseits auch ein wenig.

Natalie legte ihr Messer wieder nieder und berührte Launce mit der Fußspitze unter dem Tisch. Dieses Mal lagen fünf Stückchen Schinken in einer waagerechten Linie auf dem Teller und ein Stück unmittelbar unter der Mitte dieser Linie. In der Zeichensprache bedeutete diese Figur zwei verhängnisvolle Worte: „Schlechte Nachrichten!“ Launce sah mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Besitzer der Yacht hinüber und fragte damit: „Steckt er dahinter?“ Nataliens Antwort bestand in einem Zusammenziehen ihrer Brauen, und das hieß: „Allerdings!“ Launce sah wieder nach dem Teller. Sofort schob Natalie die sämtlichen Stückchen Schinken zu einem Haufen zusammen und sagte damit: „Ich habe nichts mehr zu sagen.“ - -

„Nun?“ sagte Richard Turlington zu Sir Joseph gewandt in scharfem Tone, „fahre fort mit deiner Geschichte. Was kommt nun?“

Bis jetzt hatte er es nicht der Mühe wert gehalten, auch nur scheinbar ein höfliches Interesse an der fortwährend unterbrochenen Erzählung seines alten Freundes zu nehmen. Erst bei den letzten Worten Sir Josephs, als er zu verstehen gab, daß es sich im Verlauf seiner Erzählung vielleicht ergeben werde, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei – erst bei diesen Worten lehnte sich Turlington in seinem Stuhl zurück und gab zu erkennen, daß er plötzlich ein lebhaftes Interesse an dem Fortgang der Erzählung nehme.

Sir Joseph fuhr fort: „Sobald wir aufs Verdeck kamen, sahen wir den Mann im Wasser hinter dem Schiff. Unser Rettungsboot wurde herabgelassen und der Kapitän und einer von der Mannschaft steiegen hinein und ergriffen die Ruder. Unsere Mannschaft bestand alles in allem aus sieben Mann. Davon waren zwei eben ins Rettungsboot gestiegen, ein Dritter war am Steuer und die übrigen vier standen hinter mir, so daß uns also in der Tat niemand von unserer Mannschaft fehlte. In demselben Augenblick rief Mahagony-Dobbs, der eben durch ein Fernglas sah: ‚Wer zum Teufel kann das sein? Der Mann treibt auf einem Hühnerkorb und wir haben gar keinen solchen Korb an Bord gehabt.‘“

Der einzige unter den Anwesenden, der, als Sir Joseph diese Worte aussprach, zufällig Richard Turlingtons Gesicht beobachtete, war Launcelot Linzie. Er, und nur er sah, wie die dunkle Gesichtsfarbe des levantinischen Kaufmanns sich allmälig in ein fahles Aschgrau verwandelte, während seine Augen mit einem unheimlichen Glanz, wie er dem Blicke wilder Bestien eigen ist, auf Sir Joseph Graybrooke geheftet waren. Obgleich er Launce nicht ansah, wurde er doch offenbar gewahr, daß dieser ihn beobachte, stützte daher seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand, um denselben so, während die Erzählung ihren Fortgang nahm, wirksam gegen die Beobachtung des jungen Arztes zu schützen.

„Der Mann wurde an Bord gebracht“, fuhr Sir Joseph fort, „und zwar wirklich mit einem Hühnerkorbe, auf dem er getrieben hatte. Der arme Kerl war blau vor Angst und Kälte; als wir ihn aufs Deck hoben, wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, erzählte er uns eine gräßliche Geschichte. Er war ein kranker, hilfloser Matrose gewesen und hatte sich in dem Schiffsraum eines englischen Schiffes versteckt, das nach einem Hafen seines Vaterlandes bestimmt, und an jenem Morgen von Liverpool abgesegelt war. Bald nach der Abfahrt war er entdeckt und vor den Kapitän gebracht worden. Der Kapitän, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt -“

Noch ehe sir Joseph ein Wort weiter sagen konnte, erschreckte Turlington die kleine Gesellschaft in der Kajüte, indem er mit den Worten aufsprang: „Die Brise, endlich die Brise!“ Dabei eilte er nach der Kajütentüre, so daß er seinen Gästen den Rücken zukehrte und lief aufs Verdeck. „Woher kommt der Wind?“

„Es ist keine Spur von Wind, Herr“, gab der Steuermann zur Antwort.

Auch in der Kajüte war nicht die geringste Bewegung des Schiffs bemerklich und kein Ton vernehmbar gewesen, der das Aufkommen des Windes verkündet hätte. Das war sicherlich ein sonderbares Mißverständnis von Seiten des Eigentümers der Yacht, eines seegewohnten Mannes, der erforderlichenfalls sein eigenes Schiff hätte führen können. Er kehrte zu seinen Gästen zurück und entschuldigte sich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die ihm zu andern Zeiten und bei andern Gelegenheiten durchaus nicht eigen war.

„Fahre fort“, sagte er zu Sir Joseph, als er mit seinen Entschuldigungen zu Ende war, „ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so interessante Geschichte gehört. Bitte, fahre fort!“

Aber anstatt die beiden harmlosen, alten Leute zu ermutigen, erschreckte er sie, als er sich ihnen in einer fast herausfordernden Stellung gegenübersetzte, die Ellenbogen vor sich auf den Tisch legte, und sie mit dem Ausdruck einer finstern Entschlossenheit ansah, als wolle er zu erkennen geben, daß er bereit sei, nötigenfalls den Rest seines Lebens da zu sitzen und zuzuhören. Launce verstand es, Sir Joseph wieder in Gang zu bringen, indem er seinen Onkel fragte: „Sie wollen doch nicht sagen, daß der Kapitän jenes Schiffes den Mann habe über Bord werfen lassen?“

„Allerdings, Launce! Der arme Bursche war zu krank gewesen, um seine Passage abzuarbeiten. Der Kapitän hatte erklärt, er wolle keinen fremden Tagedieb an Bord haben, welcher fleißigen Engländern ihre Vorräte aufzehre. Mit eigenen Händen warf er den Hühnerkorb in das Wasser und mit Hilfe eines seiner Matrosen den Mann hinterher, indem er ihm zurief, er möge mit der Abendluft wieder nach Liverpool treiben.“

„Das ist eine Lüge!“ rief Turlington, nicht gegen Sir Joseph, sondern gegen Launce gewandt.

„Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Launce ruhig.

„Ich weiß nichts von der Geschichte, sonder weiß nur aus eigener Erfahrung, daß fremde Matrosen noch größeres Gesindel sind, als englische Matrosen. Der Kerl war ohne Zweifel verunglückt. Seine ganze Geschichte aber war offenbar erlogen, um Sir Josephs Mitleid zu erregen.“

Sir Joseph schüttelte sanft den Kopf.

„Das war keine Lüge, Richard. Es ist durch Zeugen bewiesen, daß der Mann die Wahrheit gesprochen hat.“

„Zeugen? Pah! Andere Lügner, willst du sagen.“

„Ich ging zu den Eigentümern des Schiffes“, fuhr Sir Joseph fort. „Ich erfuhr von ihnen die Namen der Schiffsoffziere und der Mannschaft, und zeigte den Fall bei der Liverpooler Polizei an. Das Schiff scheiterte an der Mündung des Amazonenflusses, aber Mannschaft und Ladung wurden gerettet. Die Mannschaft, die nach Liverpool gehörte, kehrte dahin zurück. Das war böses Volk, das könnt ihr mir glauben! Aber sie wurden jeder einzeln über die Behandlung des fremden Matrosen vernommen und sagten ganz übereinstimend aus. Von ihrem Kapitän und dem Matrosen, der ihm bei dem Verbrechen behilflich gewesen war, wußten sie nichts, als daß dieselben sich auf dem Schiffe, das die übrige Mannschaft nach England zurückgebracht habe, nicht mit eingeschifft hätten. Was auch seitdem aus dem Kapitän geworden sein mag, gewiß ist, daß er nie nach Liverpool zurückkehrte.“

„Hast du seinen Namen herausgebracht?“ fragte Turlington. Selbst Sir Joseph, der ein außerordentlich schlechter Beobachter war, entging es nicht, daß Turlington diese Frage in einem unerklärlich pikierten Tone tat.

„Ereifere dich nicht, Richard“, sagte der alte Herr.

„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich ereifere mich gar nicht, ich bin nur neugierig. Hast du herausgebracht, wer es gewesen ist?“

„Allerdings. Er hieß Howard – er war in Liverpool sehr wohl bekannt als ein höchst schlauer und äußerst gefährlicher Mensch. Er war zu der Zeit, von der ich rede, noch ganz jung und ein ausgezeichneter Kapitän, berühmt und berüchtigt wegen seiner Bereitwilligkeit, die Führung seeuntüchtiger, aber hoch in der Assekuranz stehender Schiffe und den Befehl über hergelaufenes Gesindel zu übernehmen. Wie man mir erzählte, hatte er sich für einen Mann in seiner Stellung, auf diese Weise – im Dienst schlecht berufener Firmen, wobei er vor keiner noch so schlimmen Gefahr zurückschreckte – schon ein hübsches Vermögen erworben. Ein gefährlicher Spitzbube, Richard! Mehr als einmal war er schon in Europa und Amerika durch Akte grausamer Gewalttätigkeit dem Gesetze verfallen. Er wird wohl schon lange tot sein.“

„Oder vielleicht“, sagte Launce, „lebt er noch unter einem anderen Namne und hat sein Glück auf einem anderen Wege unter neuen verzweifelten Gefahren anderer Art gemacht.“

„Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Turlington, indem er Launce seine Frage in einem scharf herausfordernden Tone zurückgab.

„Was ist denn aus dem fremden Matrosen geworden, Papa?“ fragte Natalie dazwischen, indem sie Launce absichtlich zuvorkam, bevor er die in gereiztem Tone an ihn gerichtete Frage in gereiztem Tone beantworten konnte.

„Wir brachten etwas für ihn zusammen, liebes Kind, und wandten uns an sinen Konsul. Der arme Kerl kam so auf ganz gute Weise nach seinem Vaterlande zurück.“

„Und damit ist Sir Josephs Geschichte zu Ende“, sagte Turlington, indem er sich von seinem Sitze erhob. „Schade, daß wir nicht einen Schriftsteller an Bord haben, der könnte eine Novelle daraus machen.“ Als er aufgestanden war, sah er nach dem Oberlicht hinauf. „Da haben wir aber endlich die Brise, und dieses Mal irre ich mich nicht!“ rief er aus.

Es verhielt sich wirklich so. Endlich war die Brise da. Die Segel pauschten sich, der Hauptmast knarrte und das endlich wieder in Bewegung gekommene Wasser fing an, die Schiffswände mit munteren Wellen zu bespülen.

„Komm aufs Verdeck und schöpfe ein wenig frische Luft, Natalie“, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach der Kajütentüre voranging.

Natalie hob den Rock ihres Nankinganzuges etwas in die Höhe, und ließ dadurch sichtbar werden, daß von dem roten Besatz mehrere Ellen abgerissen waren.

„Laß mich erst noch eine halbe Stunde in meiner Kabine das wieder in Ordnung bringen, Tante“, sagte sie.

Fräulein Lavinia zog ihre ehrwürdigen Augenbrauen erstaunt empor. „Liebes Kind“, sagte sie, „seit du auf Herrn Turlingtons Yacht bist, hast du fortwährend deine Kleider zerrissen. Das ist doch höchst sonderbar! Ich habe mir während der ganzen Fahrt noch nichts an meinem Zeuge zerrissen.“

Nataliens dunkler Teint wurde noch eine Nuance dunkler. Sie lachte etwas gezwungen. „Ich bin so ungeschickt am Bord“, antwortete sie – und damit wandte sie sich ab und schloß sich in ihre Kabine ein.

Richard Turlington zog seine Zigarrentasche hervor.

„Jetzt“, sagte er zu Sir Joseph, „ist die Zeit für die beste Zigarre am Tage – die Zigarre nach dem Frühstück! Komm mit aufs Deck.“

„Kommst du mit hinauf, Launce?“ sagte Sir Joseph zu diesem.

„Laß mich erst eine halbe Stunde studieren“, erwiderte Launce. „Ich darf meine medizinischen Kenntnisse auf der See nicht einrosten lassen, und später am Tage werde ich wohl keine Lust zu den Büchern haben!“

„Ganz recht so, lieber Junge, recht so!“ - Dabei klopfte Sir Joseph seinem Neffen wohlgefällig auf die Schulter.

Launce ging seines Weges und schloß sich in seine Kabine ein. Die drei andern gingen zusammen aufs Verdeck.



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Kapitel 2

Die Vorratskammer



Für Leute mit trägen Lebern und zärtlichen Herzen wird der Genuß einer Seefahrt durch zwei ernste Schattenseiten beeinträchtigt. Es ist außerordentlich schwer, auf der See sich hinreichend Bewegung, und fast unmöglich, im Geheimen die Cour zu machen. Fassen wir hier einen Augenblick nur die letztere Schwierigkeit ins Auge, so kann man das Leben innerhalb der engen und stark bevölkerten Grenzen eines Schiffs als ein wesentlich öffentliches bezeichnen. Vom Morgen bis Abend ist man seinem Nachbar, oder sein Nachbar einem im Wege.

Bei diesem Zustand der Dinge darf man einen Mann, der im Stande ist, auf der See unbeobachtet einen Kuß zu rauben, als einen mit den seltensten Eigenschaften ausgestatteten Menschen bezeichnen. Eine angeborne Begabung für die feinsten Kriegslisten, eine unerschöpfliche Erfindungsgabe, eine durch die übermenschlichsten Prüfungen nicht zu ermüdende Geduld, eine Geistesgegenwart, die durch keinen noch so unerwarteten Zufall außer Fassung zu bringen ist – das sind einige der Eigenschaften, mit welchen die Liebe auf einer Seefahrt ausgerüstet sein muß, wenn sie sich als Kontrebande auf das Schiff mit eingedrängt hat und nicht gehörig in die Schiffspapiere einregistriert ist. Nachdem Natalie und Launce sich über eine hinlänglich originelle Zeichensprache verständigt hatten, die sie in den Stand setzte, vertraulich miteinander zu verkehren, während die Augen und anderer weit geöffnet, auf sie gerichtet waren, hatten sie die noch größere Schwierigkeit zu überwinden, ein Mittel zu finden, am Bord der Yacht unbeobachtet von Zeit zu Zeit zusammenzukommen. Launce hatte sich den Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten, nicht gewachsen gezeigt. Natalie, die in Folge dessen auf ihre eigene Erfindungsgabe angewiesen war, hatte Launce den Gedanken eingegeben, sich seiner medizinischen Studien als einer triftigen Entschuldigung dafür zu bedienen, daß er sich von Zeit zu Zeit in den unteren Regionen einschloß, und war dann auf die glückliche Idee gekommen, sich immer wieder den Besatz ihres Kleides abzureißen, und sich zur selbsteigenen Ausbesserung dieser Risse zu verurteilen, und so ihrerseits eine unverwerfliche Entschuldigung für ihr Verschwinden zu gewinnen. Auf diese Weise machten die Liebenden es möglich, während die nichts ahnenden regierenden Mächte auf dem Verdeck weilten, im Geheimen unter ihnen auf dem neutralen Boden der großen Kajüte zusammenzukommen, und hier waren sie, in Folge einer vorgängigen Verabredung am Frühstückstisch, auch eben jetzt wieder im Begriff, sich im Geheimen zu treffen.

Natalie öffnete, wie gewöhnlich bei diesen Gelegenheiten, ihre Tür zuerst und zwar aus dem triftigen Grunde, weil sie diejenige war, auf deren Behendigkeit im Fall eines unvorhergesehenen Zufalls sie sich am besten verlassen konnten. Sie sah nach dem Oberlicht hinauf. Dort wurden die Beine der beiden Herren und die Röcke ihrer Tante, die an der Leeseite des Schiffes ruhig verharrten, sichtbar. Sie trat einige Schritte weiter vor und horchte. Das Geräusch der Stimmen oben ließ plötzlich nach. Sie sah wieder hinauf. Ein paar Beine, und zwar nicht die ihres Vaters, waren verschwunden. Ohne einen Augenblick zu zögern, flog Natalie in ihre Kabine zurück, gerade noch zu rechter Zeit, um Richard Turlington, der eben die Kajütentreppe herunter kam, zu entgehen. Er trat an eine der Schubladen unter dem Bücherschrank der Kajüte, nahm eine Karte heraus und ging dann sofort wieder auf Deck. Nataliens böses Gewissen ließ sie gleichwohl den voreiligen Schluß ziehen, daß Richard Verdacht gegen sie hege. Gleich darauf trat sie zum zweiten Mal an die Tür ihrer Kabine, dieses Mal aber nicht, um sich in die Kajüte zu wagen, sondern um flüsternd hinaus zu rufen: „Launce!“

Ihr Vetter erschien an seiner Tür, aber noch bevor er die Schwelle überschreiten konnte, rief sie ihm in peremtorischem Tone zu: „Rühr‘ dich nicht! Richard ist unten in der Kajüte gewesen! Er hat Verdacht geschöpft!“

„Unsinn! Komm doch heraus!“

„Unter keiner Bedingung, wenn du nicht einen andern Ort als die Kajüte ausfindig machen kannst.“

Einen anderen Ort? Wie leicht wäre der am Land zu finden gewesen, wie schwer, wenn nicht unmöglich auf der See! An dem einen Ende des Schiffs befand sich die von der Mannschaft besetzte Volkskajüte, am andern Ende der mit Segeln angefüllte Segelraum. Die Damenkajüte war zum Ankleidezimmer der Damen eingerichtet und als solches völlig unzugänglich für jedes männliche Wesen an Bord. Gab es in der Mitte des Schiffs noch irgend einen geschlossenen und disponiblen Raum? An der einen Seite befanden sich die Schlafkabinen des Schiffsoberleutnants und des Steuermanns, die unser Paar unmöglich betreten konnten; an der anderen Seite lag die Vorratskammer des Stewards. Launce dachte einen Augenblick nach. Die Vorratskammer des Stewards war gerade, was sie brauchten.

„Wohin willst du?“ fragte Natalie, als Launce gerade auf eine verschlossene Tür am unteren Ende der Kajüte zuging.

„Ich will mit dem Steward reden, liebes Kind, warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“

Launce öffnete die Tür der Vorratskammer und fand darin nicht den Steward, sondern seine Frau, welche den Dienst einer Stewardeß auf dem Schiffe versah. Das war dieses Mal ein glücklicher Zufall. Launce, der jedesmal, so oft er auf dieser Fahrt Natalie einen Kuß geraubt hatte, dabei von dem Steward oder seiner Frau überrascht worden war, brauchte kein Bedenken zu tragen, diese beiden mit ins Vertrauen zu ziehen. Nachdem er die Sympathien der in dieser Region des Schiffes herrschenden Autoritäten schon früher durch das beredte Mittel von Geldgeschenken gewonnen hatte, konnte er auf ihre Verschwiegenheit rechnen. Nach einem schwachen Versuch, die Bitte abzulehnen, willigte die Stewardeß ein, nicht nur die Vorratskammer zu verlassen, sondern auch ihren Mann von derselben fern zu halten, unter der Bedingung, daß der Raum für nicht länger als zehn Minuten besetzt bleiben dürfe.

Launce machte Natalie das verabredete Zeichen an der einen Tür, während die Stewardeß zur anderen hinausging. Einen Augenblick später fanden sich die Liebenden in einem geschlossenen Raum vereinigt. Brauchen wir zu sagen, in welcher Sprache die Verhandlungen eröffnet wurden? Gewiß nicht! Bei solchen Gelegenheiten pflegt man sich einer unartikulierten Lippensprache zu bedienen, in der wir alle Meister sind, obgleich wir es im späteren Leben bisweilen vergessen. Natalie stand an eine mit Tee, Zucker und Gewürzen bedeckte Wand gelehnt, eine Speckseite hing über ihrem Haupt und ein mit Zitronen gefülltes Netz schaukelte vor ihrem Gesichte. War daher die Vorratskammer auch gerade nicht geräumig, so war sie doch gemütlich.

„Wenn nun der Steward gerufen würde?“ sagte sie, um ihn abzuwehren. „Laß es, Launce.“

„Sei ganz ruhig. Wir sind hier sicher, wenn sie ihn auch rufen. Der Steward braucht nur auf dem Verdeck zu erscheinen und jeder Verdacht gegen uns muß schwinden.“

„Laß mich in Ruhe, Launce! Ich habe dir sehr schlimme Nachrichten zu melden, und überdies wartet meine Tante darauf, daß ich mit meinem wieder angenähten Besatz zu ihr komme.“

Sie hatte Nadel und Zwirn mitgebracht. Sie setzte sich auf die Vorratskiste, nahm den Rock ihres Kleides über ihre Knie auf, beugte sich darüber und ging emsig daran, den abgerissenen Besatz wieder anzunähen. In dieser Stellung zeigte ihre schlanke Gestalt ihre festen, und doch so weichen Formen im reizendsten Licht. Rasch fuhr die Nadel in den geschickten Fingern durch das Zeug. Die Vorratskiste war so breit, daß Launce einen Platz neben dem holden Mädchen fand.

„Nun, Natalie, was hast du mir zu melden?“ fragte der junge Arzt.

„Er hat mit Papa gesprochen, Launce.“

„Richard Turlington?“

„Ja.“

„Hol‘ ihn der Teufel.“

Natalie fuhr zurück. Ein in den Nacken gesprochener Fluch, dem auf der Stelle ein Segenswunsch in Gestalt eines Kusses folgt, hat etwas Überraschendes, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.

„Tu‘ das nicht wieder, Launce! - Das Gespräch fand statt, während du auf dem Verdeck rauchtest und sie glaubten, ich sei fest eingeschlafen. Ich öffnete den Ventilator in meiner Kabinentür, lieber Junge, und hörte jedes Wort, das sie sprachen. Er wartete, bis meine Tante fortgegangen war, und er Papa ganz allein hatte; und dann fing er in seiner abscheulichen, rücksichtslosen Manier an: ‚Graybrooke, wie lange soll ich noch warten?‘“

„Hat er das gesagt?“

„Das waren seine Worte. Papa verstand nicht, Richard erklärte sich alsbald. Auf wen anders konnte er warten, als auf mich? Papa sagte etwas von meiner noch so großen Jugend. Aber Richard fiel ihm ohne Weiteres ins Wort: Mädchen seien wie Früchte; einige reiften früh, andere spät; einige seien erst mit zwanzig, andere schon mit sechzehn Jahren entwickelt. Es sei unmöglich mich anzusehen und nicht zu finden, daß ich nach meiner zweimonatlichen Seereise ein ganz neues Wesen geworden sei; und so weiter, und so weiter. Papa versuchte noch, einen Aufschub zu gewinnen. ‚Wir haben noch sehr viel Zeit, Richard, noch sehr viel Zeit.‘ - ‚Noch sehr viel Zeit für sie‘, lautete die Antwort des elenden Menschen, ‚aber nicht für mich. Denk‘ an alles, was ich ihr zu bieten habe‘ als ob ich mir etwas aus seinem Gelde machte – ‚und nun laß mich nicht länger in einem Zustand der Ungewißheit, den es für einen Mann in meiner Lage von Tag zu Tag schwerer wird zu ertragen.‘ Er war wahrhaftig ganz beredt, seine Stimme zitterte... Es ist kein Zweifel, lieber Launce, daß er verliebt in mich ist.“

„Und dadurch fühlst du dich natürlich geschmeichelt?“

„Sprich doch nicht solchen Unsinn. Ich fühle mich ein wenig erschreckt dadurch, das kann ich dir versichern.“

„Erschreckt? Hast du ihn diesen Morgen beobachtet?“

„Ich? Wann?“

„Als dein Vater die Geschichte von dem über Bord gefallenen Matrosen erzählte.“

„Nein. Was tat er da? Erzähle mir, Launce.“

„Sag‘ mir zuerst: wie lief denn das Gespräch gestern Abend ab? Hat dein Vater ihm irgend etwas versprochen?“

„Du kennst Richards Art. Er ließ ihm keine Wahl; Papa mußte ihm sein Versprechen geben, bevor er Erlaubnis bekam, zu Bett zu gehen -“

„Das Versprechen, dich diesem Turlington zum Weibe zu geben?“

„Ja, eine Woche nach meinem nächsten Geburtstag.“

„Eine Woche nach dem nächsten Weihnachtstage?“

„Ja. Papa soll mit mir reden, sobald wir wieder zu Hause sind, und ich soll am Neujahrstage heiraten.“

„Ist das dein Ernst, Natalie? Soll ich wirklich glauben, daß sie so weit gegangen sind?“

„Sie haben sich über alles geeinigt: über die glänzende Einrichtung, die wir bekommen, und das große Einkommen, das wir haben sollen. Ich habe gehört, wie Papa zu Richard sagte, sein halbes Vermögen solle mir an meinem Hochzeitstage zufallen. Es war widerwärtig zu hören, wie viel sie von Geld und wie wenig sie von Liebe sprachen. Was soll ich tun, Launce?“

„Darauf ist die Antwort leicht, mein Engel. Vor allen Dingen mußt du fest entschlossen sein, Richard Turlington nicht zu heiraten-“

„Sprich vernünftig. Du weißt, ich habe alles getan, was ich konnte. Ich habe Papa gesagt, daß ich mir Richard wohl als Freund, aber nicht als Ehemann denken könne. Aber er lacht mich nur aus und sagt: ‚Wart ein bißchen und du wirst schon deine Ansicht ändern, liebes Kind!‘ - Du siehst, Richard ist ihm alles: Richard hat ihm immer seine Angelegenheiten besorgt und hat ihn vor Verlusten durch schlechte Spekulationen bewahrt; Richard kennt mich seit meiner frühesten Jugend; Richard hat ein glänzendes Geschäft und sehr viel Geld. Papa hat gar keine Vorstellung davon, wie ich Richards Hand ausschlagen kann. Dann versuchte ich es, mich hinter meine Tante zu stecken; ich sagte ihr, er sei zu alt für mich; aber alles, was sie mir antwortete, war: ‚Sieh doch nur deinen Vater an, er war viel älter als deine Mutter und doch war ihre Ehe so glücklich.‘ - Selbst wenn ich geradezu erklärte, ich würde Richard nicht heiraten, was hätten wir davon? Papa ist der beste, liebste alte Mann auf der Welt, aber – ach! - das Geld geht ihm über alles! Er glaubt an nichts anderes. Er würde wütend werden – bei aller seiner Güte, wütend – wenn ich auch nur andeuten wollte, daß ich dich liebe. Der Mann, der es sich einfallen ließe, um meine Hand anzuhalten, ohne ein ebenso großes Vermögen zu haben, wie das, welches ich ihm mitbrächte, würde von Papa wie ein Verrückter angesehen werden. Er würde es gar nicht für nötig halten, einem solchen Menschen auch nur eine Antwort zu geben; er würde einfach klingeln und dem Tollkühnen die Tür weisen lassen. Ich übertreibe nicht, Launce; du weißt, ich rede die Wahrheit. So weit ich sehen kann, gibt es keine Hoffnung für uns.“

„Bist du fertig, Natalie? Dann möchte ich auch etwas sagen.“

„Nun, sprich!“

„Wenn es so fortgeht, wie es sich jetzt anläßt, weißt du, wie dann alles enden wird? Es wird damit enden, daß du Turlingtons Frau wirst.“

„Niemals!“

„Das sagst du jetzt, aber du weißt nicht, was zwischen heute und Weihnachten passieren kann! Natalie, es gibt nur ein Mittel, es außer allen Zweifel zu stellen, daß du Richard niemals heiraten wirst – heirate mich!“

„Ohne Papas Einwilligung?“

„Ohne irgend jemand ein Wort zu sagen, bis die Sache geschehen ist.“

„O, Launce, Launce!“

„Lieber Engel, jedes Wort, was du gesprochen hast, zeigt, daß es kein anderes Mittel gibt. Bedenke es wohl, Natalie, bedenke es wohl!“

Es entstand eine Pause. Nataliens Hand entsank Nadel und Faden und sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und sagte: „Ach, wenn nur meine arme Mutter noch lebte! Oder wenn ich nur eine ältere Schwester hätte, die ich um Rat fragen könnte, was ich tun soll.“

Sie schwankte offenbar. Launce ließ sich den Vorteil ihrer Unentschlossenheit nicht entgehen. Er drang unbarmherzig in sie.

„Liebst du mich?“ flüsterte er ihr ins Ohr.

„Du weißt, wie zärtlich ich dich liebe.“

„Nimm Richard die Möglichkeit, uns zu trennen, Natalie.“

„Uns trennen? Wir sind ja Blutsverwandte! Selbst wenn er den Versuch machen wollte, uns zu trennen, so würde Papa das nicht erlauben.“

„Merk‘ wohl auf meine Worte: Er wird den Versuch machen. Er braucht ja nur den Finger aufzuheben, damit dein Vater ihm gehorcht. Liebstes Mädchen, unser beider Lebensglück steht auf dem Spiel!“ Dabei umschlang er sie mit seinem Arm und zog ihren Kopf sanft an seine Brust. „Das haben schon viele Mädchen vor dir getan, Liebchen“, beredete er sie, „warum wolltest du es auch nicht tun?“

Es ging über ihre Kräfte, ihm zu antworten.Sie gab es auf. Ein leiser Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie schmiegte sich noch enger an ihn und schloß wie ohnmächtig die Augen. Im nächsten Augenblick aber fuhr sie, am ganzen Leibe zitternd, auf und blickte nach dem Oberlicht. Gerade über ihnen wurde plötzlich Richard Turlingtons Stimme vernehmbar.

„Graybrooke, ich habe dir ein Wort über Launcelot Linzie zu sagen.“

Nataliens erster Gedanke war, an die Tür zu eilen. Als sie aber Richard Launces Namen aussprechen hörte, stand sie davon ab. In Richards Ton lag etwas, was ihre Neugierde erweckte, und die Macht der Neugierde ist oft stärker als die der Furcht. Sie wartete, während sie ihre Hand in Launces Hand ruhen ließ.

„Du wirst dich erinnern“, fuhr Richard mit seiner dröhnenden Stimme fort, „daß ich es nicht geraten fand, ihn auf dieser Fahrt mitzunehmen; du warst nicht meiner Meinung, und auf deine ausdrückliche Bitte gab ich nach. Es war unrecht von mir. Launcelot Linzie ist ein sehr anmaßender junger Mann.“

Sir Joseph antwortete mit seinem gewohnten milden Lachen: „Mein lieber Richard, du urteilst wirklich etwas zu hart über Launce.“

„Du verstehst dich nicht darauf, Menschen zu beobachten, wie ich, Graybrooke! Ich sehe unverkennbare Zeichen, daß er sich gegen uns alle, und namentlich gegen Natalie mehr herausnimmt, als ihm zukommt. Mir gefällt die Art nicht, wie er mit ihr spricht und wie er sie ansieht. Er hat einen ungebührlich familiären Ton, eine unverschämte Vertraulichkeit, dem muß Einhalt getan werden. In meiner Stellung darf ich verlangen, daß auf meine Gefühle Rücksicht genommen werde. Ich bitte dich, der Intimität zwischen den jungen Leuten ein Ende zu machen, sobald wir wieder am Lande sind.“

Der Überraschung, welche diese Worte in Sir Joseph hervorriefen, gab derselbe in ernsterem Tone Ausdruck. „Lieber Richard, sie sind Cousin und Cousine, sie sind seit ihrer frühesten Jugend Gespielen gewesen. Wie kannst du das geringste Gewicht auf irgend etwas legen, was der arme Launce sagt oder tut.“

Der Ton, in dem Sir Joseph diese letzten Worte sprach, hatte etwas gutmütig Geringschätzendes, das seine Tochter tief verletzte. Er hätte in keinem anderen Tone von einem harmlosen Haustier reden können. Sie drückte Launces Hand sanft.

Turlington beharrte bei seinem Verlangen: „Ich muß noch einmal darauf dringen, ernstlich darauf dringen, daß du dieser wachsenden Vertraulichkeit der Beiden Einhalt tust. Ich habe nichts dagegen, daß du ihn von Zeit zu Zeit mit anderen Freunden einladest. Aber was ich wünsche und von dir erwarte, ist, daß er nicht mehr zu jeder Tages- und Abendstunde, wenn er vielleicht nichts anderes zu tun hat, wie man zu sagen pflegt, ins Haus fällt. Bist du damit einverstanden?“

„Wenn du es zur Bedingung machst, Richard, so bin ich natürlich damit einverstanden.“

Als der schwache Sir Joseph mit diesen Worten in das Verlangen Richards willigte, sah Launce Natalie an.

„Was habe ich dir gesagt?“ flüsterte er. Natalie ließ schweigend den Kopf hängen. In der Unterhaltung auf dem Verdeck entstand eine Pause. Die beiden Herren gingen langsam nach dem Vorderdeck.

Launce verfehlte nicht, seinen Vorteil weiter zu verfolgen. „Dein Vater läßt uns keine Wahl“, sagte er. „Sobald wir wieder ans Land kommen, wird mir die Tür eures Hauses verschlossen werden. Wenn ich dich verliere, Natalie, weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Aus meinem Beruf mache ich mir nichts, ich habe dann nichts mehr, was es mir der Mühe wert erscheinen ließe, weiter zu leben.“

„Still, still! Sprich nicht so!“

Launce versuchte es noch einmal mit dem besänftigenden Einfluß der Überredung: „Hundert und aber hundert Leute in unserer Lage haben sich heimlich verheiratet und haben nachher Vergebung gefunden“, fuhr er fort. „Ich verlange nicht von dir, daß du irgend etwas übereilt tust. Ich will mich ganz von deinen Wünschen leiten lassen. Alles, was ich verlange, um mein Gemüt zu beruhigen, ist die Gewißheit, daß du mir angehörst. Gib mir, ich flehe dich um alles, gib mir eine Gewähr dafür, daß Richard Turlington dich mir nicht entreißen kann.“

„Dränge mich nicht, Launce!“ Mit diesen Worten sank sie wieder auf die Vorratskiste. „Sieh“, sagte sie, „schon der Gedanke daran macht mich zittern.“

„Vor wem fürchtest du dich denn, Liebchen? Doch nicht vor deinem Vater?“

„Der arme Papa! Das wäre das erste Mal in seinem Leben, daß er hart gegen mich wäre.“ Sie hielt inne. Ihre feuchten Augen blickten flehend zu Launce auf. „Dringe nicht in mich!“ wiederholte sie mit schwacher Stimme. „Du weißt, es ist unrecht. Wir würden es eingestehen müssen; und was würde dann geschehen?“ Sie hielt wieder inne. Ihre Augen wandten sich wieder unruhig dem Deck zu. Dann fuhr sie mit noch leiserer Stimme als bisher fort: „Denk an Richard!..“ Sie schauderte bei dem Gedanken an die Schrecken, welche dieser Name ihr vor die Seele rief. Noch ehe Launce ihr ein beruhigendes Wort sagen konnte, war sie wieder aufgestanden. Bei Richards Namen hatte sie sich plötzlich wieder an die geheimnisvolle Anspielung auf den Eigentümer der Yacht erinnert, welche Launce eben vorher gemacht hatte.

„Was war das, was du vorhin von Richard sagtest?“ fragte sie. „Du sahest oder hörtest etwas Sonderbares, während Papa seine Geschichte erzählte. Was war das?“

„Ich beobachtete Richards Gesicht, Natalie, als dein Vater erzählte, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei. Bei diesen Worten wurde er unheimlich bleich. Das Bewußtsein der Schuld lag deutlich auf seinem Gesicht -“

„Der Schuld? Woran?“

„Er war dabei, als der Matrose über Bord geworfen wurde – davon bin ich fest überzeugt. Ja, nach allem, was ich von ihm weiß, sollte es mich nicht wundern, wenn er es selbst getan hätte.

Natalie fuhr entsetzt zurück.

„O, Launce, Launce, wie kannst du nur so etwas denken! Du magst Richard nicht leiden können, du magst ihn als deinen Feind betrachten, aber eine so furchtbare Beschuldigung gegen ihn auszusprechen – das ist nicht großmütig von dir, das sieht dir gar nicht ähnlich!“

„Wenn du ihn angesehen hättest, würdest du dasselbe gesagt haben. Ich werde sowohl im Interesse deines Vaters, wie in unserem eigenen Interesse nähere Erkundigungen einziehen. Mein Bruder kennt einen Polizeikommissar, und von dem kann er gewiß das Nähere erfahren. Turlington ist nicht immer im Levantinischen Handel beschäftigt gewesen, das weiß ich schon.“

„Schäme dich, Launce, schäme dich!“

In diesem Augenblick wurden wieder Fußtritte auf dem Deck vernehmbar. Natalie flog an die Tür, die nach der Kajüte führte. Launce hielt sie zurück, als sie eben ihre Hand auf den Türdrücker legte. Die Fußtritte gingen vorüber gerade auf das Hinterdeck zu. Launce schlang seine beiden Arme um Natalie. Sie ließ es geschehen.

„Bringe mich nicht zur Verzweiflung!“ sagte er. „Dies ist die letzte Gelegenheit für mich. Ich verlange nicht von dir, daß du mir auf der Stelle versprichst mich zu heiraten, ich bitte dich nur, es dir zu überlegen. Mein Liebchen! Mein Engel! Willst du das?“

Während er diese Frage tat, hätten sie, wenn sie nicht zu sehr miteinander beschäftigt gewesen wären, um irgendetwas zu vernehmen, hören müssen, wie die Fußtritte sich wieder näherten – dieses Mal die Tritte nur eines Menschen. Nataliens längere Abwesenheit hatte angefangen, ihre Tante zu befremden und hatte bei Richard ein unbehagliches Gefühl des Mißtrauens erweckt. Er kam allein wieder vom Hinterdeck zurück. Als er an der Kajüte vorüberkam, sah er mit abwesendem Blick in dieselbe hinein. Dann passierte er das Oberlicht der Vorratskammer. Konnte er nicht bei seinem gegenwärtigen Gemütszustand einen Blick in die Vorratskammer werfen?

„Laß mich gehen!“ sagte Natalie.

Launce antwortete nur: „Sage ja!“ und hielt sie fest, als ob er sie nie wieder los lassen wolle.

In demselben Augenblick erklang Fräulein Lavinias Stimme mit einem schrillen Ruf nach Natalie vom Verdeck her. Es gab für Natalie nur ein Mittel, von Launce loszukommen. Sie sagte: „Ich will es mir überlegen.“ Da küßte er sie und ließ sie gehen.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als das finstere Gesicht Turlingtons über dem Oberlicht der Vorratskammer erschien und durch dasselbe auf Launce blickte.

„Halloh!“ rief er in grobem Tone. „Was haben Sie in der Stewardskammer verloren?“

Launce ergriff eine Zündholzdose von einem Brett herab. „Ich hole mir Feuer“, antwortete er rasch.

„Ich gestatte niemandem, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis unter dem Verdeck über die Kajüte hinauszugehen. Der Steward hat sich einen groben Verstoß gegen die Disziplin am Bord meines Schiffes zu Schulden kommen lassen. Der Steward wird meinen Dienst verlassen.“

„Den Steward trifft kein Vorwurf.“

„Darüber steht das Urteil mir zu, nicht Ihnen.“

Launce wollte eben antworten, und ein Wortwechsel zwischen den beiden Männern schien unvermeidlich, als der Schiffsleutnant auf dem Verdeck an den Eigentümer der Yacht herantrat und Turlingtons Aufmerksamkeit auf eine Frage lenkte, mit welcher auf der See nie zu spaßen ist: auf die Frage des Windes und der Strömung.

Die Yacht befand sich eben im Bristol-Kanal, am Eingang der Bideford-Bucht. Der Wind, der seit kurzem stärker zu wehen angefangen hatte, war eben im Begriff, seine Richtung zu ändern. Die Flut dauerte höchstens noch drei Stunden.

„Der Wind dreht sich, Herr“ sagte der Schiffsleutnant. „Ich fürchte, wir kommen mit dieser Flut nicht aus der Bucht heraus, wenn wir nicht frische Segel beisetzen.“

Turlington schüttelte den Kopf und sagte: „In Bideford liegen Briefe für mich, wir haben durch die Windstille zwei Tage verloren, ich muß ans Land schicken, um die Briefe von der Post holen zu lassen, gleichviel ob wir die Flut verpassen oder nicht.“

Das Schiff hielt seinen Kurs inne; in einiger Entfernung von dem Hafen von Bideford wurde ein Boot dahin abgeschickt, um die Briefe von der Post zu holen, während die Yacht unterdessen vor dem Hafen hin und her fuhr. In kürzester Zeit waren die Briefe in Turlingtons Händen. Das Boot wurde wieder aufgewunden und eingehakt, die Yacht war eben im Begriff wieder in See zu gehen, als Turlington alle durch das peremtorisch ausgesprochene Wort: „Halt!“ in Erstaunen setzte. Er hatte die Briefe alle bis auf einen ungelesen in die Tasche seiner Matrosenjacke gesteckt. Den einen Brief aber, den er gelesen hatte, hielt er jetzt fest in der krampfhaft geballten Hand, während sich in seinen stieren Augen und auf seinen bleichen Lippen Wut und Bestürzung malten.

„Laßt das Boot wieder herab!“ rief er. „Ich muß noch heute abend nach London.“ Dann trat er mit weit geöffnetem Munde auf Sir Joseph zu.

„Hier ist keine Zeit zum Fragen und Antworten, ich muß zurück.

Mit diesen Worten schwang er sich über die Schanzkleidung hinweg ins Boot und rief von da aus dem Schiffsleutnant zu: „Benutzen Sie die Flut, wenn Sie können, wenn nicht, setzen Sie die Passagiere morgen ans Land bei Minehead oder Watchet oder wo Sie wollen.“ Dann winkte er Sir Joseph, sich über die Schanzkleidung zu ihm herabzubeugen, damit er ihm etwas allein sagen könne.

„Vergiß nicht, was ich dir in Betreff Launcelot Linzies gesagt habe!“ flüsterte er ihm in aufgeregtem Tone zu.

Sein letzter Blick galt Natalien. Er zwang sich so sanft wie möglich zu reden und sagte zu ihr: „Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde Sie bald in London wiedersehen!“

Dann setzte er sich ins Boot nieder und ergriff das Steuerruder. Die letzten Worte, die man ihn sagen hörte, waren brutale Zurufe, mit denen er die Ruderer antrieb, keine Zeit zu verlieren.

„Ziehet an, ihr verfluchten Hunde, ziehet an, oder ihr seid des Todes!“



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Kapitel 3

Die Krisis



Seien wir ernsthaft, es handelt sich um Geschäfte. Die neue Szene versetzt und mit einem jähen Sprung mitten in das Geschäftstreiben der mit der Levante handelnden Firma Pizzituti, Turlington und Branca. Was in aller Welt wissen wir von dem Handel in der Levante? Nur gemach! Wer von uns je erfahren hat, was es heißt, in Geldverlegenheit zu sein, ist von vornherein mit der Frage, um die es sich hier handelt, vertraut. Der Handel mit der Levante führt gelegentlich Verlegenheiten mit sich. - Turlington war in Geldverlegenheit. Der Brief, den er an Bord seiner Vergnügungsyacht erhalten hatte, war von seinem dritten Associé, Herrn Branca und lautete wie folgt:

„Wir haben hier eine Geschäftskrisis. Wir für unser Teil sind so weit geborgen, bis auf unsere Geschäfte mit den kleinen auswärtigen Firmen. Für diese haben wir Wechsel zum Belauf von circa 40.000 Pfund Sterling akzeptiert und dürfen, fürchte ich, auf keine Rimessen zu unserer Deckung rechnen. Details finden Sie in einem anderen Briefe, der unter Ihrer Adresse poste restante in Ilfracombe liegt, ich bin vor Angst und Sorge ganz herunter und muß das Bett hüten. Pizzituti ist noch in Smyrna. Kommen Sie sofort zurück.“

Noch an demselben Abend war Turlington auf seinem Büro in Austin Friars damit beschäftigt, mit Hilfe seines ersten Kommis den Stand der Geschäfte zu untersuchen.

Die Firma handelte, um es kurz zu sagen, mit den verschiedenartigsten Artikeln; sie verschmähte nichts, von Manchester Baumwollwaren bis zu Smyrnaer Feigen. Sie hatte Filialen in Alexandria und Odessa, und Korrespondenten überall längs den Küsten des Mittelländischen Meeres und in den Häfen des Orients. Diese Korrespondenten waren die in Herrn Brancas Brief als kleine auswärtige Firmen bezeichnete Leute, und sie waren es, welche die ernste finanzielle Krisis in dem Geschäfte des großen Hauses in Austin Friars hervorgebracht und Turlington nach London zurückgerufen hatten. Jeder dieser kleinen Firmen hatte das Haus zugestanden, Wechsel im Betrage von 4 – 6000 Pfund Sterling ohne andere Garantie auf dasselbe ziehen zu dürfen, als eine mündliche Übereinkunft, daß der Betrag der Wechsel vor ihrem Fälligwerden eingesandt werden solle. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß dieses ungesunde, gewagte System des Geschäftsbetriebes seinen Grund in der Konkurrenz anderer Häuser hatte. Die Orientalischen Firmen befolgten das Prinzip, mit keinem Hause Geschäfte zu machen, das ihnen jenes Privilegium nicht bewilligen würde. In dem gegenwärtig bei Turlingtons Hause eingetretenen Fall hatten die auswärtigen Kaufleute ihre Wechsel auf dasselbe für im Ganzen bedeutende Beträge zur Deckung ihrer eigenen Bedürfnisse längst diskontiert und überließen es nun ihren Londoner Korrespondenten, die Wechsel zum Fälligkeitstermine einzulösen. Einige hatten nur Versprechungen und Entschuldigungen eingesandt. Andere hatten Tratten auf Firmen remittiert, welche der Krisis bereits zum Opfer gefallen waren oder zu fallen im Begriff standen. Nachdem Herr Branca zunächst seinen Kassenbestand erschöpft, hatte er den dringendsten Verlegenheiten durch Verpfändung des Kredits der Firma, soweit ihm das möglich war, ohne den wahren Sachverhalt zu verraten, abgeholfen. Nach alledem blieben aber noch bis Weihnachten Wechsel im Betrage von 40.000 Pfund Sterling einzulösen, ohne daß die Firma einen Heller in Händen gehabt hätte, diese ungeheure Schuld zu decken.

Zu diesem Resultate war Turlington gelangt, nachdem er die Nacht durchgearbeitet hatte und die aufgehende Sonne in die Fenster seines Privatbüros zu scheinen anfing. Die ganze Gewalt des Schlages traf ihn persönlich. Der Anteil seiner Associés an dem Geschäft war höchst geringfügig. Ihm gehörte das Kapital, er hatte das Risiko zu tragen. Er also mußte das Geld aufbringen oder sich als ruiniert betrachten. Wie aber sollte er das Geld herbeischaffen? - Seine Gedanken wandten sich wieder der Heirat mit Natalien zu.

„Sonderbar!“ sagte er bei sich, indem er seiner mit Sir Joseph am Bord der Yacht gehabten Unterhaltung erinnerte. „Graybrooke erklärte mir, er werde seiner Tochter bei ihrer Verheiratung sein halbes Vermögen geben. Graybrookes halbes Vermögen beläuft sich aber zufällig gerade auf 40.000 Pfund Sterling.“ Er ging einige Male im Zimmer auf und ab. Nein! Es war doch unmöglich, sich an Sir Joseph zu wenden. War einmal dessen Vertrauen auf Richards kommerzielle Solidität erschüttert, so war ein Aufschub, wenn nicht ein gänzliches Zerschlagen der Heirat sicher. Nur auf eine Weise konnte Turlington sich in seiner gegenwärtigen Lage Sir Josephs Vermögen zu Nutzen machen, er konnte es benutzen, seine Schuld zurückzubezahlen. Er brauchte es nur so einzurichten, daß der Termin der Zurückbezahlung des Darlehens mit seinem Hochzeitstage zusammenfiel und das Geld seines Schwiegervaters stand an diesem Tage zu seiner, oder doch zur Disposition seiner Frau, was dasselbe war. „Ich habe gut daran getan“, dachte er, „Graybrooke wegen der Heirat zu drängen. Jetzt kann ich das Geld auf kurze Zeit borgen. In drei Monaten wird Natalie meine Frau sein...“ Nachdem er so sein Gemüt für den Augenblick von allen Besorgnissen, bis auf eine, befreit hatte, fuhr er nach seinem Club, um zu frühstücken.

Er war zwar gewiß, bei seiner Stellung in der City sich das Darlehen verschaffen zu können; aber keineswegs ebenso gewiß, woher er die Sicherheit nehmen solle, auf welche hin er das Geld werde borgen können. Da er sein Einkommen regelmäßig aufzehrte, von keinem lebenden Wesen etwas zu erwarten hatte, an Grundeigentum nichts besaß, als dreißig bis vierzig Acker Landes in Somersetshire, mit einem sonderbaren kleinen Hause, das halb Pachthof, halb Landhaus war, sah er sich außer Stande, die nötige Sicherheit seinem eigenen Vermögen zu entnehmen. Sich an reiche Freunde in der City wenden, würde so viel gewesen sein, wie diese Freunde in das Geheimnis seiner Verlegenheit einweihen und seinen Kredit gefährden. Nachdem er gefrühstückt hatte, kehrte er nach Austin Friars zurück, ohne noch im Geringsten zu wissen, wie er das letzte ihm noch im Wege stehende Hindernis werde beseitigen können.

Die Geschäftsstunden hatten bereits ihren Anfang genommen, das Comptoir stand dem Publikum offen. Turlington war noch keine zehn Minuten wieder in seinem Privatcomptoir, als der mit den Schiffsangelegenheiten betraute Kommis an die Tür klopfte und ihn in seinen ängstlichen Überlegungen störte.

„Was gibt’s?“ rief er in gereiztem Tone.

„Duplikate von Connossementen, Herr Turlington“, antwortete der Commis, indem er die Papiere auf den Schreibtisch seines Prinzipals legte.

Gefunden – da lag die gesuchte Sicherheit vor ihm auf seinem Schreibtisch! Er entließ den Commis und untersuchte die Papiere. Es waren von den betreffenden Schiffskapitänen unterzeichnete Schiffsfrachtbriefe über in den Häfen von Smyrna und Odessa verladene und gegen Auslieferung dieser Papiere an das Londoner Haus oder seine Ordre abzuliefernde Waren. Die Originale dieser Connossemente waren bereits in den Besitz des Londoner Hauses gelangt. Die jetzt eingetroffenen Papiere waren die Duplikate, die bei solchen Gelegenheiten, für den Fall, daß die Originale verloren gehen sollten, eingesandt zu werden pflegen. Richard Turlington beschloß sofort, sich der Duplikate als der gesuchten Sicherheit zu bedienen, während er die Originale sorgfältig verschloß, um sie zur rechten Zeit zur Empfangnahme der Waren zu benutzen. Der damit beabsichtigte Betrug war nur ein scheinbarer. Die Sicherheit war eine reine Formalität. Seine Heirat würde ihm die zur Zurückzahlung der Schuld erforderlichen Mittel liefern, und der Ertrag seines Geschäfts würde ihn im Lauf der Zeit in den Stand setzen, die Mitgift seiner Frau zu ersetzen. Es handelte sich lediglich darum, sich seinen Kredit durch Mittel zu erhalten, welche legaler Weise zu seiner Verfügung standen. Innerhalb der elastischen Grenzen merkantilischer Moralität hatte Richard Turlington ein Gewissen. Er setzte seinen Hut auf und ging mit seiner Scheinsicherheit zu den Bankiers, ohne sich im Mindesten in seiner eigenen Achtung vor seiner Rechtschaffenheit herabgesetzt zu fühlen.

Bulpit Brothers, die schon lange gewünscht hatten, einen Namen, wie den Turlingtons, in ihren Büchern figurieren zu sehen, empfingen ihn mit offenen Armen. Die Sicherheit, welche den zu entleihenden Betrag völlig deckte, wurde ohne Weiteres angenommen. Mit einem Federstrich wurde das Darlehen auf drei Monate gegeben. Nachdem das Geschäft abgemacht war, ging Turlington wieder fort und trat den Vorübergehenden in den Straßen der City mit dem Bewußtsein entgegen, das vollendetste Wesen der kaufmännischen Schöpfung, ein solventer Mann zu sein.

Der gefallene Engel, der unsichtbar hinter Richard in seinem Schatten einherging, schlug triumphierend mit seinen lahmen Flügeln. Von diesem Augenblick an war Turlington in der Gewalt des bösen Dämons.



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Kapitel 4

In der Villa



Am nächsten Tage fuhr Turlington in die Vorstadt, zu sehen, ob die Graybrookes schon wieder nach Hause zurückgekehrt seien. Sir Joseph, dem London zuwider war, hatte sich nicht entschließen können, näher bei der Hauptstadt zu wohnen, als in Muswell Hill. So oft Natalie nach einer Abwechselung verlangte und sich nach Bällen, Theater, Blumenausstellungen und ähnlichen Vergnügungen sehnte, stand sie in dem Hause der verheirateten Schwester ihres Vaters, Frau Sancroft, welche recht im Mittelpunkte der Stadt wohnte, ein Zimmer für sich bereit.

Auf seinem Wege durch die Stadt hatte Turlington eine Begegnung, die ihm keinen Zweifel darüber ließ, daß die Graybrookes zurückgekehrt sein müssten: Launce fuhr in Gesellschaft eines Herrn in einem Fiaker an ihm vorüber. Der Herr war Launces Bruder, mit welchem dieser eben zu dem Polizeikommissar fuhr, um die nötigen Anstalten zu einer Untersuchung über Turlingtons früheres Leben zu treffen.

Indessen erfüllte die Auskunft, welche Turlington an der Tür der Graybrookeschen Villa auf seine Fragen erhielt, nur teilweise seine Erwartungen. Die Familie war tags zuvor zurückgekehrt; Sir Joseph und seine Schwester waren zu Hause, aber Natalie war schon wieder fort. Sie war nach der Stadt gefahren, um mit ihrer Tante zu frühstücken. Turlington trat ein.

„Hast du Geld verloren?“ das waren die ersten Worte, mit denen Sir Joseph seinem Freund entgegentrat, als er ihn nach ihrer Trennung am Bord der Yacht zum ersten Mal wieder sah.

„Keinen Heller... Ich hätte vielleicht bedeutende Verluste gehabt, wenn ich nicht zu rechter Zeit zurückgekehrt wäre, um alles wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das Ganze war eine Dummheit meiner Leute, denen ich das Geschäft hatte überlassen müssen, weiter nichts. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.“

Sir Joseph erhob seine Blicke mit dem Ausdruck inniger Andacht zur Zimmerdecke. „Gott sei Dank, Richard!“ sagte er im Tone der tiefsten Empfindung. Dann klingelte er. „Sagen Sie meiner Schwester, daß Herr Turlington hier sei. - Lavinia“, fuhr er, wieder zu Richard gewandt, fort, „ist darin wie ich; sie hat sich um deinetwillen sehr geängstigt. Wir haben beide eine schlaflose Nacht verbracht.“

Fräulein Lavinia trat ein. Sir Joseph trat ihr rasch entgegen und ergriff ihre beiden Hände. „Liebe Schwester! Eine vortreffliche Nachricht: Richard hat keinen Heller verloren.“

Jetzt erhob auch Fräulein Lavinia ihre Blicke mit dem Ausdruck inniger Andacht zur Zimmerdecke und sagte in einem Tone, der das etwas verspätete Echo der Stimme ihres Bruders zu sein schien: „Gott sei Dank, Richard!“

Nun tat Turlington die Frage, wie der eigentliche Zweck seines Besuchs in der Villa war: „Hast du mit Natalie gesprochen?“

„Heute morgen“, erwiderte Sir Joseph. „Nach dem Frühstück bot sich eine Gelegenheit dar, lieber Richard, die ich mir – du sollst gleich hören wie – zu Nutzen gemacht habe.“

Er rückte sich auf seinem Stuhle zurecht, wie er es vor der Erzählung einer seiner endlosen Geschichten zu tun pflegte. Er fing an, hielt aber sofort wieder inne; schon nach dem ersten Wort mußte er wieder verstummen – seine Schwester stand ihm dieses Mal nicht zur Seite, brachte ihn vielmehr sofort zum Schweigen. Da die Geschichte sich dieses Mal um die Frage des Heiratens drehte, hatte Fräulein Lavinia ein speziell weibliches Interesse daran, dem Gegenstand volle Gerechtigkeit widerfahren zu sehen, und bemächtigte sich daher der Erzählung ihres Bruders als einer ihr gehörigen Domäne.

„Joseph“, fing sie, gegen Turlington gewandt, an, „hätte Ihnen sagen sollen, daß unser liebes Mädchen diesen Morgen ungewöhnlich niedergeschlagen war, gerade in der richtigen Stimmung für eine kleine ernstliche Unterhaltung über ihr künftiges Leben. Das arme Kind nahm beim Frühstück nichts zu sich, als ein Stückchen trockenen, gerösteten Brotes -“

„Und Marmelade“, ergänzte Sir Joseph, der die erste sich darbietende Gelegenheit, einzufallen, nicht unbenutzt vorübergehen lassen wollte. Da es dieses Mal Fräulein Lavinias Geschichte war, so fielen die höflichen Berichtigungen, welche für den erfolgreichen Fortgang der Erzählung unerläßlich waren, natürlich nicht der Schwester, sondern dem Bruder zu.

„Nein“, erwiderte Fräulein Lavinia sanft, „wenn du durchaus darauf bestehst: es war Gelée.“

„Ich bitte um Vergebung“, beharrte Sir Joseph, „Marmelade.“

„Was kommt darauf an, lieber Bruder?“

„Liebe Schwester! Der verstorbene große, vortreffliche Doktor Johnson pflegte zu sagen, man müsse sich auch bei den geringfügigsten Dingen der größten Genauigkeit befleißigen.“

„Du mußt immer deinen Willen haben, Joseph“ - das war die, Sir Josephs: „Lassen wir den Punkt auf sich beruhen!“ entsprechende Formel, deren sich Fräulein Lavinia als eines Mittels bediente, ihren Bruder zu versöhnen und einen frischen Anlauf für ihre Geschichte zu gewinnen. - „Nun, wir nahmen das gute Kind, unsere liebe Natalie, nach dem Frühstück zwischen uns auf einem kleinen Spaziergange in dem garten. Mein Bruder eröffnete die Unterhaltung mit außerordentlicher Delikatesse und feinem Takt. ‚Umstände‘, sagte er, ‚auf welche näher einzugehen augenblicklich nicht nötig sei, machten es äußerst wünschenswert für sie, sich trotz ihrer Jugend mit dem Gedanken an ihre Zukunft zu beschäftigen.‘ Und dann, Richard, ging er so hübsch auf Ihre treue und ergebene Zuneigung über -“

„Ich bitte um Vergebung, Lavinia, ich begann mit Richards Zuneigung und ging dann auf ihre Zukunft über.“

„Ich bitte um Vergebung, lieber Joseph. Du behandeltest die Sache viel delikater, als du selbst zu glauben scheinst. Du zogst Richard nicht auf diese Art bei den Haaren herbei.“

„Lavinia, ich begann mit Richard.“

„Joseph, dein Gedächtnis täuscht dich.“

Turlingtons Ungeduld durchbrach alle Schranken. „Wie endigte die Sache?“ fragte er. „Hast du ihr proponiert, unsere Heirat in der ersten Woche des neuen Jahres stattfinden zu lassen?“

„Ja“, sagte Fräulein Lavinia.

„Nein“, sagte Sir Joseph.

Die Schwester sah den Bruder mit dem Ausdruck zärtlicher Überraschung an. Der Bruder sah die Schwester mit dem Ausdruck eines freundlichen Widerspruchs an, der die Gestalt einer leichten Verbeugung annahm.

„Willst du es wirklich in Abrede stellen, Joseph, daß du Natalie erklärtest, wir hätten die erste Woche des neuen Jahres bestimmt?“

„Ich muß es in Abrede stellen, daß ich vom neuen Jahre gesprochen habe, Lavinia. Ich sagte: anfangs Januar.“

„Du mußt immer deinen Willen haben, Joseph!.... Wir gingen gerade auf dem Gebüschwege spazieren. Ich hatte unser liebes Mädchen unter dem Arme und ich fühlte diesen Arm zittern. Plötzlich stand sie still. ‚O‘, sagte sie, ‚nicht so bald.‘ - Ich sagte: ‚Liebes Kind, denke an Richard!‘ - Sie wandte sich an ihren Vater und sagte: ‚Laß es nicht so bald sein, Papa, nicht so bald! Ich achte Richard, ich habe ihn als deinen treuen Freund gern, aber ich liebe ihn nicht, wie ich ihn lieben müßte, wenn ich sein Weib werden soll.‘ - Stellen Sie sich vor, daß das Mädchen solche Reden führte! Was weiß sie davon! Natürlich lachten wir beide-“

„Du lachtest, Lavinia.“

„Du lachtest, Joseph.“

„In des Kuckucks Namen, fahren Sie doch fort!“ rief Turlington, indem er mit der Hand heftig auf den Tisch schlug. „Ihr werdet mich mit eurem ewigen Widersprechen noch rasend machen. Gab sie nach oder nicht?“

Fräulein Lavinia wandte sich an ihren Bruder: „Mit unserem ewigen Widersprechen, Joseph?“ rief sie, indem sie die Hände mit dem Ausdruck entrüsteten Staunens erhob.

„Mit unserem ewigen Widersprechen?“ wiederholte Sir Joseph mit dem gleichen Ausdruck des Staunens. „Lieber Richard, was fällt dir ein? Ich widerspreche meiner Schwester? Wir sind noch nie im Leben verschiedener Ansicht gewesen.“

Ich widerspreche meinem Bruder? Wir haben seit unserer Kindheit nie einen Wortwechsel miteinander gehabt.“

Turlington verwünschte innerlich sein reizbares Temperament. „Ich bitte euch beide um Verzeihung“, sagte er, „ich wußte nicht, was ich redete. Ihr müßt Nachsicht mit mir haben. Meine ganze Hoffnung für das Leben ruhet auf Natalie. Und Sie haben mir eben mit ihren eigenen Worten gesagt, Fräulein Lavinia, daß sie mich nicht liebt. Ich bin überzeugt, Sie wollten mich nicht kränken, aber Sie haben mir damit ins Herz geschnitten.“

Dieses Bekenntnis und der Blick, der seine Worte begleitete, weckten die innigste Teilnahme der beiden alten Leute. Sie kamen stillschweigend überein, nicht weiter über die Unterhaltung mit Natalie zu berichten, und wetteiferten miteinander in Worten des Trostes, welche ihrem lieben Richard seine ängstliche Besorgnis nehmen sollten. Wie wenig kenne er junge Mädchen. Wie er so töricht sein könne, dem, was Natalie gesagt habe, eine ernste Bedeutung beizulegen. Als ob ein so junges, kaum erwachsenes Wesen ihr eigenes Herz kenne? Proteste und flehende Bitten seien ja Dinge, die sich in solchen Fällen von selbst verständen. Selbst auf Tränen müsse man bei einem wohlerzogenen Mädchen als selbstverständlich rechnen. Geendet habe die Sache so, wie Richard es nur hätte wünschen können. Sir Joseph habe gesagt: „Liebes Kind, du mußt dich hier auf unsere Erfahrung verlassen, die Liebe wird schon kommen, wenn du nur erst verheiratet bist.“ - Und Fräulein Lavinia habe hinzugefügt: „Liebe Natalie, wenn du dich deiner lieben Mutter erinnern könntest, wie ich mich ihrer erinnere, so würdest du wissen, daß du dich auf die Erfahrungen deines Vaters verlassen kannst.“ - In dieser Weise hätten sie ihr die Sache vorgestellt und darauf habe sie den Kopf hängen lassen und habe ihre Einwilligung – wie man das von der jungfräulichen Bescheidenheit nicht anders erwarten dürfe – schweigend zu erkennen gegeben. Es sei festgesetzt worden, daß die Hochzeit an einem Tage der ersten Woche des neuen Jahres stattfinden solle.

So betrachtete die gewöhnliche Unkenntnis der menschlichen Natur und der gewöhnliche Glaube an die Macht der Konvenienz mit selbstgefälligem Behagen, wie abermals ein Opfer an den alles verschlingenden Altar der Ehe geschleppt wurde. So gaben Sir Joseph und seine Schwester Launcelot Linzie gerade das Argument an die Hand, dessen er bedurfte, um Natalie zu überzeugen: „Du mußt zwischen zwei Dingen wählen: Entweder ihn heiraten und dich für dein ganzes Leben unglücklich machen, oder mich heiraten und dich glücklich machen.“

„Wann werde ich sie sehen?“ fragte Turlington, dessen eine Hand Fräulein Lavinia, mit Tränen in den Augen, in der ihrigen hielt, während Sir Joseph, gleichfalls mit Tränen in den Augen, seine andere Hand ergriffen hatte.

„Sie wird zu Tische wieder zu Hause sein, lieber Richard, bleibe hier und iß mit uns.“

„Danke, ich muß erst wieder in die Stadt; ich will aber bis sechs Uhr zu Tisch wieder herauskommen.“

Mit dieser Abrede verließ er sie.

Eine Stunde später traf ein Telegramm von Natalie ein. Sie habe sich überreden lassen, bei der Tante zu Tische zu bleiben und dort zu übernachten, und werde daher erst am nächsten Morgen wieder nach Hause kommen.

Ihr Vater gab dem Boten sofort eine telegraphische Rückantwort des Inhalts mit: sie solle noch heute zu Tische um sechs Uhr, wo Richard Turlington erwartet werde, zurückkehren.

„Das ist recht, Joseph“, sagte Fräulein Lavinia, die ihrem Bruder, während er das Telegramm niederschrieb, über die Schultern sah.

„Sie scheint Lust zu haben, Richard gegenüber die Kokette zu spielen“, erwiderte Sir Joseph mit der Miene eines Mannes, der die tiefsten Tiefen des weiblichen Herzens ergründet hat. „Mein Telegramm wird seine Wirkung tun, Lavinia.“

Darin hatte Sir Joseph ganz recht. Sein Telegramm tat seine Wirkung. Es brachte nicht nur seine Tochter zu Tische zurück, sondern es führte noch etwas ganz anderes herbei, das sein prophetischer Blick freilich durchaus nicht vorausgesehen hatte. Das Rücktelegramm erreichte seine Adresse um vier Uhr nachmittags, folgen wir ihm dahin.



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Kapitel 5

Das Gesetz über Entführungen



Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags, wo die Damen des Westends in ihren Wagen spazieren fahren und die Herren in den Klubs sind, gibt es in London wenige Plätze, die sich zu einem vertraulichen Gespräch besser eignen, als der eingehegte, einsame Garten eines Gutsbesitzers.

An demselben Tage, wo Richard Turlington seinen Besuch in der Villa machte, öffneten zwei Damen, die über ein Geheimnis miteinander zu verhandeln hatten, das Gitter des Gartens von Berkeley-Square. Nachdem sie den Garten betreten hatten, zogen sie das Gitter sorgfältig wieder an, hüteten sich aber wohl, dasselbe ins Schloß fallen zu lassen und beschränkten ihren Spaziergang auf die Westseite des Gartens. Eine dieser Damen war Natalie Graybrooke. Die andere war Frau Sancrofts älteste Tochter. An diese junge Dame hatte sich in der Gesellschaft vorübergehend ein gewisses Interesse geknüpft, denn sie war kürzlich die zweite Frau Lord Winwoods geworden und hatte damit nicht nur die Würde einer Lady, sondern auch die einer Stiefmutter von drei unverheirateten Töchtern ihres Gatten, die sämtlich älter als sie selbst waren, erlangt. Ihrer äußeren Erscheinung nach war Lady Winwood klein und blond; von Charakter war sie entschlossen und ungestüm, der schärfste Gegensatz zu Natalien, und eben deshalb ihre Busenfreundin.

„Liebes Kind“, sagte die Lady, „eine Heirat aus äußern Gründen in der Familie ist ganz genug. Ich habe mir fest vorgenommen, daß du den Mann, den du liebst, heiraten sollst. Sage mir nicht, daß dir der Mut fehlt, die Sache durchzuführen – das ist eine verächtliche Entschuldigung, die ich nicht annehme. Natalie, die Männer haben ein Wort, das ganz auf deinen Charakter paßt: ‚Es fehlt dir an Mark.‘.“

Natalie hätte, wenn sie ordentlich Atem geholt und sich tief genug gebückt hätte, das kleine, lustige, blondhaarige Wesen über das Gartengitter blasen können. Aber wer ist je einem hochgewachsenen Frauenzimmer begegnet, die ihren eigenen Willen gehabt hätte? Nataliens prächtige, schwarze Augen blickten aus ihrer Höhe mit dem Ausdruck demütiger Aufmerksamkeit sanft hernieder.

„Du tändelst mit Herrn Linzie, liebes Kind. Herr Linzie ist ein lieber Mensch. Ich habe ihn gern. Ich will das nicht haben.“

Louise!“

„Herr Turlington hat nichts, was ihn empfehlen könnte. Er ist kein wohlerzogener alter Gentleman von hohem Rang. Er ist nur eine rohe Bestie, die zufällig Geld verdient hat. Du sollst Herrn Turlington nicht heiraten, und du sollst Herrn Launcelot Linzie heiraten.“

„Willst du mich anhören, Louise?“

„Ich will deine Antwort hören, weiter nichts. Bist du nicht diesen Morgen weinend zu mir gekommen? Hast du nicht gesagt: ‚Louise, sie haben das Urteil über mich gesprochen! Ich soll mich in der ersten Woche des neuen Jahres verheiraten. Um Gottes willen, hilf mir aus der Sache!‘ Das alles, und noch mehr hast du gesagt. Und was habe ich getan, nachdem ich deine Geschichte gehört hatte?“

„O, du warst so gütig -“

„Gütig ist ein sehr ungenügender Ausdruck. Ich habe deinetwegen Verbrechen begangen! Ich habe meinen Mann und meine Mutter betrogen. Um deinetwillen habe ich Mama vermocht, Herrn Linzie als meinen Freund zum Frühstück einzuladen; um deinetwillen habe ich meinen Gatten vor noch nicht einer Stunde in seinen Klub verbannt. Du abscheuliches Mädchen! Wer hat eine vertrauliche Zusammenkunft in der Bibliothek für dich ermöglicht? Wer hat Herrn Linzie zu seinem juristischen Freunde geschickt, um sich über die Erfordernisse einer heimlichen Heirat zu unterrichten? Wer hat dir geraten, nach Hause zu telegraphieren und die Nacht hier zu bleiben? Wer hat die Verabredung getroffen, daß der junge Mann dich in zehn Minuten hier an diesem langweiligen Platze treffen soll? - das alles habe ich in deinem Interesse für dich getan! Alles, um dich zu verhindern, zu tun, was ich getan habe: deiner Familie, anstatt dir selbst zu Gefallen zu heiraten. Nicht, daß ich mich über Lord Winwood oder seine Töchter beklagte. Er ist äußerst liebenswürdig und seine Töchter werde ich im Laufe der Zeit zähmen. Mit dir ist es etwas anderes, und Herr Turlington ist, wie ich schon vorhin bemerkte, eine Bestie. Nun gut! Was bist du mir nun dafür schuldig? - Du bist dafür mindestens schuldig, zu wissen, was du willst, und das weißt du nicht. Du erklärst mir ganz kühl, daß du schließlich doch nicht wagst, die Gefahr zu laufen und daß du dich nach reiflicher Überlegung nicht entschließen kannst, die Folgen über dich ergehen zu lassen. Ich will dir etwas sagen. Du bist den lieben Jungen gar nicht wert. Du bist ein Milch- und Wasserfräulein. Ich glaube nicht mehr, daß du ihn liebst.“

„Ich ihn nicht lieben...“ Natalie stand still und faltete ihre Hände, unfähig, ihren Gefühlen Worte zu leihen. In demselben Augenblicke traf der Klang eines sich schließenden Gitters ihr Ohr. Sie blickte um sich. Launce war noch vor der verabredeten Zeit erschienen. Raschen Schrittes näherte er sich ihnen.

„Nun, wie steht es mit den Gesetzen über heimliche Ehen?“ fragte Lady Winwood, als er an sie herangetreten war. „Kommen Sie, Herr Linzie, wir wollen uns dazu setzen.“

Sie ging nach einer der im Garten stehenden Bänke voran und ließ Launce zwischen sich uind Natalie sitzen. „Nun, Sie Hauptverschwörer, haben Sie die Erlaubnis erhalten? Nein? Kostet es zuviel? Kann ich Ihnen das Geld leihen?“

„Es kostet in meinem Falle – einen Meineid, Lady Winwood“, erwiderte Launce. „Natalie ist noch nicht mündig. Ich kann die Erlaubnis nur erhalten, wenn ich beschwöre, daß ich sie mit Erlaubnis ihres Vaters heirate.“ Dabei wandte er sich mit einem kläglichen Gesicht an Natalie. „Das konnte ich doch nicht gut tun; nicht wahr?“ sagte er mit dem Tone eines Menschen, der sich gedrungen fühlt, sich zu entschuldigen. Natalie schauderte. Lady Winwood zuckte mit den Achseln.

„Eine Frau an Ihrer Stelle würde nicht gezögert haben“, bemerkte sie. „Aber ihr Männer seid so selbstsüchtig! - Nun, ich denke, es wird doch noch einen andern Weg geben?“

„Ja, es gibt einen anderen Weg“, erwiderte Launce. „Aber es knüpft sich eine schreckliche Bedingung an denselben.“

„Etwas noch schlimmeres als ein Meineid, Herr Linzie – etwa ein Mord?“

„Ich will es Ihnen gleich sagen, Lady Winwood. Erst kommt die Heirat, dann die Bedingung. Es gibt nur eine Möglichkeit für uns. Wir müssen und aufbieten lassen.“

„Aufbieten?“ rief Natalie, „das heißt sich öffentlich in der Kirche aufrufen lassen?“

„Ihr braucht euch ja nicht in eurer Kirche aufrufen zu lassen, du Gänschen“, entgegnete Lady Winwood. „Und wenn ihr das auch müßtet, so würde doch – darauf kannst du dich verlassen – nach der Art, wie die englischen Geistlichen bei solchen Gelegenheiten die Namen aussprechen, kein Mensch etwas davon erfahren.“

„Das sagt mein Freund auch“, rief Launce. „Er rät mir, in der Nähe einer großen Kirche, in einer entfernten Gegend Londons eine Wohnung zu nehmen, dann zum Clerk zu gehen, ihm zu sagen, daß ich aufgeboten zu werden wünsche und zu erklären, daß ich zu dem dortigen Kirchspiel gehöre. ‚Was die Dame betrifft‘, bemerkte er weiter, ‚so würde ich die Sache vereinfachen: Ich würde erklären, daß sie auch zum Kirchspiel gehöre. Geben Sie Ihre Adresse auf und lassen Sie in der gemieteten Wohnung sich jemand aufhalten, der auf Fragen Auskunft geben kann. Was kann der Clerk von Ihren Verhältnissen wissen? - Er wird sich schwerlich viel darum quälen; seine Gebühren betragen achtzehn Pence. Der Clerk rechnet auf das, was er nach der Heirat von Ihnen bekommt. Dasselbe gilt für den Pfarrer. Er legt das Stück Papier, auf dem Ihr Name steht, mit Dutzenden anderer solcher Stücke Papier zusammen und verliest sie alle zusammen in einem unartikulierten Gemurmel von der Kanzel herab. Wenn die Zeit gekommen ist, treten Sie zugleich mit Schultze und Müller, mit Schmidt und Maier, mit Hinz und Kunz vor den Altar. Alles, was Sie dann zu tun haben, ist, sich in Acht zu nehmen, daß Ihre Braut nicht Schultzen und Sie nicht aus Versehen Müllers Braut zugesprochen werden, - und so werden Sie nach vorgängigem Aufgebote getraut.‘ - Das ist der Rat meines Freundes mit seinen eigenen Worten.“

Natalie seufzte und rang die Hände in ihrem Schoß. „Das werden wir nie glücklich durchführen“, rief sie verzweifelt aus.

Lady Winwood faßte die Sache heiterer auf. „Ich sehe bis jetzt nichts Furchtbares in der Sache, aber laß uns erst das Ende hören. Sie sprachen vorhin von einer Bedingung, Herr Linzie?“

„Ich wollte Ihnen eben die Bedingung nennen, Lady Winwood. Sie nehmen natürlich an, wie ich es auch getan habe, daß ich mich nach der Hochzeit mit Natalien in einen Fiaker setzen und direkt von der Kirche mit ihr entlaufen kann.“

„Gewiß. Und ich werfe euch als Glückwunsch einen alten Schuh nach und gehe nach Hause.“

Launce schüttelte bedenklich den Kopf. „Natalie muß so gut, wie Sie, erst wieder nach Hause zurückkehren.“

Lady Winwood fuhr erschreckt zusammen. „Ist das die Bedingung, von der Sie eben sprachen?“ fragte sie.

„Das ist die Bedingung. Ich kann sie heiraten, ohne daß irgendetwas Schlimmes daraus entsteht. Wenn ich aber nach der Heirat mit ihr davonlaufe, und wenn Sie dabei sind und mir helfen und Vorschub leisten, so machen wir uns einer Entführung schuldig, und es kann uns begegnen, daß wir zusammen vor den Schranken des Strafgerichts stehen und und dafür verantworten müssen.“

Natalie sprang entsetzt auf. Lady Winwood drohte ihr mit dem Finger, zum Zeichen, daß sie Launce zu Ende reden lassen solle.

„Natalie“, fuhr dieser fort, „ist noch nicht sechzehn Jahre alt. Sie muß von der Kirche direkt nach ihres Vaters Hause zurückkehren und ich muß – ihren nächsten Geburtstag abwarten, ehe ich mit ihr davonlaufen kann. Mit vollendetem sechzehnten Jahre kann sie sich entführen lassen, aber nicht eine Stunde früher. Da haben Sie, was das Gesetz über Entführungen bestimmt. Ich nenne das: Despotismus in einem freien Lande.“

Natalie setzte sich erleichtert wieder nieder.

„Ich finde das Gesetz sehr tröstlich“, sagte sie; „es zwingt einen doch nicht zu dem furchtbaren Schritt, sogleich davon zu laufen. Es gibt einem Zeit, zu überlegen und Pläne zu machen und seine Entschlüsse reifen zu lassen. Das kann ich dir sagen, Launce, wenn mich etwas dazu bringen kann, dich heimlich zu heiraten, so ist es einzig und allein das Gesetz über Entführungen. Du solltest dem Gesetz dankbar sein, anstatt darauf zu schelten.“

Launce hörte ihr zu, ohne ihrer Meinung beipflichten zu können.

„Eine angenehme Aussicht“, sagte er, „sich nach der Trauung von seiner Frau trennen und sie behandeln zu müssen, wie eine mit einem anderen Herrn verlobte junge Dame.“

„Ist es angenehmer für mich“, entgegnete Natalie, „mir, während ich deine Frau bin, die ganze Zeit von Richard Turlington die Cour machen zu lassen? Ach, das halte ich nicht aus! Ich wollte, ich wäre tot!“

„Komm, komm!“ sagte Lady Winwood beschwichtigend. „Wir müssen jetzt erst miteinander reden. Nataliens Geburtstag ist am nächsten Weihnachtstag, Herr Linzie. Da wird sie sechzehn Jahre alt.“

„Um sieben Uhr morgens“, bemerkte Launce; „das weiß ich von Sir Joseph. Eine Minute nach sieben Uhr, nach Greenwicher Zeit, können wir uns auf und davon machen. Das weiß ich von dem Advokaten.“

„Und es ist doch keine Ewigkeit, von jetzt bis zum Weihnachtstag zu warten! Inzwischen fragt es sich nur, ob Sie die Hindernisse, die der Heirat im Wege stehen, überwinden können oder nicht.“

„Ich habe alles in Ordnung gebracht“, erwiderte Launce zuversichtlich. „Da ist keine Schwierigkeit mehr.“

Er wandte sich zu Natalien, die ihm mit Erstaunen zuhörte, und erklärte sich näher. Es sei ihm eingefallen, daß er – natürlich mit der Börse in der Hand – vielleicht nicht erfolglos, an das von der Stewardeß der Yacht kundgegebene Interesse in seiner Liebesangelegenheit appellieren könne. Diese vortreffliche Frau habe sich denn auch willig finden lassen, alles, was in ihrer Macht stehe, zu tun, um ihm zu helfen. Ihr Mann habe für sich und sie Stellen am Bord an einer anderen Yacht gefunden und beide seien mit Vergnügen bereit, sich bei irgendeiner Verschwörung zu beteiligen, deren Opfer ihr früherer unbarmherziger Herr zu werden bestimmt sei. So oft sie am Lande seien, wohnten sie in einem volkreichen Londoner Kirchspiel, das von der fashionablen Gegend, in welcher Berkeley Square lag, weit entfernt und von der respektablen Vorstadt Muswell Hill noch weiter entfernt sei. In dem Hause, wo sie wohnten, könne zum Schein ein Zimmer für Natalien als angebliche Nichte der Stewardeß gemietet werden, und die Stewardeß erkläre sich bereit, auf jede etwa von den Kirchenbehörden erfolgende, rein formelle Anfrage Auskunft zu geben und bei der Trauung zugegen zu sein. Er selbst, Launce, würde nicht nur zum Schein, sondern wirklich, ganz i der Nähe dieses Hauses Wohnung nehmen, und über ihn werde der Steward, falls es erforderlich werden solle, Auskunft geben. Natalie könne ja unter der Aegide Lady Winwoods gelegentlich einmal in ihrer Kirchspielswohnung vorsprechen. Kurz, die Verschwörung war bis in alle Einzelheiten vorbereitet. Es bedrufte jetzt nur noch der Einwilligung Nataliens, nach deren Erlangung Launce sich am nächsten Tage nach der betreffenden Kirche begeben und die nötige Meldung in Betreff des Aufgebots machen würde.

Lady Winwood fand den Plan vortrefflich.

Natalie erklärte sich nicht so leicht für befriedigt.

„Mein Vater ist immer so gut gegen mich gewesen“, sagte sie. „Das einzige, über das ich nicht wegkommen kann, Launce, ist Papa betrüben zu müssen. Wenn er hart gegen mich gewesen wäre, wie es manche Väter sind, würde ich kein Bedenken haben.“ Plötzlich erheiterte sich ihr Gesicht, wie wenn ihr ihre Lage in einem neuen Lichte erschiene. „Warum drängst du mich so?“ fragte sie. „Ich esse ja in der Stadt bei meiner Tante und du kommst abends dahin. Laß mir Zeit! Warte bis heute abend!“

Launce legte sofort Protest gegen die Zumutung ein, noch einen Augenblick länger zu warten. Lady Winwood wollte eben das Wort ergreifen, um ihn zu unterstützen, aber beide wurden in demselben Augenblick durch das Erscheinen eines der Diener Frau Sancrofts, der eben das Gitter des Squares öffnete, zum Schweigen gebracht. Lady Winwood ging dem Diener entgegen. Es stieg ein Verdacht in ihr auf, er möge schlimme Nachrichten bringen.

„Was wollen Sie?“ fragte sie.

„Ich bitte um Vergebung, Mylady; die Haushälterin sagte, Sie gingen hier mit Fräulein Graybrooke spazieren. Ich habe ein Telegramm für Fräulein Graybrooke.“

Lady Winwood nahm dem Diener das Telegramm ab, entließ ihn und kehrte zu Natalien zurück. Natalie öffnete das Telegramm in nervöser Aufregung, las die Botschaft und wechselte auf der Stelle die Farbe; ihre Wangen überflog ein tiefes Rot; ihre Augen funkelten vor Entrüstung.

„Also auch Papa kann, scheint es, hart gegen mich sein, wenn Richard ihn darum bittet!“ rief sie. Sie reichte Launce das Telegramm. Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. „Du liebst mich“, sagte sie sanft und hielt dann wieder inne. „Heirate mich! Ich will es wagen!“ fügte sie in einem plötzlichen Ausbruch von Entschlossenheit hinzu.

Während sie das sagte, schlang Launce seinen Arm um ihren Hals; Lady Winwood ließ sich auf die benachbarte Bank nieder und beschäftigte sich damit, das Telegramm zu lesen. Es lautete wie folgt:

„Natalie Graybrooke, Berkely Square, London. Komm sofort nach Haus. Du mußt hier mit Richard Turlington um sechs Uhr zu Mittag essen. Joseph Graybrooke.“



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Kapitel 6

Eine seltsame Hochzeit



Es war Anfang November, der Nordwind strich mir recht scharfem Hauch durch die Straßen der Hauptstadt und wirbelte den feinen, körnigen Schnee in luftigem Tanze dahin. Über Flüsse und Seen schlug das Eis seine schimmernden Brücken: die Städter hatten ihre dicken Pelze hervorgesucht, um sich gegen die Unbill der Witterung zu schützen. Nach dem langen zweifelhaften Wetter, wie es der Übergang von einer Jahreszeit zur anderen mit sich bringt, war in der letzten Nacht zum ersten Mal ein entschiedener, ja grimmiger Frost eingetreten und hatte den Winter in seiner ganzen Härte gebracht. Dichte Wolken bedeckten den Himmel und obschon es bereits gegen zehn Uhr vormittags war, so lag es in den Straßen Londons doch noch wie trübe, farblose Dämmerung; es schien nicht Tag werden zu wollen.

Wir schlagen den Weg nach einem armen, aber sehr volkreichen Kirchspiel Londons ein; es gehört nicht zu denen, die besonderer Merkwürdigkeiten wegen von Fremden besucht werden, es ist im Gegenteil selbst Manchem, der in der Riesenstadt geboren worden, eine unbekannte Gegend. Hart am Ufer der Themse liegt dort eine Kirche.

Wir treten ohne Zögern hinein.

Ein aus fünf Personen bestehender Trauzug nähert sich gerade dem Altar. Der Bräutigam sieht bleich aus und die Braut scheint etwas ängstlich zu sein. Die Freundin der Braut, eine entschlossen aussehende kleine Dame, flüstert ihr Ermunterungen zu. Die beiden respektablen Personen, offenbar Mann und Frau, welche den Zug beschließen, mögen über ihre Stellung bei der Zeremonie sich nicht ganz klar sein; sie sehen gleichfalls etwas verlegen aus.

Dem Küster fiel auch, während er das Paar mit seinen Zeugen um den Altar aufstellte, an denselben etwas auf. In der Regel gehörten die hier geschlossenen Ehen den unteren Klassen der Gesellschaft an. War dies hier ein davongelaufenes Paar? Schon das dem Küster verabreichte Trinkgeld war ungewöhnlich reich.

Jetzt erschien der Geistliche, der jüngere Pfarrer des Kirchspiels, von der Sakristei her in vollem Ornat. Zugleich nahm der Clerk seinen Platz ein. Die Blicke des Geistlichen hefteten sich plötzlich mit dem Ausdruck eines neugierigen Interesses auf Braut und Bräutigam und auf die Freundin der Braut. Ihm fiel die Abwesenheit älterer Verwandten auf; er bemerkte namentlich an den beiden Damen Zeichen einer höheren gesellschaftlichen Stellung und Bildung, die ihm sonst bei den Paaren und Freundinnen der Bräute, die in dieser Kirche an den Altar traten, nie vorkamen. Er warf dem Clerk, der die Fremden gleichfalls mit Interesse beobachtete, einen raschen, fragenden Blick zu. „Jenkinson“, fragte der Blick des Geistlichen, „ist das hier in Ordnung?“ In dem Blick des Clerks lag die Antwort: „Herr Pfarrer, eine Heirat mittelst Aufgebot, bei der alle nötigen Formalitäten beobachtet sind...“ Der Geistliche öffnete sein Buch. Die Formalitäten waren beobachtet; seine Pflicht war ihm deutlich vorgezeichnet. Sei aufmerksam, Launce! Mut, Natalie! Die Trauungszeremonie beginnt.

Launce warf einen letzten verstohlenen Blick in die Kirche. Wie, wenn Sir Joseph Graybrooke plötzlich aus einem der Kirchenstühle auftauchte und der Zeremonie Einhalt tat?... Oder wenn vielleicht Richard Turlington oben auf der Orgel lauerte und nur wartete, bis die betreffenden Worte ihn aufforderten, gegen die Heirat Einspruch zu erheben oder aber von Stund an zu schweigen? - Nein. Der Geistliche konnte die Zeremonie vornehmen, ohne durch einen Vorfall gestört zu werden. Nataliens reizendes Gesicht wurde bleicher und bleicher; ihr Herz schlug rascher und rascher, je näher der Augenblick der Verlesung der Worte rückte, die sie fürs Leben vereinigen sollten. Selbst Lady Winwood konnte sich einer ungewöhnlichen Aufregung nicht erwehren. Die Zeremonie erweckte bei ihr nicht die angenehmsten Erinnerungen an ihre eigene Heirat: „Woran habe ich gedacht, als ich hier stand? An mein schönes Brautkleid, und an meine bevorstehende Präsentation bei Hofe!“ -

Die Zeremonie war bei den Worten angelangt, bei welchen das Brautpaar sich Treue zu geloben hat. Launce steckte den Ring an Nataliens Finger und sprach dem Geistlichen die entscheidenden Worte nach – das Band war geschlossen, sie waren verheiratet, in aller kirchlichen Form verheiratet. Es war geschehen – mochte daraus entstehen, was da wollte.

Die Zeremonie war zu Ende. Das junge Ehepaar begab sich nebst seinen Zeugen in die Sakristei, um ihre Namen einzutragen. Diese Eintragung war so gut, wie die Trauung, eine ernsthafte Sache. Hier war kein Abweichen von der Wahrheit möglich. Als die Reihe an Lady Winwood kam, mußte sie ihren Namen niederschreiben. Sie tat es, aber dieses Mal ohne ihre gewohnte Leichtigkeit und Entschlossenheit. Ihr Taschentuch entsank ihrer Hand. Der Clerk hob es ihr auf und bemerkte die in eine Ecke desselben gestickte Krone...

Die Gebühren wurden bezahlt. Das junge Paar und die Zeugen verließen die Sakristei.

Andere Paare pflegen, wenn die Zeremonie vorüber ist, glücklich und gesprächig zu sein. Unser Paar war schweigsamer und verlegener als je. Noch auffallender war, daß, während andere Paare mit Verwandten und Freunden aufzubrechen pflegen, um den Tag in geselliger Vereinigung festlich zu begehen, unser Paar und seine Freunde sich an der Kirchentür voneinander trennten. Der respektable Mann und seine Frau gingen zu Fuß ihres Weges. Die kleine Dame mit der Krone in ihrem Taschentuche setzte die junge Frau in einen Fiaker, stieg zu ihr ein und hieß den Kutscher die Wagentür schließen, während der junge Ehemann noch auf den Stufen der Kirchentreppe stand. Er sah finster aus, wie es wohl nicht anders sein konnte. Er steckte seinen Kopf durch das Wagenfenster, ergriff die Hand seiner Frau und flüsterte ihr etwas zu, augenscheinlich entschlossen, noch nicht zu weichen. Die kleine Dame aber machte ihre Autorität geltend; sie trennte die verbundenen Hände, schob den Kopf des jungen Ehemanns zum Wagenfenster hinaus und rief dem Kutscher in gebietendem Tone zu, wegzufahren. Der Fiaker setzte sich in Bewegung und rollte in dem Morgennebel weiter; der verlassene Ehemann ging traurig seines Weges durch die Straße. Der Clerk, der das alles mit angesehen hatte, kehrte in die Sakristei zurück und berichtete dem Geistlichen das Vorgefallene.

Der Hauptpfarrer der Kirche, der im Vorübergehen, mit seiner Frau am Arme, eben eines Geschäftes wegen in die Sakristei getreten war, unterhielt sich mit dem jüngeren Pfarrer über die sonderbare Heirat. Es mußte ihm sehr daran gelegen sein, sich zu vergewissern, daß kein Makel auf die Kirche falle, er erkundigte sich daher genau und fand die ihm gegebene Auskunft befriedigend. Die Frau des Hauptpfarrers war aber nicht so leicht abzufinden. Sie hatte sich die eingetragenen Namen angesehen und gefunden, daß einer derselben ihr wohlbekannt sei. Sobald ihr Gatte mit dem Clerk fertig war, fing sie an, ihn ihrerseits zu befragen. Als sie von der Krone auf dem Taschentuche hörte, deutete sie auf die Unterschrift Louisa Winwood und sagte zu ihrem Mann:

„Ich weiß, wer das ist. Es ist Lord Winwoods zweite Frau. Ich bin mit Lord Winwoods Töchtern erster Ehe zusammen in die Schule gegangen, und treffe sie bisweilen in dem Damenkomitée der geistlichen Konzerte; ich werde schon eine Gelegenheit finden, dort mit ihnen zu reden. Einen Augenblick, Herr Jenkinson, ich möchte mir die Namen notieren, ehe Sie das Buch fortlegen: Launcelot Linzie, Natalie Graybrooke. Sehr hübsche Namen, ganz romantisch. Ich schwärme für romantische Geschichten. Leben Sie wohl.“

Mit einem freundlichen Lächeln für den jungen Pfarrer und einem Kopfnicken für den Clerk verließ sie die Sakristei.

Natalie, die in Lady Winwoods Gesellschaft schweigend nach Muswell Hill zurückkehrte und Launce, der das Gesetz über Entführungen verwünschte, während er durch die Straßen streifte, hatten beide keine Ahnung davon, daß der Boden unter ihren Füßen bereits untergraben sei. In Folge der von der Pfarrerin erlangten Kunde konnte Richard Turlington jeden Augenblick von der Heirat hören. Die Entdeckung derselben hing lediglich von einem zufälligen Zusammentreffen der Töchter Lord Winwoods und der Frau des Pfarrers ab. Es war ein gefährliches Spiel, das da gespielt wurde – aber es mußte zu Ende geführt werden!



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Kapitel 7

Die Abendgesellschaft



„Liebste Natalie,

Da die Bestie – verzeihe das Wort, aber ich finde für den Menschen kein zahmeres – darauf besteht, bei mir eingeladen zu werden, so schicke ich Dir hiermit eine Karte für sie. Sei aber unbesorgt, mein Kind, Du und Launce, ihr kommt zu Tische und ich will schon dafür sorgen und das ganze Arsenal meines Scharfsinnes erschöpfen, um Euch Gelegenheit zu verschaffen, ein Wort unter vier Augen zu sprechen, denn ich fühle Dir wohl nach, wie schrecklich das ewige Bewachtsein für Dich ist. Der Zustand, in dem Du lebst, ist fürchterlich – ich gebe es gern zu, Du bist verheiratet und hast doch keinen Gatten, kannst ihn nur in seltenen, glücklich erhaschten Augenblicken sehen, und ein unausstehlicher Geldsack quält Dich mit widerwärtigen Anträgen, ihm die Hand zu reichen, welche doch schon in aller gesetzlichen Form vergeben ist. Du mußt mit Deinen Eltern, gegen die Du eines geheimen Fehlers Dir bewußt bist, die Dich aber nicht verstehen, noch unter einem Dache leben, kannst Deinem geliebten Launce noch nicht folgen – aber vergiß nur nicht, daß all das ein Ende haben wird, sobald das schnell rollende Rad der Zeit Dir den Gefallen getan haben wird, Deinen sechzehnten Geburtstage erscheinen zu lassen. Also fasse Mut und halte Dir ‚die Bestie‘, die man Dir aufdrängen will, nur energisch vom Leibe. Das wird zwar die Leidenschaftlichkeit dieses Menschen nur erhöhen, allein zuletzt – wenn der Schleier fällt – wird er doch den Schaden besehen!

In aller Liebe

Deine Louise.“

Diesem Brief lag eine Einladungskarte bei des Inhalts:

„Lady Winwood ersucht Herrn Turlington, ihr die Ehre zu erzeigen, am Mittwoch den 15. Dezember den Abend bei ihr zuzubringen.“

Jener Brief enthielt die geheime Geschichte der Tage, die seit der Heirat des jungen Paares verflossen waren. Gewisse Vorfälle in Lady Winwoods Gesellschaft fügten dieser Geschichte eine durch ihre Folgen wichtige Ergänzung hinzu.

In Gemäßheit der mit Natalie getroffenen Verabredung erschien die Familie Graybrooke, die zu Tische eingeladen war, schon zeitig. Lady Winwood überließ es ihrem Gatten und ihren Stieftöchtern, Sir Joseph und Fräulein Lavinia zu unterhalten und führte Natalie in ihr Boudoir, das nur durch eine Portière vom Salon getrennt war.

„Liebes Kind, du siehst ja heute abend ganz verstört aus! Ist etwas vorgefallen?“

„Ich halte es nicht mehr aus, Louise. Das Leben, das ich jetzt führe, ist mir so unerträglich, daß cih glaube, ich würde, wenn Launce in mich drängte, mich entschließen, mit ihm noch heute abend, sobald wir hier fortgehen, davon zu laufen.“

„Das wirst du gefälligst bleiben lassen. Du mußt einmal um jeden Preis warten, bis du sechzehn Jahre alt bist. Ich schwärme für aufregende Situationen, aber die Situation, mit dir vor den Schranken des Strafgerichts erscheinen zu müssen, würde mir doch über den Spaß gehen. Kommt die ‚Bestie‘ also heute abend?“

„Natürlich. Er folgt mir ja beharrlich wie mein Schatten. Er hat heute in Muswell Hill gefrühstückt und mir wieder Vorwürfe über meine unbegreifliche Kälte gegen ihn gemacht. Papa hat wieder gescholten und Launce hat mir wieder einen wütenden Brief geschrieben. Er tut mir zu wissen, daß, wenn ich Richard wieder in seiner Gegenwart meine Hand küssen lasse, er ihn niederschlagen werde. O, was führe ich jetzt für ein elendes, schuldvolles Leben! Louise, ich befinde mich in der denkbar traurigsten Lage und du hast mich dazu ermuntert, mich da hinein zu begeben! Ich fürchte, Richard Turlington hat schon Verdacht gegen uns geschöpft. Die beiden letzten Male, als Launce und ich es versuchten, bei meiner Tante eine Minute lang allein zu sein, wußte Turlington und daran zu verhindern. Da stand er mit seinem sauren Gesichte und sah aus, als wolle er Launce umbringen. Kannst du heute abend irgendetwas für uns tun? Nicht meinetwegen, aber Launce ist so ungeduldig. Er erklärt, daß, wenn er mir nicht heute abend zwei Worte allein sagen könne, er morgen nach Muswell Hill kommen und mich im Garten abfassen wolle.“

„Beruhige dich, liebes Kind, er soll dir heute abend seine zwei Worte sagen.“

„Wie das?“

Lady Winwood wies mit dem Finger durch die Portière des Boudoirs hindurch anch der Tür des Salons hin. Jenseits der Türe war ein Vorplatz, der zu einem zweiten kleineren Salon führte.

„Zu Tisch“, fuhr sie fort, „kommen nur drei oder vier Leute, und abends kommen noch einige dazu. Da wir also nur eine kleine Gesellschaft sind, wird der kleine Salon genügen. Der Salon hier nebenan wird gar nicht erleuchtet sein und hier im Boudoir wird nur meine Arbeitslampe brennen. Ich werde das Zeichen zum Verlassen des Eßzimmers früher als gewöhnlich geben. Launce kommt, noch ehe die Abendgesellschaft anfängt, zu uns herauf. Schicke ihn im Augenblick seines Erscheinens nur ohne Weiteres hier hinein, vor seiner Tante und vor uns allen.“

„Welchen Grund soll ich denn dafür angeben?“

„Schicke ihn, dir deinen Fächer zu holen, den du hier, bevor wir zu Tisch gehen, unter dem Sofakissten liegen lassen mußt. Du sitzest bei Tische neben Launce und kannst ihm also vorher seine geheime Instruktion geben, daß er den Fächer nicht finden soll. Dann mußt du ungeduldig werden, selbst nachsehen wollen und ins Boudoir gehen – und dann seid ihr allein.“

Die junge Frau Linzie starrte gedankenvoll zu Boden, als wolle ihr dieser Vorschlag nicht so ganz einleuchten, aber ihre viel willenskräftigere Freundin wußte ihn ihr zuletzt doch wieder plausibel zu machen. -

Die zu Tische geladenen Gäste fingen an zu erscheinen. Lady Winwood mußte ihre Pflichten als Frau vom Hause erfüllen. Es war ein angenehmes kleines Diner, das nur eine Schattenseite hatte: es fing zu spät an. Die Damen kamen erst zehn Minuten vor zehn Uhr in den kleinen Salon. Launce konnte ihnen erst folgen, als es zehn Uhr schlug.

„Zu spät!“ flüsterte ihm Natalie zu. „Er wird gleich hier sein.“

„Kein Mensch kommt präzis zu einer Abendgesellschaft“, erwiderte Launce. „Laß uns keinen Augenblick verlieren. Schick‘ mich nach deinem Fächer!“

Natalie wollte ihm eben den verabredeten Auftrag erteilen, aber noch bevor sie die Lippen öffnen konnte, meldete der Diener: „Herr Turlington.“

Turlington trat ein in einem weiten, glänzenden, schwarzen Anzuge, und mit steifen, hohen Vatermördern.

Er machte Lady Winwood eine verdrossene und plumpe Verbeugung und erging sich dann, wie er schon so oft zu tun Gelegenheit gehabt hatte, in eifersüchtigen Betrachtungen über den auffallenden Gegensatz, welchen Natalie, jetzt, nachdem sie sich eben mit Launce unterhalten hatte, und mit freundlichen Blicken und lebhaften Mienen dastehend, gegen die kalte und apatische junge Dame bildete, als welche er Natalien zu sehen gewohnt war, wenn sie mit ihm sprach.

Lord Winwoods Töchter genossen eines gewissen Rufes in der musikalischen Dilettantenwelt. Als Lady Winwood den Blick bemerkte, welchen Turlington dem jungen Launce zuwarf, flüsterte sie Fräulein Lavinia ein Wort ins Ohr, und diese bat sofort die jungen Damen, etwas zu singen.

Launce erbot sich, einem Blicke Nataliens folgend, die Noten zu holen. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß er zuerst das falsche Buch herbeibrachte. Als er dasselbe dann wieder vom Klavier wegnahm, um es nach dem Notenständer zurückzubringen, fiel aus demselben ein gedrucktes Blatt heraus, welches aussah wie ein Circulär. Eine der jungen Damen nahm es vom Bodern auf und überflog es betroffen.

„Die geistlichen Konzerte!“ rief sie aus. Ihre beiden Schwestern, die neben ihr standen, sahen einander mit schuldbewußten Blicken an. „Was wird das Komitée zu uns sagen? Wir haben die Versammlung vorigen Monat ganz vergessen.“

„Ist diesen Monat auch eine Versammlung?“ Sie sahen den gedruckten Brief alle ängstlich an.

„Ja! Den dreiundzwanzigsten Dezember. Notiere es dir, Amelia!“

Amelia trug es auf der Stelle bei den Engagements für die letzte Woche des Monats in ihr Notizbuch ein; und der nicht anerkannte Gatte Nataliens sah diesem Vorgange mit heiteren Mienen zu. Er wußte nicht, daß soeben die erbarmungslose Ironie der Umstände Launce selbst unschuldigerweise den ersten Anlaß zu der Entdeckung seines Geheimnisses geben ließ. In Folge seines Eingreifens eines falschen Notenbuchs stand jetzt, zwei volle Tage, bevor die Entführung stattfinden konnte, eine Zusammenkunft zwischen den Töchtern des Lords und der Frau des Oberpfarrers in Aussicht...

Die Abendgäste fingen an, zu zweien und zu dreien zu erscheinen. Die Herren, die noch bei Tische saßen, verließen das Eßzimmer und kamen gleichfalls hinauf. Der kleine Salon war gut gefüllt, aber nicht übervoll. Sir Joseph Graybrooke ergriff Turlingtons Hand und führte ihn mit eifriger Beflissenheit zu ihrem Wirte. Das Gespräch im Eßzimmer hatte sich um finanzielle Angelegenheiten gedreht. Lord Winwood war mit einigen seiner auswärtigen Spekulationen nicht ganz zufrieden, und Sir Josephs „lieber Richard“ war ganz der Mann, um Lord Winwood guten Rat zu erteilen. Die drei Herren steckten in einer Ecke die Köpfe zusammen. Launce, der sie beobachtete, drückte verstohlen Nataliens Hand. Inzwischen war ein berühmter Virtuose angelangt, der auf dem Klavier trommelte und die Aufmerksamkeit der meisten Gäste durch seinen Vortrag in Anspruch nahm. Eine bessere Gelegenheit, Launce nach dem Fächer abzuschicken, hätte sich nicht bieten können. Während die finanzielle Diskussion noch ihren Fortgang nahm, waren die verheirateten Liebenden allein im Boudoir versteckt.

Lady Winwood, welche die Entfernung des Paares wohl bemerkt hatte, behielt die Ecke, in welcher Richard Turlington stand, fest im Auge. Er war eben in einer ernsten Auseinandersetzung seiner Ansichten begriffen, und kehrte der Gesellschaft den Rücken zu, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Jetzt kam die Reihe an Lord Winwood zu reden und Turlington veränderte auch als Zuhörer seine bisherige Stellung nicht. Demnächst ergriff Sir Joseph das Wort. Jetzt ließ sich Turlingtons Aufmerksamkeit nicht mehr duch diese Unterhaltung fesseln. Er wußte im Voraus, was Sir Joseph zu sagen haben würde. Seine Blicke richteten sich mit ängstlicher Besorgnis nach der Stelle, an der er Natalie verlassen hatte. Bei einer abermaligen Bemerkung Lady Winwoods drehte er sich nochmals um. Als aber dann Sir Joseph wieder einen Einwand erhob, blickte er zum zweiten Mal über seine Schultern hinweg und zwar dieses Mal nach der Stelle, wo Launce gestanden hatte. Im nächsten Augenblick nahm Lord Winwood seine Aufmerksamkeit wieder in Anspruch und machte es ihm unmöglich, seine Blicke forschend im Zimmer umherschweifen zu lassen.

Um dieselbe Zeit traten zwei Gäste, welche noch ein anderes Engagement für den Abend hatten, auf die Frau vom Hause zu, um sich von derselben zu verabschieden. Lady Winwood mußte sich erheben, und sich mit diesen beschäftigen. Sie hatten ihr beim Abschied etwas zu sagen und taten das mit einer Weitläufigkeit, welche für Lady Winwood um so schrecklicher war, als sie ihr dabei den Blick auf die Bewegungen des Feindes versperrten. Als sie die Gäste endlich los geworden war, blickte sie sofort wieder nach der Ecke, und siehe da – nur Lord Winwood und Sir Joseph standen noch da. Turlington war verschwunden!

Nachdem Lady Winwood einen Augenblick dazu benutzt hatte, den Virtuosen zu einem abermaligen Getrommel zu veranlassen, schlüpfte sie zum Zimmer hinaus und ging über den Vorplatz. Bei ihrem Eintritt in den leeren Salon vernahm sie Turlingtons Stimme leise und drohend im Boudoir. Die Eifersucht erfreut sich der Gabe eines ganz besonderen „zweiten Gesichts“. Turlington war sofort auf die richtige Stelle losgesteuert, und, wehe! Er hatte das Paar überrascht.

Lady Winwood besaß eine unbestreitbar seltene Geistesgegenwart, aber sie erbleichte, als sie sich dem Eingang zum Boudoir näherte. Da stand Natalie zornig und erschreckt zugleich zwischen dem Mann, mit dem sie angeblich verlobt, und dem Mann, mit dem sie wirklich verheiratet war. Auf Turlingtons finsterem Gesicht malten sich die Martern unterdrückter Wut. Launce reichte Natalien ihren Fächer, mit dem kalten überlegenen Lächeln eines Menschen, der sich seines errungenen Vorteils bewußt ist und in diesem Bewußtsein triumphiert.

„Ich verbiete dir, deinen Fächer aus den Händen dieses Mannes anzunehmen“, sagte Turlington zu Natalien, indem er auf Launce deutete.

„Ist es nicht noch ein wenig zu früh zum Verbieten?“ fragte Lady Winwood freundlich.

„Das sage ich auch!“ rief Launce. „Man muß Herrn Turlington, wie es scheint, daran erinnern, daß Natalie noch nicht seine Frau ist.“

Er sprach diese letzten Worte in einem Tone, der beide Frauen für die Folgen zittern ließ. Lady Winwood nahm Launce mit der einen Hand den Fächer ab, während sie mit der anderen Nataliens Arm ergriff.

„Da hast du deinen Fächer, liebes Kind!“ sagte sie in ihrer leichten ungezwungenen Weise. „Warum läßt du dich von diesen beiden musenfeindlichen Männern hier zurückhalten, während der große Buttmann drinnen die Alpdrucksonate spielt? - Launce und Herr Turlington! Kommen Sie mit und lassen Sie sich auf der Stelle zur Liebe für die Musik bekehren! Wenn Sie die Augen schließen, werden Sie darauf schwören, statt eines, vier moderne deutsche Komponisten spielen zu hören, ohne daß darum auch nur eine Spur von Melodie in dem Stücke wäre.“

Sie ging mit Natalien voran und flüsterte ihr zu: „Ihr habt euch doch nicht verraten?“ Natalie antwortete flüsternd: „Ich hörte ihn kommen, er traf uns dabei, wie wir nach dem Fächer suchten.“ Die beiden Männer blieben im Boudoir zurück, um ein Wort unter vier Augen miteinander zu reden.

„Die Sache ist noch nicht zu Ende, Herr Linzie.“

Um Launces Lippen spielte ein ironisches Lächeln.

„Dieses Mal bin ich mit Ihnen einverstanden“, erwiderte er, „die Sache ist noch nicht zu Ende, wie Sie richtig bemerken.“

Lady Winwood blieb an der Tür des Salons stehen, sah sich nach ihnen um und machte ihnen dadurch begreiflich, daß sie auf sich warten ließen. So blieb ihnen nichts übrig, als der Frau vom Hause zu folgen.

Wieder im kleinen Salon angelangt, hatten beide, Turlington und Launce, denselben Zweck im Auge und nahmen einstweilen ihren Platz unter den Gästen wieder ein. Jeder von ihnen hatte, in Veranlassung der Szene im Boudoir, Sir Joseph seine besonderen Vorstellungen zu machen.

Selbst hier kam Launce seinem Nebenbuhler zuvor; er bemächtigte sich zuerst des Ohrs Sir Josephs.

Seine Beschwerde nahm die Gestalt eines Protestes gegen Turlingtons Eifersucht und einer Appellation gegen das Urteil an, welches ihm den Zutritt zu Muswell Hill verschloß. Turlington, der sie von ferne beobachtete, entdeckte mit seinen argwöhnischen Blicken etwas bedenklich Vertrauliches in der Unterhaltung der beiden Männer. Durch die dichtgedrängten Reihen der Gäste gedeckt, stahl er sich hinter sie und horchte.

Der große Buttmann war eben bei der Stelle der Alpdrucksonate angelangt, wo die hauptsächlich von der linken Hand ausgeführte Musik mit einer jedes Mißverständnis ausschließenden Deutlichkeit, den Aufgang des Mondes auf einem Dorfkirchhof und den Tanz von Vampiren auf dem Grabe einer Jungfrau darstellt.

Sir Joseph, der mit seinem Geflüster nicht gegen die Vampire aufkommen konnte, war genötigt, die Stimme zu erheben, um Launce seine tröstliche Antwort verständlich zu machen. Turlington hörte ihn sagen: „Deine Lage erregt meine aufrichtige Teilnahme, und Natalie fühlt darin ebenso wie ich, aber Richard ist uns im Wege. Wir müssen bedenken, mein lieber Junge, was daraus entstehen könnte, wenn Richard dahinter käme.“ Dabei nickte er seinem Neffen freundlich zu, und begab sich, indem er so ein weiteres Eingehen auf den Gegenstand ablehnte, nach einem anderen Teile des Zimmers.

Turlingtons eifersüchtiges Mißtrauen, welches schon seit Wochen den höchsten Grad von Reizbarkeit erreicht hatte, brachte sofort die eben gehörten Worte mit den Worten in Verbindung, mit welchen ihn Launce im Boudoir daran erinnert hatte, daß er noch nicht mit Natalien verheiratet sei. Wurde hier Verrat gesponnen? Und war der Zweck des Komplotts, den schwachen Sir Joseph dahin zu bringen, die beabsichtigte Heirat seiner Tochter in einem für Launce günstigen Sinne in Überlegung zu ziehen? - Turlingtons blinder Argwohn ließ ihn die in die Augen springende Unwahrscheinlichkeit einer solchen Annahme übersehen. Nach einer kurzen Überlegung beschloß er, Sir Josephs Zuverlässigkeit sofort auf eine Probe zu stellen, die um so sicherer sein würde, als sie Nataliens Vater völlig überraschend käme.

„Graybrooke!“

Sir Joseph fuhr bei dem Anblick des Gesichts seines künftigen Schwiegersohnes zusammen.

„Lieber Richard, wie sonderbar siehst du aus? Ist dir die Hitze hier im Zimmer zu lästig?“

„Ach, was kümmert mich die Hitze! Was ich heute abend gesehen habe, rechtfertigt es vollkommen, wenn ich darauf bestehe, daß deine Tochter und Launcelot Linzie von heute an bis zu meinem Hochzeitstage nicht mehr zusammenkommen.“

Sir Joseph wollte versuchen zu reden, aber Turlington machte es ihm unmöglich. „Ja, ja! Ich weiß, du hast eine andere Ansicht von Linzie, als ich, ich habe euch ja noch eben wie die intimsten Freunde zusammen stehen sehen.“

Sir Joseph machte einen zweiten Versuch, etwas zu sagen. Turlingtons ewiger Klagen über seine Tochter und seinen Neffen überdrüssig, war er nachgerade so gereizt, daß er Turlington berichtet haben würde, was Launce eben zu ihm gesagt hatte, wenn er nur zu Wort hätte kommen können. Aber Turlington ließ sich nicht unterbrechen. „Ich kann“, sagte er, „Linzie den Zutritt zu diesem und dem Hause deiner Schwester nicht verwehren, aber ich kann ihm mein Haus auf dem Lande verschließen und daher laß uns aufs Land gehen. Ich schlage eine Radikalkur vor. Hast du dich versagt für die Weihnachtsfeiertage?“ Er hielt inne und richtete seine Blicke forschend auf Sir Josephs Gesicht.

Sir Joseph sah etwas überrascht aus und verneinte kurz.

„In diesem Fall“, nahm Turlington wieder auf, „lade ich euch alle nach Somersetshire ein, und ich proponiere, die Hochzeit in meinem und nicht in deinem Hause stattfinden zu lassen.“

„Das ist gegen den bei solchen Gelegenheiten üblichen Gebrauch, Richard“, fing Sir Joseph an.

„Lehnst du es ab?“ fragte Turlington in scharfem Tone. „Ich sage dir gerade heraus, ich werde mir deine Motive auf meine Weise erklären, wenn du das tust.“

„Nein, Richard“, erwiderte Sir Joseph ruhig, „ich nehme es an.“

Turlington trat schweigend einen Schritt zurück.

Jetzt hatte Sir Joseph ihn überrascht.

„Das wird verschiedene Pläne über den Haufen werfen und den Damen einige Unbequemlichkeiten verursachen“, fuhr der alte Herr fort. „Aber wenn du durchaus darauf bestehst, so sage ich ‚ja‘. Ich werde morgen bei unserer Zusammenkunft in Muswell Hill Veranlassung haben, deine Nachsicht in einer Weise in Anspruch zu nehmen, die dich sehr in Erstaunen setzen wird. Inzwischen ist es das Wenigste, was ich tun kann, dir meinerseits mit einem guten Beispiel der Nachsicht und freundschaftlicher Sympathie voranzugehen. Nichts weiter jetzt, Richard. Still! Es wird wieder musiziert.“

Es war unmöglich, ihn am heutigen Abend zu einer weiteren Erklärung zu bringen. Turlington blieb es überlassen, sich über die mysteriöse Mitteilung Sir Josephs den Kopf zu zerbrechen. Die auf den nächsten Tag festgesetzte Zusammenkunft auf Muswell Hill hatte, wie Turlington bereits wußte, den Zweck, den Ehekontrakt zu entwerfen. Handelte es sich bei dem angekündigten Appell an seine Nachsicht um Geld? -

Er dachte an seine kommerzielle Lage. Die Flauheit des Handels mit der Levante dauerte fort. Noch in keiner Zeit hatte sein Geschäft einen so anhaltend sorgfältigen Betrieb verlangt und hatte es diese Sorgfalt mit so geringem Gewinn belohnt. Die bewußten Cannossemente waren von der Firma bereits im gewöhnlichen Lauf der Geschäfte dazu benutzt, sich in den Besitz der Waren zu setzen. Die in den Händen von Bulpil Brothers befindlichen Duplikate wareb buchstäblich nichts mehr, als Stücke Papier. In weniger als einem Monate mußten das Darlehen von vierzigtausend Pfund Sterling mit Zinsen zurückbezahlt werden. Das war Turlingtons kommerzielle Lage. Sollte Sir Joseph, der das Geld so überaus liebte, irgend eine Modifikation in Betreff der Mitgift seiner Tochter beabsichtigen? Der bloße Gedanke, daß dem so sein könne, erfüllte Turlington mit Schauder. Er ging so besorgt fort, daß er nicht einmal daran dachte, Natalien gute Nacht zu wünschen.

Inzwischen hatte Launce die Gesellschaft schon vor Turlington verlassen, und auch er hatte allen Grund, an jenem Abende, bevor er einschlief, mit sich zu Rate zu gehen.

Zu Hause angekommen, fand er nämlich einen mit der Bemerkung „vertraulich“ versehenen Brief seines Bruders. Hatten die, nun schon mehrere Wochen lang fortgesetzten Nachforschungen in Betreff des früheren Lebens Turlingtons endlich zu positiven Resultaten geführt? - Launce öffnete hastig den Brief. Derselbe enthielt einen Bericht und ein Resumée. Er wandte seine Aufmerksamkeit sofort diesem letzteren zu und las, was folgt:

„Wenn Du nur moralischer Beweise bedarfst, um überzeugt zu sein, so ist Dein Zweck erreicht. Moralisch steht es unzweifelhaft fest, daß Turlington und der Kapitän, welcher den fremden Matrosen über Bord warf, ein und dieselbe Person sind. Juristisch hat die Sache ihre Schwierigkeiten, da Turlington jede Spur des Zusammenhangs seiner jetzigen Person mit seiner Vergangenheit getilgt hat. Es gibt nur eine Möglichkeit für uns. Ein Matrose, der sich damals auf dem Schiffe befand und der Vertraute des Kapitäns war, soll, wie es heißt, noch am Leben sein und sich der Protektion seines Herrn erfreuen. Dieser Mensch kennt alle früher von Turlington begangenen Verbrechen. Er kann, wenn wir im Stande sind, ihn aufzufinden und ihn zum Reden zu bringen, die Tatsachen beweisen. Unter welchem angenommenen Namen er sich verbirgt, wissen wir nicht. Sein rechter Name ist Thomas Wild. Wenn wir den Versuch machen wollen, ihn aufzufinden, dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Die Sache kann bedeutende Kosten verursachen. Laß mich baldmöglichst wissen, ob wir die Sache weiter verfolgen sollen, oder ob das vorliegende Ergebnis für Deinen Zweck ausreicht.“

Das vorliegende Ergebnis reichte allerdings hin, nicht nur um Launce zu überzeugen, sondern auch, um die erwünschte Wirkung auf Sir Joseph zu üben, falls er sich, wenn das Geheimnis der Heirat an den Tag kommen würde, verstockt zeigen sollte. Launce schrieb einige Zeilen an seinen Bruder, um ihn anzuweisen, es bei dem bisher Geschehenen bewenden zu lassen.

„Das ist ein triftiger Grund gegen ihre Verheiratung mit Turlington“, dachte er bei sich, als er die Papiere verschloß. „Und wenn sie für Turlington verloren ist“, fügte er mit der Logik eines Verliebten hinzu, „warum sollte sie nicht für mich bestimmt sein?“ -



Kapiteltrenner

Kapitel 8

Mitgift und Testament



Am nächsten Tage waren Sir Joseph Graybrooke, Sir Josephs Advokat, Herr Dicas, ein höchst respektabler und ungeheuer reicher Mann, und Richard Turlington in der Bibliothek in Muswell Hill versammelt, um über den Ehekontrakt zu beraten.

Nachdem die gewöhnlichen einleitenden Redensarten vorgebracht worden waren, zauderte Sir Joseph offenbar, die Beratung der Frage, um derentwillen die drei Herren zusammengekommen waren, zu eröffnen. Er wich dem Auge seines Advokaten aus und sah Turlington mit etwas unruhigen Blicken an.

„Richard“, fing er endlich an, „als ich am Bord der Yacht mit dir von deiner Heirat sprach, sagte ich dir, ich würde meiner Tochter“ - entweder sein Mut oder sein Atem ging ihm in diesem Augenblicke aus. Er mußte inne halten.

„Ich sagte“, nahm er dann wieder auf, „ich würde meiner Tochter bei ihrer Heirat die Hälfte meines Vermögens geben. Verzeih‘ mir, Richard, das kann ich nicht.“

Herr Dicas, der seiner Instruktion harrte, legte seine Feder nieder und sah Sir Josephs Schwiegersohn in spe an. Was würde Herr Turlington darauf antworten? - Er antwortete gar nicht. Während Sir Joseph sprach, erhob er sich von seinem dem Fenster gegenüber befindlichen Platz und vertauschte denselben mit einem an der anderen Seite des Tisches, wo er dem Fenster den Rücken zukehrte.

„Meine Augen sind heute Morgen schwach“, sagte er mit gekünstelt leiser Stimme; „sie sind empfindlich gegen das Licht...“

Eine bessere Entschuldigung wußte er nicht dafür vorzubringen, daß er sein Gesicht vor dem forschenden Blicke der beiden Männer im Schatten verbarg. Die fortwährende, moralische Aufregung seines unglücklichen Brautstandes, in welchem ihm von Natalie nie eine größere Gunst, als die eines kalten Handkusses in Gegenwart anderer gewährt worden war, hatte ihn auch physisch nicht unberührt gelassen. Selbst seine gestählten Nerven fingen an, die Wirkung des Argwohns, der seit Wochen unablässig auf ihn einstürmte, zu empfinden. Er konnte sich, wie er sehr wohl wußte, nicht mehr auf seine Selbstbeherrschung verlassen. Er konnte sein Gesicht wohl verbergen, aber er hatte es nicht mehr in seiner Gewalt.

„Hast du mich gehört, Richard?“

„Allerdings. Fahre fort.“

Sir Joseph fuhr fort und wurde allmälig zuversichtlicher in seinen Worten.

„Mein halbes Vermögen!“ wiederholte er. „Das heißt, mich von meinem halben Leben trennen. Das heißt, meinem teuersten Freunde für immer Lebewohl sagen. Mein Geld ist ein solcher Trost für mich gewesen, Richard; eine so angenehme Beschäftigung für meinen Geist. Ich kenne keine so interessante und so belehrende Lektüre, wie die meines Kontokorrents mit meinem Bankier. Wie man da“, sagte Sir Joseph mit einer Stimme, in der sich Herzinnigkeit und Feierlichkeit mischten, - „wie man da die Debet-Posten auf der einen und die Kredit-Posten auf der anderen Seite verfolgt – bald die betrübende Verminderung der Bilanz und bald ihre erfreuliche Zunahme beobachtet – wie diese Lektüre uns so ganz hinnimmt! Der beste Roman der Welt ist nichts dagegen. Ich kann nicht, Richard, ich kann fürwahr meine hübsche, runde Bilanz nicht zu der Hälfte der Zahl zusammenschrumpfen sehen, an die ich mich seit einem Menschenalter gewöhnt habe.

Es mag schwach von mir sein“, fuhr Sir Joseph fort, indem er sich offenbar bewußt war, daß es durchaus nicht schwach von ihm war, „aber wir haben alle unsere schwachen Seiten und meine ist der Kontokorrent meines Bankiers. Überdies liegt die Sache ja nicht so, wie wenn du des Geldes bedürftest. Wenn du seiner bedürftest, natürlich – aber du bist ein reicher Mann, du heiratest meine liebe Natalie aus Liebe und nicht um des Geldes willen. Du und sie und meine Enkel, ihr bekommt ja alles nach meinem Tode. Es kann ja für dich keinen Unterschied machen, ob du noch ein paar Jahre zu warten hast, bis der Platz deines alten Schwiegervaters am Kamin leer geworden ist. Willst du mit dem vierten Teil statt mit der Hälfte zufrieden sein, Richard? Zwanzigtausend Pfund“, bat Sir Joseph in kläglichem Tone. „Ich kann es ertragen, mich von zwanzigtausend Pfund zu trennen, aber bei allem, was dir heilig ist, verlange nicht mehr von mir!“

Die Lippen des Advokaten verzogen sich zu einem sauer-süßen, ironischen Lächeln. Er liebte sein Geld, ganz so sehr, wie Sir Joseph. Er hätte Mitgefühl für seinen Klienten empfinden sollen, aber reiche Leute haben keine Sympathien füreinander. Herr Dicas machte kein Hehl aus seiner Verachtung für Sir Joseph.

Es entstand eine Pause. Die Rotkehlchen in den Büschen vor dem Fenster hatten gewiß ungeheuere Bilanzen bei ihren Bankiers; sie hüpften so verwegen freudig auf dem Fenstersims umher; sie schauten die beiden reichen Männer so unehrerbietig durchs Fenster an.

„Laß mich nicht im Ungewissen, Richard“, drängte Sir Joseph. „Sprich es aus: Ja oder nein?“

Turlington schlug leidenschaftlich aufgeregt mit der Hand auf den Tisch und platzte urplötzlich mit der Antwort heraus, mit welcher er bis jetzt so auffallend zurückgehalten hatte.

„Zwanzigtausend Pfund – mit tausend Freuden! - Unter der Bedingung, Graybrooke, daß die ganze Summe für Natalie und für ihre Kinder nach ihrem Tode festgesetzt wird, und daß kein Heller davon mir zukommt!“ wiederholte er großherzig im knarrendsten Ton seiner Stimme.

Sage keiner, daß die Reichen herzlos sind! Sir Joseph ergriff schweigend die Hand seines Schwiegersohns und brach in Tränen aus...

Herr Dicas, der ein sehr schweigsamer Mann war, sprach jetzt zum ersten Mal seit Beginn der Sitzung. „Höchst ehrenwert!“ dabei machte er sich auf der Stelle eine Notiz für seine Instruktionen.

Von diesem Augenblick an ging das Geschäft auf das Leichteste von statten. Sir Joseph setzte seine Ansichten in größter Ausführlichkeit auseinander und die Feder des Advokaten hielt Schritt mit ihm. Turlington, der seinen Platz am Fenster behielt, beschränkte sich auf eine rein passive Rolle bei den Verhandlungen. Er antwortete kurz, wo eine Antwort unerläßlich war und erklärte sich in allen Punkten mit beiden älteren Herren einverstanden. Der Mensch achtet nicht auf das, was andere tun und sagen, wenn er an einem Wendepunkt seines Lebens steht. Turlington stand an einem solchen Wendepunkt in jenem entscheidenden Augenblick, wo die unerwartete Proposition Sir Josephs eine sofortige Antwort von ihm erheischte. Er war vor eine erbarmungslose Alternative gestellt. Entweder, er mußte die geborgten vierzigtausend Pfund am Tage der Fälligkeit des Darlehens zurückzahlen oder er mußte Bulpit Brothers um eine Prolongation des Darlehens bitten und ein solches Gesuch müßte unausbleiblich eine Untersuchung der bei dieser Firma deponierten, trügerischen Sicherheit herbeiführen, deren Ausgang unzweifelhaft war. Seine letzte, in Wahrheit seine letzte Chance, nachdem Sir Joseph die versprochene Mitgift schamlos um die Hälfte vermindert hatte, bestand darin, daß er die Rolle des Großmütigen spielte und die Wahrheit verbarg, bis er dieselbe als Nataliens Gatte seinem Schwiegervater würde enthüllen können.

„In vierzehn Tagen habe ich eine Schuld von vierzigtausend Pfund zu entrichten, Herr Graybrooke, und besitze keinen Heller eigenes Vermögen. Sir müssen für mich bezahlen oder Sie werden den Namen Ihres Schwiegersohns in der Fallitenliste figurieren sehen...“

Wer konnte zweifeln, daß, wenn er seiner Zeit so sprach, Sir Joseph um seiner Tochter willen mit dem Gelde herausrücken werde? - Das Einzige, worauf es ankam, war die rechtzeitige Vollziehung der Heirat. Wenn Sir Joseph sich durch Zufall oder in Folge von Verrat veranlaßt finden sollte, den festgesetzten Tag der Hochzeit auch nur um vierzehn Tage zu verschieben, so würde der verhängnisvolle Fälligkeitstermin herankommen und der Name der Firma Pizzituti, Turlington und Branca würde in der Zeitung unter den Falliten erscheinen.

So raisonnierte er und ahnte nicht, daß er an der Schwelle der fürchterlichen Entdeckung stand, daß Natalie das Weib eines anderen sei!...

„Richard!“

„Herr Turlington!“

Er fuhr zusammen und raffte sich auf, um dem gegenwärtigen Vorgange die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sir Joseph und der Advokat, welche ihn beide mit erstaunten Blicken ansahen, hatten ihn zugleich angerufen.

„Sind Sie mit dem Kontrakte fertig?“ fragte er.

„Lieber Richard, wir sind lange damit fertig“, erwiderte Sir Joseph. „Hast du wirklich nichts von dem gehört, was ich seit einer Viertelstunde hier zu dem guten Herrn Dicas gesagt habe? Woran kannst du nur gedacht haben?“

Turlington versuchte es gar nicht, diese Frage zu beantworten. „Bin ich bei dem, was du zu Herrn Dicas gesagt hast, interessiert?“

„Du sollst selbst urteilen“, erwiderte Sir Joseph in geheimnisvollem Tone. „Ich habe Herrn Dicas meine Instruktionen in Betreff meines Testaments gegeben. Ich wünsche, daß das Testament und die Heiratsakte zu gleicher Zeit vollzogen werden. Lesen Sie gefälligst Ihre Instruktionen, Herr Dicas!“

Sir Josephs Testament hatte, wie sich aus den Instruktionen ergab, zwei Vorzüge: es war einfach und kurz. Mit Ausnahme von einigen entfernten Verwandten, die mit ein paar unbedeutenden Vermächtnissen abgefunden wurden, hatte Sir Joseph – da für Fräulein Lavinia schon gesorgt war – niemanden zu bedenken als seine Tochter und die Kinder, die aus ihrer Ehe hervorgehen möchten. Die verschiedenen Verfügungen des Testaments, die alle von diesen beiden Gesichtspunkten geleitet waren, enthielten durchaus nur das in solchen Fällen Gebräuchliche. Es unterschied sich in keiner wesentlichen Beziehung von den unzähligen unter ähnlichen Umständen gemachten Testamenten. Noch war das Motiv, aus welchem Sir Joseph Richards besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, nicht ersichtlich, als Herr Dicas, bei dem der Ernennung der Exekutoren und Verwalter gewidmeten Paragraphen angelangt, erklärte, daß dieser Paragraph unausgefüllt geblieben sei.

„Sir Joseph Graybrooke, wollen Sie die Personen, welche Sie zu ernennen beabsichtigen, namhaft machen?“ fragte der Advokat.

Sir Joseph erhob sich, ersichtlich zu dem Zweck, um der Art, wie er die Frage seines Advokaten beantworten wollte, noch größeren Nachdruck zu geben.

„Ich ernenne“, sagte er, „zum alleinigen Exekutor und Verwalter – Richard Turlington.“

Es war nicht leicht, Herrn Dicas in Erstaunen zu setzen, aber Sir Josephs Antwort brachte ihn völlig außer Fassung. Er sah seinen ihm gegenübersitzenden Klienten an und sprach die drei Worte: „Sind Sie toll?“

Sir Joseph errötete ein wenig. „Ich war nie vollständiger im Besitze meiner Geisteskräfte, als in diesem Augenblicke, Herr Dicas!“

Herr Dicas war nicht der Mann, der sich mit einer solchen Redensart abspeisen ließ.

„Wissen Sie, was Sie tun“, beharrte der Advokat, „wenn Sie Herrn Turlington zum alleinigen Exekutor und Verwalter ernennen? So geben Sie es in die Gewalt des Mannes Ihrer Tochter, Herr Graybrooke, nach Ihrem Tode Ihr Geld bis auf den letzten Heller zu verbringen.“

Turlington hatte bisher mit einem aus Höflichkeit angenommenen Anschein von Interesse den Verhandlungen zugehört. Für ihn reichte die Zukunft nur bis zu dem Tage, an welchem Bulpit Brothers ein Recht hatten, die Rückzahlung des Darlehens zu verlangen. Im Vergleich zu dem unendlich viel höheren Interesse der Heirat war das Testament für ihn ein verhältnismäßig gleichgültiger Gegenstand. Erst als die brutale Deutlichkeit der Sprache des Advokaten seine Aufmerksamkeit auf das Testament lenkte, trat ihm die Frage seines pekuniären Interesses an dem Tode seines Schwiegervaters in ihrer wahren Bedeutung vor die Seele. Auch er errötete und auch er zeigte, daß er sich durch die letzte Äußerung des Herrn Dicas beleidigt fühle.

„Kein Wort, Richard!“ sagte Sir Joseph, „laß mich sowohl für dich, als für mich reden. Seit sieben Jahren“, fuhr er, gegen den Advokaten gewandt, fort, „habe ich mich gewöhnt, das unbedingteste Vertrauen in Richard Turlington zu setzen. Sein uneigennütziger Rat hat mich in den Stand gesetzt, mein Einkommen bedeutend zu vermehren, ohne einen Heller des Kapitals im Mindesten zu gefährden. Mehr als einmal habe ich ihn dringend gebeten, sich meines Geldes in seinem Geschäfte zu bedienen. Er hat sich aber beharrlich geweigert, das zu tun. Selbst seine bittersten Feinde waren genötigt, anzuerkennen, daß meine Interessen in seinen Händen am besten gewahrt seien. Soll ich jetzt, wo ich im Begriff stehe, ihm die Hand meiner Tochter zu geben, anfangen, ihm zu mißtrauen, Herr Dicas? Soll ich in einer testamentarischen Bestimmung einen Zweifel an seiner Redlichkeit kundgeben? Nein! Ich kann die Verwaltung des Vermögens, das mein Kind von mir erben wird, keinen ehrenwerteren und zuverlässigeren Händen anvertrauen, als den Händen des Mannes, der ihr Gatte zu werden bestimmt ist. Ich halte meine Bestimmung aufrecht, Herr Dicas. Ich beharre dabei, die ganze Verantwortlichkeit für die Ausführung meines Testaments auf meinen Schwiegersohn zu übertragen.“

Turlington sowohl, als auch der Advokat versuchten zu reden. Sir Joseph aber lehnte es mit einer gewissen, einfachen Würde, welche ihre Wirkung auf beide nicht verfehlte, ab, ein Wort von einem oder dem anderen zu hören.

„Nein, Richard, so lange ich lebe, ist dies meine Sache, nicht deine. Nein, Herr Dicas! Ich sehe sehr wohl ein, daß Ihr Beruf es mit sich bringt, gegen meinen Entschluß zu protestieren. Das haben Sie ja nun getan. Füllen Sie den leeren Raum aus, wie ich es Ihnen gesagt habe, oder lassen Sie die Instruktionen liegen und ich werde nach dem nächstwohnenden Anwalt schicken, damit er dieselben an Ihrer Stelle vervollständige.“

Mit diesen Worten war dem Advokaten seine Stellung klar vorgezeichnet. Er hatte keine andere Wahl, als zu tun, wie ihm geheißen war oder einen guten Klienten zu verlieren. Er brachte die Sache vollends zum Abschluß und ging hierauf verdrießlich von dannen. Sir Joseph begleitete ihn mit der Höflichkeit einer vergangenen Zeit in die Vorhalle hinaus. Als er in die Bibliothek mit der Absicht wieder eintrat, noch ein paar freundliche Worte zu Turlington in Betreff des Testaments zu sagen, bevor er das Gespräch über diesen Gegenstand ganz fallen ließe, ergriff ihn Turlington mit seiner gewaltigen Hand am Arm und schleppte ihn ohne Weiteres ans Fenster.

„Was soll das heißen, Richard“, rief Sir Joseph aus.

„Sieh einmal da hinüber!“ entgegnete Turlington mit lauter Stimme, indem er durch das Fenster auf einen sich zwischen Gebüsch hinziehenden, in geringer Entfernung vom Hause befindlichen Rasenweg hindeutete.

„Wer ist der Mann da? Rasch! Bevor wir ihn aus dem Gesicht verlieren – der Mann, der drüben von einem Gebüsch nach dem anderen geht? -“ Sir Joseph kam zu spät, um die Gestalt noch zu erkennen, ehe sie seinen Blicken ganz entschwand. Turlington flüsterte ihm in wilder Aufregung ins Ohr: „Es ist Launcelot Linzie!“

In vollkommen gutem Glauben erklärte Sir Joseph, der Mann könne unmöglich Launce gewesen sein. Aber Turlingtons krankhaft argwöhnsiche Eifersucht ließ sich nicht so leicht beruhigen. Er fragte bedeutungsvoll nach Natalien. Es hieß, sie gehe im Garten spazieren. „Ich wußte es wohl!“ rief er mit einem Fluch und stürzte nach dem Garten hinaus, um selbst die Wahrheit zu entdecken.

Es verfloß einige Zeit, bevor er wieder ins Haus zurückkehrte. Er hatte Natalien – allein gefunden. Nicht eine Spur von Launce hatte seine Nachforschungen belohnt. Zum hundertsten Male hatte er bei dieser Gelegenheit Natalien verletzt; zum hundertsten Male war er genötigt, an die Nachsicht ihres Vaters und ihrer Tante zu appellieren. „Es soll nicht wieder vorkommen“, sagte er mit dem Ausdruck verdrossener Reue. „Ihr werdet einen ganz anderen Menschen in mir finden, wenn ich euch erst alle in meinem Hause auf dem Lande habe. Vergeßt es nicht!“ platzte er plötzlich mit einem verstohlenen Blick heraus, in welchem sich ein eingewurzeltes Mißtrauen gegen Natalie und ihre ganze Umgebung malte. „Vergeßt es nicht! Es ist abgemacht, daß ihr alle nächsten Montag zu mir nach Somersetshire kommt.“

Sir Joseph antwortete etwas trocken, das sei abgemacht. Turlington schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, kehrte aber plötzlich wieder um. „Wir sind ja übereingekommen“, fuhr er, zu Fräulein Lavinia gewendet fort, „daß am siebenten Januar unsere Hochzeit stattfindet, keinen Tag später!“ Fräulein Lavinia antwortete gleichfalls etwas trocken: „Natürlich, Richard, keinen Tag später.“ Er murmelte vor sich hin: „Alles in Ordnung“ - und verließ eiligst das Zimmer.

Eine halbe Stunde später kam Natalie wieder ins Haus und sah etwas verwirrt aus.

„Ist er fort?“ fragte sie flüsternd ihre Tante. Über diesen Punkt beruhigt, ging sie geraden Wegs in die Bibliothek, ein Zimmer, das sie sonst selten zu betreten pflegte. Fräulein Lavinia folgte ihr dahin, neugierig, was sie dort suche. Natalie eilte ans Fenster und schwang ihr Taschentuch, offenbar als Signal für jemanden, der sich draußen befand. Fräulein Lavinia trat sofort auf sie zu und ergriff sie heftig bei der Hand.

„Ist es möglich, Natalie?“ fragte sie. „Ist Launcelot Linzie ohne deines Vaters oder mein Wissen hier gewesen?“

„Und was wäre dabei, wenn er wirklich hier gewesen wäre?“ antwortete Natalie in einem Ausbruch ungeduldiger Übellaune. „Soll ich meinen Vetter nie wiedersehen, weil Herr Turlington zufällig eifersüchtig auf ihn ist?“

Plötzlich wandte sie ihr Gesicht, das bis zum Halse ein tiefes Rot überflog, ab; Fräulein Lavinia, die sich eben anschickte, das nötige Maß von Vorwürfen verabfolgen zu lassen, wurde durch eine neue Veränderung in der wandelbaren Laune Nataliens zum Schweigen gebracht: Natalie brach in Tränen aus. Durch diese Äußerung aufrichtiger Zerknirschung befriedigt, verstand sich die alte Dame dazu, dieses eine Mal ein Auge zuzudrücken und über das Geschehene Stillschweigen zu beobachten. Sie würden alle, meinte sie, in Somersetshire sein, bevor ein neuer Verstoß gegen die Disziplin möglich sei. Richard hätte glücklicherweise nichts entdeckt, und man konnte, alles wohl erwogen, hoffen, daß die Sache auf sich beruhen bleiben werde.

Fräulein Lavinia würde die Dinge vielleicht in einem weniger beruhigenden Lichte angesehen haben, wenn sie gewußt hätte, daß einer der Diener in Muswell Hill von Turlington als Spion gedungen war, und daß dieser Diener Launce durch die hintere Gartentür hatte fortgehen sehen.



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Kapitel 9

Verrat



„Amelia!“

„Sage doch etwas!“

„Bitte ihn, sich zu setzen...“

So miteinander flüsternd, standen die drei Stieftöchter Lady Winwoods in ihrem eigenen Salon, in hilfloser Verwirrung einem Gaste gegenüber, der vor ihnen an der Schwelle der Tür stand.

Es war am dreiundzwanzigsten Dezember, zwischen zwei und drei Uhr nachmittags. Die drei Schwestern waren eben von der Versammlung des Komitée der Gesellschaft für geistliche Konzerte nach Hause zurückgekommen, und der ihnen gegenüberstehende Gast war Richard Turlington. Er stand, den Hut in der Hand, an der Tür, höchst erstaunt über die ihm zuteil werdende Aufnahme.

„Ich bin diesen Morgen von Somersetshire gekommen“, sagte er. „Haben Sie es nicht gehört? Ein Geschäft auf meinem Comptoir hat mich genötigt, meine Freunde in meinem Landhause allein zu lassen. Ich kehre morgen wieder zu ihnen zurück. Wenn ich sage, meine Freunde, so meine ich die Graybrookes. Wissen Sie nicht, daß sie bei mir sind? Sir Joseph und Fräulein Lavinia und Natalie?“

Die Nennung von Nataliens Namen schien einen besonderen Eindruck auf die Schwestern hervorzubringen. Sie wandten sich hin und her und sahen einander mit hilflosen Blicken an. Turlingtons Geduld fing an, ihm auszugehen.

„Wollen Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, was dies alles bedeutet?“ fragte er in etwas scharfem Ton. „Fräulein Lavinia bat mich, als sie hörte, daß ich nach der Stadt fahre, hier vorzusprechen. Ich solle ihr das Muster eines Kleides mitbringen, welches Sie mir, wie sie sagte, geben würden. Sie müssen seitdem ein Telegramm mit genaueren Mitteilungen darüber erhalten haben. Ist das nicht in Ihre Hände gelangt?“

Der starke Geist der drei Schwestern war Fräulein Amelia. Sie war die erste, welche über so viel Fassung gebot, um auf Turlingtons deutliche Frage eine deutliche Antwort zu geben. „Wir haben das Telegramm diesen Morgen erhalten“, sagte sie; „aber seitdem hat sich etwas ereignet, was uns sehr überrascht und betroffen gemacht hat. Wir bitten Sie um Verzeihung.“ Sie wandte sich zu einer ihrer Schwestern. „Sophie, das Muster liegt in der Schublade des Tisches hinter dir bereit. Gib es Herrn Turlington.“

Sophie holte das Paket hervor, aber bevor sie es Turlington überreichte, sah sie ihre Schwester an. „Sollen wir Herrn Turlington wieder gehen lassen“, fragte sie leise, „als ob nichts vorgefallen sei?“

Amelia dachte schweigend nach. Dorothea, die dritte Schwester, die bis jetzt noch gar nicht gesprochen, hatte etwas zu sagen. Sie schlug vor, ehe sie in der Sache weiter vorgingen, sich zu erkundigen, ob Lady Winwood zu Hause sei. Dieser Vorschlag wurde sofort angenommen. Amelia befragte den Diener, der alsbald erschien. Lady Winwood war unmittelbar nach dem Frühstück ausgefahren; Lord Winwood, nach welchem sie sich dann erkundigten, hatte seine Gattin begleitet. Sie hatten nichts über die Zeit hinterlassen, wann sie zurückkommen würden. Die Schwestern sahen Turlington an, unsicher, was sie nun sagen oder tun sollten. Fräulein Amelia entschloß sich, ihn, sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, anzureden.

„Ist es Ihnen möglich, hier zu verweilen“, fragte sie, „bis mein Vater oder Lady Winwood wieder nach Hause kommt?“

„Das ist mir ganz unmöglich. Die Minuten sind heute kostbar für mich.“

„Können Sie uns denn eine Minute Zeit geben? Wir möchten uns über etwas beraten, das wir Ihnen vielleicht sagen müssen, ehe Sie uns verlassen.“

Turlington, dem diese Bemerkung sehr auffallend war, setzte sich nieder. Fräulein Amelia legte ihren Schwestern am anderen Ende des Zimmers die Sache vom Gesichtspunkte strenger Gewissenspflicht vor. „Wir sind diesem abscheulichen Betruge nicht etwa in unerlaubter Weise auf die Spur gekommen“, sagte sie. „Die Entdeckung ist uns aufgedrängt worden, und wir sind niemandem gegenüber verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren. Mir scheint, wir sind, nachdem wir erfahren haben, wie schändlich diesem Herrn mitgespielt worden ist, moralisch verpflichtet, ihm die Augen zu öffnen. Wenn wir schweigen, so machen wir uns zu Mitschuldigen unserer Stiefmutter. Ich meinerseits will – gleichviel, was daraus entstehen mag – eine solche Mitschuld entschieden nicht auf mich laden.“

Ihre Schwestern stimmten ihr bei. Zum ersten Male hatte ihre gewandte Stiefmutter ihnen eine Gelegenheit gegeben, sich gewissermaßen an ihr zu rächen. Ihr eifersüchtiger Haß gegen Lady Winwood konnte sich hier hinter der Maske der Pflicht, einer Pflicht gegen einen mißhandelten und betrogenen Nebenmenschen, verbergen. Konnte es auf der Welt ein reineres Motiv für ihre Handlungsweise geben? - „Sage es ihm, Amelia!“ riefen die beiden jungen Damen mit der dem weiblichen Geschlechte eigenen, rücksichtslosen Unbesonnenheit, welche nicht eher nachdenkt, als bis die Zeit zur Überlegung vorüber ist.

Ein unbehagliches Gefühl fing an, Turlington zu beschleichen und ihn ahnen zu lassen, daß hier etwas durchaus nicht in Ordnung sei.

„Ich will sie gewiß nicht drängen“, sagte er, „aber wenn Sir mir wirklich etwas zu sagen haben -“

Fräulein Amelia bot ihren ganzen Mut auf und fing, indem sie ihn unterbrach, an: „Wir haben Ihnen etwas sehr Schreckliches mitzuteilen... Sie sind hier im Hause als Verlobter der Cousine Lady Winwoods, Fräulein Natalie Graybrooke, eingeführt worden.“ Nach diesem Beginn ihrer Eröffnung hielt sie wieder inne. Turlingtons Gesicht veränderte sich plötzlich in einer Weise, daß sie für einen Augenblick den Mut verlor. „Wir haben bis jetzt geglaubt“, fuhr sie dann wieder fort, „daß Sie jene junge Dame zu Anfang nächsten Monats heiraten würden.“

„Nun?...“ Nur das eine Wort vermochte er auszusprechen. Bei dem Anblick ihrer bleichen Gesichter und ihrer aufgeregten Mienen vermochte er nichts weiter zu sagen.

„Nimm dich in Acht!“ flüsterte Dorothea ihrer Schwester ins Ohr. „Sieh ihn an, Amelia! Nicht zu rasch!“

Amelia fuhr vorsichtig fort: „Wir kommen eben aus der Versammlung eines Konzert-Komitée nach Hause. Eine der zum Komitée gehörenden Damen war eine alte Bekannte, eine frühere Schulkameradin von uns. Sie ist die Frau des Oberpfarrers von St. Columbus, einer großen, am Ostende Londons, weit von hier gelegenen Kirche...“

„Ich kenne weder die Frau, noch die Kirche“, unterbrach sie Turlington finster.

„Ich muß Sie bitten, sich noch ein klein wenig zu gedulden. Ich kann Ihnen das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht mitteilen, ohne mich auf die Frau Pfarrerin zu beziehen. Sie kennt Lady Winwood dem Namen nach und hat kürzlich unter sehr sonderbaren Umständen von Lady Winwood gehört – unter Umständen, die mit einer Unterschrift in einem der Kirchenbücher zusammenhängt.“

Turlington verlor die Herrschaft über sich. „Sie haben mir etwas gegen meine Natalie zu sagen“, platzte er heraus; „ich merke es an Ihrem Geflüster, ich sehe es an Ihren Blicken. Sagen Sie es mir ohne Umschweife gerade heraus!“

In diesem Augenblick war nicht mit ihm zu spaßen. Und Amelia sagte es ohne Umschweife, was sie wußte. --

Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer. Man konnte die Tritte der auf der Straße Vorübergehenden vernehmen. Turlington blieb regungslos auf der Stelle stehen, an die sie ihn durch ihre Mitteilung sprachlos gebannt hatten und stützte sich mit der rechten Hand auf ein neben ihm stehendes Sofa. Die Schwestern flohen entsetzt in den entferntesten Winkel des Zimmers. Der Ausdruck sienes Gesichts erfüllte sie mit Grauen. In seinen Augen, in denen sich zuerst nur stummes Elend gemalt hatte, blitzte allmälig ein furchtbarer Haß, der den Mädchen das Blut in den Adern erstarren machte. Sie flüsterten fieberhaft miteinander, ohne selbst zu wissen, was sie sagten, ohne ihre eigenen Stimmen zu vernehmen. Die eine sagte: „Klingle!“, die andere: „Biete ihm etwas an, er fällt in Ohnmacht.“ Die dritte schauderte und wiederholte immer wieder: „Warum haben wir es getan? Warum haben wir es getan?...“

Plötzlich brachte er sie zum Schweigen, indem er seinerseits sprach; langsam, Schritt für Schritt kam er auf sie zu, während ihm die dicken Schweißtropfen fieberhafter Aufregung über die Stirn rollten. „Schreiben Sie mir den Namen der Kirche auf – hier!“ sagte er mit heiser, flüsternder Stimme. Dabei hielt er Amelia sein offenes Notizbuch entgegen. Sie nahm sich zusammen und schrieb die Adresse hinein. Sie versuchte es, ein besänftigendes Wort zu sagen, aber das Wort erstarb ihr auf der Zunge. In seinen Augen zuckte, als er sie anblickte, etwas, das seinem Gesichte einen teuflischen Ausdruck gab, so daß sie sich schaudernd von ihm abwandte. Er steckte das Notizbuch wieder in die Tasche und wischte sich mit dem Tuch über das Gesicht. Nach einem Augenblick unentschlossener Überlegung stahl er sich plötzlich rasch zum Zimmer hinaus, als ob er fürchte, daß sie jemanden rufen und ihn zurückhalten würden. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: „Sie werden erfahren, wie das geendigt hat. Adieu!“

Die Tür schloß sich hinter ihm. Als die Schwestern allein waren, fingen sie an, sich das Geschehene deutlich zu machen. Jetzt, wo er fort und wo es zu spät war, dachten sie an die Folgen. Die Graybrookes! Was würde jetzt, wo er es wußte, aus den Graybrookes werden? Was würde er tun, wenn er wieder zu denselben käme? Er war selbst zu gewöhnlichen Zeiten, wenn er sich so anständig als möglich betrug, ein roher Mensch. Was würde daraus entstehen, - o, guter Gott! Was würde daraus entstehen, wenn er und Natalie sich wieder von Angesicht zu Angesicht einander gegenüberständen. Sein Haus lag einsam – Natalie hatte ihnen davon erzählt – und hatte keine Nachbarn in der Nähe; kein Mensch war in der Nähe, der zwischen beide treten konnte, außer dem schwachen alten Vater und der jungfräulichen Tante. Es mußte etwas geschehen, es mußten Schritte getan werden, um sie zu warnen. Aber woher Rat nehmen? Wer war die beste Person, der sie hätten erzählen können, was sich zugetragen hatte? Lady Winwood? - Nein! Selbst in diesem kritischen Augenblick schreckten die Stieftöchter vor dem Gedanken an ihre Stiefmutter zurück. Kein Wort zu ihr! Gegen sie hatten sie keine Pflicht! Aber an wen anders konnten sie sich wenden? An ihren Vater? Ja! Das war der Mann, bei dem sie sich Rats erholen konnten. Inzwischen gelobten sie sich Schweigen gegen ihre Stiefmutter, strengstes Stillschweigen gegen jedermann, bis ihr Vater wieder nach Hause käme.

Sie warteten und warteten. Der Zeiger auf dem Zifferblatte berührte, eine nach der anderen, die kostbaren Leben und Tod entscheidenden Stunden. Lady Winwood war allein nach Hause zurückgekehrt. Sie hatte ihren Gatten im Oberhause zurückgelassen. Die Eßstunde kam und mit ihr ein Billet von Sr. Lordschaft: eine interessante Debatte fessele ihn im Hause. Lady Winwood und seine Töchter möchten nicht mit dem Essen auf ihn warten.



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Kapitel 10

Die Gasse beim grünen Anker



Eine Stunde später, als er erwartet worden war, erschien Richard Turlington auf seinem Comptoir im Mittelpunkte der Stadt. Er kam allen Fragen, die sein Aussehen sonst unzweifelhaft hervorgerufen haben würde, durch die Erklärung zuvor, daß er krank sei. Bevor er anfing, sich mit den laufenden Geschäften zu befassen, fragte er, ob jemand da sei, der ihn sprechen wolle. Einer der Diener von Muswell Hill wartete mit einem zweiten Paket für Fräulein Lavinia, das durch ein diesen Morgen vom Lande gekommenes Telegramm beordert worden war. Turlington ließ sich den Namen des Dieners sagen und hieß den Mann dann in sein Privatzimmer führen. Jetzt erst erfuhr er, daß Launcelot Linzie, ganz wie er es vermutet hatte, an jenem Tage, wo der Advokat seine Instruktionen in Betreff der Mitgift und des Testaments entgegengenommen hatte, sich im Garten verborgen gehalten habe.

In zwei Stunden war Turlingtons Arbeit getan. Als er das Comptoir verlassen hatte, wandte er sich, sobald er vom Hause nicht mehr gesehen werden konnte, statt den Weg zu nehmen, der nach seinem Hause in der Stadt führte, nach Osten. Bald betrat er das Straßenlabyrinth, welches in jenes Quartier im Osten Londons, in die übelduftende Nähe des Flusses führte. Sein Entschluß war gefaßt. Ein wohlüberlegtes Verbrechen wandelte bereits vor ihm her, als er seines Weges unter seinen Mitmenschen einherschritt. Er war in der Sakristei der St. Columbus-Kirche gewesen und hatte sich überzeugt, daß er durch kein falsches Gerücht irre geleitet sei. Er hatte die Eintragung im Heiratsregister gesehen. Der einzige dabei unerklärliche und geheimnisvolle Umstand war, daß Launce seiner Frau gestattet hatte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Ganz außer Stande, sich dieses Verfahren zu erklären, konnte Turlington nichts tun, als die Tatsachen nehmen, wie sie lagen und beschloß daher, möglichst viel aus der Zeit zu machen, in welcher das Weib, das ihn betrogen hatte, noch unter seinem Dach weilte.

Ein abschreckend widerwärtiger Ausdruck malte sich in seinen Zügen, als er sich an dem Gedanken weidete, daß er sie, unbeschützt von ihrem Manne, in seinem Landhause habe. „Wenn Launcelot Linzie kommt, sie zurückzuverlangen“, sagte er zu sich, „so soll er finden, daß wir miteinander quitt sind.“... Er sah nach seiner Uhr. War es möglich, den letzten Zug noch zu erreichen, und diesen Abend noch zurückzukehren? Nein – der letzte Zug war schon fort. Würde sie sich seine Abwesenheit zunutze machen, um zu entkommen? Davor war ihm nicht bange. Sie würde ihrer Tante nie erlaubt haben, ihn nach Lord Winwoods Hause zu schicken, wenn sie den leisesten Verdacht gehabt hätte, daß dieser Weg ihn zur Entdeckung der Wahrheit führen könne. Wenn er nur mit dem ersten Zuge am nächsten Morgen zurückkehrte, so war das, darüber konnte er sich beruhigen, früh genug. Inzwischen hatte er die ganze Nacht vor sich, Zeit genug, sich mit der ernsten Frage zu beschäftigen, mit der er im Reinen sein mußte, bevor er London verließ – der Frage wegen Rückzahlung der vierzigtausend Pfund. Jetzt gab es nur noch einen Weg, sich das Geld zu verschaffen. Sir Joseph hatte sein Testament gemacht: Sir Josephs Tod würde seinen alleinigen Exekutor und Verwalter, wie der Advokat es ausdrücklich gesagt hatte, zum unbeschränkten Herrn seines Vermögens machen... Turlington beschloß, in vierundzwanzig Stunden die Sache zu entscheiden – er wollte den Schlag ohne eigene Gefahr durch eine andere Hand führen lassen. Den vielen Umständen gegenüber, welche es wahrscheinlich machten, hielt Turlington sich jetzt fest überzeugt, daß Sir Joseph um den Betrug, der gegen ihn verübt worden war, gewußt habe. Der Ehekontrakt, das Testament, die Anwesenheit der Familie in seinem Landhause, - alle diese Dinge hielt er für eben so viele Kriegslisten, die nur ersonnen seien, um ihn bis zum letzten Augenblick zu täuschen. Die Wahrheit lag für ihn in jenen Worten, die, von ihm belauscht, zwischen Sir Joseph und Launce gewechselt worden waren und in der Tatsache, daß Launce, ohne Zweifel dazu im Geheimen ermuntert, in Muswell Hill gewesen war.

„Ihr Vater soll mir das doppelt entgelten, mit seinem Gelde und seinem Leben...“ Mit diesem Entschluß im Herzen wand sich Richard Turlington durch die Gassen am Flusse und hielt vor einer Sackgasse, die den Namen der „Gasse beim grünen Anker“ führte, und welche bis auf den heutigen Tag als Schlupfwinkel der verworfensten Spitzbuben Londons berüchtigt ist.

Der Polizeioffiziant, der seinen Stand an der Ecke hatte, mahnte ihn zur Vorsicht, als er in die Gasse einbog. „Sie werden mir schon nichts tun“, antwortete Turlington und ging seines Weges weiter, nach einem am Ende desselben gelegenen Wirtshaus. Der vor der Tür stehende Wirt gab ihm schweigend zu verstehen, daß er ihn erkenne, und ging ihm voran ins Haus. Sie durchschritten ein mit trinkenden Matrosen aller Nationen gefülltes Zimmer, stiegen eine an der Hinterseite des Hauses liegende Treppe hinauf und hielten vor der Tür eines Zimmers im zweiten Stock.

Jetzt erst fing der Wirt an zu sprechen: „Er hat sein Geld schon aufgebraucht, Herr, wie gewöhnlich. Sie werden sehen, er hat kaum noch einen Lumpen auf dem Leibe. Ich zweifle, daß er es noch lange treiben wird. Gestern abend hatte er wieder einen Anfall und der Doktor schüttelt den Kopf dazu.“ Nach diesen einleitenden Bemerkungen öffnete er die Tür und Turlington trat ins Zimmer.

Auf dem elenden Bette lag ein alter Mann mit grauen Haaren, von gigantischer Statur; er hatte nichts auf dem Leibe, als ein zerrissenes Hemd und eine geflickte, schmutzige Hose. Neben seinem Bette saßen, nur durch einen zerbrechlichen Tisch, auf dem eine Branntweinflasche stand, von ihm getrennt, zwei scheußliche, schielende, geschminkte Ungeheuer in Frauenkleidern. Das Zimmer roch nach Branntwein und Opium. Bei Turlingtons Eintritt erhob sich der alte Mann in seinem Bette und begrüßte ihn mit gierigen Blicken und ausgestreckter Hand.

„Geld, Herr!“ rief er ihm heiser entgegen. „Eine Krone zum voraus, zur Erinnerung an alte Zeiten!“

Turlington wandte sich, ohne ihm zu antworten, mit der Börse in der Hand, an die Weiber.

„Seine Kleider sind natürlich bei dem Pfandleiher. Wieviel hat er darauf geborgt?“

„Dreißig Schilling.“

„Bringt sie her, aber rasch. Es soll nicht Euer Schade sein.“

Die Weiber nahmen die Pfandscheine aus den Hosentaschen des Alten und eilten mit denselben davon.

Turlington schloß die Tür und setzte sich neben das Bett. Vertraulich legte er seine Hand auf die Schulter des Riesen, sah ihm gerade ins Gesicht und flüsterte ihm zu: „Thomas Wild!“

Der Mann fuhr zusammen und rieb sich mit seiner großen, behaarten Hand die Augen, wie um sich zu vergewissern, ob er wache oder schlafe. „Seit zehn Jahren habt Ihr mich nicht bei meinem Namen genannt, Herr! Wenn ich Thomas Wild bin, wer seid denn Ihr?“

„Wieder dein Kapitän.“

Wild richtete sich wieder im Bette auf und sagte Turlington die nächsten Worte flüsternd ins Ohr: „Wieder einer aus dem Wege zu räumen?“

„Ja.“

Der Riese schüttelte kläglich seinen kahlen, tierischen Kopf: „Es ist zu spät. Ich tauge nicht mehr zur Arbeit. Sehen Sie einmal.“ Dabei hielt er die Hand empor und zeigte Turlington, wie sie fortwährend zitterte. „Ich bin ein alter Mann“, sagte er und ließ die Hand wieder schwer neben sich aufs Bett fallen.

Turlington sah nach der Tür und flüsterte ihm zu: „Der Mann ist eben so alt wie du, und das Geld ist doch nicht zu verachten.“

„Wieviel?“

„Einhundert Pfund.“

Thomas Wilds Blicke hefteten sich gierig auf Turlingtons Gesicht. „Lassen Sie einmal hören, Kapitän“, sagte er leise; „lassen Sie einmal hören!“


Als die Frauen mit den Kleidern zurückkamen, hatte Turlington bereits das Zimmer verlassen. Ihr versprochener Lohn lag ihrer harrend auf dem Tische und Thomas Wild wartete ungeduldig auf sein Zeug, um sich anzukleiden und fortzugehen. Auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, erhielten sie nur die eine Antwort, er habe ein Geschäft abzumachen, das keinen Aufschub leide. In ein oder zwei Tagen würden sie ihn mit gefüllter Börse wiedersehen. Mit dieser Versicherung ergriff er seinen in der Ecke des Zimmers liegenden Knittel und eilte raschen Schrittes leise durch die Hintertür des Hauses in die Nacht hinaus.



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Kapitel 11

Außerhalb des Hauses



Der Abend war kühl, aber nicht eigentlich kalt für die Jahreszeit. Der Mond schien nicht, aber die Sterne glänzten und die Luft war ruhig. Insgesamt waren die Bewohner des kleinen in Somersetshire gelegenen Dorfes Baxdale darüber einig, daß sie seit Jahren keinen so schönen Weihnachtsabend gehabt hätten. Gegen sieben Uhr abends war es in der einzigen kleinen Straße des Dorfes ganz still, außer da, wo das Wirtshaus lag. In den meisten Häusern saßen die Leute um ihren Herd geschart und beobachteten behaglich das Kochen ihres Abendessens. Die in einer kleinen Entfernung vom Dorfe gelegene, alte, kahle, graue Kirche erschien in dem düsteren Sternenlicht noch einsamer, als gewöhnlich. Aus dem Pfarrhause, das dicht bei der Kirche im Schatten des Turmes lag, drang kein Feuer- und Lichtschein, um das trübe Bild zu erhellen. Die Läden des Pfarrers schlossen gut und seine Vorhänge waren dicht zusammengezogen.

Der einzige Lichtstrahl, der die winterliche Dunkelheit erhellte, drang aus dem Fenster eines einsamen Hauses, das durch die ganze Länge des Kirchhofs von dem Pfarrhause getrennt war. An dem Fenster stand ein Mann, der den Laden geöffnet hielt und aufmerksam nach dem trüben, öden Kirchhof ausschaute. Der Mann war Richard Turlington. Das Zimmer, in dem er Wache hielt, war ein Zimmer in seinem eigenen Hause. In diesem Augenblick blitzte ein kurzer Lichtschein, wie von einem angestrichenen Zündholz, auf dem Kirchhofe auf. Turlington verließ sogleich das leere Zimmer, in welchem er Wache gehalten hatte. Er ging durch den Hintergarten des Hauses, durchschritt einen engen Gang am Ende desselben, öffnete ein in einer niedrigen, steinernen Mauer befindliches Gitter und trat in den Kirchhof. Der Schatten einer männlichen Gestalt von großer Statur, die sich zwischen den Gräbern versteckt gehalten hatte, schritt auf ihn zu. Etwa in der Mitte des dunklen, einsamen Orts standen die beiden miteinander still und berieten sich flüsternd. Turlington sprach zuerst.

„Habt Ihr im Wirtshaus Quartier genommen?“

„Ja, Herr.“

„Habt Ihr noch am Tage den Weg nach dem einsamen Malzhause hinter der Mauer meines Obstgartens gefunden?“

„Ja, Herr.“

„Jetzt hört mich an. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Versteckt Euch hinter jenem Grabmal. Vor neun Uhr heute abend werdet Ihr mich bis zu jener Stelle mit dem Manne, auf den Ihr zu warten habt, über den Kirchhof gehen sehen. Er wird eine Stunde bei dem Pfarrer in dem Hause da drüben zubringen. Ich werde hier still stehen und zu ihm sagen: ‚Sie können jetzt Ihren Weg im Dunkeln nicht mehr verfehlen, ich will umkehren.‘ Wenn ich weit genug von ihm fort bin, werde ich auf meiner Pfeife ein Signal geben. In dem Augenblick, wo Ihr das Zeichen hört, folgt dem Mann und schlagt ihn zu Boden, bevor er den Kirchhof verlassen hat. Habt Ihr Euren Knittel bei Euch?“

Thomas Wild hielt seinen Knittel in die Höhe. Turlington ergriff seinen Arm und befühlte denselben argwöhnisch.

„Ihr habt schon einen Anfall gehabt“, sagte er, „was hat das Zittern zu bedeuten?“

Während er dies sagte, zog er eine Branntweinflasche aus seinem Rocke. Thomas Wild riß sie ihm aus der Hand, leerte sie auf einen Zug und sagte dann: „Nun ist alles wieder in Ordnung, Herr!“ Turlington befühlte abermals seinen Arm; er war bereits ruhiger geworden. Wild schwang seinen Knittel und tat einen tüchtigen Hieb damit auf einen der neben ihm befindlichen Rasenhügel. „Wird er davon zu Boden fallen, Herr?“ fragte er.

Turlington fuhr mit seinen Instruktionen fort: „Wenn Ihr ihn zu Boden geworfen habt, plündert ihn aus. Nehmt ihm sein Geld und seine Juwelen ab und gebt ihm den Gnadenstoß. Sein Tod muß als Folge eines Raubmordes erscheinen. Ehe Ihr fortgeht, vergewissert Euch, daß er tot ist; dann geht nach dem Malzhause. Ihr braucht nicht bange zu sein, daß man Euch sieht: alle Leute werden in ihren Häusern sein, um den Weihnachtsabend zu feiern. Im Malzhause werdet Ihr andere Kleider und einen alten Kessel mit ungelöschtem Kalk finden. Zerstört die Kleider, die Ihr auf dem Leibe habt und zieht die anderen an. Folgt dem Kreuzweg, bis er Euch auf die Landstraße führt und wendet Euch da zur Linken. Wenn Ihr etwa zwei Stunden gegangen seid, kommt Ihr nach der Stadt Harminster. Übernachtet da und geht morgen früh mit dem ersten Zug wieder nach London. Hier geht nach meinem Comptoir, fragt nach dem ersten Commis und sagt: ‚Ich komme, um meinen Empfangschein zu quittieren.‘ Unterzeichnet denselben mit Eurem Namen und Ihr werdet Eure hundert Pfund bekommen. Das sind Eure Verhaltungsmaßregeln. Habt Ihr sie verstanden?“

Wild nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er verstanden habe und verschwand wieder zwischen den Gräbern. Turlington kehrte nach seinem Hause zurück.

Er hatte die Mitte des Gartens erreicht, als er durch den Klang von Fußtritten aufgeschreckt wurde, die von der Stelle des Ganges herzukommen schienen, wo derselbe an einer Ecke des Hauses vorüberführte. Raschen Schrittes eilte er vorwärts und stellte sich hinter eine vorspringende Ecke der Mauer, so daß er die betreffende Person den Lichtstreifen durchschreiten sehen konnte, der aus dem unbewehrten Fenster des Zimmers drang, in welchem er selbst vorhin Wache gehalten hatte. Der Fremde ging sehr rasch. Alles, was Turlington sehen konnte, als jener durch den Lichtstreifen hindurch ging, war, daß er den Hut tief über die Stirne gezogen hatte und daß er einen dicken Schnurr- und Backenbart trug. Als er, ins Haus zurückgekehrt, seinem Diener den Mann beschrieb, erfuhr er, daß ein Fremder mit einem großen Bart schon seit einigen Tagen in der Gegend bemerkt worden sei. Nach seiner eigenen Angabe sei er ein Feldmesser, der mit Vermessungen für eine demnächst zu veröffentlichende Karte dieser Gegend beschäftigt sei.

Der schuldbewußte Turlington war weit entfernt, sich von dieser mageren Auskunft befriedigt zu fühlen. Der Mann konnte doch im Dunkeln keine Vermessungen vornehmen. Was konnte er zu dieser späten Stunde in der einsamen Umgebung des Hauses und des Kirchhofs zu suchen haben? -

Was der Mann suchte, war, was er ein wenig weiter, unterhalb des Ganges in einer lockeren Stelle der Kirchhofsmauer fand – ein Brief von einer jungen Dame. Der Brief, den er bei dem Lichte einer Taschenlaterne, die er bei sich führte, las, beglückwünschte ihn zuerst wegen des vollständigen Gelingens seiner Verkleidung, und versprach dann, daß die Schreiberin am nächsten Morgen, bevor jemand im Hause wach sei, am Fenster ihres Schlafzimmers zur Flucht bereit stehen werde. Unterzeichnet war der Brief „Natalie“ und die Ansprache in dem Briefe lautete: „Liebster Launce“.

Inzwischen schloß Turlington wieder die Fensterläden des Zimmers und sah nach seiner Uhr. Es war erst ein Viertel vor neun Uhr. Er nahm seine Hundepfeife vom Kaminsims und ging nach dem Salon, in welchem seine Gäste den Abend zubrachten.



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Kapitel 12

Innerhalb des Hauses



Der Salon in dem Landhause konnte für ein Ideal häuslichen Komforts gelten. Ein lustiges Holz- und Kohlenfeuer brannte im Kamin; die Lampen verbreiteten ein sanftes Licht im Zimmer; die festgeschlossenen Läden und die dicken, roten Vorhänge bannten die kalte Nachtluft an die Außenseite zweier hohen Fenster, welche auf den Hintergarten hinausgingen. Bequeme Lehnsessel standen überall im Zimmer umher.

In einem derselben war Sir Joseph fest eingeschlafen; in einem anderen saß Fräulein Lavinia strickend; in einem dritten Lehnsessel, der von den übrigen entfernt stand, vor einem großen, runden Tische in einer Ecke des Zimmers, saß Natalie, den Kopf auf die Hand gestützt, ein Buch vor sich auf dem Schoß. Sie sah bleich und erschöpft aus; Angst und peinliche Ungewißheit hatten sie so angegriffen, daß sie nur noch wie ein Schatten ihrer selbst erschien. Beim Eintritt in das Zimmer schlug Turlington absichtlich die Tür hinter sich ins Schloß. Natalie erschreckte. Fräulein Lavinia warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sein Zweck aber war erreicht, Sir Joseph erwachte.

„Wenn du noch heute abend zu dem Pfarrer gehen willst, Graybrooke“, sagte Turlington, „so ist es wohl Zeit für dich, aufzubrechen, nicht wahr?“

Sir Joseph rieb sich die Augen und sah nach der Pendule auf dem Kaminsims. „Ja, ja, Richard“, antwortete er schläfrig, „ich muß wohl gehen. Wo ist mein Hut?“

Seine Schwester und seine Tochter versuchten es beide, ihn zu überreden, einen Boten mit einer Entschuldigung zum Pfarrer zu schicken, anstatt noch so spät im Dunkeln dahin zu gehen. Sir Joseph schwankte wie gewöhnlich. Aufgrund ihres gemeinschaftlichen Enthusiasmus für das altmodische Tricktrack hatte sich nämlich zwischen ihm und dem Pfarrer rasch ein Freundschaftsbündnis gebildet. Am vorigen Abend hatte Sir Joseph in Turlingtons Hause über seinen Gegner den Sieg davon getragen und hatte nun dem Pfarrer versprochen, am heutigen Abend zu ihm zu kommen und ihm Revanche zu geben. Als Turlington seine Unentschlossenheit bemerkte, wußte er ihn schlau zum Gehen zu reizen. Er gab sich den Anschein, als glaube er wirklich, Sir Joseph scheue sich, im Dunkeln auszugehen.

„Ich will dich sicher über den Kirchhof bringen“, sagte er, „und der Diener des Pfarrers wird dich sicher zurückbringen.“ Der Ton, in dem er das sagte, war für Sir Joseph sofort entscheidend.

„Ich bin noch nicht wieder kindisch geworden, Richard“, erwiderte er verdrießlich. „Ich kann meinen Weg allein finden.“ Er küßte seine Tochter auf die Stirne und sagte: „Fürchte nichts, Natalie, ich komme rechtzeitig wieder, um meinen Glühwein zu trinken. Nein, Richard, bemühe dich nicht.“ Darauf küßte er seiner Schwester die Hand und ging hinaus auf den Vorplatz, um seinen Hut zu nehmen, während Turlington ihm trotz seines Protestes folgte und sich in ziemlich kurzem Tone als eine besondere Gunst die Erlaubnis erbat, ihn wenigstens einen Teil des Weges begleiten zu dürfen. Die Damen, die im Salon zurückblieben, hörten, wie der gutmütige Sir Joseph die ihm abgetrotzte Erlaubnis gewährte. Die beiden Männer gingen zusammen fort.

„Hast du Richard beobachtet, seit er wieder ins Zimmer getreten ist?“ fragte Fräulein Lavinia. „Ich denke mir, er hat in London schlechte Nachrichten bekommen. Er sieht aus, als wenn ihn etwas drückte.“

„Das habe ich nicht bemerkt, Tante.“

Im Augenblick sprachen sie nicht weiter. Fräulein Lavinia fuhr in ihrer monotonen Strickarbeit fort. Natalie verfolgte über den ungelesenen Blättern des in ihrem Schoß liegenden Buches ihre angstvollen Gedanken. Plötzlich wurde die tiefe in und außer dem Hause herrschende Stille durch einen Pfiff, der vom Kirchhof her zu dringen schien, unterbrochen. Natalie fuhr erschreckt zusammen und stieß einen leichten Schrei aus. Fräulein Lavinia sah von ihrer Strickarbeit auf. „Liebes Kind, deine Nerven müssen krankhaft aufgeregt sein. Was ist denn da zu erschrecken?“

„Ich fühle mich nicht ganz wohl, Tante. Es ist hier heute abend so still, das leiseste Geräusch erschreckt mich.“

Wieder entstand eine Pause. Es war nach neun Uhr, als sie hörten, wie die Hintertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Turlington trat rasch in den Salon, wie wenn er einen besonderen Grund habe, sobald wie möglich wieder bei den Damen zu sein. Zur Überraschung beider aber setzte er sich ohne Weiteres in eine Ecke, das Gesicht gegen die Wand gekehrt und nahm die Zeitung zur Hand, ohne die Damen auch nur eines Blickes zu würdigen oder ein Wort mit ihnen zu reden.

„Hat Joseph das Pfarrhaus unversehrt erreicht?“ fragte Fräulein Lavinia.

„Jawohl.“ Er gab die kurze Antwort in einem verdrossenen Tone, ohne sich auch jetzt dabei umzusehen.

Fräulein Lavinia versuchte es noch einmal, ihn gesprächig zu machen. „Haben Sie draußen ein Pfeifen gehört? Natalie war bei der großen, sonst herrschenden Stille ganz erschrocken darüber.“

Jetzt erst drehte sich Turlington halb herum und sagte nach einer kleinen Pause: „Vermutlich mein Schäfer, der seinem Hunde gepfiffen hat.“ Darauf wandte er sich wieder um und versenkte sich aufs Neue in seine Zeitung.

Fräulein Lavinia winkte ihrer Nichte und zeigte bedeutungsvoll auf Turlington hin. Nachdem Natalie einen Augenblick mit Widerstreben nach ihm hinübergesehen hatte, lehnte sie ihren Kopf ermattet auf die Schulter ihrer Tante. „Bist du müde, Kind?“ flüsterte ihr die alte Dame zu.

„Mir ist unbehaglich zumute, Tante – ich weiß selbst nicht, warum“, erwiderte Natalie flüsternd. „Ich gäbe die Welt darum, wenn ich in London sein, die Wagen rasseln und die Menschen in den Straßen hören könnte.“

Turlington ließ seine Zeitung fallen. „Was habt ihr beiden da miteinander zu zischeln?“ rief er in grobem Tone.

„Wir reden leise, weil wir Sie nicht gern in Ihrer Lektüre stören wollen, das ist alles“, entgegnete Fräulein Lavinia. „Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet, Richard?“

„Was zum Henker veranlaßt Sie, das zu glauben?“

Die alte Dame fühlte sich durch diese Antwort beleidigt und schwieg. Natalie schmiegte sich noch enger an sie. Im Zimmer herrschte eine tiefe, nur durch das einförmige Ticken der Uhr unterbrochene Stille. Plötzlich schob Turlington seine Zeitung beiseite und trat aus seiner Ecke hervor. „Wir wollen gute Freunde sein!“ platzte er mit einer angenommenen plumpen Lustigkeit heraus. „Das nenne ich nicht Weihnachtsabend feiern! Lassen Sie uns gesellig sein und plaudern. Liebste Natalie!“ Dabei schlang er seinen Arm roh um ihren Leib und zog sie mit Gewalt von der Seite ihrer Tante weg. Sie wurde totenbleich und rang, sich von ihm loszumachen. „Ich bin leidend – ich bin krank – lassen Sie mich!“

Er war taub für ihre Bitten. „Wie? Deinen künftigen Gatten behandelst du so? Darf ich nicht einen Kuß beanspruchen? - Ich will einen haben!“ Mit der einen Hand hielt er sie fest, mit der anderen ergriff er ihren Kopf und versuchte es, ihre Lippen an die seinigen zu bringen. Sie widersetzte sich ihm mit dem ganzen Aufgebot der Kraft, über welche auch das schwächste Weib, wenn es gereizt ist, gebietet. Halb entrüstet, halb erschrocken über Turlingtons Rohheit, erhob sich Fräulein Lavinia, um sich ins Mittel zu legen. Im nächsten Augenblick würde er statt einer, zwei Frauen zu bewältigen gehabt haben, als ein von außen her dringendes Geräusch plötzlich dem widerwärtigen Kampfe ein Ende machte.

Man hörte Fußtritte auf dem Kieswege, der zwischen dem Hause und dem Rasen hinführte. Ein Klopfen erfolgte – ein einmaliges, schwaches Klopfen an einer der Fensterscheiben. Alle drei standen still. Im nächsten Augenblick war nichts zu hören. Dann aber vernahm man ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Körper zur Erde fällt. Dann ein Stöhnen, und abermals trat völlige Stille ein.

Turlington ließ Natalie los. Sie schmiegte sich wieder an ihre Tante. Instinktiv blickten die beiden Frauen in der Erwartung auf ihn, daß er sofort versuchen werde, den sonderbaren Vorfall vor dem Hause aufzuklären. Mit Entsetzen aber gewahrten sie, daß er allem Anschein nach noch erschrockener und hilfloser sei, als sie selbst.

„Richard“, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach dem Fenster deutete, „da draußen ist etwas vorgefallen – sehen Sie doch nach.“

Regungslos, als ob er ihre Worte nicht gehört hätte, stand er da, bleich vor Schrecken, den Blick unverwandt auf das Fenster geheftet.

Jetzt wurde die Stille draußen aufs Neue unterbrochen und zwar dieses Mal durch einne Hilferuf. Natalie stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Die Stimme draußen, die einen Augenblick laut und heftig erklang und dann plötzlich wieder hinschwand, war ihrem Ohre nicht fremd. Die Vorhänge auseinander reißend, drang sie mit Worten und Gebärden in ihre Tante, ihr zu helfen. Mit vereinten Kräften hoben sie die schwere Ladenstange und öffneten die Läden und das Fenster. Die freundliche Helle des Zimmers ergoß sich über einen mit dem Gesichte gegen die Erde gekehrten, am Boden liegenden Mann. Sie kehrten den Mann um, Natalie hob seinen Kopf in die Höhe – es war ihr Vater!

Sein Gesicht war mit Blut bespritzt. Über dem Ohr klaffte eine furchtbare Wunde. Er sah sie an und erkannte sie, dann sank er in ihren Armen aufs Neue in Ohnmacht. Seine Hände und seine Kleider waren mit Erde beschmutzt, er mußte sich eine ziemliche Strecke weit fortgeschleppt haben. In diesem schrecklichen Zustande mußte er mehr als einmal gestolpert und gefallen sein, bevor er das Haus erreichte. Seine Schwester wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Seine Tochter rief ihn in wahnsinniger Aufregung an, ihr zu vergeben, bevor er sterbe, der harmlose, sanfte, gutherzige Vater, der ihr niemals ein hartes Wort gesagt habe – der Vater, den sie betrogen hatte!

Die Dienstboten kamen erschrocken ins Zimmer gelaufen. Ihr Erscheinen erweckte ihren Herrn aus dem Zustande völliger Erstarrung, in den er verfallen war. Er stand schon am Fenster, bevor der Diener dahin gelangen konnte. Turlington und Natalie trugen ihn nun ins Zimmer hinein und legten ihn aufs Sofa. Natalie kniete neben ihm nieder und stützte ihm den Kopf und Fräulein Lavinia suchte das noch immer fließende Blut mit ihrem Taschentuche zu stillen. Während die weiblichen Dienstboten Leinen und kaltes Wasser herbei brachten, eilte der Diener fort, den Arzt zu holen, der am anderen Ende des Dorfes wohnte. Als die Frauen mit Turlington wieder allein waren, bemerkte Natalie, daß seine Blicke unverwandt, wie forschend, auf den Kopf ihres Vaters gerichtet waren. Er sprach kein Wort. Er starrte und starrte unausgesetzt die Wunde an...

Der Arzt kam. Noch bevor die Tochter oder die Schwester des Verwundeten die Frage tun konnte, tat sie Turlington: „Ist die Wunde lebensgefährlich?“

Der Arzt sondierte die Wunde vorsichtig. „Beruhigen Sie sich. Ein wenig tiefer oder an der Stirn hätte die Wunde bedenklich werden können. Jetzt ist keine Gefahr – halten Sie ihn ruhig und er wird bald wieder hergestellt sein.“

Bei diesen beglückenden Worten sanken Natalie und ihre Tante in überströmender Dankbarkeit schweigend auf die Knie. Nachdem der Doktor die Wunde verbunden hatte, sah er sich nach dem Herrn des Hauses um. Turlington, der noch vor wenigen Minuten so übereifrig beflissen gewesen war, schien jetzt alles Interesse an dem Fall verloren zu haben. Nachdenklich stand er beiseite am Fenster und blickte nach dem Kirchhofe hinaus, so daß die Fragen, die der Arzt zu tun hatte, von den Damen beantwortet werden mußten. Die Dienstboden leisteten bei der Untersuchung der Kleider des Verwundeten Beistand: sie entdeckten, daß seine Börse und seine Uhr fehlten. Als es notwendig wurde, ihn die Treppe hinaufzutragen, mußte der Doktor nur mit Hilfe des Dieners den Transport übernehmen. Turlington ging ohne ein Wort der Erklärung mit bloßem Kopfe in den Hintergarten hinaus, um, wie der Doktor und der Diener annahmen, die Spur des Räubers, der Sir Joseph angefallen hatte, aufzusuchen. Seine Abwesenheit wurde im ersten Augenblick kaum bemerkt. Die Schwierigkeit, den Verwundeten auf sein Zimmer zu bringen, nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ganz in Anspruch. Während sie ihn die steilen und engen Treppen hinauftrugen, gewann Sir Joseph teilweise sein Bewußtsein wieder.

So vorsichtig sie den Patienten auch trugen, entrang ihm doch die Bewegung einen Schmerzensausruf, bevor sie oben angelangt waren. Der Korridor, der zu den Schlafzimmern führte, ging in dem alten und unregelmäßig gebauten Hause wiederholt auf- und abwärts. An der Tür des Schlaftzimmers fragte der Doktor etwas ängstlich, ob dies das Zimmer sei. Nein, sie mußten noch drei Stufen hinabsteigen und um eine Ecke biegen, bevor sie das Zimmer erreichen konnten. Das erste war das Nataliens. Sie stellte es sofort für ihren Vater zur Verfügung. Der Doktor, welcher fand, daß es nicht nur das nächste, sondern auch das luftigste Zimmer sei, nahm das Anerbieten an.

Sir Joseph wurde in das Bett seiner Tochter gelegt. Der Doktor hatte sie eben mit der wiederholten Versicherung verlassen, daß sie sich keine Sorge zu machen brauchten, als sie unten schwere Schritte vernahmen. Turlington war wieder ins Haus zurückgekehrt. Er hatte sich, wie sie es vermutet hatten, nach dem Spitzbuben umgesehen, der Sir Joseph angegriffen hatte; freilich aus einem Beweggrund, den andere unmöglich erraten konnten. Seine eigene Sicherheit war jetzt von der Sicherheit Wilds abhängig. Sobald er im Dunkel der Nacht vom Hause aus nicht mehr erkannt werden konnte, begab er sich geradenwegs nach dem Malzhause. Die dort bereit liegenden Kleider waren noch unberührt, von seinem Komplizen war keine Spur zu sehen. Wo anders er sich nach ihm umsehen sollte, war unmöglich zu sagen. Turlington hatte keine andere Wahl, als wieder nach dem Hause zurückzukehren und sich Gewißheit zu verschaffen, ob in seiner Abwesenheit irgend ein Verdacht aufgetaucht sei. Er brauchte nur die Treppe hinaufzusteigen, um durch die offene Tür zu sehen, daß Sir Joseph in das Zimmer Nataliens gebettet worden sei.

„Was soll das heißen?“ fragte er barsch.

Noch bevor es möglich war, ihm eine Antwort zu geben, erschien der Diener mit einer Botschaft. Der Doktor war noch einmal umgekehrt, um zu sagen, daß er es übernehmen wolle, auf seinem Wege nach Hause den Constabler von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Turlington fuhr zusammen und wechselte die Farbe. Wenn Wild von anderen gefunden und in Abwesenheit seines Herrn befragt wurde, so konnten daraus sehr ernste Folgen entstehen.

„Die Benachrichtigung des Constablers ist meine Sache“, sagte Turlington, indem er eilig die Treppe hinablief; „ich will mit dem Doktor gehen.“

Sir hörten, wie er unten die Tür öffnete, sie aber dann wieder schloß und den Diener rief, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen sei. Das Haus hatte großen Mangel an Domestiken-Schlafzimmern, nur die weiblichen Dienstboten schliefen daher im Hause, und der Diener hatte ein Zimmer über dem Stall inne. Natalie und ihre Tante hörten, wie Turlington den Mann mindestens eine Stunde früher als gewöhnlich, für diese Nacht entließ. Das Nächste, was er dann vornahm, war noch sonderbarer. Vorsichtig über die Treppe hinabblickend, sah ihn Natalie alle Türen zu ebener Erde schließen und die Schlüssel abziehen. Als er fortging, hörte sie ihn auch die Haustüre hinter sich absperren. Unglaublich, wie es schien, die Tatsache stand unzweifelhaft fest: die Insassen des Hauses waren bis zu Turlingtons Rückkehr gefangen. Was hatte das zu bedeuten?

Es hatte zu bedeuten, daß Turlington seine Rache an dem Weibe, das ihn betrogen, noch nicht genommen; es hatte zu bedeuten, daß Sir Josephs Leben noch zwischen dem Manne, der seine Ermordung hatte veranstalten wollen, und dem Gelde stand, welches dieser Mann fest entschlossen war, sich zu verschaffen; es hatte endlich zu bedeuten, daß Richard Turlington sich zum Äußersten getrieben sah, und daß die Schrecken und die Gefahren dieser Nacht noch nicht ihr Ende erreicht hatten.

Natalie und ihre Tante, die zu beiden Seiten des Bettes standen, in welchem Sir Joseph lag, sahen einander an. Der Verwundete war in eine Art von Halbschlaf versunken; von ihm konnte ihnen keine Aufklärung kommen. Sie konnten sich nur einander mit klopfendem Herzen und verwirrten Sinnen fragen, was wohl Richards Benehmen zu bedeuten habe – sie konnten nur instinktiv fühlen, daß ihnen eine schreckliche Entdeckung bevorstehe. Die Tante war die ruhigere von beiden, weil kein Geheimnis ihr Gewissen belastete. Sie konnte sich der Tröstungen der Religion erfreuen.

„Unser teurer Bruder und Vater ist uns erhalten“, sagte die alte Dame sanft, „Gott ist gütig gegen uns gewesen; wir sind in seinen Händen, und das muß uns genug sein.“

Während sie diese Worte sprach, erscholl ein lautes Klingeln an der Haustürglocke. Die weiblichen Dienstboten drängten sich in ängstlicher Aufregung in das Schlafzimmer. Stark durch ihre Zahl und von Natalien, die sich aufgerafft hatte und ihnen voranging, ermutigt, wagten sie es, das Fenster zu öffnen und auf den Balkon hinauszutreten, der sich längs dieser ganzen Seite des Hauses hinzog. Unten erkannte man die Umrisse einer männlichen Gestalt, welche sie mit einer lallenden, schweren Zunge anrief. Die Dienstboten erkannten ihn; es war ein Bote der auf dem Bahnhofe befindlichen Telegraphenstation. Sie gingen hinunter, um mit ihm zu reden und kamen mit einem Telegramm zurück, welches der Bote unter die verschlossene Haustür geschoben hatte. Die Entfernung von der Station bis zum Hause war beträchtlich; der Bote hatte seinen Weihnachtsabend unterwegs in mehr als einer Bierkneipe gefeiert, und so hatte sich die Ablieferung des Telegramms um mehrere Stunden verzögert. Dasselbe war an Natalie adressiert. Sie öffnete es, sah es an, ließ es zu Boden fallen und stand mit vor Entsetzen weit geöffnetem Munde, mit stieren Blicken vor sich hinstarrend, sprachlos da.

Fräulein Lavinia hob das Telegramm vom Boden auf und las wie folgt:

„Natalie Graybrooke, Church Meadows, Baxdale Somersetshire.

Entsetzliche Nachrichten. R.T. hat Deine Heirat mit Launce entdeckt. Doe Wahrheit wurde bis heute den vierundzwanzigsten vor mir verborgen gehalten. Unverzügliche Flucht mit Deinem Manne ist die einzige Rettung für Dich. Ich würde mich direkt mit Launce in Verbindung gesetzt haben, aber ich weiß seine Adresse nicht. Ich hoffe und glaube, daß Du dieses erhalten wirst, bevor R.T. nach Somersetshire zurückkehren kann. Ich bitte Dich dringend, telegraphiere mir zurück, daß Du in Sicherheit bist; wenn ich nicht in angemessener Zeit von Dir höre, so werde ich selbst meiner Depesche folgen.

Lady Winwood.“

Fräulein Lavinia erhob ihr graues Haupt und blickte ihre Nichte an. „Ist das wahr?“ fragte sie und deutete dabei auf das ehrwürdige Haupt des Verwundeten, das in die weißen Bettkissen zurückgelehnte dalag. Natalie wäre, als ihre Blicke denen ihrer Tante begegneten, fast besinnungslos zu Boden gesunken; Fräulein Lavinia fing sie in ihren Armen auf.


Das Bekenntnis war gemacht.Worte der Reue – und Worte der Vergebung wurden zwischen den beiden ausgesprochen. Das friedliche Antlitz des Vaters lag noch still da. Langsam verflossen die Minuten, eine nach der anderen, in der Stille der Nacht, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre. Es war fast wie eine Erlösung, als die Stille ein zweites Mal durch ein Geräusch außerhalb des Hauses unterbrochen wurde; ein kleiner Stein flog ans Fenster und eine Stimme rief vorsichtig hinauf: „Fräulein Lavinia!“

Sie erkannten die Stimme eines Dieners und öffneten sofort das Fenster. Er hatte den Damen etwas im Geheimen mitzuteilen. Wie sollte er das bewerkstelligen? Ein glücklicher Zufall, der schon von Launce, als für die beabsichtigte Entführung günstig, ins Auge gefaßt worden war, wurde jetzt von dem Diener als ein willkommenes Mittel benutzt, um die notwendige Verbindung mit den Damen herzustellen. Das Schloß in dem naheliegenden Gebüsch befindlichen Schuppens, welcher dem Gärtner zur Aufbewahrung seiner Gerätschaften diente, war in Reparatur, so daß die Leiter des Gärtners für jedermann zugänglich war. Bei der geringen Höhe des Balkons war die Leiter mehr als lang genug für den beabsichtigten Zweck. In wenigen Minuten hatte der Diener den Balkon erstiegen und konnte mit Natalien und ihrer Tante am Fenster sprechen.

„Ich habe keine Ruhe“, sagte der Diener. „Ich will mich ins Dorf hinunterschleichen, um zu sehen, was dort vorgeht. Es ist hart für Damen wie Sie, hier eingeschlossen zu sein. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Natalie nahm Lady Winwoods Telegramm zur Hand. „Launce muß das erfahren“, sagte sie zu ihrer Tante. „Wenn ich ihn nicht wissen lassen, was vorgefallen ist“, fügte sie flüsternd hinzu, „kommt er mit Tagesanbruch hierher.“

Fräulein Lavinia erbleichte. „Wenn er und Richard sich begegnen -! Laß es ihn wissen! Laß es ihn wissen, bevor es zu spät ist.“

Natalie schrieb einige Zeilen an Launce unter der Adresse seines angenommenen Namens in seinem Logis im Dorfe, in welchen sie ihn flehentlich bat, keinen übereilten Schritt zu tun, und schloß Lady Winwoods Telegramm bei. Als der Diener mit dem Briefe expediert war, erfüllte das Gemüt beider Frauen dieselbe Hoffnung, welche aber jede von ihnen sich der anderen einzugestehen schämte – die Hoffnung, daß Launce sich der Gefahr, die sie für ihn fürchteten, aussetzen und zu ihnen kommen würde. Sie waren noch nicht lange wieder allein, als Sir Joseph schläfrig die Augen öffnete und sie fragte, was sie in seinem Zimmer zu tun hätten. Auf sanfte Weise brachten sie ihm bei, daß er krank sei. Er legte die Hand an den Kopf und sagte, sie hätten Recht, und verfiel dann wieder in seinen Schlummer. Erschöpft durch die Aufregungen, die sie durchzumachen gehabt hatten, warteten die beiden Frauen schweigend der Dinge, die da kommen würden. Beide hatte eine Art stumpfer Resignation ergriffen. Nachdem sie Tür und Fenster geschlossen, hatten sie zusammen gebetet, hatten das ruhige, auf dem Kissen daliegende Antlitz geküßt, und zueinander gesagt: „Wir wollen mit ihm leben oder sterben, wie es Gott gefällt.“ Fräulein Lavinia saß neben dem Bett, Natalie auf einem Schemel zu den Füßen ihrer Tante, und hatte, die Augen schließend, den Kopf in deren Schoß gelegt.

Die Zeit verfloß. Die Uhr in der Halle hatte eben zehn oder elf, sie wußten nicht genau wieviel, geschlagen, als sie das Signal vernahmen, durch welches sich der aus dem Dorfe zurückgekehrte Diener ankündigte. Er brachte Nachrichten, und mehr als das, er brachte einen Brief von Launce. Natalie las wie folgt:

„Ich werde fast gleichzeitig mit diesen Zeilen bei Dir sein, Geliebte! Der Überbringer wird Dir sagen, was im Dorfe vorgefallen ist; das Telegramm, welches Du mir geschickt hast, wirft auf alles ein ganz neues Licht. Ich komme, sobald ich dem Pfarrer, der zugleich die Magistratsperson hier ist, gewesen sein werde, um mich für Deinen Gatten zu erklären. Alle Verstellung muß jetzt ein Ende haben. Mein Platz ist bei Dir und den Deinigen. Die Sache ist schlimmer als das Schlimmste, was Du fürchtest – Turlington ist der Urheber des Angriffs auf das Leben Deines Vaters. Urteile darnach, ob Du nicht des Schutzes Deines Gatten bedarfst! - L.“

Natalie reichte den Brief ihrer Tante und deutete auf die Stelle, wo behauptet war, daß Turlington das Attentat auf Sir Josephs Leben veranstaltet habe. Die beiden Frauen sahen sich in schweigendem Entsetzen einander an; sie erinnerten sich, wie auffallend Turlingtons Benehmen am heutigen Abend gewesen war, jetzt war ihnen ein furchtbares Licht über dieses Benehmen aufgegangen. Der Diener lenkte ihre Aufmerksamkeit erst durch seine Erzählung, was er im Dorfe erlebt hatte, wieder auf die Gegenwart.

Er habe das ganze Dorf, als er hingekommen, in Aufruhr gefunden. Ein in Baxdale unbekannter, alter Mann sei auf der Landstraße, ganz nahe bei der Kirche, in Krämpfen gefunden worden und die Person, die ihn dort gefunden, sei niemand anders gewesen, als Herr Launce selbst. Er war auf dem Rückwege nach seinem Logis im Dorfe im Dunkeln über den Körper von Thomas Wild gestolpert.

„Der Herr schlug Lärm, Fräulein“, fuhr der Diener fort, indem er den Vorfall erzählte, wie er ihm mitgeteilt worden war, „und der Mann, ein riesiger, dicker, alter Mann, wurde nach dem Wirtshaus getragen. Der Wirt erkannte ihn. Er hatte sich erst heute im Wirtshaus einlogiert und der Constabler fand sehr wertvolle Gegenstände bei ihm: eine Geldbörse und eine goldene Uhr und Kette. Es war aber nicht zu ersehen, wer der rechtmäßige Besitzer von Geld und Uhr sei. Erst als mein Herr und der Doktor ins Wirtshaus kamen, erfuhr man, wen er beraubt und zu ermorden versucht hatte. Alles, was man, bevor die Herren kamen, aus seinen Fieberphantasien entnehmen konnte, war, daß jemand ihn zu der Tat angestiftet habe. Er nannte diese Person ‚Kapitän‘ und bisweilen ‚Kapitän Howard‘. Soviel man aus seinen wahnsinnigen Faseleien verstehen konnte, hatte ihn der Krampfanfall in dem Augenblick ergriffen, wo er die Hand auf Sir Josephs Herz gelegt hatte, um zu fühlen, ob es noch schlage. Soviel ich verstanden habe, muß in jenem Augenblick eine Art von Vision über ihn gekommen sein. Sie erzählten mir, er habe phantasiert, die See bräche in den Kirchhof ein und ein ertrinkender Matrose treibe auf einem Hühnerkorb auf den Wellen, und dieser Matrose ziehe ihn bei den Haaren zur Hölle hinunter, und mehr dergleichen schrecklichen Unsinn, Fräulein! Er lag noch schreiend im schlimmsten Fieber da, als mein Herr und der Doktor ins Zimmer traten. Bei dem Anblick eines von beiden – man meint, Herrn Turlingtons, weil dieser voranging – wurde er plötzlich still und sank dann fiebernd wieder in die Arme der Männer zurück, die ihn hielten. Der Doktor gab der Krankheit einen gelehrten Namen, der so viel bedeutete wie Säuferwahnsinn, und erklärte den Fall für hoffnungslos. Indessen hieß er die Leute aus dem Zimmer gehen, damit er sehen könne, was zu tun sei. Als ich mich mit der Antwort des Herrn auf Ihr Billet, Fräulein, aus dem Dorfe auf den Rückweg begab, hieß es, daß mein Herr noch mit dem Doktor bei dem Kranken sei, um abzuwarten, ob der Mann sterben oder am Leben bleiben werde. Ich wagte es nicht, zu bleiben und zu hören, wie die Sache zu Ende gehen werde, aus Furcht, daß Herr Turlington es erfahren möchte.“

Als der Diener mit seiner Erzählung zu Ende war, sah er sich unruhig nach dem Fenster um. Sein Herr konnte jeden Augenblick zurückkommen und es konnte ihm das Leben kosten, wenn sein Herr ihn, nachdem er ihn zum Hause hinausgeschickt hatte, wieder in demselben fände. Er bat um die Erlaubnis, das Fenster zu öffnen und sich wieder nach den Ställen zu retten, so lange es noch Zeit sei. Als er eben die Stangen von den Läden abhob, wurden sie durch eine Stimme erschreckt, die sie von unten her anrief. Es war Launce, der Natalien rief. Der Diener eilte davon und Natalie lag in Launces Armen, noch ehe sie wieder zu Atem kommen konnte.

Einen köstlichen Augenlblick lang ließ sie ihren Kopf an seiner Brust ruhen, dann stieß sie ihn plötzlich mit den Worten von sich: „Warum kommst du her? Er wird dich umbringen, wenn er dihc hier findet. Wo ist er?“

Launce wußte aber noch weniger von Turlington, als selbst der Diener. „Wo er auch sein mag, Gott sei Dank, daß ich vor ihm hier bin!“ Das war alles, was Launce antworten konnte.

Natalie und ihre Tante hörten ihm in schweigendem Jammer zu. Sir Joseph erwachte und erkannte Launce, noch ehe ein weiteres Wort gesprochen worden war.

„Ah, mein lieber Junge!“ murmelte er mit schwacher Stimme. „Es tut mir wohl, dich wiederzusehen. Wie kommst du her?“ - Er ließ sich mit der ersten besten Erklärung abfinden und versank mit den Worten: „Wir wollen morgen weiter darüber reden“ wieder in Schlaf. - Natalie machte einen abermaligen Versuch, Launce zu bewegen, das Haus wieder zu verlassen.

„Wir wissen nicht, was geschehen sein kann“, sagte sie. „Er kann dir auf dem Wege hierher gefolgt sein, er kann dich absichtlich ins Haus haben hineingehen lassen. Verlass‘ uns, so lange es noch möglich ist.“

Fräulein Lavinia vereinigte ihre Bitten mit denen Nataliens. Umsonst! Launce schloß ruhig die schweren, mit Eisen belegten Fensterladen und legte die Stange wieder vor. Natalie rang verzweifelt die Hände.

„Bist du bei dem Pfarrer gewesen?“ fragte sie.

„Sage uns wenigstens, ob du auf seinen Rat hergekommen bist und ob er selbst herkommen wird, uns beizustehen!“

Launce zauderte. Wenn er die Wahrheit hätte sagen wollen, hätte er bekennen müssen, daß er ganz gegen den Rat des Pfarrers hier sei. Er antwortete ausweichend: „Wenn der Pfarrer nicht kommt, so wird der Doktor kommen. Ich habe ihm gesagt, daß Sir Joseph transportiert werden müsse. Sei guten Muts, Natalie! Der Doktor wird ebenso bald hier sein wie Turlington.“

In dem Augenblick, wo er diesen Namen aussprach, drang plötzlich, ohne daß irgendein Geräusch von außen her sie darauf vorbereitet hätte, Turlingtons Stimme ins Zimmer. Er mußte dicht hinter dem Fenster stehen.

„Sie sind bei Nacht in mein Haus gedrungen“, rief er, „und Sie sollen auf diesem Wege nicht wieder herauskommen!“

Fräulein Lavinia sank auf die Knie. Natalie flog zu ihrem Vater. Mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen starrte dieser vor sich hin; stöhnend gab er mit schwacher Stimme zu erkennen, daß ihm die von draußen her ertönende Stimme bekannt sei. Das nächste vernehmbare Geräusch wurde durch die Entfernung der Leiter vom Balkon hervorgerufen. Turlington hatte die Leiter, nachdem er auf ihr wieder herabgestiegen war, weggezogen. Natalie hatte nur zu richtig vorausgesehen, was geschehen werde. Turlingtons Mitschuldiger war in dem Wirtshause gestorben und hatte den Ersteren von jeder Besorgnis vor Verrat befreit. Wohlüberlegterweise war er Launce nachgegangen und hatte es absichtlich geschehen lassen, daß dieser eine unerlaubte Handlung beging, indem er heimlich auf der Leiter in das Haus einstieg.

Es entstand eine Pause – eine schreckliche Pause – und dann hörten sie die Haustür öffnen. Ohne, wie man nach der Abwesenheit eines entsprechenden Geräusches annehmen mußte, sich damit aufzuhalten, die Tür wieder zu schließen, ging Turlington die Treppe hinauf und versuchte es, die Zimmertür zu öffnen, die von innen geschlossen war.

„Kommen Sie heraus und ergeben Sie sich!“ rief er durch die Tür. „Ich habe meinen Revolver bei mir und ich habe das Recht, auf einen Mann, der in mein Haus eingedrungen ist, zu schießen. Wenn die Tür nicht geöffnet wird, bevor ich Drei gezählt habe, so komme Ihr Blut über sie. Eins!“

Launce hatte keine andere Waffe als seinen Stock. Er trat, ohne einen Augenblick zu zögern, vor, um sich zu ergeben, aber Natalie umschlang ihn mit ihren Armen und drückte ihn fest an sich, noch ehe er die Tür erreicht hatte.

„Zwei!“ rief Turlington von außen, während Launce sich von Natalie loszumachen suchte. In demselben Augenblick fiel sein Blick auf das Bett. Es stand gerade der Türe gegenüber, genau in der Schußlinie. Sir Josephs Leben war, wie Turlington es sehr wohl berechnet hatte, augenblicklich in größerer Gefahr als Launces Leben. Launce riß sich ovn Natalien los, stürzte auf das Bett zu und hob den alten Mann auf seinen Armen aus dem Bette.

„Drei!“

Der Knall ertönte, die Kugel flog durch die Tür, streifte Launces linken Arm und drang in das Kopfkissen, genau an der Stelle, auf welcher noch einen Augenblick zuvor Sir Josephs Haupt geruht hatte. Launce hatte das Leben seines Schwiegervaters gerettet. Turlington hatte seinen ersten Schuß um des Geldes willen abgefeuert und hatte seinen Zweck doch nicht erreicht.

In der Ecke des Zimmers neben der Türe standen sie für den Augenblick sicher, Sir Joseph, hilflos wie ein Kind, in Launces Armen, die Frauen bleich, aber wunderbar ruhig, als die zweite, schräg durch die Tür gehende Kugel rechts von ihnen in die Wand einschlug.

„Ich höre Euch wohl“, schrie der Schurke von außen. „Ich will Euch schon kriegen, auch durch die Wand.“

Sie hörten, wie er mit den Händen die Wand untersuchte, um auszufinden, wo sie aus solidem Holz und wo sie nur aus Gips bestehe. Auch in diesem schrecklichen Augenblick verlor Launce seine Fassung nicht. Er legte Sir Joseph sanft auf den Boden und wies Natalie und ihre Tante durch Zeichen an, sich neben ihn niederzulegen. Ihr Leben hing jetzt davon ab, daß weder ihre Stimmen noch ihre Bewegungen dem Mörder einen Anhaltspunkt für die Richtung seiner Schüsse boten. Er selbst wechselte seinen Standort.

Der Lauf des Revolvers knarrte, als er ihn gegen die Wand anlegte. Er stieß an das Piston. Statt eines Knalles erfolgte nur der schwache, stumpfe Ton, den das Zuschnappen des Hahnes verursachte. Der dritte Lauf hatte versagt. Sie hörten ihn, sich mit einem Fluche fragen: „Was ist denn da in Unordnung?“ - Einen Augenblick war alles still.

Untersuchte er seine Waffe? Noch bevor sie sich diese Frage tun konnten, drang ein neuer Knall an ihr Ohr, dem auf der Stelle ein schwerer Fall nachkam. Sie sahen nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers, aber weder hier noch irgendwo war die Spur einer Kugel zu sehen. Launce gab ihnen ein Zeichen, sich noch nicht zu rühren. Sie warteten und horchten. Auf dem Vorplatz draußen regte sich nichts. Plötzlich wurde die Stille durch das laute Schreien vieler Stimmen vor der offenen Haustüre unterbrochen. Waren die Revolverschüsse im Pfarrhause gehört worden? Allerdings! Die in dem Zimmer Eingeschlossenen unterschieden die Stimme des Pfarrers unter den übrigen Stimmen. Im nächsten Augenblick vernahmen sie einen allgemeinen Schrei des Entsetzens auf der Treppe. Launce öffnete die Tür des Zimmers. Aber sofort schloß er sie wieder, noch ehe Natalie ihm folgen konnte. Turlingtons Leiche lag draußen auf dem Vorplatz. Die Ladung in dem vierten Laufe des Revolvers war explodiert, während er denselben untersuchte. Die Kugel war ihm ins Gesicht gefahren, durch das Auge quer in das Hirn, und hatte ihn auf der Stelle getötet.


Einige Zeit später las man in dem Morgenblatte einer Londoner Zeitung:

„Wir werden ersucht, kürzlich in Umlauf gesetzte, ungünstige Gerüchte in Betreff der Firma Pizzituti, Turlington & Branca für völlig unbegründet zu erklären. Eine vorübergehende Störung des Geschäftsbetriebes war lediglich durch den plötzlichen Tod des allgemein beklagten, geschäftsleitenden Associés, Herrn Turlington, infolge er zufälligen Explosion eines von ihm untersuchten Revolvers, hervorgerufen. Diese vorübergehende Störung ist jetzt völlig beseitigt. Wir erfahren aus bester Quelle, daß die wohlbekannte Firma der Herren Bulpit Brothers ein Interesse an dem Geschäft hat und dasselbe bis auf Weiters fortführen wird.“ --

Ein junges Paar, welches kurz vorher von Freunden und Verwandten zur Eisenbahn geleitet worden war und jetzt als einzige Insassen eines Coupés in dem von London nach Dover fahrenden Kurierzuge dahindampfte, las ebenfalls jene Notiz in der Morgenzeitung; vor der Abfahrt hatte der junge Gatte das Blatt auf dem Perron des Bahnhofes gekauft.

„Was meinst du dazu?“ fragte er jetzt die reizende Frau an seiner Seite. „Wenn dein Vater vorhin diese Notiz noch hätte lesen können?“

„Ach, still davon, Launce!“ sprach die junge Gattin; „danken wir Gott, daß er genesen und alles so zum Besten gekommen ist. Wirf die böse Zeitung fort, sie soll uns nicht auf unserer Hochzeitsreise begleiten und Erinnerungen an die letzten, schrecklichen Weihnachtstage in uns wach rufen.“

Launce war gewöhnt, alle wohlbegründeten Wünsche der schönen Bittstellerin zu erfüllen. Er öffnete das Fenster des Coupés und überließ das verhaßte Papier dem Spiel der Lüfte, die es hastig von dannen trugen.

„Weißt du, was mir leid tut?“ begann Natalie wieder.

„Nun, was denn?“

„Daß uns Lady Winwood nicht eine Strecke weit begleitet! Sie hate doch von allen am meisten für uns getan!“

„Ja, sie ist eine vortreffliche Freundin – und wenn wir zurückkehren von unserer Reise nach dem Kontinent, so wollen wir es ihr lohnen durch die treueste Anhänglichkeit und die zartesten Aufmerksamkeiten.“

„Ach, Launce, ich bin doch recht froh, daß wir diese Reise, begleitet von den Segenswünschen meines lieben Vaters und meiner Tante machen, anstatt daß wir wie Missetäter uns auf die Flucht begeben müßten -“

„Still davon, Natalie!“ fiel ihr diesmal der hochbeglückte Gatte in die Rede, „die Wege der Vorsehung sind wunderbar – und wenn sie am dunkelsten und verworrensten scheinen, so gewinnen sie oftmals ein ungeahntes Licht und führen uns an das Ziel unserer innigsten Wünsche!“

ENDE



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